Subaltern Studies 3.0. Überblick zum 30-jährigen Jubiläum unter besonderer Berücksichtigung der Rezeption in Deutschland


Scientific Study, 2012

67 Pages


Excerpt


INHALT:

1.) Subaltern Studies – wie sie wurden, was sie sind und ob sie in Deutschland nochmal richtig ankommen

2.) zu den zentralen Inhalten und tieferen Bedeutungen der Subaltern Studies vorzustoßen.

3.) Die Subaltern Studies als veritable Befreiungsbewegung

4.) Fußnoten und Literaturliste

SUBALTERN STUDIES 3.0: ENTWURF EINES ÜBERBLICKS ZUM 30-JÄHRIGEN BESTEHEN DER SUBALTERN STUDIES UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER REZEPTION IN DEUTSCHLAND

2012 wird die Urheberin der bedeutendsten historiografiekritischen Innovationen seit dem 2.Weltkrieg –die Subaltern Studies Group – 30 Jahre alt, eigentlich. Uneigentlich kommt sie, soweit es die Rezeption in Deutschland betrifft, wie frisch aus der Presse gefallen daher. So ungefähr in 10-Jahres-Intervallen geruht der akademische Betrieb im Land der Dichter und Denker solche die internationale Forschungslandschaft aufmischenden Neu-Ansätze nichtweißer WissenschaftlerInnen etwas breiter zur Kenntnis zu nehmen, meist noch mit gehöriger Verspätung beginnend. Das galt bis kürzlich für Saids "Orientalism"1 und es gilt noch heute für die "Subaltern Studies", die sonst ja nicht nach 30 Jahren erst wieder von vorne erklärt werden müssten. Die bisherigen –sehr marginalen– Rezeptionswellen haben hier keine signifikanten Spuren hinterlassen2.

Übrigens kommen genau diese Sachverhalte perfekt zum exemplarischen Ausdruck im entsprechenden Wikipedia -Eintrag: Die Deutschen haben es bislang gerade mal zur Übersetzung aus der englischsprachigen Wikipedia gebracht– und zu einer uninspirierten, eigenkenntnisfreien sowie fehlerhaften dazu3. So ist es wenig erstaunlich, dass der jüngsten Rezeptionswelle –im Gefolge des Erscheinens von Dipesh Chakrabartys "Europa als Provinz" auf deutsch4 in einem renommierten Bildungsverlag– wieder etwas von einer vermeintlichen Neu-Entdeckung z.B. des Seeweges nach Indien anhaftet, wo der doch bloß zu Zeiten verpasst und verschlafen, übersehen und vergessen worden war. Außerdem versteht man die immer so schlecht.

Wenn wir also zum 30.Geburtstag der Subaltern Studies Group einen gültigen Überblick ihrer Geschichte und Gegenwart, Inhalte und Bedeutung skizzieren wollen, was Zweck dieser Arbeit ist, dann muss für Deutschland immer auch der eigentümliche Rezeptionsverlauf mitbedacht werden, der die klare Sicht auf den Gegenstand durch seine Versäumnisse und Verspätungen, Verzerrungen, Verfehlungen und Verständnislücken behindert. Das ist zunächst Sache des ersten Abschnitts. In einem zweiten Schritt geht es um die Vertiefung zentraler Inhalte und weiter reichender Bedeutungen von "Subaltern Studies", wobei ein Spezifikum gerade darin zu sehen ist, dass sich solcherlei stets auf hohem Abstraktionsniveau und äußerst selbstkritisch innerhalb der Gruppe reflektiert und diskutiert findet. Am Beispiel einer herausragenden Strategiedebatte mit den Protagonisten Sarkar, Chakrabarty und Pandey einerseits sowie der inhaltlichen Dekonstruktion unhaltbar eurozentrischer Ideologeme wie dem AMP-Modell5 zum Andern wird der besondere Charakter der Subaltern Studies eingehend ausgeleuchtet. Von dort aus schließt sich im Weiteren mit Chakrabartys "Europa provinzialisieren!" der Kreis zu einer zusammenfassenden Würdigung der Subaltern Studies, ihrer revolutionären historiografischen Verdienste und ihrer eigentümlich verkürzten und dünnen Rezeption in Deutschland. Der dritte Teil charakterisiert, die erreichten Erkenntnisse zuspitzend, die Subaltern Studies als veritable Befreiungsbewegung und gehört dann hauptsächlich Gayatri Spivak, die im Moment, da die Deutschen tröpfchenweise mit Anläufen einer Rezeption ihrer Klassiker beginnen, schon wieder im Flugzeug sitzt, um "von der Postkolonialität zum Globalismus überzugehen, zu einem Globalismus von unten" freilich, der der Einsicht Rechnung trägt, dass die globale Front von heute ländlich und keineswegs urban sei6.

1.) Subaltern Studies – wie sie wurden, was sie sind und ob sie in Deutschland nochmal richtig ankommen

A) Der förmlichen Gründung der Subaltern Studies Group 1982 durch den in Kolkata ausgebildeten indischen Historiker Ranajit Guha gingen langjährige intensive und interkontinentale Fachdiskussionen zur indischen Kolonialgeschichte voraus, die im Projekt eines historiografischen Umsturzes bisheriger Geschichtsproduktionen zu Indien mündeten. Noch im gleichen Jahr erschien ihre erste Publikation und mit ihr die manifestativ begründete Zielvorgabe, die britisch-indische ebenso wie die nationale Geschichtsschreibung als Elite-Historiografie kenntlich zu machen, wobei die nachkoloniale Variante mit der unkritischen Übernahme eurozentrischer Prämissen nur die Farce einer 'indischen' Nacherzählung kolonialer Modernisierungslegenden hervorgebracht hätte. Darunter fielen auch die orthodox-marxistischen Versuche, Indiens Geschichte für den westlich-modernen Rahmen passend umzuschreiben, um so zu belegen, dass Indien sehr wohl dessen definitorisch vorgegebene gesellschaftlichen Entwicklungsstadien durchlaufen hätte und somit als vollwertige Zivilisation qualifiziert sei.

Die offenkundige Wiederholung der alten Herrschaftsgeschichte fand ebenso im Politischen und Sozialen ihren Niederschlag, wobei insbesondere auch fortschrittliche und kommunistische Funktionäre und Institutionen deutlich als zur Elite gehörig sichtbar wurden. Während der 70er Jahre hatten sie durch ihre staatsnahen Haltungen inklusive vielfältiger Repressionsmaßnahmen gegen emanzipatorische oder rückständig genannte Volksbewegungen ihren Kredit bei "den Massen" verspielt. Umgekehrt konstituierten gerade die sich nun als selbstmächtige und politbewusste Gestalter ihres eigenen Schicksals – und genau dort setzten die Mitglieder der Subaltern Studies Group an, indem sie gegen die hegemonialen Vereinnahmungsversuche nationalbürgerlichen Herrschaftswissens die autonomen Beiträge der unteren Schichten als eigenständige Befreiungsgeschichten herauszuarbeiten unternahmen. Dazu mussten vor allem auch Methoden des Gegen-den-Strich-Lesens vorhandener oder des Suchens, Findens und Erschließens übersehener und vernachlässigter Quellen bzw. ganz neuer Quellenarten erst einmal entwickelt werden.

Diese Hinwendung zum 'Subalternen' war dabei von Beginn an nicht anti-marxistisch, sondern im Gegenteil als Erneuerung und Alternative zur erstarrten Orthodoxie konzipiert – vor allem inspiriert durch Gramscis Hegemoniebegriff (allerdings nutzenorientiert modifiziert, indem sein revolutions- und staatstheoretisches Korsett gelockert und er quasi von seinem subaltern-bäuerlichen Ende her neu eingelesen wurde). Und sie war auch alles andere als nur akademisch, nämlich stattdessen stets verbunden mit den realen Subalternen und ihren Kämpfen – angefangen bei Guha selbst, der schon in den frühen 70er Jahren z.B. bei den Naxaliten hospitierte7, bis hin zur stark in entlegensten Adivasi-Gebieten sozial-aktiven und lernend engagierten Spivak, die besonders für die von ihr so prägnant formulierte Leitfrage "Can the Subaltern speak?"8 berühmt wurde.

Mit Spivak können wir die 80er der Subaltern Studies auch abschließen und zusammenfassen: In den erschienenen 6 Bänden (plus einer Selection) befassten sich "postkoloniale"9 WissenschaftlerInnen kollektiv von einem innovativen Ansatz her mit bislang unbeachteten Themen und Akteuren in neuen Fragestellungen und vollzogen so im globalen akademischen Bezugssystem den unverschämten Aufstand "rückständiger" Subalterner nur nach, dabei ganz ähnliche Nervositäten beim Establishment erzeugend. Die Bände enthielten detaillierte Fallstudien und prägnante Einzelanalysen ebenso wie historiografische Dekonstruktionsarbeiten und elaborierte Ideologiekritiken10. Ein Alleinstellungsmerkmal bildeten die in der laufenden Praxis des subalternen Projekts auf hohem Abstraktionsniveau –und teils nahezu selbstzerfleischend– kritischen Reflektionen eigener Erkenntnisgrenzen und grundsätzlicher Schwierigkeiten beim Erfassen und Erforschen der Subalternen als AutorInnen einer eigenen (vielleicht unmöglichen) Geschichte – nicht etwa bloß als Gegenstand einer neuen Disziplin für ansonsten unverändert forterzählende Meister. Spivak problematisierte genau diese Haltung privilegierter Gebildeter, über oder auch "für" die Subalternen zu dozieren und suchte nach Wegen, jene selbst im eigenen Recht mit ihren eigenen Geschichten nicht zum Sprechen, sondern zum (bislang gelehrt blockierten) Gehör zu bringen.

In den 90er Jahren, die nur noch 4 Bände (plus einen Reader) der Subaltern Studies Group sahen, waren die Akzente stark in Richtung solcher erkenntnistheoretischer und repräsentationskritischer Erwägungen verschoben, was Sumit Sarkar zu seiner scharfen Verfallskritik11 samt Rückzug aus der Gruppe veranlasste. Die maßgebliche 'Rezeption' in Deutschland bezog sich tatsächlich, dazu gleich mehr, vorwiegend auf DIESE Periode Subalterner Studien. Im neuen Jahrtausend hat es erst 2 Bände (plus einen kritischen Rückblick) gegeben, die neuerdings unter Themenschwerpunkten laufen: "Community, Gender and Violence" für Band 11 sowie "Muslims, Dalits and the Fabrication of History" für Band 12. Immerhin hat 2011 wieder eine hochkarätig besetzte Konferenz in Canberra stattgefunden, deren Titel "Subaltern Studies – Historical World-making Thirty Years On" hoffen lässt, dass die subalternen Stimmen auch für die Zukunft noch nicht im historiografischen Nirvana versenkt wurden.

B) Dass sie in Deutschland bislang überhaupt aus einem solchen herausgetreten wären, lässt sich allerdings nicht behaupten. Von einer nennenswerten Rezeption der Subaltern Studies hier kann bis weit in die 90er Jahre hinein durchaus nicht geredet werden – und das ist auch kaum verwunderlich. Die moderne außereuropäische Geschichte hat im deutschen Wissenschaftsbetrieb der Nachkriegszeit generell und traditionell ein Schattendasein geführt oder anders herum: Der Schwerpunkt hiesiger Historiker lag überwiegend selbstgenügsam auf dem eigenen Land, mit den Grenzen maximaler Ausdehnung des 1000jährigen Reiches erstreckte sich ein außereuropäisches Interesse allenfalls noch in den russischen Osten. Eine erste substanzielle Würdigung der Subaltern Studies (durch die lange Zeit solitäre Koryphäe deutscher Indienhistoriker: Dietmar Rothermund) konnte bereits die Festschrift zu Guhas 70.Geburtstag 1992, nämlich den 1994 erschienenen 8.Band, als einen "Höhepunkt" in der Reihe historiografischer Horizonterweiterungen in den sehr instruktiven Forschungsbericht einbeziehen12. Er erschien bezeichnenderweise im Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas und rubrizierte die Subaltern Studies im übergeordneten Kontext der in Deutschland geläufigeren "Geschichte von unten"-Konzepte. Dort verblieben sie denn auch und so löste sich die ohnehin vage Wahrnehmung entlegener indischer Subalterner in ziemliches Nichts auf. Deren feinbohrende Bearbeitung so bodenlos vieldeutiger Grundfragen wie der nach dem "von" zwischen Geschichte und Unten überstieg zur Zeit der ersten Rezeptionswelle den Begriffshorizont in Deutschland wohl noch. In recht kathedersozialistischer Manier war auch gutgemeinte Geschichte von unten hier klar und eindeutig Geschichte ÜBER unten (und nicht DURCH unten / unten durch). Und dann noch auf englisch geführte theoriegesättigte Fachdiskussionen! Das brauchte mindestens bis in die 90er doch keine/r in der deutschen Geschichtsgelehrtenrebublik.

Einen Meilenstein im deutschen Rezeptionsverlauf bildete indessen der von Conrad & Randeria herausgegebene Sammelband "Jenseits des Eurozentrismus" 2002, der u.a. (nach 10 Jahren) Chakrabartys "Europa provinzialisieren" als deutsche Erstveröffentlichung enthielt13. Im Rahmen des Berliner Forschungsprojekts AGORA war es hier zum Millennium-Ereignis einer erstmals etwas breiteren Rezeption international längst anerkannter repräsentationskritischer Ansätze endlich auch in Deutschland gekommen14. Allerdings ist anzumerken, dass die deutschen Beiträge zum besagten Sammelband nur eben ein Sechstel stellten, der maßgebliche Teil davon aus den Sozialwissenschaften. Für die HistorikerInnen speziell ist zusätzlich anzuführen, dass auch 2002 in einem sicher nicht altbackenen Verlag (Vandenhoeck & Ruprecht) noch ein "Kompaß der Geschichtswissenschaft" erscheinen konnte, der der "Orientierung in einer internationalen Forschungslandschaft" mit zunehmender "Tendenz zur Globalisierung" dienen sollte – und einen Said, Guha, Cohn, Wink, Fanon noch nicht einmal im Register führte. Symptomatischerweise schließt der Band mit Motzkins Verkündigung vom "Ende der Meistererzählungen", ohne die Frage nach der Meistererzählung der Geschichte, nämlich der eurozentrischen, auch nur angerissen zu haben – und belegt so die oftmals weiterhin ungebrochene Herrschaft dieses historiografischen Paradigmas15.

Es ging schon damals seit 10 Jahren darum, ein übermächtiges "hyperreales Europa aus dem Zentrum der historischen Einbildungskraft zu verdrängen", die von Chakrabarty mit "Europa provinzialisieren!" formulierte Aufgabe, "sich mit Ideen auseinanderzusetzen, die den modernen Staat(...) legitimieren, um so diejenigen Kategorien, deren globale Gültigkeit nicht mehr für selbstverständlich genommen werden kann, erneut zum Gegenstand der politischen Philosophie zu machen – genau wie man auf einem indischen Basar verdächtige Münzen ihren Besitzern zurückgibt", war also ungelöst und in Deutschland sogar ungestellt geblieben. Dass heute, abermals 10 Jahre später, eben jener Text Chakrabartys (im Verbund mit 7 weiteren zum Buch "Europa als Provinz" ausgeweitet), wieder Furore macht und eine dritte Rezeptionswelle anzufachen scheint, unterstreicht den Befund, dass aller Aufbrüche am Jahrtausendbeginn zum Trotz ein paar eurozentrismuskritische Wolken am Himmel der Dichter und Denker(innen auch) doch noch keinen substanziellen Niederschlag als historiografische Horizonterweiterung finden müssen. Bloß nicht unterschlagen werden soll jedoch, dass an den 'Schmuddelrändern' deutscher Rezeptionslandschaften immerhin sogar Spivaks Gretchenfrage von 1988 Eingang fand – und zwar in der symptomatischen Umformulierung: "Spricht die Subalterne deutsch?"16 Darin ist, bei aller Anerkennung für die Aufmerksamkeit, jedoch auch die siebenfache Crux hiesiger Aufnahmeschwierigkeiten der international immerhin schon durchaus geläufigen subalternen Innovationen ziemlich komplett enthalten:

Die Rezeption setzt auf fehlleitende Weise verspätet ein, da sie die Versäumnisse auch gar nicht als Problem erkennt/1. Sie rekurriert auf eine verkopfte Phase ihres Gegenstands und hierbei in selektiver Engführung auf eine bestimmte Positionierung innerhalb eines ursprünglich gleichzeitig breiteren und tieferen innersubalternen Diskussionsspektrums/2. Der historische Kontext bleibt unbemerkt oder wird retrospektiv durch einen soziologisch-theoretischen Tunnel interpretiert/3. Zur formalen Enthistorisierung17 kommt so noch die inhaltliche, die die Subaltern Studies um ihren geschichtswissenschaftlichen und historiografiekritischen Kern samt dessen organischer Verbindung mit widerständigen Bewegungen bringt/4. Eine weitere Besonderheit besteht in der Verdopplung eurozentrischer Behinderungen durch spezifische Teutozentrismen, als ob bspw. das wichtigste Problem erfasst wäre, wenn wir das "Experiment des Sprechens oder Schweigens im deutschen Kontext zu wiederholen versuchen"18, wo es doch zuerst um die Hörbehinderungen der Privilegierten ginge, denen die jeweilige Lingua der Subalternen funktional egal ist/5. Die Brisanz und Relevanz des subaltern-historiografischen Befreiungsschlags aus antikolonial-antiimperialistischen Widerstandsbestrebungen heraus wird in solcher deutsch-sprachlicher Aspektierung historisch verfehlt und so verbleibt als revolutionäres Potenzial tatsächlich nur noch renitentes Gerede innerhalb der akademischen Zirkel/6, wie es dann ja im "Plädoyer für eine parrhesiastische Praxis à la Foucault"19 als der Weisheit letzter Schluss auch endet.

Damit wäre in Deutschland genau jenes Schreckgespenst der Subaltern Studies Realität geworden, das Sarkar noch etwas einseitig und vergröbernd von einer partiellen Tendenz zum Menetekel einer vollzogenen Entwicklung an die Wand plakatiert hatte: Das tödliche Abgleiten in theoretische Welten, die nur noch aus Texten bestehen/7. Insofern befindet sich nicht nur "sowohl die Rezeption als auch die Übertragung auf den deutschen Kontext ziemlich am Anfang"20, sondern die Subaltern Studies sind damit zum Start hier auch gleich noch ins interpretative Abseits gestellt. Da kann Chakrabartys 1992er-Aufsatz im Rahmen seiner deutschen Neuerscheinung im o.g. Buch "Europa als Provinz" in den 10er Jahren die zwischenzeitlich faktisch erstarrte Rezeption gleichsam bruchlos wieder anknipsen und einen dritten Versuch einläuten, endlich

2.) zu den zentralen Inhalten und tieferen Bedeutungen der Subaltern Studies vorzustoßen.

In der Tat besteht besagtes Buch zur Hälfte aus in der internationalen Diskussion bereits seit 10 bis 20 Jahren bekannten Texten – und das macht zunächst mal klar, wie tief der Schlaf der Geschichtsgelehrten in Deutschland war, wenn damit ein aufstörender Weckruf erzeugt wurde. Die Chancen, dass 'postkoloniale' Eurozentrismuskritik und subalterne Historiografierevisionen in hiesigen Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften doch noch ankommen mögen, sind also nicht alle vergeben. Der Mittelteil dieser Arbeit soll den möglichen Vermittlungsprozess unterstützen und vom Wecken zum Aufstehen weiterleiten helfen.

A) Dazu ist es unabdingbar, die Überwucherungen der originalen Subaltern Studies durch westlich-inspirierte Geschichte von unten -Einrahmungen einerseits und unhistorische Postkolonial-Theoretisierungen andererseits klar zurückzuschneiden. Dass die Subaltern Studies nicht nur "just another history from below" im Gefolge etwa E.P.Thompsons21 darstellen, sondern durch die Spezifik des zusätzlichen kolonial-rassistischen Gewaltverhältnisses zu einer ganz neuen Qualität kamen, die insbesondere durch die anti-elitistische Wendung zu üblicherweise als vorpolitisch oder archaisch denunzierten Äußerungen ländlichen Widerstands und ihre dezidierte Abkehr von eurozentrischen und nationsfixierten Teleologien einen historiografischen Paradigmenwechsel hin zu einer auch anders möglichen Moderne einleitete, war schon angesprochen worden. Den vorgegebenen Leitlinien "einer Geschichte von unten, wie sie von der englischen marxistischen Historiografie entwickelt wurde"22, folgten die Subaltern Studies in Indien also nur so bedingt, dass es irreführend wäre, sie primär in diesem Rahmen zu interpretieren.

Die zweite Überwucherung ist jüngeren Ursprungs und hat das Bild von den Subaltern Studies –so überhaupt vorhanden– gerade in Deutschland ziemlich fest im Griff. Es ist die ebenfalls bereits erwähnte retrospektive Theoretisierung von einem akademischen Postkolonialismus aus, der konzeptionell zwar an die von den Subaltern Studies aufgemachte Textualität von Machtverhältnissen und ihrer Dokumente23 anknüpft, allerdings ohne deren historische, soziale und politisch-praktische Dimensionen mitzunehmen. So werden einer Postcolonial Theory, die eigentlich nur ein Kind der Cultural Studies der 80er Jahre war, rückwirkend noch ein Said oder eine Spivak einverleibt, die beide zu dieser Richtung tatsächlich deutlich Distanz hielten. Die nicht vor 1989 überhaupt erst auf den Begriff gebrachte Postcolonial Theory 24 kam so in ihrer zweiten Rezeptionswelle in Deutschland als der Leitstern der Subaltern Studies 'rüber und übersteigerte den literarischen Teilaspekt zum soziophilosophischen Gesamtkunstwerk einer bloß noch akademischen Hochtheorie.

Solchermaßen ihren beiden ärgsten rezeptiven Überwucherungen etwas entzerrt, zeigen sich die Subaltern Studies besser kenntlich als zunächst fest auf dem (indischen) Boden der wirklichen und turbulenten 70er Jahre verwurzelt: in der Situation einer nur unvollkommenen Dekolonisierung, im organischen Kontext vielfältiger Befreiungsbewegungen und als paradigmatischer Umsturz der etablierten Geschichtsschreibung. Das revolutionäre Potenzial ihrer Sprengkraft und die auch marxistische Erneuerungsleistung durch ihr beherztes Abschneiden veralteter eurozentrischer Zöpfe wird im folgenden Abschnitt an 2 Beispielen vertieft und nebenbei als spezifisch indisches Verdienst tapferer Subaltern-MarxistInnen gewürdigt.

B) Das Aufsprengen bisheriger Herrschaftshistoriografien und ihrer nachkolonialen Abklätsche als elitäre Geschichte von Oben, die Fokussierung jener von Unten und ihrer Widerstände mittels des auf Indien umgemünzten Hegemonie-Konzepts Gramscis, die Erhebung der Subalternen in den Stand autonomer Geschichtsfähigkeit im Zwangsfeld kolonialer und kapitalistischer Gewaltverhältnisse sowie die fundamentale Infragestellung der herrschenden Geschichtsschreibung als quasi-objektives Fach markieren Aufbrüche im historiografischen Block, die zu erheblichen und auch nicht mehr hintergehbaren Erschütterungen eurozentrischer Gewissheiten einerseits und zur selbstbewussten Anmeldung bislang marginalisierter Geschichten andererseits geführt haben. Die subalternen Innovationen haben bis Ende der 80er darüberhinaus noch weitere Kreise gezogen: Ausweitungen über Indien hinaus etwa nach Lateinamerika und Australien, methodische und theoretische Grundlagenforschungen zur eventuellen Erreichbarkeit nicht-eurozentrischer bzw. anti-essenzialistischer Wissenschaft, die robuste Installation neuartiger feministischer Fragestellungen im Subaltern-Studies- Frameset durch die Erhebung der mehrfach verstummten nicht-weißen Frau. Nicht zuletzt regten sie die Herausbildung der Postcolonial Studies mit an, zu denen sich während der 90er Jahre ein intensives Austauschverhältnis entwickelte, was in der deutschen Rezeption dann wie gesehen zu einer gründlich verdrehten Wahrnehmungsmutation führte. Die aktuelle Neuauflage Chakrabartys mag hier auch in dieser Hinsicht zu einer Entwirrung beitragen können, indem die zusammengeklatschten Stränge wieder etwas auseinandergefieselt werden. Dass hier allzu überformend zusammenwachse, was eigentlich getrennt gehört, war ja bereits ein Punkt, an dem Sarkars gestrenge Kritik sich entzündete. Chakrabarty teilte dagegen nie die Ansicht, „die Subaltern Studies seien durch die schlechte Gesellschaft der postkolonialen Theorie vom rechten Weg abgekommen“, sondern bewertete „die unumgänglichen Zusammenhänge“25 positiver. Beide vermochten allerdings, Subaltern Studies und Postcolonial Theory konzeptionell auseinanderzuhalten.

C) Am somit freigelegten subalternen Strang entlang zurück in die Anfangszeit der Subaltern Studies hangelnd, wird ein weiteres Verdienst ihrer innovativen Historiografiekritik deutlicher, das noch nicht annähernd angemessen gewürdigt wurde: Die genuin marxistische Erneuerungsleistung, die ein orthodox erstarrtes, eurozentrisch borniertes und politisch angepasstes Standbild aus seiner Versteinerung heraus wieder für relevante Befreiungsbewegungen wissenschaftspraktisch in Gang brachte, reanimierte, nutzbar machte. Dass es sich dabei nicht bloß um eine Indisch-Übersetzung des „Geschichte von unten“-Konzepts ähnlich der Art handelte, wie sich zuvor auch Indiens marxistische Geschichtsschreibung insgesamt brav an die abendländischen Rahmen und Prämissen gehalten hatte, war schon benannt worden. Dass die Befreiung marxistischer Geschichtsschreibung aus ihrer eurozentrierten Unmündigkeit, mithin nicht weniger als die Rettung der marxistischen Substanz aus ihrer intellektuellen Sackgasse, im politisch unabhängigen Indien gerade indischen HistorikerInnen gelang, ist durchaus eine herkulische Leistung für ein Land, das in klassisch-marxistischer Lesart „unabweisbar eurozentrisch“26 verzeichnet wird als in vorpolitischer Stagnation, abergläubischer Rückständigkeit und orientalischem Despotismus gefangene Ansammlung von „kleinen, halb barbarischen, halb zivilisierten Gemeinwesen“27. Dem britischen Kolonialismus kommt in dieser Sicht –bei allem angelegentlichen Bedauern der dabei notwendigen Brutalitäten– die zu begrüßende Zivilisierungsmission durch „Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und Schaffung der materiellen Grundlage einer westlichen Gesellschaftsordnung in Asien“28 zu.

Das hier zugrundeliegende imperialherrschaftliche Geschichtsbild musste im unabhängig gewordenen Indien noch mehr als während der nationalen Befreiungskämpfe für marxistische Geschichtsforschende zu einem Problem, ja zu einer Zumutung werden. Auf verschiedenste Weise quälte man sich mit einer überzeugenden Einpassung ins vorgegebene Entwicklungsschema ab, bspw. indem bestimmte Elemente der sog. „asiatischen Produktionsweise“ als indische Varianten des Feudalismus interpretiert wurden oder nach Marx noch unbekannt gewesenen Belegen einer „normalen“ kapitalistischen Entwicklung in Indien gesucht wurde29. Es entstanden freilich auch über sich hinausdeutende Arbeiten innerhalb der vorgelegten Trassenführung wie etwa durch Sharma oder Habib30. Dennoch wurden die eingefahrenen Gleise altmarxistisch reproduzierter Kolonialhistoriografie erst in den 70ern (vor dem Hintergrund enttäuschter Sozialismusvorstellungen, politischer und institutioneller Glaubwürdigkeitskrisen, sozialer Unruhen und diskreditierter Intellektueller) verlassen, durch maoistisch und gramscianisch inspirierte Marxisten der Generation Guha, die dem heiligen Familienvater erstmal rigoros die alten eurozentrischen Zöpfe abschnitten, indem sie den Kotau vor überholten Ideologemen wie eben der „Asiatischen Produktionsweise“ oder der „Orientalischen Despotie“ grundsätzlich verweigerten – und so auch einem schematisch verblasenen Marx vom schwergewordenen Kopf wieder auf die Füße materieller Wirklichkeiten verhalfen.

Seither hat sich von dort aus eine lebendige Diskussion und praxisorientierte Weiterentwicklung marxistischer Ansätze herausgebildet, die zu deren konzeptioneller Modernisierung, globaler Erweiterung und tieferer Verankerung so erheblich beigetragen hat, dass sie auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch eine Rolle spielen – und nicht wie vielfach erwartet vom Ende der Geschichte übermantelt wurden. Erhellende Beispiele der reanimierten Power marxistischen Denkens bieten etwa Ashok Rudras Vorlesungen „Some Problems of Marx’s Theory of History“ oder dessen "Non Eurocentric Marxism and Indian Sopciety", explizit entwickelt "to comprehend Indian history without the concept of Modes of Production" oder Anne M. Baileys „Renewed Discussions on the Concept of the Asiatic Mode of Production“ 198131. So wenig die deutsche Rezeption die historiografischen Innovationen der Subaltern Studies dem tieferen Gehalt nach angemessen registrierte, so wenig nahm auch der hiesige marxistische Mainstream deren konzeptionelle Befruchtungen im weltweiten marxistischen Orientierungskontext wahr. Die gewichtigsten herrschaftsgeschichtlichen Ideologeme wie etwa das aufgeklärte Zivilisationsstufenschema, das AMP-Modell, die Orientaldespotie oder die Dreiteilung indischer Geschichte in Hindu-Altertum, Moghul-Mittelalter und Kolonial-Moderne (mit der überhaupt erst Geschichte in Indien begonnen hätte) waren historisch erledigt und in ihrem eurozentrischen Kern bloßgestellt – doch unter einer allenfalls oberflächlich renovierten Sprachfassade (Neger oder Rasse oder auch Primitive sagt man heute nicht mehr so) wirken sie historische Daten strukturierend und Bilder produzierend durchaus weiter. Auch die marxistische Diskussion selbst hat in Deutschland zum Eurozentrismusproblem über reflexhafte Apologetik und ausweichende Philologismen hinaus32 kaum Substanzielles beizutragen vermocht.

Dies bezeugt eindrucksvoll das immerhin als Bergungsaktion „ebenso wertvoller wie gefährdeter Last“ marxistischer Begriffe und ihrer Bedeutungsgeschichten angetretene „Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus“/HKWM, das zugleich „eurozentrische und unhistorische Weltsichten aufzubrechen“ und Marx damit zu reanimieren beansprucht. Die hier relevanten Einträge müssen nämlich hauptsächlich importiert werden, noch dazu von in allen Ehren ergrauten Eminenzen, die ihre Hochzeit in den 70ern hatten, so L.Krader zur „Asiatischen Produktionsweise“ und B.Wielenga zur „Indischen Frage“. Deren jeweils mustergültig kontextualisierenden marxologischen Klassiker33 wurden bezeichnenderweise bis heute in keiner deutschsprachigen Übersetzung herausgegeben, obwohl beider kritische Lesarten durchaus im konventionell-kompatiblen Rahmen blieben. Die Lexikon-Artikel sind dann derart zurückhaltend formuliert, dass bspw. Kraders Ergebnis, wonach das AMP-Modell durch grundlegende Akzentverschiebungen heute veraltet ist und bei Anwendung „fälschlich(e)“ Rückprojektionen zeitigt34, glattweg überlesen werden könnte. Ein Schelm, wer da an Rücksichten auf die bösen Frischkost-Verdauungsprobleme deutscher DogmatikerInnen denkt. Noch vorsichtiger aufbereitet findet sich „Eurozentrismus“ durch darin eher Unbekannte wie den Ökonomen G.Willing, enttäuschend schwach und auf altbackene Weise verblockt bereits G.Haucks „Entkolonisierung“35. Ein trauriges Beispiel kritikresistent weiterwesender Eurozentrik in ihrer konstitutiven Nähe zum kolonialrassistischen Ressentiment liefert schließlich F.Haugs sarrazinöser „Kopftuchstreit“, der noch dazu weder von Marx noch wenigstens einer marxistischen Debattengeschichte her die sonst stets geforderte thematische Relevanz einlösen kann36.

D) Demgegenüber erstrahlen freilich die in ihrer weltweiten Wirksamkeit, ihrer schmerzhaften Diskussionskonsequenz, ihrer unbarmherzigen Idole-Zerstörung, im trotzigen Mut zur Widersprüchlichkeit als weiteren Ansporn zu noch präziseren Forschungen und in ihrer praxisorientierten erkenntniskritischen Tiefenschärfe so überaus offen ausgetragenen Versuche marxistischer Neuorientierung durch Indiens subalterne HistorikerInnen umso heller, frischer und befruchtender. Das illustrieren besonders eindrucksvoll auch noch die Strategiedebatten innerhalb der Subaltern Studies Group , die im Folgenden anhand des vorgenannten Sarkar-Chakrabarty-Pandey-Disputs genauer dargestellt werden. Diese (und alle anderen wichtigen) kontroversen Inhalte sind mit Chaturvedis vortrefflich zusammengestelltem Sammelband „Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial“37 von 2000 bestens nachvollziehbar. Alle 3 Autoren trieb die zunehmende Kopflastigkeit bei gleichzeitigem politischem Relevanzverlust um. Für Sumit Sarkar, Subaltern -Historiker der alten Schule, markierte die „successful international, and more specifically metropolitan and US-academic career“, die die Gruppe v.a. seit der separaten Textesammlung „Selected Subaltern Studies“ Ende der 80er erfahren hatte38, qualitativen Abstieg und postmodernistische Selbstfragmentierung. Mit starkem klassisch politökonomischem Unterton und recht nahe zur orthodoxen Kritik etwa Ajmads oder Dirliks39 beklagte er die Auflösung der realitären Widerstandsperspektive in kulturelle Dominanz- und Eurozentrismusfragen, die den soziohistorischen Fokus von Bewegungs- und auch Formationspolitik zu Kolonialdiskurskritik und Anti-Enlightenment verschoben habe. Äußere Einflüsse eines Said und auch interne Tendenzen wie etwa Chatterjees Fragmentierungen oder Spivaks Feminisierungen der Geschichte waren für Sarkar gleich „uncritically applying the linguistic model to historiography“40 und versetzten so die ex-linken Subaltern Studies unversehens auf dieselbe Stufe mit rechten Neotraditionalisten.

In „Radical Histories and Question of Enlightenment Rationalism“ bedankte Dipesh Chakrabarty sich zunächst dafür, dass Sarkar in seiner Kritik wenigstens kurz vor dem Faschismusvorwurf noch stehengeblieben war41. Das Problem der Nichterreichbarkeit subalterner Geschichte, dessen extensive „linguistische“ Bearbeitung Sarkar so aufregte, liegt für Chakrabarty im Hyperrationalismus einer kolonialen Moderne, der die marxschen Kapazitäten, auch das Religiöse bzw. Irrationale42 zu erfassen, nicht erkennt und fahrlässig verschenkt. Damit gerät ein scheinbarer Kampf von Vernunft und Humanität gegen Gefühl und Glauben in den Vordergrund, der doch die Subalternen kolonial-reproduktiv bloß wieder zu Objekten einer höheren Fortschrittsmission macht, und die „unreasonable origins of reason“43 werden verschleiert. Mit anschaulichen Beispielen und konkretem Geschichtsmaterial behauptet sich Chakrabarty gegen Sarkar, den er vor einer fiesen Konsequenz stehen lässt: „If Enlightenment rationalism is the only way human societies can humanize themselves, then we ought to be grateful that the Europeans set out to dominate the world and spread its message.“44 Hiergegen setzt er Geschichte als demokratischen Dialog mit Subalternen, wofür –über (kolonial-imperial) aufgeklärten Rationalismus in brauchbarer Aufbereitung hinaus– eben gerade dekonstruktionistische Ansätze und differenzierende (statt autoritär homogenisierender) Techniken genutzt werden müssten. Gyan Pandey, explizit thompsonianisch und wie Sarkar und Chakrabarty klar marx-orientiert, gelangte in „Voices from the Edge: The Struggle to Write Subaltern Histories“45 vom historiografiekritischen Ende her zur Zurückweisung der überkommenen Einheitserzählungen inklusive nationaler, modernistischer und i.d.S. marxistischer Varianten (neben den genannten Habib, Panikkar oder Stone ist da Sarkar natürlich „mitgemeint“). Die an den Rand gedrängten Stimmen der Subalternen sind logischerweise fragmentiert und der erzkoloniale Diskurs einer triumphalen modernen Rationalität mit ihren übergeordneten „Narratives“ perpetuiere nur den Standpunkt der Privilegierten anstatt Leben, Kämpfe und Widersprüche der Subalternen historisch zu entziffern und für die Gegenwart emanzipatorisch zur Sprache zu bringen.

Zusammenfassend lässt sich aus einer zeitlichen Distanz heraus nun durchaus sagen, dass der von den Subaltern Studies begonnene Weg, „über indische Geschichte in marxscher Begrifflichkeit nachzudenken“46 auch mit seinen Erweiterungen und Anreicherungen der subalternen Fragestellung etwa in trikontinentaler, feministischer, diskursanalytischer oder ökologischer Richtung insgesamt noch lange nicht im Morast postmodernistischer Beliebigkeit oder übertheoretisierter Irrelevanz steckengeblieben ist. Davon zeugt Chakrabartys weiterhin aktuelles und jetzt auch auf deutsch vorliegendes „Europa als Provinz“-Projekt ebenso wie das spannende und erfrischend heutige Programm der Subaltern Studies -Konferenz in Canberra 2011, dessen Panel übrigens mit deutlicher Mehrheit weiblich besetzt war47. Es gab abwechslungsreich angelegte Fachvorträge in einem breiten Themenspektrum von „Revolution and History: Marxism and Subaltern Studies“ über „Subaltern Sexualities and the Archives in Colonial India“ und „Subaltern Studies, Aboriginal History and the Pilbara Aboriginal Stockworkers’ Strike“ bis hin zur Verbindung mit „the Postcolonial Moment“ oder den „Dacoit as Subaltern“. Sie wurden angeregt diskutiert und vor Ort im akademisch interessierten Publikum recht breit rezipiert. Das internationale Fachinteresse scheint ebenfalls groß genug zu sein, um einen Sammelband der Beiträge auf den Weg zu bringen. Die Leitfrage der Konferenz, „if Subaltern Studies continues to retain its innovative force“48, darf also tendenziell positiv beantwortet werden.

E) „Indische Geschichte vermittels marxscher Existenzbestimmungsformen zu bedenken“ führte also, sofern dort von unten aus der Perspektive subalternen Widerstands angegangen, zum AUFSPRENGEN herrschender Kolonialhistoriografie und regte Cultural Studies sowie Postcolonial Theory maßgeblich mit an; zu spezifischen und genuin MARXISTISCHEN ERNEUERUNGS-LEISTUNGEN über einen wundgelaufenen und diskreditierten geschichtsbildnerischen Totenkreisel hinaus; schließlich zu einer Erweiterung und Bereicherung solidarischer DENK- UND STREITKULTUR, die die eurozentrischen und rassistischen Zumutungen orthodoxer Marxismen ebenso auf einem höheren Reflektionsniveau zu verarbeiten unternahm49 wie die scharfen gruppeninternen Widersprüche; aber all dies wird erst nach einem radikalen RÜCKSCHNITT DER ÜBERWUCHERUNGEN sichtbar, die die originalen Subaltern Studies v.a. rezeptionell immer wieder überlagert haben, so dass sie zwischenzeitlich gar wie eine Art Unterabteilung der Postcolonial Theory `rüberkamen50. Auch von hier aus wird „Geschichte“ als endlos beweglich und umkämpftes Terrain erkennbar, selbst wenn jahrhundertlange Dominanz gewöhnte Herrenreiter und Platzhirsche dieses Schlachtfelds in der falschen Sicherheit ihrer historisch gewachsenen Borniertheit diese unsicheren Grundlagen nicht mehr wahrnehmen. In dieser Sicht ist es nicht so verwunderlich, dass auf historiografischer Ebene eigentlich schon falsifizierte Modelle und Figuren in „der Geschichte“ dennoch weiterwesen. Die Schwierigkeiten und Langlebigkeiten solcher obsoleten Ideologeme lassen sich, in Teilen wurde das bereits angedeutet, exemplarisch bei liebgewonnenen Modellen wie dem der Asiatischen Produktionsweise, der Zivilisationsstufenlehre oder auch der Aryan Invasion Theory 51 und historischen Legitimationsfiguren wie dem Orientaldespoten52, dem apathischen Bauern oder auch der bis zur Witwenverbrennung hilflosen Inderin53 recht schnell aufzeigen. Wir wählen an dieser Stelle das Fallbeispiel „Communalism“ zur eingehenderen Betrachtung. Die wegweisenden Arbeiten hierzu hat seitens der Subalterns Gyan Pandey geliefert, was einmal mehr die qualitative Innovationskraft ihres Ansatzes aufzeigt.

Etabliert hat den Kommunalismus als Erklärungsmodell für die soziale Verfasstheit und Funktionsweise Indiens deren britische Kolonialmacht, die daraus gleichzeitig ihre Herrschafts- und Erziehungsberechtigung sowie ein autokompatibles gefälliges Selbstbild im Sinne eines aufgeklärt-wohlwollenden Paternalismus ableitete. Der historische Vorgang lässt sich heute gut und genau rekonstruieren sowie eingrenzen auf eine im Wesentlichen während des 19.Jahrhunderts in den britisch-indischen Kolonialberichten und ihrer Weiterverarbeitung gelaufenen Konstruktionsgeschichte – keinesfalls außer Acht lassend, dass es auch im vorkolonialen Indien selbstredend deutlich unterscheidbare Communities (v.a. Muslime und Hindus, zu denen in weißer Sicht noch der ganze nichtchristliche Rest zählte) gab und manchmal ebenso Konflikte zwischen diesen.

Was jedoch die geradezu pathogene Wahrnehmung und Darstellung als 2 schon seit vorkolonialen Ewigkeiten verfeindete und allzeit einander tötungsbereite Religionsgruppen angeht, so handelt es sich um ein Paradebeispiel essenzialisierender orientalistischer Kolonialgeschichtsschreibung und noch die klassisch-gültige „Definition“ des „Kommunalismus“ entstammt der eurozentrischen Sicht britischer Herren auf indischem Boden: „Jene Ideologie, welche als soziale, politische und ökonomische Einheit die Anhänger der diversen Religionen betont und die Unterscheidung, sogar den Antagonismus zwischen solchen Gruppen hervorhebt.“54 Als Wilfred Cantwell-Smith im Rahmen einer voluminösen Sozialanalyse sein „introductory essay on communalism“ wenige Jahre vor der indischen Unabhängigkeit so einleitete, kam eine bis ins 18.Jahrhundert zurückreichende Tradition kolonialer Beamtenrapport-Historiografie gepaart mit orientalistischer Gelahrtheitsprosa zu einem hier besonders fortschrittsorientiertem Abschluss. Mit den blutigen Exzessen während der „Partition“55 konnten sich jedoch die Herrensichten jeder politischen Richtung gleichermaßen selbst bestätigt fühlen nach dem Motto „Sowas passiert, wenn die religiös-mentalitär zum Krawall vorbestimmten Inder ohne die benevolente Herrschaft und Erziehung abendländischer Zivilisation auskommen müssen.“ Dass die britische Teile-und-Herrsche -Politik religionsgemeindliche Gegensätze zu diesem Zeitpunkt schon seit fast 2 Jahrhunderten zur Herrschaftssicherung erst hochkonstruiert und dann geschürt und instrumentalisiert hatte56, unmittelbar vor der Partition im Übrigen im vollen Bewusstsein der während der komplizierten Abspaltungs- bzw. Einheitsverhandlungen zu Bengalen und dem Panjab verschärft aufgestauten Spannungen das bei schwerem Wetter bereits stark krängende Schiff kaltlächelnd sich selbst überließ57, wird in solcher Optik mit zynischer Eleganz ausgeblendet.

Demgegenüber gab es in der bis heute streitbar vielseitigen geschichtswissenschaftlichen Interpretation der Partition freilich auch solche, die den misslungenen „Transfer of Power“ fokussierten, aber analog zu historischen Schuldzuweisungen an die verhandlungssture Muslimliga unter M.A.Jinnah oder den bis zum Mord an Gandhi anschwellenden „Hindunationalismus“, wird das kommunalistische Paradigma so nur beibehalten. Systematisch und exemplarisch dekonstruiert hat das erst und v.a. Gyan Pandey, dessen „Colonial Construction of Communalism“ 1988 anhand der sog. „Banares Riots“ von 1809 und ihrer offiziellen Berichtung über ein Jahrhundert hinweg58 den Nachweis führte, wie im Einzelnen nach aktuellen Anforderungen „gestalterisch“ mit Zahlen, Fakten und Darstellungen umgegangen und dass zu keinem Zeitpunkt dabei der Boden der erkenntnisleitenden Prämisse verlassen wurde – nämlich der konflikthaltige „religious antagonism of the Hindu and Moslem section of population“59, der mittels dieses einen speziellen Ereignisses zum Charakteristikum indischer Gesellschaft stereotypisiert wurde: „The history of Banares is, to a great extent, the history of India“60. Zwar schwankten die hier bis 1907 berichteten Opferzahlen erheblich (von 28-29 über nurmehr rund 20 wieder hoch auf mehrere 100) und ebenso die Angaben zum Ablauf, zu den Rollen von Soldaten und Polizisten, zum unmittelbaren Anlass und sogar zum Ort des Ausbruchs, welchletzterer bspw. sich in den 100 Jahren seiner Berichtung vom mit kleineren bikonfessionellen Gebetsorten versehenen Lat Bhairava zur Aurangzeb-Moschee auf dem Platz des alten Vishnavath-Tempels61 verschoben hatte. Derlei Unstimmigkeiten jedoch zum Anlass grundlegenden Hinterfragens und dann Verneinens des gesamten kommunalistischen Schemas anstatt bloß wohlbemessener Korrekturen oder auch z.B. klassenanalytisch-ökonomischer Nachrüstungen zu nehmen, ist das spezielle Verdienst solcher Subaltern Studies geblieben, wie Pandey sie abgeliefert hat.

Als archimedischen Punkt arbeitete dieser die koloniale Reduktion indischer Geschichte auf Staatsgeschichte heraus bzw. ihren Antagonismus im ewigen Antipoden ungezähmter, chaotischer und leicht explodierender Lokalgesellschaften. Die noch im 18.Jahrhundert evidente und im Mutterland auch teils heftig kritisierte despotische Willkür, Brutalität und selber chaotisch-korrupte Amtsführung der Briten in Indien konnte durch die essenzialisierende Verlagerung gewaltförmiger Dispositionen in eine lange vorkoloniale Tradition hoffnungslos religiös gespaltener und regierungsunfähiger Inder in den Hintergrund verdrängt werden und aus diesem dann im geläuterten Selbstbild des kolonialen Staates als besserem, wohlwollendem, neutral Gesetz und Ordnung garantierendem Herrscher zum Erbe einer delegitimierten Orientaldespotie wieder hervortreten. Gegenüber der unzivilisierten hysterischen eingeborenen Gewalt (die einige Parallelen zur „violence of the 18th and even 19th century European mob – hungry, displaced, turbulent“62 aufweist), erstrahlte die an sich unverändert despotische Gewalt der Kolonialherrschaft nun im günstigeren Licht eines kontrolliert-rationalen, staatlich-legitimen Anscheins. Den Ausgangspunkt, von dem aus Pandey die Spur des Kommunalismus als kolonialem Konstrukt aufnahm (und worin die Subaltern Studies als eine „Geschichte von unten“ erkennbar werden), lieferten ihm seit den frühen 80er Jahren aufgeworfene Unstimmigkeiten herkömmlicher Geschichtsschreibung „von oben“ gegenüber abweichenden Befunden, die bei genauer und aus der Perspektive subalterner Gruppen konsequent gegen den Strich lesender Quellenarbeit hervortraten – hier zunächst betreffs der „Joolahirs“, muslimischer Weber im nördlichen Indien, und ihrer negativen Zeichnung in kolonialhistorischer Überlieferung63.

Eine fundamental kritische Haltung zum Kommunalismus nahmen in den 80er Jahren auch diverse IndienhistorikerInnen außerhalb der Subaltern Studies auf, so etwa C.A.Bayly, der 1985 die „Pre-History of ‚Communalism’“-Interpretation bereits in der Überschrift mit einem Fragezeichen versah. Statt vorgeschichtlich festgefügter Community -Identitäten als Muslim, Hindu oder Sikh („seems most dubious on methodological and philosophical grounds, quite apart from the virtual impossibility of proving empirically that such entities ever existed“64) sind historisch nachzuweisen eher sehr flexible und vielgestaltige religiöse Ausdrucksformen, die stark von politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen durchdrungen waren. Unter bestimmten Krisenbedingungen konnten in manchen soziopolitischen Settings Konflikte entlang religiöser Linien aufbrechen – aber „Preconditions are not the same as causes“65 und sie sind neben vielem anderen nicht zuletzt zugänglich für staatliche Interventionen. Bayly entwickelt hier den nützlichen Begriff des „State Communalism“, der nicht nur auf kolonialstaatliches Handeln anwendbar ist, sondern von Bayly zunächst im Kontext regionalstaatlicher Konsolidierungsbemühungen im sich dezentrierenden Mogulreich des 18. und frühen 19.Jahrhunderts eingeführt wird (im Fall Awadhs übrigens mit dem Versuch, die schiitische Identität zu stärken, was das Verhältnis zur sunnitischen Gruppe fast schwerwiegender belastete als jenes zu Hindus). Das gefährliche Spiel des Staatskommunalismus hat von seiner Aktualität nichts eingebüßt und wird heute von sog. hindunationalistischen Kräften wie der BJP betrieben, die ihn überall dort, wo sie starke Landesregierungen stellt, zur Anwendung bringt. Entsprechend entluden sich in jüngerer Vergangenheit latente Konflikte verschiedenster Provenienz in blutigen religiösen Feldzügen gegen Muslime – so in den Bundesländern Gujarat 2002 und Uttar Pradesh 1992, nicht aber etwa in Bengalen, wo bei gleichermaßen konflikthafter Konstellation die linke Landesregierung keine entsprechende Hetze oder gar Pogrome zugelassen hat. Zur großen Tragödie der Partition 1947 hat unlängst Yasmin Khan eine bedrückende Geschichte „von unten“ in dem Sinne vorgelegt, dass sie das entsetzliche Leid der betroffenen Massen, eine verantwortungslos hineinmanipulierende und aufstachelnde Politpropaganda sowie die tragende Rolle der Mittelklassen fokussiert66.

An den früheren Dekonstruktionsbeiträgen indienhistoriografisch tradierter Interpretationsmuster der 80er maßgeblich beteiligt war auch Romila Thapar mit ihrer „kritischen Religionsgeschichte“, wonach es bis ins 20.Jahrhundert hinein weder Moslems noch Hindus –als westlich verstandene kategoriale Entitäten– gegeben hatte. Erst die koloniale Ordnung des orientalischen Regierungsrätsels nach Maßgabe ihrer eigenen epistemischen Raster und stets mit Blick auf konkreter herrschaftstechnischer Nutzbarkeit systematisierte, ja erschuf aus der sehr speziellen und privilegierten Perspektive einiger kollaborationswilliger Pandits und ihrer Idealvorstellungen das Bild einer uralten Hindu-Tradition67. Demgegenüber musste die Vielfalt abweichender, volkstümlicher, nicht-sanskritischer oder absolut lokaler Hinduismen samt ihrer jeweiligen sozialen und historischen Kontexte natürlich verloren gehen. Thapar folgert aus ihren umfangreichen Ausgrabungen verschiedenster Hindu-Gruppen im antiken Indien denn auch, es sei „unlikely that such a group saw itself as part of a larger community“68. Aus einer allenfalls lose religiös konnotierten geografischen Bezeichnung (das arabische Al-Hind für „jenseits des Indus“) wurde so über zunächst nur eingegrenzt wirksame Brahmanisierungen und Sanskritisierungen einer gelehrten Elite und ihrer normativen Wunschbilder die mit den britischen Orientalisten seit etwa 1776 und anglizistischeren Wissensproduzenten wie James Mill 1820 mit seiner stilprägenden History of British India 69 als historische Realität herbeihomogenisierte Hindu- Community, welche daraus wiederum eine eigene Renaissance70 ableitete. Bei aller Spezifik handelt es sich hier ersichtlich ebenso um ein soziopolitisches Making und Imagining wie es Benedict Andersen zur „Erfindung der Nationen“ als kollektiv-mobilisierende Identitätskonstruktionen71 beschrieben hat – und genauso modern statt etwa archaisch nahm und nimmt es auch Formen an72. So sind die tragenden Kräfte der jüngsten kommunalistischen Ausschreitungen (und Pogrome) in Indien nach wie vor Mitglieder der Ober- und Mittelklassen, die in gut aufgestellten Verbänden ausgebildet und organisiert sind und per Handy und Internet Eliminationslisten von muslimischen Häusern austauschen bzw. abarbeiten (lassen). Und von Anfang an speiste sich die Hindu-Renaissance aus kolonial kontaminierten Quellen, die ausgerechnet antiquierte, elitäre, äußerst selektive und ultrakonservative Sichtweisen reanimierten und auf ein verallgemeinerndes Schild hoben. Diese Reproduktion auf Indisch einer originär kolonial-legitmatorischen Vergangenheitskonstruktion enthielt insbesondere auch die Exklusion des muslimischen Anteils als eigentlich unindisch, umgekehrt versprach die wiederentdeckende Rückkehr zur imaginierten antiken Blütezeit, die angenommene Degeneriertheit in triumphaler Einheit überwinden zu können.

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Excerpt out of 67 pages

Details

Title
Subaltern Studies 3.0. Überblick zum 30-jährigen Jubiläum unter besonderer Berücksichtigung der Rezeption in Deutschland
Author
Year
2012
Pages
67
Catalog Number
V1003469
ISBN (eBook)
9783346381583
ISBN (Book)
9783346381590
Language
German
Keywords
Historiografie, Subaltern Studies, Geschichtsschreibung, Herrschaftsgeschichte, Befreiungsgeschichte, Historiografiekritik, Rezeption, Moderne außereuropäische Geschichte, postkolonial, eurozentrisch, Europa provinzialisieren, Subaltern speak, Orientalism
Quote paper
Jürgen Krämer (Author), 2012, Subaltern Studies 3.0. Überblick zum 30-jährigen Jubiläum unter besonderer Berücksichtigung der Rezeption in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1003469

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