Die "Erstarrte Bewegung". Stillstand und Bewegung im Dokumentarfilm "Hotel Sahara"


Seminararbeit, 2018

14 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die „Erstarrte Bewegung“

3. Erstarrte Bewegung in Hotel Sahara – Kinematographische Umsetzung der erstarrten Bewegung

4. Die Dynamik der Menschen – In der Bewegung erstarrt?

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Untersuchungsgegenstand vorliegender Arbeit ist der Dokumentarfilm Hotel Sahara der deutschen Regisseurin Bettina Haasen aus dem Jahr 2008. Der Film porträtiert Menschen, die auf ihrer Reise nach Europa in der mauretanischen Stadt Nouadhibou gestrandet sind. Die Stadt ist eine „Durchlaufstation“ (Haasen 2008a, 127) für junge Afrikaner auf der Suche nach einem bessern Leben, von dort aus werden Migrant*innen von Schleuserorganisationen mit Booten über das Meer geschickt, in der Hoffnung nach einer gefährlichen Überfahrt ihr Ziel Europa zu erreichen. Doch viele können sich die Überfahrt nicht leisten und müssen in Nouadhibou ausharren, bis sie beispielweise genug Geld zusammengespart haben oder sich für die Schleuser eine rentable Anzahl Flüchtender zusammengefunden hat. Diese Situation beschreiben Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrem Text „Die Reisen der Migranten“, der in dieser Arbeit als Konzept herangezogen werden soll. Die Regisseurin Bettina Haasen sagt selber, sie beschäftige sich seit Jahren mit einem „Mikrokosmos im Wartezustand“ (Haasen 2008a, 4). In diesen Mikrokosmos führt sie den Zuschauenden mit dem Dokumentarfilm Hotel Sahara ein und stellt „Menschen auf dem Sprung – gefangen in ungewollter Immobilität“ (Haasen 2008a, 4) vor. Eigener Aussage zu Folge handelt ihr Film vom Hoffen und Warten, vom Dazwischen-Sein, von der Entwurzelung im Transitraum, die oft viele Jahre andauere (Haasen 2008a, 5). Die Besonderheit des Films liegt darin, dass er weniger die, wie üblicherweise, die lineare Migration, sondern stattdessen die Unterbrechungen, das Warten, unerwartete Verzögerungen, Niederlassungen und Zwischenaufenthalte während des Prozesses, thematisiert.

In der vorliegenden Arbeit möchte ich untersuchen, wie der Wartezustand und das Dazwischen-Sein anhand kinematographischer Mittel dargestellt wird. Zunächst werde ich das Konzept der „erstarrten Bewegung“ von Tom Holert und Mark Terkessidis vorstellen. Anschließend werde ich filmische Mittel, wie Bildausschnitt, Bildaufbau, Perspektive, Kamerabewegung, Farbgebung und Ton betrachten und aufzeigen, wie die Atmosphäre des Stillstands im Film erzeugt wird. Wichtig bei der Untersuchung ist jedoch, nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Protagonisten trotz der Erstarrung, in die sie gezwungen werden, dennoch dynamisch dieser Immobilität entgegenwirken und aktiv in ihren Traum von einem besseren Leben investieren. Diese Spannung zwischen Mobilität und Stillstand und ihre Medialisierung durch den Film möchte ich im letzten Teil meiner Arbeit in den Blick nehmen.

2. Die „Erstarrte Bewegung“

Tom Holert und Mark Terkessidis schreiben in ihrem Aufsatz „Die Reisen der Migranten“, der 2006 in dem Buch „Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung“ der selbigen Autoren erschienen ist, von dem Phänomen der „erstarrten Bewegung“. Sie beziehen sich dabei auf die Ereignisse aus dem Jahr 2005. Sie berichten, es hätte einen „Sturm auf Europa“ (Holert und Terkessidis 2006, 19) von Einwanderern aus dem südlichen Afrika gegeben. Zu der Zeit war die Sprache von Tausenden von Migrierenden, die auf dem Weg von Südafrika nach Norden waren und versuchten ihr Ziel Europa zu erreichen. Ich möchte mich im Folgenden im Bezug auf den Text insbesondere darauf konzentrieren, welche Gründe die Autoren für die Immobilität und die erstarrte Bewegung der Menschen auf dem Weg nach Europa nennen.

Zunächst beschreiben Holert und Terkessidis, dass die Reaktion und Lösung der europäischen Union auf die Migrationsströme mehr Grenzsicherung, die Verschiebung der Migrationsabwehr auf die Staaten vor den Toren der EU und die Errichtung von Internierungslagern in und rund um Europa gewesen seien (Ebd., 28). Doch die beiden Autoren merken dazu an, dass die Grenzen nach Europa dadurch nicht undurchdringbar geworden seien, sondern vielmehr porös, denn Menschen würden schubweise aufgenommen und wieder abgegeben.

Holert und Terkessidis berichten von der Stadt Oujda, im östlichen Marokko, die sich im Frühjahr 2005 zu einem Sammelpunkt für Migrant*innen aus dem südlichen Afrika entwickelt hatte. Schätzungsweise lebten zu der Zeit etwa 500 Menschen auf dem Campus der Universität, der zu ihrem provisorischem Aufenthaltslager geworden war. Die Autoren schreiben, die meisten der Migrierenden hätten eine Schulbildung erhalten, der Grund ihrer Migration sei also nicht zwangsläufig Arbeitslosigkeit gewesen, sondern die Tatsache, dass die Arbeit keine Perspektive böte (Ebd., 30). Die Menschen wandern aus eigener Entscheidung aus, um sich selber ein besseres Leben zu ermöglich. Dort in Oujda warteten die Menschen auf eine Gelegenheit, nach Europa zu kommen. Holert und Terkessidis betonen in ihrem Text das Stillstehen und Ausharren der Menschen, welches auch in Hotel Sahara eine große Rolle spielt. Die Autoren fassen die Gründe zusammen, welche für das große Warten verantwortlich sind:

Man wartet darauf, genügend Geld für die Reise zu haben. Man wartet auf ein Visum. Man wartet auf Gelegenheiten. Dann wartet man erneut, wenn man das Pech hat, auf der Reise oder bereits innerhalb von Europa geschnappt zu werden. Man wartet auf die Ausweisung. Oder darauf, irgendwo ‚ausgesetzt’ zu werden. Oft wartet man mit ungewissem Ausgang (Ebd., 47).

In genau dieser Situation befinden sich die Protagonist*innen in Hotel Sahara und davon ausgehend wird im Folgenden Kapitel die filmische Umsetzung des Wartens untersucht.

Holert und Terkessidis beschreiben die Wege der Migrant*innen, die über alte Karawanenrouten unter beschwerlichen Bedingungen durch die Sahara führten. Ihre Reise würde ständig durch algerische Grenzschützer und Polizisten unterbrochen und viele von ihnen wurden festgenommen und in der Wüste, an der algerischen Grenze, wieder ausgesetzt. Doch die Menschen kamen wieder zurück nach Oujda, denn der erneute Weg durch die Sahara zurück nach Südafrika stellte keine Option für sie dar. Die Ziele der Migrierenden ändern sich, sie sind ständig auf dem Weg, wollen immer weiter, werden wieder zurückgebracht und reisen dann wieder weiter. Ihre Pläne ändern sich immer wieder in der Situation, weil sie sich den neuen Gegebenheiten immer wieder anpassen müssen. Sie kommen nie irgendwo an und befinden sich durchgehend in einem Zustand des Dazwischen-Seins.

Außerdem erläutern Holert und Terkessidis, dass sich durch Gastarbeit entlang der Migrationsrouten Menschen ansiedeln würden, weil sie dort einen Job gefunden haben, der Auskommen sichere und sozialen Anschluss mit sich bringe. Andere wiederrum fänden nur Gelegenheitsjobs, die nicht erlauben würden weiterzuziehen. Aus diesem Grund würden entlang der Routen überall „Ghettos“ entstehen. Diese Ghettos hätten einen „höchst provisorischen Charakter“ (Ebd., 34f.) und die Bewohner dieser Orte befänden sich in einem Zustand, den die Autoren als „erstarrte Bewegung“ (Ebd., 35) bezeichnen. Die Menschen dort, wären in der Bewegung festgefroren (Ebd., 35). Sie bleiben, weil sie aus verschiedenen Gründen nicht weiterkommen. So müssten viele auf dem Weg jahrelang arbeiten, um genug Geld für die Schleuser zu verdienen und wenn sie endlich genug Geld hätten, würden sie von den Schleuserorganisationen erneut in einen Zustand des Stillstands versetzt, indem sie in provisorischen Zeltdörfern auf die nächste Möglichkeit zur Überfahrt warten müssten (Ebd., 37).

Europa sei vor allem für dynamische und mobile Personen zu einer Projektionsfläche für die Träume von einer besseren Existenz geworden und der Ausblick auf das Ziel Europa sei für viele ein Abenteuer, das die Langeweile des Alltags mit dem gleichförmigen Herumsitzen nun Warten durchbreche (Ebd., 38). Hier wird deutlich, dass es sich stets um einen doppelt strukturierten Prozess handelt, denn die Menschen, denen die Bewegung verwehrt wird, beginnen in der Regel dennoch, dynamisch und produktiv mit den gegebenen Mitteln unter den gegebenen Bedingungen zu agieren und entsteigen so ihrer passiven Opferrolle in ihrem Zustand der erzwungen Immobilität. Diesen Aspekt möchte ich im viertel Kapitel der vorliegenden Arbeit anhand des Films Hotel Sahara verdeutlichen.

Holert und Terkissidis fügen abschließend noch hinzu, dass die Einwanderungspolitik nach Europa ohne transparente Regeln zu einer informellen Mobilität führe. Dieses System sei auch ein System der „erstarrten Bewegung“, denn im derzeitigen Einwanderungssystem „bewegen sich Menschen, ohne jemals anzukommen“ (Ebd., 46). Die Migrierenden erhalten keine Papiere und bleiben in der Illegalität verhaftet, was dazu führt, dass ihre Migration einen prekären und provisorischen Status erhält. Die Autoren zitieren am Ende ihres Aufsatzes Tina Veihelmann: „Vor den Toren Europas zu sitzen bedeutet nicht: Du kommst hier nicht rein. Es bedeutet nur: Du kommst niemals vom Fleck“ (Holert und Terkessidis 2006, 47). In dieser Aussage wird deutlich, wie erstarrt die Migration vor den Grenzen Europas ist und genau diesen Stillstand versucht Bettina Haasen in ihrem Film zu visualisieren.

3. Die erstarrte Bewegung in Hotel Sahara

Nachdem der Text von Tom Holert und Mark Terkessidis herangezogen und das Phänomen der erstarrten Bewegung vorgestellt wurde, soll dieses nun als Grundlage für die folgende Untersuchung dienen und die erstarrte Bewegung und ihre kinematographische Umsetzung im Film Hotel Sahara analysiert werden. Was in dem Aufsatz der beiden Autoren die Stadt Oujda im Osten Marokkos darstellt, kann im Film Hotel Sahara auf die Stadt Nouadhibou übertragen werden. Nach Aussagen der Regisseurin zeige ihr Film ein Leben im Wartezustand: „Diesen Zustand des ‚Dazwischenseins’ wollte ich in der Bild- und Tonsprache einfangen und atmosphärisch fühlbar machen“ (Bettina Haasen 2008p, 4). Im Folgenden möchte ich untersuchen, welche filmischen Mittel Bettina Haasen eingesetzt hat, um diese Aussagen zu visualisieren.

Die Exposition (00:03:09-00:11:06) dreier Protagonisten, Lamiya, Chichi und Valtis, bietet sich besonders an, um das filmgestalterische Konzept, das sich auf vergleichbare Weise durch den gesamten Film zieht, zu betrachten. Die Sequenz beginnt mit einer Weiblende, aus der langsam Lamiya, einer der Protagonisten, auftaucht und im Folgenden von der Kamera mit halbnahen und nahen Einstellungen bei seinem Lauftraining begleitet wird. Währenddessen erzählt der Läufer aus dem Off, wie er sein Heimatdorf verlassen hat und sich in Spanien eine neue Zukunft aufbauen will (00:03:09-00:04:10). Nach einer Überblendung durch Unschärfen sieht der Zuschauende anschließend Lamiya in seiner Unterkunft (00:04:28-00:04:53). Dort erläutert er seinen Traum, in Europa ein berühmter Fußballspieler werden zu wollen. Bettina Haasen setzt hierbei gezielt halbnahe und Nahaufnahmen ein, um durch die Nähe zu den Protagonist*innen in ihrem Film eine intime Situation zu schaffen. Dadurch werden ihre Träume, ihre (Selbst-) Illusionen und ihr konkretes Verhalten auf der Reise erfahren und dem Publikum ein empathischer Zugang zu ihrem Leben im Wartezustand zu ermöglich. Ihr Leben und der Stillstand können vom Zuschauenden visuell nachvollzogen werden. Bettina Haase nutzt diese Nähe, damit der Film beobachten kann, wie eng die Träume der Migrierenden mit dem plötzlichen persönlichen Stillstand verbunden sind. Die Regisseurin verzichtet auf jeden erklärenden Off-Kommentar und lässt die Geschichten aus der Perspektive der Porträtierten erzählen. Sie vermeidet bewusst statische Interviewsituationen und nutzt die Möglichkeit, Bild und Ton zu entkoppeln, um mehr Betonung auf die Atmosphäre des Film zu setzen. Lamiya wird in dieser Sequenz in seiner Unterkunft gefilmt, die sich dem Publikum, im Gegensatz zu den vorherigen hellen Tageslicht-Aufnahmen während des Laufens, eng und dunkel präsentiert. Es scheint, als sei er eingerahmt von Wänden, denen er im Moment nicht zu entkommen scheint. Die Bilder der dunklen Hütte könnten als Verkörperung des Wartens und des erzwungenen Stillstands gesehen werden. Nach einer Weißblende schwenkt die Kamera in einer Totalen über die Dächer von Nouadhibou (00:04:54-.00:05:43) Die Lichtverhältnisse sind hell und die Aufnahmen zeigen eine Stadt in weißen, grauen und beigen Tönen mit dem blauen Meer als Hintergrund. Dieses helle afrikanische Licht steht im Kontrast zu der fast fensterlosen Unterkunft, in der zuvor gefilmt wurde. Das Spiel mit Hell und Dunkel, was sich durch den gesamten Film zieht, verstärkt das Gefühl der Gefangenschaft, in der sich die Porträtierten befinden. Zudem symbolisiert es aber auch die Zweiwertigkeit ihrer Situation: Zum einen sind sie am Weiterkommen gehindert und sitzen in Nouadhibou fest, zum anderen gibt es immer wieder Lichtblicke und wie sich im Weiteren noch zeigen wird, geben die Protagonisten die Hoffnung, trotz ihrer Situation, nicht auf. Während die Kamera in einer Totalen über die Stadt schwenkt, wird deutlich, was in Holerts und Terkessidis Text als Ghetto beschrieben wurde. Nouadhibou erscheint in der Farbgestaltung kontrastarm und die entsättigten Bilder in beige, ockerfarben, grau und sandgelb verstärken den Eindruck der Morbidität der Stadt. Die Aufnahmen des Ortes zeigen zerfallende Häuser, staubige Straßen sowie Leere und Stille. Zeitgleich ist die ganze Zeit über aus dem Off der elektrischer Gitarrenriff zu hören, der eine melancholische Stimmung erzeugt und mit seiner Unaufgeregtheit das Gefühl von langsam verstreichender Zeit und Verfall verstärkt. Die Aufnahmen der Stadt sind statisch, zeigen viele Standbilder und Tableaus der Wohnquader und porträtieren die Verlorenheit und Erstarrung dieses Ortes.

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Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Die "Erstarrte Bewegung". Stillstand und Bewegung im Dokumentarfilm "Hotel Sahara"
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
14
Katalognummer
V1004615
ISBN (eBook)
9783346386380
ISBN (Buch)
9783346386397
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erstarrte, bewegung, stillstand, dokumentarfilm, hotel, sahara
Arbeit zitieren
Celine Keuer (Autor:in), 2018, Die "Erstarrte Bewegung". Stillstand und Bewegung im Dokumentarfilm "Hotel Sahara", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1004615

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