Literarisches Lernen im Kontext gendersensiblen Unterrichts. Ein Unterrichtsentwurf zum Kinderroman Ronja Räubertochter (Deutsch, Klasse 5-7)


Dossier / Travail, 2019

31 Pages, Note: 1,7


Extrait


1 Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ausgangslage
2.1 Theoretischer Teil
2.2 Forschungsstand

3. Methodisches Vorgehen

4. Ergebnisse
4.1 Literaturauswahl
4.2 Didaktische Planung: Unterrichtsentwurf

5. Diskussion

6. Literaturverzeichnis

Anhang
Anhang I
Anhang II
Anhang III
Anhang IV
Anhang V

1. Einleitung

Vielleicht genügt schon ein Blick in die Auslagen einer Buchhandlung oder eines Spielzeuggeschäfts: Die Farbkodierung „Blau für eine männliche Zielgruppe“ und „Rosa für eine weibliche Zielgruppe“ sticht ins Auge. Teilweise braucht der/die Konsument_in sich auch gar nicht mehr fragen, welche Bücher für wen gedacht sind, denn Hinweisschilder „für Mädchen“, „Für Jungen“ zeigen den Weg zum richtigen Buch für das richtige Kind.

Alltagsbeobachtungen wie diese greifen die Autor_innen Brunner, Ebitsch, Hildebrand und Schories in ihrem Artikel „Blaue Bücher, rosa Bücher“ aus der Sueddeutschen Zeitung vom 11.01.2019 auf: Sie systematisieren den Inhalt des Schlagwortkataloges der Bibliothek für Jugendbuchforschung der Universität Frankfurt am Main und stoßen dabei auf aufschlussreiche Phänomene. So zeigt sich in der Wortwolke, die Schlagworte umfasst, die explizit für Bücher mit männlichen Protagonisten angegeben werden, ein großes Spektrum an Handlungsorten, Themen und Figuren. Die Wortwolke mit den Schlagworten, die explizit für Bücher mit weiblichen Protagonistinnen angegeben werden, ist nicht nur insgesamt kleiner, es werden auch mehrheitlich Begriffe genannt, die man der Alltagswelt oder der inneren Lebenswelt zuordnen kann (z.B. ‚Freundschaft‘, ‚Reiterhof‘, ‚Schülerin‘, ‚Peinlichkeit‘, ‚Psychische Verarbeitung‘). Begriffe, die man geheimhin eher abenteuerlichen Geschichten zuordnen würde (z.B. ‚Sieg‘, ‚Schwert‘, ‚Unrecht‘, ‚Überlebender‘ aus der „männlichen“ Wolke) findet man in der rosafarbenen Wolke weniger, Ausnahmen sind die Wörter ‚Rebellin‘, ‚Kapitänin‘ und ‚Fantasy‘. Diese Zuordnung bestimmter Schlagworte zu bestimmten Geschlechtern lässt darauf schließen, dass Kinder- und Jugendliteratur bestehende Geschlechterstereotype reproduziert.

Noch deutlicher wird diese Tendenz von Kerstin Böhm in ihrem Buch „Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kinder- und Jugendliteratur“ herausgearbeitet: Mit der Bestimmung männlicher Protagonisten für die Umgebungen der Öffentlichkeit und der Außenwelt werde ihnen gleichermaßen Eigenschaften wie Willenskraft, Aktivität und Tapferkeit zugeschrieben, auf der Seite der weiblichen Protagonistinnen findet man Begriffe wie Passivität, Emotionalität und Schwäche (vgl. Böhm 2017, S. 37f).

Geht man davon aus, dass das Lesen als identitätsstiftende Freizeitbeschäftigung die Wahrnehmung der Welt von Kindern und Jugendlichen mitprägt, muss eine derart einseitige Darstellung von Protagonist_innen als problematisch betrachtet werden.

Vor dem Hintergrund des sächsischen Orientierungsrahmens für die Familien- und Sexualerziehung an sächsischen Schulen lässt sich die Notwendigkeit erkennen, stereotype Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit auch in der Schule zu thematisieren:

„Aufschlussreich für Jungen und Mädchen ist weiterhin die geschlechtsbezogene Behandlung des Themas „Geschlechtstypisches Verhalten“. Die Klassifizierung von Verhaltensweisen als „geschlechtstypisch“ kann im Unterricht problematisiert und in Beziehung zu Werten wie Gleichberechtigung und Selbstbestimmung gebracht werden. Jungen und Mädchen sollen ihr eigenes „weibliches“ und „männliches“ Verhalten und das anderer Personen einschließlich „typischer“ Konflikte zwischen Frauen und Männern besser verstehen lernen. Klischeevorstellungen wie „typisch Junge“ und „typisch Mädchen“ müssen kritisch geprüft werden, um Vorurteile und Fremdbestimmung abzubauen.“ (Staatsministerium für Kultus 2016, S. 11)

Der Literaturunterricht kann als Chance gesehen werden, mit Kindern und Jugendlichen über stereotype Verhaltensweisen und Rollenerwartungen ins Gespräch zu kommen. Der Rahmen einer fiktiven Geschichte kann einerseits den persönlichen Raum von Schüler_innen wahren, andererseits lädt er zur Identifikation mit den Figuren ein und kann so zu größerer emotionaler Involviertheit führen.

Die Arbeit soll also von folgender Fragestellung geleitet sein: Wie muss ein Literaturunterricht gestaltet sein, in dem Schüler_innen Geschlechterstereotype anhand von Kinder- und Jugendliteratur (im Folgenden: KJL) analysieren und reflektieren können?

Exemplarisch soll diese Frage anhand des Kinderromans „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren beantwortet werden. Der Roman eignet sich aufgrund einer Vielzahl von sowohl weiblich als auch männlich gelesener Figuren, die sich teilweise geschlechtskonform verhalten, oft aber auch aus ihren Geschlechterrollen ausbrechen (mehr zur Begründung der Literaturwahl im Ergebnisteil der Arbeit).

2. Ausgangslage

2.1 Theoretischer Teil

Der Begriff Gender hat auch in Deutschland Einzug in die Debatte um Gleichberechtigung von Männern, Frauen und anderen Geschlechtern gefunden. Nach Inge Stephan (1999) ergibt sich der Begriff zunächst aus der Unterscheidung von ‚sex‘ und ‚gender‘ in der englischen Sprache. Durch die Differenzierung dieser Begriffe entstehe „ein kultureller und historischer Rahmen, in dem die Frage nach der Konstruiertheit von Geschlecht, […], überhaupt erst möglich wird.“ (Stephan 1999, S. 28). Im deutschen zeigt der Begriff des ‚sozialen Geschlechts‘ einen Versuch, nachholend einen Entsprechung für das englische Wort Gender zu schaffen.

Der Gender-Begriff gibt also einerseits die Möglichkeit, zwischen biologischem und sozialem Geschlecht zu trennen und somit auch die soziale Konstruktion der Kategorie mit zu denken.

Andererseits bezieht sich der Begriff nicht nur auf binäre Vorstellungen von Geschlecht, sondern auf alle Geschlechter und stellt gleichzeitig die vermeintlich absolute Trennung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage:

„Der Vorteil der Gender-Kategorie liegt im Vergleich zu den von der älteren feministischen verwendeten Begriffen ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ in ihrem Vermögen, beide Geschlechter einzuschließen, problematische Trennungen aufzuheben und Übergänge fließend zu halten.“ (Stephan/von Braun 2006, S. 4)

Da es speziell im schulischen Unterricht um eine Förderung aller Schüler_innen unabhängig von ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht geht, ebenso wie die Förderung Kinder und Jugendlicher, die sich in ihrer Geschlechtsidentität fließend bewegen, soll in dieser Arbeit der Gender-Begriff dem des sozialen Geschlechts vorgezogen werden, um Bildungsprozesse zu beschreiben, die Geschlechtlichkeit thematisieren.

Wie einleitend beschrieben ist jedoch ein Großteil der KJL gerade nicht von differenzierten Vorstellungen über Gender geprägt, sondern von der traditionellen Vorstellungen der Zweigeschlechtlichtkeit der Menschheit. Deshalb soll für die Frage nach Geschlechterstereotypen nicht der Begriff Gender (im Sinne von „Genderstereotype“) verwendet werden, denn Gender beschreibt einen Kategorie der Offenheit, die Stereotype Darstellungen in ihrer Enge nicht erreichen können.

Bear (2012) definiert Stereotype als „vereinfachende Vorstellungen über Menschen, welche die Wahrnehmung einer Person bestimmen. Sie basieren auf Vorstellungen und Mustern, die im täglichen Umgang nicht mehr hinterfragt werden.“

Das Problem von stereotypen Darstellungen, vor allem in der KJL, liegt also in der Konsequenz dieser Denkweise, die eine einengende Wahrnehmung von Personen oder Personengruppen befördert. Besonders deutlich wird dies an Geschlechterstereotypen, die zwei Elemente enthalten: Die deskriptive Seite eines Stereotyps prägt das individuelle und kulturelle Verständnis davon, welche Eigenschaften ein Geschlecht aufweist, die präskriptive Seite gibt Auskunft darüber, welche Eigenschaften ein Geschlecht aufweisen soll. Wird die präskriptive Seite eines Stereotyps durch gegensätzliche Erfahrungen widerlegt, können soziale Sanktionen die Folge sein. (Vgl. Eckes 2010, S. 178) Inhaltlich stimmen die den Geschlechtern zugewiesenen Eigenschaften (bei Eckes sind dies auf der Seite der Frauen u.a. das Konzept der Wärme, auf der Seite der Männer das der Kompetenz) mit den stereotypen Darstellungen, wie sie in der KJL zu finden sind (s. Einleitung), überein (vgl. Eckes 2010, S. 179).

Wenn jedoch „Verletzungen der stereotypen Erwartungen […] nur selten zu einer Änderung“ (Prentice/Carranza 2003, zit. nach Eckes 2010, S. 178) führen, stellt sich die Frage, wie Schüler_innen an ein differenziertes Verständnis von Geschlecht herangeführt werden können.

Karla Müller und Hans Krah (2016) führen, bezogen auf den Literaturunterricht, zur Beantwortung dieser Frage das Konzept der Genderkompetenz an, beschrieben als „die Fähigkeit, relevante Aspekte von sozialen Geschlechterkonstruktionen in der Kinder- und Jugendliteratur zu erkennen und gleichstellungsorientiert im und für den Literaturunterricht zu bearbeiten.“ (ebd., S. 6). Der erste Schritt besteht für Lehrer_innen also darin, sich ausführlich mit der zu behandelnden Literatur auseinanderzusetzen. Im zweiten, didaktischen, Schritt geht es darum, “[…], den symbolischen Vorrat an Genderentwürfen zu erweitern, […]“ (Schilcher & Müller 2016, S. 29). Es geht also weniger darum, ob Schüler_innen mit nicht-sterotypen Darstellungen konfrontiert werden, sondern darum, auf welche Weise dies geschieht. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt die Identifikation mit literarischen Texten und Figuren. Nach Schilcher und Müller ist eine wirklich tiefgehende Beschäftigung mit Geschlechtsstereotypen in Texten nur in einem Identitätsorientierten Literaturunterricht möglich (vgl. Schilcher & Müller 2016, S. 29). Die Fähigkeit, vielfältige Lebens-, Geschlechts- und Identitätsentwürfe zu tolerieren und wertzuschätzen gelingt nach Frederking „über das empathische Einlassen auf die im Text entfalteten fremden Weltsichten“ (Frederking 2010, S. 423). Jede_r Schüler_in werde „herausgefordert, sich auf die Deutungen anderer einzulassen und diese perspektivisch nachzuvollziehen“ (ebd.).

Es lässt sich also festhalten, dass für die Gestaltung eines Literaturunterrichts, der Geschlechterstereotype hinterfragen und möglicherweise dekonstruieren will, eine Orientierung an der Kategorie Gender hilfreich ist, welche die Offenheit zulässt, die Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ grundsätzlich zu hinterfragen. Diese Komponente kommt am ehesten in der Haltung der Lehrkraft in Bezug auf die involvierten Schüler_innen sowie in der Sicht auf den vorliegenden Text zum Tragen. Schließlich bedarf es sowohl im behandelten Text als auch im konkreten Unterricht vielfältiger Identifikationsmöglichkeiten für die Schüler_innen mit den Figuren, sowie einer genderkompetenten Anleitung durch die Lehrkraft, um die gesellschaftlich konstruierten Anteile von Geschlecht im Text zu durchschauen.

2.2 Forschungsstand

Zahlreiche Forschungen zeigen, dass und wie Geschlechterstereotype die KJL bestimmen. Die Autor_innen Hamilton, Anderson, Broaddus und Young analysierten in der Studie aus dem US-amerikanischen Raum „Gender Stereotyping and Under-representation of female Characters in 200 Popular Children’s Picture Books: A Twenty-first Century Update“ 200 Bilderbücher, die einen großen Markterfolg hatten (zum genauen Forschungsdesign: s. Hamilton, Anderson, Broaddus und Young 2006, S. 759-761). Es konnte u.a. festgestellt werden, dass insgesamt mehr Jungen als Mädchen repräsentiert waren, dass weibliche Charaktere eher drinnen (im Haus o.ä.) und männliche eher draußen dargestellt werden und weibliche Charaktere in der Regel in traditionell von Frauen ausgeführten Berufe arbeiteten oder keiner Lohnarbeit nachgingen während Männer in einer Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitswelten dargestellt wurden (vgl. ebd., S. 761-762).

Hier fallen Gemeinsamkeiten mit den systematisierten Wortwolken aus der Arbeit von Brunner, Ebitsch, Hildebrand und Schories (s. Einleitung) auf: Weibliche Figuren sind im häuslichen, privaten Bereich zu finden, männliche im öffentlichen und haben insgesamt einen größeren Handlungsspielraum.

Allerdings kann man bei der bloßen Draufsicht nicht wirklich erkennen, welche Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit wirklich transportiert werden. So muss anerkannt werden, dass (bezogen auf der Beispiel der Mädchenliteratur) „auch triviale und unterhaltende Texte neue Modellbildungen integriert haben […]“ (Schilcher 2012, S. 130). Schilcher zeigt an einigen Beispielen, dass aktives und problemlösendes Handeln in der aktueller KJL, die sich an Mädchen richtet, oft positiv bewertet wird, was (vgl. Schilcher 2012, S. 134-135).

Trotzdem lässt sich gerade in Literatur für Teenager feststellen, dass sich Wünsche und Ambitionen der weiblichen Protagonist_innen immer wieder auf die Akzeptanz und vor allem romantische Liebe in der männlichen Welt beziehen. Hans Krah stellt dies insbesondere in der erfolgreiche Buchreihe „Freche Mädchen – freche Bücher“ fest (vgl. Krah 2016, S. 81).

Für die Forschungsfrage lässt sich also ableiten, dass ein Literaturunterricht, der Geschlechterstereotype kritisch hinterfragen will, als erstes auf die Auswahl der Literatur achten sollte. Geht es darum, mit Schüler_innen herauszuarbeiten, dass Stereotype in der Literatur existieren, kann sicher auf aktuelle KJL des Mainstreams zurückgegriffen werden. Da die Lebensrealität von Jugendlichen jedoch deutlich komplexer ist als das Bild, das die aktuelle KJL von ihnen zeichnet, ist fragwürdig, ob diese Literatur genügend Identifikationspotenzial bietet.

Wenn das Ziel verfolgt werden soll, Anknüpfungspunkte an die eventuell in der Lebensrealität wahrgenommenen Aspekte der Gender-Thematik anzuknüpfen, sollte die Literatur im Sinne des identitätsorientierten Literaturunterrichts mehr als geschlechterstereotypische Darstellungen aufweisen.

Geht man davon aus, dass Schüler_innen sich mithilfe von identitätsstiftenden Texten mit Gender auseinandersetzen können, stellt sich die Frage, inwieweit ihre Identität überhaupt von Texten beeinflusst wird. Diese Frage hängt mit dem Identifikationsprozess und dessen Faktoren beim Lesen zusammen. Friederike Pronold-Günthner wies in ihrer empirischen Untersuchung „Geschlecht und Identifikation“ „Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Identifikationsprozess“ (Pronold-Günthner 2010, S. 192) nach.

In der Studie wurden insgesamt 547 Schüler_innen der fünften, siebten und neunten Klassenstufe (Hauptschule, Realschule und Gymnasium) über ein Schuljahr dazu befragt, wie sie sich mit den Hauptfiguren (es gab jeweils eine männliche und eine weiblich gelesene Hauptfigur) der altersgerechter Literatur identifizierten (zum genauen Forschungsdesign: s. ebd., S. 49-153).

Zur Frage, welche Rolle die Jugendlichen gerne in der Geschichte übernehmen würden, wählten „nahezu alle“ (ebd., S. 203) die Hauptfigur, deren Geschlecht mit ihrem eigenen Geschlecht übereinstimmte. Nicht ganz so eindeutig fielen die Ergebnisse bezüglich der Identifikation mit den Charakteren aus: Männliche Studienteilnehmer konnten sich zum großen Teil nur mit dem männlichen Protagonisten identifizieren, auf der Seite der sich weiblich definierenden Studienteilnehmerinnen war bei der Frage „Konntest du dich beim Lesen in die Hauptperson hineinversetzen und ihr Handeln miterleben?“ (ebd., S. 203) keine Präferenz für eine/n der beiden Protagonist_innen signifikant. (Vgl. ebd., S. 203-204). Auch in der enger gefassten Fragestellung „Hast du dir vorgestellt, wie du dich fühlen würdest, wenn du dich in der Situation von … befinden würdest?“ (ebd., S. 252) gaben Mädchen an, sich sowohl in männliche als auch weibliche Protagonist_innen hineinversetzen zu können, Jungen gaben dies mehrheitlich nur für den gleichgeschlechtlichen Protagonisten an.

Ein weiteres für diese Arbeit relevantes Ergebnis war, dass Jungen und Mädchen sich umso stärker mit einem Charakter identifizieren konnten, je mehr Gemeinsamkeiten sie (über das gemeinsame Geschlecht hinaus) zwischen sich selbst und diesem entdeckten (vgl. ebd., S. 272).

Interessant ist zudem, dass sogenannte Antiheld_innen zumindest in den jüngeren Jahrgangsstufen für Jungen und Mädchen großes Identifikationspotenzial bieten. So konnten sich deutlich mehr Schüler_innen in einen schüchternen, sozial gehemmten Jungen einfühlen als in einen als selbstbewusst und draufgängerisch gezeichneten Jungen. (Vgl. ebd., S. 207-208).

Aus diesen Erkenntnissen könnte man schließen, dass ein identitätsorientierter Literaturunterricht auf die jeweilige Lerngruppe angepasst sein muss: Der vielleicht banal anmutenden Tatsache, dass sich Jungen eher mit männlichen Protagonisten identifizieren, sollte bei der Textauswahl Rechnung getragen werden, damit Lesemotivation und Interesse am Text entstehen und erhalten werden können.

3. Methodisches Vorgehen

Anstelle einer eigenen empirischen Untersuchung soll anhand der des theoretischen Rahmens und der Forschungslage ein kurzer Zwischenstand erfolgen, welche Aspekte für die didaktische Planung einer Unterrichtseinheit wichtig sind.

1. Auswahl der Literatur:

1.1 Die Literatur sollte sowohl männlich als auch weiblich gelesene Hauptcharaktere enthalten, damit Jungen und Mädchen genügend Raum für Identifikation gegeben wird. Weiterhin sollte zumindest für Raum für Reflexionen über die angeblich natürliche Zweigeschlechtlichkeit gegeben sein, um nicht-binären Schüler_innen Anknüpfungsmöglichkeiten zu geben, bzw. sollte Inter*- und Trans*geschlechtlichkeit nicht offen diskriminiert oder pathologisiert werden. Falls das in einem Buch der Fall sein sollte, muss diese Problematik in den Unterricht einbezogen werden.

1. 2 Im Text sollten Geschlechterstereotype nicht als natürliche Wesensarten von Geschlechtern dargestellt werden. Der Text stellt Männer, Frauen und andere Geschlechter als eigenständig handelnde Subjekte und nicht ausschließlich in Abhängigkeit von anderen Geschlechtern dar.

Eine Hilfe bei der Textauswahl kann ein von Burghardt und Klenk entworfene Analyse-Modell sein, mit dessen Hilfe sie eine empirische Studie zu Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern durchführten (s. Anhang I). Hier müssen allerdings Kategorien angepasst werden, falls es sich um einen Roman und kein Bilderbuch handelt, außerdem kann das Schaubild für Unterrichtsplanung nicht im wissenschaftlichen Sinne als Text- oder Bildanalyseinstrument verwendet werden, sondern allenfalls als grobe Orientierungshilfe.

2. Didaktische Planung

Um eine Identifikation mit den Figuren und dem Text zu fördern, eignen sich Methoden des Handlungs- und Produktionsorientierten Literaturunterrichts. Diese Umfassen z.B. das Schreiben von inneren Monologen, Fortsetzungen und Vorgeschichten, Dialogen und Briefen zu einem Buch, sowie mediale Transformationen von Texten in Szenisches Spiel, Hörspiel oder Film. Diese Methoden eignen sich für eine tiefergehende Beschäftigung mit der den Texten innewohnenden Thematiken, denn Laut Karl-Heinz Spinner ist „Die bewusste Begegnung mit dem Fremden […] immer auch mit Selbstreflexion verbunden, denn Erkennen des Andersartigen erfolgt in Abgrenzung vom Eigenen.“ (Spinner 2013, S. 327).

4. Ergebnisse

4.1 Literaturauswahl

Für die Unterrichtseinheit wird der Kinderroman „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren ausgewählt. In der Geschichte ist zwar die namensgebende Titelheldin weiblich, jedoch spielt ihr Gefährte Birk, der als Junge beschrieben wird, über weite Strecken der Handlung (etwa, als die beiden sich eine Bärenhöhle als Wohnung teilen) eine herausragende Rolle. Außerdem ist er wie Ronja ein Kind und wird wie sie mit der Feindseligkeit der zwei Räubersippen konfrontiert. Sein Leben ist ebenfalls maßgeblich von diesem Grundproblem der Geschichte beeinflusst, daher kann er als zweiter Protagonist gesehen werden.

Der Text bleibt in einer heteronormativen1 Weltsicht verhaftet, deutlich wird dies an folgendem Zitat:

„Aber Lovis hatte ihr gesagt, dass es anderswo viele Kinder gab, und von zweierlei Art, solche, die zu Mattisen [Ronjas Vater] wurden, wenn sie groß waren, und solche, die zu Lovisen [Ronjas Mutter] wurden.“ (Lindgren 1982, S. 32)

Solche Stellen sollten im Unterricht problematisiert und auf ihre Tauglichkeit für Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung hin untersucht werden.

Ronja wächst als einziges Kind in einer Räuberbande auf wird durch ihre Erkundungsgänge in den Wald „so geschmeidig und stark und furchtlos wie ein gesundes kleines Tier.“ (ebd., S. 25) Ronja wird als impulsiv und aufbrausend beschrieben. Als Birk ihr berichtet, dass die Borkaräuber in die Mattisburg eingezogen sind, wird sie „fuchsteufelswild“ (ebd., S. 34) und schlägt Birk, nachdem sie ihn gerettet hat, auf die Nase. Doch sie ist auch hilfsbereit und versorgt Birk während er und seine Familie während des Winters hungern (vgl. ebd., S. 96ff).

Birk ist der Sohn von Borka. Auch er rettet einmal Ronjas Leben, fortan bezeichnen die beiden sich als Geschwister. Birk wird als sensibel und empathisch beschrieben. So fragt ihn Ronja nach seinen Eltern auf der Burg, woraufhin Birk die komplexe Gefühlslage seiner Eltern einzuschätzen versucht: „Birk überlegt. „Das ist wohl verschieden. Undis grämt sich, aber noch größer ist ihr Zorn. Und Borka ist wütend, aber trotzdem trauriger.“ “ (ebd, S. 155). Er weiß Ronjas Gefühlslage stets einzuschätzen und fragt sie auch nach ihrem Wohlbefinden (vgl. ebd., S. 34). Auch mit seinen eigenen Gefühlen, wie Angst und Trauer, geht er offen um (vgl. ebd., S. 57 & 198).

Zwar ist auch die Ebene der Erwachsenen, v.a. die unterschiedliche Darstellung der familiären Lebenswelten der Räubersippen interessant, aus Komplexitätsgründen soll hier jedoch vorrangig die Ebene der Kinder betrachtet werden.

4.2 Didaktische Planung: Unterrichtsentwurf

Für den Unterrichtsentwurf einer beispielhaften Stunde müssen einige Vorentscheidungen getroffen werden. Der Roman eignet sich aufgrund des Schwierigkeitsgrades des Textes, der Länge (237 Seiten) und der komplexen Thematik für die Klassenstufen fünf bis sieben. Um eine konzentrierte Arbeit am Text zu ermöglichen, ist ein Unterricht in Doppelstunden anzustreben. Es bietet sich an, das Buch begleitend zur Unterrichtseinheit zu lesen und die Stunden über ein Kapitel anzulegen. Beispielhaft soll eine Stunde zu einem der Kapitel konzipiert werden (es befindet sich samt kurzer Zusammenfassung im Anhang unter der Nummer II). Der Entwurf befindet sich als schematischer Unterrichtsverlauf ebenfalls im Anhang, unter der Nummer III. Ich gehe bei der Konzeption der Stunde davon aus, dass der Inhalt des Kapitels der Klasse bereits bekannt ist. Angelehnt sind die Unterrichtsideen an die Modelle zu „genderreflexive[m] Unterricht“ (Müller & Krah 2016, S. 11) mit KJL und an den Handlungs- und Produktorientierten Literaturunterricht (Spinner 2013, S. 319fff).

[...]


1 Eine Definition von Heteronormativität von Peter Wagenknecht (2007, S. 17): „Der Begriff benennt Heterosexualität als Norm der Geschlechterverhältnisse, die Subjektivität, Lebenspraxis, symbolische Ordnung und das Gefüge der gesellschaftlichen Organisation strukturiert. Die Heteronormativität drängt die Menschen in die Form zweier körperlich und sozial klar voneinander unterschiedener Geschlechter, deren sexuelles Verlangen ausschließlich auf das jeweils andere gerichtet ist.“ Am Roman erkennt man diese Weltsicht außer an der zitierten Textstelle daran, dass nur heterosexuelle Lebensweisen (z.B. an den Partnerschaften von Lovis und Mattis, Undis und Borka) gezeigt werden.

Fin de l'extrait de 31 pages

Résumé des informations

Titre
Literarisches Lernen im Kontext gendersensiblen Unterrichts. Ein Unterrichtsentwurf zum Kinderroman Ronja Räubertochter (Deutsch, Klasse 5-7)
Université
University of Leipzig  (Bildungswissenschaft)
Cours
Schule als Lern- und Lebensraum: Geschlechtliche Vielfalt im Kontext Schule
Note
1,7
Auteur
Année
2019
Pages
31
N° de catalogue
V1003667
ISBN (ebook)
9783346383525
ISBN (Livre)
9783346383532
Langue
allemand
Mots clés
Didaktik, Gendersensibilität, Gendermainstreaming, Literarisches Lernen, Germanistik, Literaturwissenschaft, Kinder- und Jugendliteratur
Citation du texte
Josephine Finckh (Auteur), 2019, Literarisches Lernen im Kontext gendersensiblen Unterrichts. Ein Unterrichtsentwurf zum Kinderroman Ronja Räubertochter (Deutsch, Klasse 5-7), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1003667

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