Dokumentation zum Bau der Berliner Mauer


Trabajo Escrito, 2001

30 Páginas


Extracto


Welche Ursachen führten zum Mauerbau?

1. Das sowjetische Ultimatum vom November 1985

Schon am 11.8.1958 hatte die Sowjetunion in einem Schreiben an die USA gegen die Einbeziehung von West-Berlin in völkerrechtliche Verträge der BRD protestiert. Dies verstoße sowohl gegen den rechtlichen Status von Berlin (West), als auch gegen die Tatsache, dass Ost-Berlin die Hauptstadt der DDR sei. Nachdem alle Versuche, ohne Absperrmaßnahmen die Flüchtlingsströme einzudämmen, gescheitert waren, konkretisierten sich auf sowjetischer Seite die Überlegungen, Berlin (West) als destabilisierenden Faktor zu neutralisieren. Chruschtschow machte deshalb in seiner Note vom 27.11.1958 den Vorschlag, Berlin (West) zu einer "Freien Stadt" zu erklären, entmilitarisiert und von der BRD unbeeinflusst. Mit diesem Schritt sollte der relativ offene Fluchtweg aus der DDR verschlossen werden. Um die Dringlichkeit einer Lösung der Berlinfrage zu betonen, drohte Chruschtschow, einen separaten Friedensvertrag mit der DDR zu schließen, wenn sich die Westmächte nicht binnen sechs Monaten zu ernsthaften Verhandlungen bereit erklärten. In diesem Falle fiele die Kontrolle über die Zufahrtswege von und nach Berlin unter die Zuständigkeit der DDR.

2. Vom Ultimatum zur Mauer

In einer weiteren Note vom Januar 1959 schlug die Sowjetunion vor, innerhalb der nächsten zwei Monate eine Friedenskonferenz einzuberufen, in der ein Friedensvertrag mit den beiden deutschen Staaten ausgearbeitet und unterzeichnet werden sollte. Obwohl die Westmächte die sowjetischen Noten in einer gemeinsamen Erklärung zurückwiesen, zeigten sie sich doch zu weiteren Verhandlungen bereit. Auf der Außenministerkonferenz in Genf, die mit Unterbrechungen vom Mai bis August tagte, nahmen außer den vier Mächten erstmals auch Vertreter beider deutscher Staaten teil. Obwohl beide Seiten von ihren Maximalforderungen bezüglich Deutschland und Berlin abrückten, scheiterten die Verhandlungen an der Aufrechterhaltung der vom Westen eingenommenen Rechtsposition für West-Berlin und deren sowjetischen Ablehnung.

In der Mitte des Jahres 1960 spitzten sich die wirtschaftlichen und politischen Probleme in der DDR zu. Formell knüpfte das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zwar an die sozialistischen, solidarischen Ideen der Arbeiterbewegung an, doch die politische Diktatur, Rechtsunsicherheit und fehlende Freiheiten verzerrten diese Ideen. Bürokratische Ineffizienz, aber auch Reparationen und Misswirtschaft behinderten das Wirtschaftswachstum beträchtlich. Die Fixierung der DDR-Bürger auf die Bundesrepublik mit ihrer freiheitlich parlamentarischen Demokratie und ihrem "Wirtschaftswunder" sorgte für eine rasch ansteigende Zahl der Flüchtlinge. Den Handwerkern, die im Frühjahr den staatlichen Kollektivierungsbemühungen entgehen wollten, folgten im Sommer überwiegend die Vertreter der Intelligenz.

Das Politbüro der SED reagierte auf die Zuspitzung der Lage mit der Ausweitung der parteilichen Machtbefugnisse. Nach Beschlüssen des Politbüros und des Staatsrates im Juli 1960 wurde bindend bestimmt, dass die Staatsorgane die Beschlüsse der SED auszuführen hätten. Dies bedeutete, dass die SED nunmehr ihr Machtmonopol total durchgesetzte und sich alle Autorität staatlicher Macht völlig unterordnete. Ulbricht ging es dabei nicht um die zeitweilige Maßnahme eines Krisenmanagements, sondern darum, die Krise zu nutzen, um den Machtanspruch des Politbüros langfristig in solch absoluter Art im politischen System der DDR zu verankern wie es in den fünfziger Jahren wegen des Widerstandes der Blockparteien nicht möglich gewesen war. Folgerichtig vervielfachte sich der Parteiapparat der SED in kurzer Zeit, um seiner Weisungsbefugnis gegenüber den staatlichen Organen nachkommen zu können. Dass die politische Motivation Ulbrichts in der zweiten Berlinkrise allein auf Machterhalt ausgelegt war, zeigte sich auch in der Abschaffung des Präsidentenamtes der DDR zugunsten eines Staatsrates, dessen Vorsitzender er im September 1960 wurde. Da Ulbricht außerdem Erster Sekretär der ZK der SED war und sich im Februar 1960 zum Vorsitzenden des Verteidigungsrates hatte wählen lassen, war ihm die Okkupation entscheidender Machtpositionen gelungen. Es erfolgte eine bis dahin nicht gekannte Unterordnung, Konzentration und Gleichschaltung aller politischen Führungsinstanzen und - kräfte des Landes unter dem Ersten Sekretär des ZK der SED. Diese Position galt es in der Krise, mit allen Mitteln zu verteidigen.

Die Lösung der Berlinfrage wurde für die DDR immer dringlicher. Von 1955 bis 1960 waren schon 1.340.878 Bewohner der DDR in den Westen geflüchtet, wovon alleine 667.667 das Notaufnahmeverfahren in West-Berlin beantragt hatten. Die DDR-Führung förderte durch ihre harte Politik die Fluchtbewegung. Gegen angebliche "Menschenhändler" wurden immer schwerere Strafen ausgesprochen. Die Regierung wandte sich nervös gegen die angeblichen "verbrecherischen Abwerbungsaktionen" des Westens, waren doch 50 Prozent der Flüchtlinge unter 25 Jahren. Für die DDR war der Verlust beachtlich, weil die Flüchtenden in der Regel hoch qualifizierte Facharbeiter oder Akademiker waren, welche die DDR dringend benötigte. Der DDR-Führung war es trotz umfangreicher Propagierung der Einheit Deutschlands, der Ausnutzung von Ost-Berlin als Symbol für die Einheit Deutschlands und der Unterstützung oppositioneller Kräfte in der BRD nicht gelungen, den westdeutschen Staat zu destabilisieren. Im Westen glaubte die überwiegende Mehrheit, die Einheit Deutschlands könne in absehbarer Zeit nur durch die Einverleibung der DDR realisiert werden. Die Westberliner sahen sich mehr denn je als "Vorposten der Freiheit" und "Schaufenster des Westens" In der DDR gab man die Bemühungen, die Bundesrepublik über eine Konföderation für den Sozialismus zu gewinnen, mehr und mehr auf. Als 1956 Unruhen in Polen und Ungarn die Instabilität des sozialistischen Lagers deutlich machten, wandte man sich einer Absicherung der inneren Stabilität zu. Um die hohen Flüchtlingszahlen einzudämmen, verabschiedete die Volkskammer am 11.12.1957 ein Gesetz, in dem die Republikflucht unter Strafe gestellt wurde. Der Reiseverkehr zwischen den deutschen Staaten wurde weiter erschwert, Bundesbürger brauchten fortan eine Aufenthaltserlaubnis, um in die DDR reisen zu können. Bis zum Ende des Jahres wurde Berlin zum Schauplatz eines deutsch-deutschen "Kleinkrieges". Die DDR versuchte mit Drohungen gegen Bundestagssitzungen in West- Berlin, der Sperrung des Zugangs nach Ost-Berlin für fünf Tage anlässlich der Tagung der Landsmannschaften in Berlin und der Einführung des Passierscheinzwanges für Bundesdeutsche beim Besuch des Ostsektors herauszubekommen, wie weit sie die Empfindlichkeit der Westmächte gegen Restriktionen innerhalb Berlins herausfordern konnte. In der Bundesrepublik reagierte man mit Empörung und rang sich nach einiger Zeit zu einem schwerwiegenden Entschluss durch. Am 30. September 1960 kündigte die Bundesregierung das Interzonen-Handelsabkommen mit der DDR und stellte damit über zehn Prozent der Gesamtimporte der DDR in Frage. Obwohl die Kündigung gegen Jahresende zurückgenommen werden musste, da sie indirekt die Versorgung Berlins gefährdete, war die wirtschaftliche und politische Wirkung immens. Die Sanktionen hatten die DDR schwer getroffen und ihr die eigene Abhängigkeit von der BRD vor Augen geführt. Die "Widerrufsklausel", welche dem Vertrag bei seiner Wiederinkraftsetzung eingefügt wurde, führte dem sozialistischen Staat seine Abhängigkeit klar vor Augen.

Der neugewählte amerikanische Präsident Kennedy sah sich einer sich anbahnenden Auseinandersetzung gegenüber, die mit allen Mitteln psychologischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Kriegführung geführt wurde. Im Laufe der Vorbereitungen zum amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen in Wien, das am 3. und 4.6.1961 stattfinden sollte, wiederholte Chruschtschow seine Drohungen gegen den Status von West-Berlin, um die Vereinigten Staaten in der Frage der Eindämmung der Flüchtlingsströme zum Handeln zu bewegen. Chruschtschow wirkte bei der Ankunft aufgeräumt. Mit Kennedy würde er schon fertig werden. Dessen außenpolitisches Ansehen war schwer angeschlagen durch die ,,Schweinebucht-Affäre" vom April 1961, wo ein von der CIA unterstützter Invasionsversuch von Exilkubanern auf Kuba kläglich gescheitert war. Die Atmosphäre zwischen den beiden mächtigsten Männern der Welt wurde zusehends frostiger, es kam zu einem scharfen Wortwechsel. Chruschtschow: ,,Ich möchte Frieden. Aber wenn Sie Krieg wollen, dann ist es ihre Sache." Kennedy: ,,Dann wird es ein kalter Winter." Über Berlin lag der Schatten der Atombombe. Doch die Wochen vergingen, ohne dass Einschneidendes geschah. Das Treffen endete ergebnislos und mit der sowjetischen Drohung eines separaten Friedensvertrages mit der DDR, der in den Augen Chruschtschows ein Erlöschen der westlichen Besatzungsrechte in Berlin zur Folge gehabt hätte. Kennedy machte im Gegenzug deutlich, dass die USA die Verweigerung westlicher Rechte in Berlin als kriegerischen Akt ansehen würden und keinesfalls bereit seien, auf drei essentielle Punkte zu verzichten: Das Recht auf Anwesenheit in Berlin, die Zugangsrechte zur Stadt und die Lebensfähigkeit von Berlin (West) wurden unter der Bezeichnung "three essentials" zur obersten Maxime der amerikanischen Politik in Berlin. In den folgenden Monaten erfolgte auf beiden Seiten ein Wechselspiel von militärischen Maßnahmen, Absichtserklärungen und verbalen Drohungen, um die Gegenseite von der Unhaltbarkeit ihrer Verhandlungspositionen zu überzeugen.

Auf Seiten der DDR-Führung gab Walter Ulbricht am 15.6.1961 im Haus der Ministerien eine denkwürdige Pressekonferenz. Als die Korrespondentin der ,,Frankfurter Rundschau" ihn fragte, ob die von der DDR angestrebte Bildung einer freien Stadt bedeuten würde, dass ,,die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet" werde, antwortete der Staatsratsvorsitzende wörtlich: ,,Ich verstehe ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten. ... Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!" Der Satz hatte etwas Verräterisches: Nach einer Mauer war Ulbricht nicht gefragt worden.

Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme und der hohen Flüchtlingszahlen musste Ulbricht in kurzer Zeit eine Lösung finden. Doch ist nicht auszuschließen, dass er zu diesem Zeitpunkt noch an einen Verhandlungserfolg der Sowjetunion mit ihren Friedensvertragsplänen glaubte. Selbst wenn für ihn erweiterte Grenzkontrollen unumgehbar schienen, konnte er den Entschluss einer vollständigen Abriegelung der Grenzen nicht im Alleingang fällen. Vom 3.- 5.8.1961 trafen sich die Ersten Sekretäre der Zentralkomitees der kommunistischen und Arbeiterparteien der Mitgliedsländer des Warschauer Paktes in Moskau. Auf der Konferenz, auf der speziell die Deutsche Frage und das Berlin-Problem behandelt wurden, erhielt Ulbricht die politische Zustimmung der UdSSR für seine Absperrpläne Ost-Berlins. In der Nacht vom 12. auf den 13.8.1961 errichteten Volkspolizei und NVA entlang der quer durch Berlin verlaufenden Sektorengrenze Stacheldrahtverhaue und Steinwälle, die in der folgenden Zeit zu einer durchgehenden Mauer ausgebaut wurden. Gleichzeitig wurden Polizei- und Armee-Einheiten in Ost-Berlin eingesetzt, um Demonstrationen zu verhindern. Die Sowjetunion hatte der Regierung der DDR die Verfügung über den Ostsektor Berlins in allen wesentlichen Teilen übergeben und es gestattet, dass Truppen der DDR in Ost-Berlin einrückten und dass DDR-Behörden einseitig die innerstädtischen Verkehrsverbindungen blockierten. Fortan war Berlin als Fluchttor für DDR-Bürger versperrt, die DDR abgeriegelt.

Tabellen zur Fluchtbewegung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Grenze wird dichtgemacht

Um 1.11 Uhr unterbricht der Ost-Berliner Rundfunk seine ,,Melodien zur Nacht" für eine Sondermeldung:

,,Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die Volkskammer und an die Regierung der DDR mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins eine verlässliche Bewachung gewährleistet wird."

Die geschraubte Erklärung hat eine klare Bedeutung: West-Berlin wird abgeriegelt. Aber wer hört im Westen schon SED-Funk ...

Es ist Sonntag, der 13. August 1961. Am Brandenburger Tor gehen um 1.05 Uhr plötzlich die Lichter aus. Bewaffnete DDR-Grenzpolizisten und Angehörige der Kampfgruppen ziehen auf und postieren sich an der innerstädtischen Demarkationslinie. Im Scheinwerferlicht von Militärfahrzeugen reißen sie das Straßenpflaster auf und errichten Stacheldrahtbarrieren. An vielen Stellen in und um Berlin die gleichen Szenen: Grenzpolizisten, Schützenpanzer, Stacheldraht, Betonpfähle.

Der Westen ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der dramatischen Entwicklung an den Sektorengrenzen. Im Lagezentrum der West-Berliner Polizei am Tempelhofer Damm richtet sich Oberkommissar Hermann Beck auf einen Routinedienst ein. Seit Schichtbeginn um 17.30 Uhr hat es keine besonderen Vorkommnisse gegeben. ,,Hilflose Person am Bahnhof Zoo", ,,Angetrunkene Halbstarke am Wittenbergplatz". Das Übliche eben in einer Berliner Samstagnacht.

Gegen 2.00 Uhr kommt eine Meldung, mit der Beck zunächst nichts anzufangen weiß. Irritiert trägt er ins Wachbuch ein: ,,13.8.1961, 1.54 Uhr. Polizeirevier Spandau teilt mit, dass der S- Bahn-Zug aus Richtung Staaken in Richtung Berlin auf sowjetzonales Gebiet zurückgeführt wurde. Die Fahrgäste mussten aussteigen und erhielten ihr Fahrgeld zurück." Nur eine Minute später ein weiterer Anruf, aus Wedding: ,,1.55. Einstellung des S-Bahn-Verkehrs am Bahnhof Gesundbrunnen in beiden Richtungen." Nun geht es Schlag auf Schlag. Auch Schönholz, Wannsee, Stahnsdorf melden die Unterbrechung des S-Bahn-Verkehrs.

Die ab 2.20 Uhr in kurzer Folge einlaufenden Meldungen werden immer bedrohlicher: ,,15 Militärlastwagen mit Vopos an der Oberbaumbrücke". ,,Panzerspähwagen an der Sonnenallee". ,,Am Brandenburger Tor Hunderte Vopos und Grenzer mit Maschinenpistolen". Beck gerät an den Rand einer Panik. Ist das der immer wieder befürchtete Angriff auf West-Berlin? Soll er jenen versiegelten Umschlag aus dem Panzerschrank holen und den geheimen Alarmplan für die Verteidigung von West-Berlin auslösen, der die westlichen Hauptstädte binnen weniger Minuten in Aufruhr versetzen würde? Eine viertel Stunde lang ringen Beck und sein mittlerweile eingetroffener Vorgesetzter Günter Dittmann um die folgenschwere Entscheidung. Als bis 2.45 Uhr in den telefonischen Lageberichten weiterhin von ,,Truppenansammlungen" und ,,Absperrungen" die Rede ist, nicht aber vom ,,Vorrücken auf West-Berliner Gebiet", entschließen sie sich, erst einmal ,,kleinen Alarm" (Alarmstufe E1) zu geben.

Sämtliche 13.000 West-Berliner Polizisten werden in dieser Nacht aus dem Schlaf geklingelt. An den Sektorengrenzen erwartet sie immer das gleiche Bild: Volkspolizei und Grenzpolizisten reißen das Straßenpflaster auf und entrollen Stacheldraht. Betriebskampfgruppen und Grepos haben an der Demarkationslinie Aufstellung genommen und blicken starr nach Westen. Ein ehemaliger Polizeihauptmann über die dramatischen Augenblicke am Brandenburger Tor: ,,Wir haben erst gedacht, die überrennen uns und marschieren in West-Berlin ein, aber die blieben auf den Zentimeter genau an der Sektorengrenze stehen."

Es ist eine generalstabsmäßig geplante und ausgeführte Aktion, die von einem im Westen kaum bekannten SED-Funktionär geleitet wird - Erich Honecker. Bei dem 49jährigen Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates laufen in dieser Nacht alle Fäden zusammen. Sein Lagezentrum befindet sich im Polizeipräsidium am Alexanderplatz, wo er über Telefon und durch Kuriere laufend Berichte zum Fortgang der Sperrmaßnahmen entgegennimmt und Anweisungen an die Kommandeure ausgibt. Honecker hält es jedoch nicht in seiner Leitstelle. Unver- mittelt taucht er an mehreren Grenzab- schnitten auf, um sich selbst ein Bild zu machen. An der Absperrung von West-Berlin sind in dieser Nacht unmittelbar rund 10.500 Einsatzkräfte von Volks- und Grenzpolizei und Angehörige der Kampfgruppen beteiligt. Hinzu kommen mehrere Hundert Stasi-Mitarbeiter sowie zwei motorisierte Schützendivisionen der NVA (zusammen rund 8.000 Mann), die allerdings Befehl haben, sich der Grenze in einer ,,zweiten Sicherungsstaffel" nur bis auf 1.000 Meter zu nähern. Alles verläuft nach Plan. Von den 81 Straßenübergangsstellen sind nur noch 12 passierbar, der Rest mit Stacheldraht abgesperrt. Der S- und U-Bahn-Verkehr zwischen beiden Teilen Berlins sowie ins Umland ist unterbrochen. Am 23. August wird die Zahl der Grenzübergänge auf sieben reduziert: Friedrichstraße, Bornholmer Straße, Chausseestraße, Invalidenstraße, Heinrich-Heine-Straße, Oberbaumbrücke, Sonnenallee und Friedrichstraße/Zimmerstraße (Checkpoint Charlie).

Walter Ulbricht hat sein politisches Ziel erreicht. Der Fluchtweg über die Berliner Sektorengrenze, auf dem in den vergangenen Jahren mehr als 1,6 Millionen DDR-Bürger in den Westen gegangen waren, ist versperrt. Es hatte den SED- Chef in den vergangenen Monaten und Tagen einige Mühen gekostet, den sowjetischen Partei- und Staatschef Chruschtschow und die anderen Ostblock-Führer davon zu überzeugen, dass nur die Abriegelung von West-Berlin den Flüchtlingsstrom stoppen und ein ,,Ausbluten" der DDR verhindern könne.

Am 12. August 1961 gegen 16.00 Uhr unterzeichnet Ulbricht die entsprechenden Befehle. An Paul Verner, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung, ergeht der Befehl, alle drei Stunden Meldung über die Lage zu machen; ,,erste Meldung am 13.8.1961, 5.00 Uhr." Die Operation nimmt ihren Lauf.

Am Abend des 12. August hat Ulbricht noch eine letzte Unterredung mit dem sowjetischen Botschafter Perwuchin. Dieser hegt zwar eine Abneigung gegen den SED-Chef, sagt ihm allerdings seine volle Unterstützung für die bevorstehenden Maßnahmen zu. Wie immer man zu- einander stehe, nun werde die Lage kritisch. ,,Wenn etwas schief geht, reißt man uns beiden den Kopf ab."

Die Stabsstelle der Nationalen Volksarmee, welche die Sperrmaßnahmen militärisch abzusichern hat, allerdings nicht in vorderster Linie erscheinen soll, befindet sich in jenen Tagen in Schloss Wilkendorf östlich von Berlin. Dort erfolgt am 12. August die Einweisung der bis dahin ahnungslosen NVA-Kommandeure durch Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. Um 20.00 Uhr ergeht an sie der Befehl, ,,die bewaffneten Kräfte des Ministeriums des Innern bei der Sicherung der Sektorengrenzen und am Außenring von Westberlin zu unterstützen. Die Truppenteile der Nationalen Volksarmee bilden in den befohlenen Abschnitten mit Kräften der 1. und 8. MSD (motorisierte Schützendivision, d. Verf.) eine zweite Sicherungsstaffel in einer Tiefe von ca. 1.000 m von der Grenze." SED-Führung und NVA-Oberkommando wollen in dieser höchst brisanten Lage bei aller Entschlossenheit offen- kundig eine militärische Eskalation, etwa durch unbedachtes Handeln untergeordneter Kommandeure, unbedingt vermeiden. In diesem Sinne befiehlt Verteidigungsminister Hoffmann weiter: »Die Anwendung der Schusswaffe ist kategorisch verboten und erfolgt nur auf meinen Befehl. Die Munition in den Panzern ist zu versiegeln. Die Infanterie-Munition ... und Platzpatronen ist kompanieweise in versiegelten Kisten mitzuführen Scharfe Munition erhalten nur Wachen und Streifen." Für die sowjetischen Truppen um Berlin (Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, GSSD) gilt in jener Nacht Alarmstufe 1. Doch sollen sie bei der gesamten Operation nach Möglichkeit überhaupt nicht in Erscheinung treten.

Ulbricht und Honecker haben bei den Vorbereitungen der Grenzschließung fast alle Führungskräfte in Partei und Staat übergangen. Auch die Vorsitzenden der sogenannten Blockparteien (CDU, LDPD, NDPD, DBD) sind ahnungslos, als sie am Abend des 12.

August auf Einladung von Ulbricht in dessen Sommerresidenz nach Groß-Dölln 75 Kilometer nördlich von Berlin zum Essen kommen. Unter den Anwesenden befinden sich auch Ministerpräsident Willi Stoph und der Ost-Berliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert. Erst gegen 22.00 Uhr wird den einigermaßen verblüfften Gästen mitgeteilt, dass die Schließung der Sektorengrenze zu West-Berlin unmittelbar bevorstehe. Bezeichnend für die östliche Geheimhaltungspraxis in diesen Tagen ist, dass auch über diese Zusammenkunft keine schriftlichen Aufzeichnungen gemacht werden.

Es ist eine warme Augustnacht nach einem heißen Samstag. um 2.30 Uhr erhält Allan Lightner, oberster Vertreter der US-Regierung in Berlin, telefonisch die Information über die Sperrung der Sektorengrenze - und legt sich wieder schlafen. Man solle ihn wecken, sobald es neue Entwicklungen gäbe. Der CIA-Mitarbeiter John Kenny erfährt um 3.30 Uhr über eine Radiomeldung des Rias, dass die Grenze geschlossen ist. Als er wenig später im CIA- Hauptquartier in Dahlem eintrifft, erwartet er eigentlich hektisches Treiben. Doch im ganzen Gebäude ist es ruhig, von Alarmstimmung keine Spur.

Unterdessen hat Richard Smyser, Mitarbeite der US-Mission, vom diensthabenden Offizier den Auftrag erhalten, sich in Berlin ,,umzusehen" Gegen 3.30 Uhr trifft er am Potsdamer Platz ein. Von den dort postierten Grenzpolizisten verlangt er Auskünfte über das Geschen - und frei Durchfahrt. Nach kurzem Wortwechsel wird tatsächlich der Stacheldraht beiseite geschoben, so dass Smyser mit seinem Auto passieren kann. Auf den dämmrigen Straßen OstBerlins sieht er Militärfahrzeuge, Schützenpanzer und LKW mit Stacheldraht und Betonpfählen, aber er sieht keinen einzigen sowjetischen Panzer. Auch ein britischer Offizier hat sich Zugang nach Ost-Berlin verschafft, wo er dieselben Beobachtungen macht - Vopos, Militärlastwagen, Schützenpanzer, aber keine Russen.

Die Folgen der Mauer

Konfrontation am Checkpoint Charlie

Machtpolitisch schienen mit dem Mauerbau die Dinge geklärt in Berlin - auf eine sehr schmerzliche Weise zwar, aber dennoch. Wie hatte Kennedy am 14. August im engsten Beraterkreis gesagt? ,,Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als ein Krieg!" Die ,,Reviere" der Supermächte waren abgesteckt.

Chruschtschow schlug Mitte Oktober vor dem 22. Parteitag der KPdSU schon gemäßigte Töne an: Die Westmächte zeigen Verständnis für die Situation, und die Sowjetunion würde unter Umständen nicht auf einem Friedensvertrag mit der DDR bestehen. Derweil lies das SED-Regime die Sperranlagen immer stärker ausbauen, mittlerweile durchzog tatsächlich eine Mauer Teile der Stadt.

Fluchtversuche wurden durch Schusswaffengebrauch verhindert. Es hatte mehrere Tote gegeben. Und dann geschah etwas, das den Status quo auf dramatische Weise wieder in Frage stellte. Doch noch Krieg um Berlin?

Am Abend des 22. Oktober, einem Sonntag, wollte Allan Lightner von der US-Mission in West-Berlin mit seiner Frau zu einem Theaterbesuch in den Ostteil der Stadt fahren. Am Checkpoint Charlie forderte Volkspolizei ihn auf, seinen Ausweis zu zeigen. Lightner weigerte sich, da dies einen Eingriff in die alliierten Rechte bedeutet hätte. Er ver- langte einen sowjetischen Offizier zu sprechen, doch ließ sich keiner blicken. Lightner machte kehrt. Wenig später kam er zurück, diesmal in Begleitung von US-Militärpolizisten mit aufgepflanztem Bajonett. Nun ließen ihn die DDR-Grenzer unkontrolliert passierend In den nächsten Tagen wiederholte sich das Spielchen. Mehrere US-Amerikaner ließen sich von bewaffneten GI's - unkontrolliert - über den Checkpoint Charlie nach Ost-Berlin eskortieren, um auf diese Weise die Rechte der USA in ganz Berlin zu demonstrieren. Es war vor allem General Clay, der gegenüber der US- Regierung darauf beharrte, der Sowjetunion und der DDR an dieser Stelle kein Jota nachzugeben. Er hatte Anfang Oktober 1961 Informationen erhalten, dass die DDR plane, die abgeriegelte Sektorengrenze zu einer offiziellen Staatsgrenze zu erklären und dadurch ihr Hoheits- gebiet auf Ost-Berlin zu erweitern. Dies konnten und wollten die USA nicht zulassen.

Am 2 5. Oktober wiesen britische Diplomaten widerspruchslos den DDR- Grenzern ihre Pässe vor, was Clay na gemäß in Rage versetzte. Der US-General bestand darauf, dass auch nicht uniformierte Vertreter der Alliierten unkontrolliert den Checkpoint Charlie passieren durften. Er wollte es auf eine Machtprobe ankommen lassen. Am 25. Oktober um 8.30 Uhr gingen in der Friedrichstraße mehrere US-Panzer vom Typ M-48 in Stellung.

Am darauffolgenden Tag, Donnerstag, dem 2 6. Oktober, zogen zehn sowjetische Panzer vom Typ T 54 auf. Nun wurde die Situation bedrohlich. Erstmals seit Beginn des Kalten Krieges standen sich in der Friedrichstraße US-amerikanische und sowjetische Panzer direkt gegenüber, keine 200 Meter voneinander entfernt. Während weitere 20 Sowjetpanzer heranrollten, stand General Clay in direktem Telefonkontakt mit Kennedy und beschwor ihn, nicht die Nerven zu verlieren. Während dieser Konfrontation kam es dennoch zu einem Zwischenfall: Ein US-Bergungspanzer fuhr auf die Grenze zu und überrollte die Demarkationslinie um ca. einen Meter. Ein DDR-Grenzoffizier winkte dem Fahrer, er solle zurücksetzen. Der Panzer fuhr wirklich rückwärts. Am Morgen des 28. Oktober dann zogen sich die sowjetischen Panzer plötzlich zurück. Kurz darauf räumten auch die US- amerikanischen Panzer ihre Stellung. Beide Seiten hatten das Gesicht gewahrt. Alliierte Offiziere konnten auch weiterhin unkontrolliert nach Ost- Berlin fahren. Kennedy hatte sich bei Chruschtschow persönlich um eine Entschärfung der Lage bemüht. Über seinen Bruder Robert und den sowjetischen Presseattaché in Washington, Georgij Bolschakow, ließ er den Kremlchef wissen, dass Washington keinerlei Interesse an einer Eskalation habe. Auch Chruschtschow ließ sich während der Panzerkonfrontation per Telefon laufend über die Lage unterrichten. Am Morgen des 28. Oktober gab er persönlich den Befehl zum Rückzug. Gegenüber einem US-Diplomaten äußerte er später: ,,Fuhren die vorwärts, hieß das Krieg, fuhren sie zurück, hieß das Frieden." Sie fuhren zurück. Weder Moskau noch Washington wollten einen Krieg um Berlin.

Chruschtschow hatte im übrigen diese Haltung bereits Ende August 1961 gegenüber dem westdeutschen Botschafter Hans Kroll zum Ausdruck gebracht. Im Hinblick auf mögliche Zwischenfälle habe er den sowjetischen Oberkommandierenden in Deutschland, Marschall Konjew, angewiesen, ,,Zwischenfälle unter allen Umständen zu vermeiden. Ich will nicht durch die Dummheit irgendeines nervös gewordenen Hauptmanns in einen Krieg hineingezogen werden. Denn ein Krieg wegen Berlin oder der Mauer kommt selbstverständlich nicht in Frage."

Trennungen

Frau B., eine Ost-Berlinerin, über die Zeit unmittelbar nach dem 13.August: ,,Um sich überhaupt wenigstens noch von weitem sehen zu können, sind manche damals zur Schwedter Straße gefahren. Dort hatten welchen einen Berg, eine künstliche Erhöhung aufgeschippt. Da standen die Ostler. Die Westler hatten ja andere Möglichkeiten. Die holten eine Leiter oder was, dass sie die Köpfe sehen konnten. Dann wurde hin und her gewinkt. Wie mir eine Bekannte erzählte, kam im Osten aber immer gleich die Polizei: Nicht stehen bleiben!

Verboten! Keine Zusammenrottung! .. Gehen Sie weiter!

Ich wurde damals in meinem Bekanntenkreis beneidet, weil ich zwei Treppen wohnte. Denn wenn ich auf meinem Balkon saß, sah ich meine Angehörigen. Mein Sohn oder mein Bekannter standen manchmal an der Wiener Brücke, auf der anderen Seite des Kanals So konnten wir uns sehen. Aber wehe, wenn man sich mal irgendwie geäußert hat oder die Hand hob und winkte. Oder die haben gewinkt, und man hat vielleicht automatisch geantwortet. Also das war ganz schwer verboten. Einmal habe ich mich doch hinreißen lassen, als meine beiden Männer auf der anderen Straßenseite standen und winkten. Ich merkte ja auch ..., dass sie ergriffen waren. Und da hat man eben doch gewinkt oder gerufen: ,Hast du meinen Brief nicht bekommen?` Jedenfalls habe ich gewinkt, dann haben sie gewinkt wie ,Was soll's, man kann sich ja doch nichts sagen.` Und wenn die dann gingen, war man natürlich immer in Tränen aufgelöst."

Die Mauer schnitt ins Fleisch einer lebendigen Stadt. Sie trennte Familien, Freundschaften, Liebesbeziehungen. Vor der Grenzschließung hatten täglich hunderttausende Berlinerinnen und Berliner die Sektorengrenze passiert, um im anderen Teil der Stadt Verwandte und Freunde zu besuchen, einzukaufen, zum Frisör oder ins Kino zu gehen. Etwa 12.000 Berliner arbeiteten im Osten, rund 53.000 Ost-Berliner waren allmorgendlich in den Westteil zur Arbeit gefahren, von den Nachbarn oft scheel angesehen wegen des dort verdienten ,,Westgeldes". Mit dem war es im August 1961 quasi mit einem Hieb vorbei. Wer im Westen gearbeitet hatte, musste in Ost-Berlin eine neue Arbeitsstelle suchen, was bei der gespannten Personallage in den Volkseigenen Betrieben keine Schwierigkeit war. Zudem waren die Betriebe von der SED-Bezirksleitung angewiesen, rasch für die Einstellung früherer ,,Grenzgänger" zu sorgen. Durchaus glaubhaft erscheint, wenn in den Stimmungsberichten der ,,Bezirkseinsatzleitung" davon die Rede ist, es werde in den Betrieben ,,immer wieder besonders begrüßt, dass das Grenzgängertum ein Ende fand." Neid und Missgunst spielten dabei sicherlich eine Rolle. In DDR-Zeitungsberichten wurden Arbeiter zitiert, die z. B. befanden: ,,`Auch von uns haben sie Kollegen abzuwerben versucht. Ich bin froh, dass der Menschenhandel und Grenzgängerei aufhören.` Facharbeiter Helmut Kellner vom volkseigenen Betrieb Berlin-Blankenfelde." Richard Schumann, Mitglied der Kampfgruppe im LEW Hennigsdorf, im ,,Neuen Deutschland": ,,Wir Mitglieder der Kampfgruppe werden morgen in Uniform am Arbeitsplatz erscheinen. Vielleicht schreckt das einige, die provozieren möchten. Sollen sie ruhig nervös werden. Wir sichern unseren sozialistischen Betrieb, und sollte jemand frech werden, wird er unsere starke Hand zu spüren bekommen."

Im September 1961 waren Verwandte und Freunde mit einemmal weit wie auf einem anderen Stern. Am 23. August waren die letzten für West-Berliner offenen Grenzübergänge geschlossen worden. Die DDR verlangte nun von Bewohnern der Westsektoren Passierscheine, die sie am Bahnhof Zoo, also in West-Berlin, ausgeben wollte. Der West- Berliner Senat lehnte das strikt ab, hätte dieser Schritt doch bedeutet, der Regierung der DDR zu gestatten, Hoheitsrechte im Westteil der Stadt auszuüben. Mit der Schließung der Grenzübergänge waren die letzten Kontaktmöglichkeiten innerhalb der Stadt gekappt. Es gab keine Telefonverbindungen. Kontakte zu Onkeln und Tanten, Großeltern und Enkeln waren über Stacheldraht und wachsende Mauer nur noch durch Blicke und Rufe möglich. Babys wurden über die Mauer hochgehalten, damit die Großeltern im Osten wenigsten aus der Entfernung einen Blick auf den Nachwuchs werfen konnten. In Tränen aufgelöste Hochzeitspaare standen an der Mauer und winkten ihren Verwandten und Freunden zu, die nicht hatten zur Feier kommen können.

Frau B. wohnte auf Ost-Berliner Seite nur wenige Meter von der Mauer entfernt. Eines Tages erhielt sie ungebetenen Besuch: ,,`Wir kommen von den Grenztruppen und wollen unbedingt m mit Ihnen sprechen.` Ich ließ sie rein Es war sagenhaft, was die mir alles gesagt haben. Winken und Zeichen geben wäre verboten, ich machte das öfters. Ich sollte mir so etwas nicht noch einmal einfallen lassen. Ob mir bewusst sei, dass, sie sehr, sehr würdige Genossen für diese Wohnung hätten?"

Winken, wenigstens ein kurzer Blickkontakt über die Mauer - bald ging auch das nicht mehr. Die Sperranlagen wurden immer dichter, das Grenzregime immer strenger. Am 15. August begann die DDR, an mehreren Stellen in der Stadt den Stacheldraht durch eine Mauer zu ersetzen. Sie bestand zunächst aus Hohlbausteinen; ab November 1961 wurden auch Betonplatten übereinander geschichtet. Schrittweise wurde die gesperrte Grenze zur Mauer. Zweihundert Meter Entfernung, zwei Welten. Die Menschen in Ost-Berlin sahen sich gezwungen, auch im Schatten der Mauer so etwas wie ein normales Leben zu führen. Für das SED-Regime hatte das vor allem zwei Konsequenzen. Auf der einen Seite verlor der ,,Zwangsstaat" DDR vollends an Ansehen, im Westen wie beim größten Teil seiner Bevölkerung. Und viele Menschen zogen sich zunehmend ins Private zurück; es waren die Anfänge einer sogenannten Nischengesellschaft. Politisches und gesellschaftliches Engagement war für die allermeisten Bürger nur noch lästige Pflichtübung. ,, ... ewig im Zustand inneren Haders und moralischen Empörung zu leben ist schwer - fast unmöglich. Die Menschen meinten zurecht, dass sie nur dieses eine Leben hätten, und richteten sich darauf ein, es in der DDR zu verbringen. Sie hatten an das berufliche Fortkommen und an die Laufbahn der Kinder zu denken." Der Mauerbau hatte auch eine Stabilisierung des Regimes zur Folge. Nun konnten ihm die Menschen nicht mehr weglaufen. Zwar verschärfte die SED nach dem 13. August zunächst die Repressionen - im zweiten Halbjahr 1961 wurden 18.297 politische Urteile gefällt, gegenüber 4.442 im ersten -, doch allmählich lockerte sich der eiserne Griff. Und als ab 1963/64 auch die wirtschaftliche Lage und der Lebensstandard sich zwar langsam, aber stetig verbesserten, erleichterte das vielen ein Arrangement mit den Verhältnissen.

Der Schriftsteller Günter de Bruyn rückblickend: ,,Trotzdem musste man mit ihr leben, konnte sich nicht über Jahre, Jahrzehnte, weil man den Schritt nach Westen nicht rechtzeitig getan hatte, einen entschlusslosen Dummkopf schelten, konnte sich nicht ewig nach dem Kurfürstendamm oder dem Britzer Dorfteich verzehren, nicht ständig als schmerzlich empfinden, dass man den Taunus, den Odenwald ... nicht mehr erleben konnte und dass Kopenhagen, Paris oder Rom einem für immer verschlossen waren. Man musste vergessen, dass die häufig besuchte Ackerstraße ... noch eine Fortsetzung nach Norden hatte und wenn man unter dem Straßenpflaster in Fünf-Minuten-Abständen die U-Bahnen von Westen nach Westen rasseln hörte, musste man irgendwann einmal aufhören zu denken: Ach, wer doch da mitfahren könnte, nach Tegel oder Neukölln. Um eingesperrt überhaupt leben zu können, musste man so zu leben versuchen, als gäbe es die Absperrung nicht."

Schüsse auf Flüchtlinge

Nach Schließung der Grenzen geraten zahlreiche Ost-Berliner und DDR-Bürger in Panik. ,,Jetzt oder nie" sagen sich viele und entschließen sich zur spontanen Flucht. In den Tagen und Wochen nach dem 13. August kommt es zu einem makabren Wettlauf zwischen Flüchtlingen und den Grenztruppen, die Stacheldraht und Mauer immer unüberwindlicher zu machen suchen. Die Flüchtenden überspringen den Stacheldraht, kriechen durch Absperrzäune, durchbrechen mit Fahrzeugen die Grenze oder schwimmen durch Spree und Teltow-Kanal.

Bis Mitte September gelangen auf diese Weise noch mehr als 600 Menschen, darunter ganze Familien mit Kindern, nach West-Berlin.

Besonders spektakulär verlaufen Fluchtaktionen an der Bernauer Straße, wo die Fassaden mehrerer Wohnhäuser die Sektorengrenze bilden. Unter den Augen dort versammelter West- Berliner nutzen viele Ost-Berliner diese Häuser zur Flucht. Sie springen aus den Fenstern, seilen sich ab oder lassen sich in Sprungtücher der West-Berliner Feuer- wehr fallen. Wiederholt kommt es dabei zu dramatischen Situationen, beispielsweise am 24. September 1961, als Volkspolizei und Stasi-Leute eine 77jährige Frau, die bereits aus einem der Fenster geklettert ist, zurückzuzerren versuchen. Am 22. August 1961 springt die 59jährige Ida Siekmann in der Bernauer Straße aus dem dritten Stock, verfehlt eine bereitgelegte Matratze und erleidet bei dem Aufprall tödliche Verletzungen. Ein 57 jähriger Mann erleidet am 19. August beim Abseilen schwere Verletzungen, an deren Folgen er am 17. September 1961 stirbt. Diese Flüchtlinge sind die ersten Todesopfer an der Berliner Mauer. Als Gegenmaßnahme verfügt die Volkspolizei, dass ab 24. September 1961 die rund 2.000 Bewohner der Bernauer Straße innerhalb von vier Tagen ihre Wohnungen zu räumen haben. Hauseingänge und Fenster werden zugemauert. In einem Bericht an die SED-Bezirksleitung Berlin heißt es über die zunächst betroffenen Personen, insgesamt 149 Familien, es handele sich um ehemalige ,,Mitglied(er) in faschistischen Organisationen", um Personen, die ,,kriminelle Verbrechen begangen haben, Rückkehrer, ehemalige Grenzgänger und solche, die in der zurückliegenden Zeit als feindlich ... registriert wurden." Die SED-Kreisleitung fordert, sämtliche Mieter in der Bernauer Straße, der Luckauer und der Liesenstraße umzusiedeln. ,,Eher wird es in diesem Gebiet, was die Grenzdurchbrüche betrifft, keine Ruhe geben." An den Sperr- und Bewachungsmaßnahmen sind im August 1961 rund 18.000 Mann (NVA, Volkspolizei, Angehörige der Kampfgruppen, Grenzpolizei, Transportpolizei) beteiligt. Den Inhalt ihres Auftrags haben sie erst unmittelbar am Einsatzort erfahren; mit den physischen und psychischen Belastungen ihres Dienstes müssen sie zunächst alleine fertig werden. Am 15. August hat der l9jährige Grenzpolizist Conrad Schumann an der Straße Dienst. Seit zwei Tagen er die Sektorengrenze, droht Personen, die sich von Osten dem Stacheldraht nähern, mit vorgehaltener MP, hört die Beschimpfungen von der Westseite: ,,Verräter!", ,,KZ- Wächter!" Er ist übermüdet. In ihm wachsen die Zweifel am Sinn seines Tuns. Der West-Berliner Pressefotograf Klaus Lehnartz hält sich seit dem 13. August an der Sektorengrenze auf, immer auf der Suche nach spektakulären Bildern. An jenem 15. August ist er in der Bernauer Straße, wo es aus Wohnhäusern bereits zahlreiche Fluchtaktionen gegeben hat. Einer der Grenzpolizisten verhält sich merkwürdig. Mehrmals tritt er an die Stacheldrahtbarriere und drückt sie mit der Hand ein Stück herunter. Lehnartz hält die Kamera in Bereitschaft - Reporterinstinkt . Der Grenzer nähert sich dem Stacheldraht, als wolle er den Fotografen verscheuchen; doch er gibt ihm flüsternd einen Hinweis. Einige Minuten verstreichen, dann geht es blitzschnell. Schumann nimmt Anlauf und überspringt den Stacheldraht. Noch im Sprung lässt er seine MP fallen, dann verschwindet er in einem Mannschaftswagen der West-Berliner Polizei. Lehnartz hat das Foto seines Lebens gemacht. Das Bild des ersten geflüchteten DDR-Grenzposten geht um die Welt. Im Westen wird Conrad Schumann als Held gefeiert. Die Amerikaner interessieren sich bei ihren Befragungen insbesondere für die psychische Verfassung der zumeist jungen DDR- Posten an der Grenze. Schumann berichtet, wie man ihnen während der Ausbildung ein Feindbild eingebläut habe: im Westen stehe der Klassenfeind. Kriegstreiber, Revanchisten, Konzernbosse versuchten mit allen Mitteln, die DDR und das ,,sozialistische Lage" zu schwächen, um es über kurz oder lang ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben. Erstaunt sind die Amerikaner über die geringe Vorbereitung der DDR-Einsatzkräfte. ,,Es gab nur drei Anweisungen: Wir durften in unserem Grenzbereich niemanden von Ost nach West lassen, wir sollten nicht auf Provokationen aus dem Westen eingehen, und wir durften nicht scharf schießen." Für die ersten Tage nach dem Mauerbau entspricht diese Aussage offenbar den Tatsachen.

Die Einsatzleitung um Honecker hat zunehmend Grund zur Sorge um Motivation und psychische Verfassung der Grenzsoldaten. Fälle von Fahnenflucht häufen sich. Mit der Moral der Posten steht es nicht zum besten. Am 18. August wird gemeldet, dass die ,,parteipolitische Arbeit mit den Sicherheitskräften" noch ,,nicht befriedigend" sei. Umgehend wird der bewährte Propagandist Karl-Eduard von Schnitzler abkommandiert, um die wacklige ideologische Haltung der Truppen zu stärken. Auch das kann aber nicht verhindern, dass sie Zahl der Desertionen weiter zunimmt. Allein in den ersten sechs Wochen nach Grenzschließung flüchten 85 DDR-Grenzpolizisten in Berlin in den Westen. Für den Monat Oktober 1961 verzeichnet eine interne Aufstellung der Grenztruppen weitere 40 Fälle von Fahnenflucht. Die Führung der Grenztruppen lässt über jede Desertion Buch führen. Genauestens werden Ort und Umstände der Flucht, mitgeführte Waffen und Munition dokumentiert. Als Konsequenz aus der hohen Zahl der Fahnenfluchten werden die politisch- ideologische Schulung der Grenztruppen intensiviert und Überwachung und Sanktionen in den Grenzregimentern verstärkt. Es sollen fortan nur noch Zweier- oder Dreier-Patrouillen, zur gegenseitigem Kontrolle, eingesetzt werden.

Die Befehle und Dienstvorschriften der folgenden Monate und Jahre sprechen eine deutliche Sprache. Gegen ,,Grenzverletzer" soll ,,rücksichtslos" von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wer- den. Auf seiner Sitzung vom 22. August 1961 ergeht vom SED-Politbüro die Anweisung, ,,dass jeder, der die Gesetze unserer Deutschen Demokratischen Republik verletzt, auch - wenn erforderlich - durch Anwendung der Waffe zur Ordnung gerufen wird." Zwei Tage später fallen die ersten tödlichen Schüsse.

Am Nachmittag des 24. August 1961 läuft der 24jährige Schneider Günter Litfin am Bahnhof Friedrichstraße unterhalb der Bahngleise in Richtung Grenze. Ein Posten der DDR- Transportpolizei (Trapo) fordert ihn auf stehenzubleiben und gibt zwei Warnschüsse ab.

Litfin springt ins Wasser des Humboldthafens, um schwimmend nach West- Berlin zu gelangen. Militärisch knapp und kalt schildert der Bericht des Trapo-Abschnittleiters das weitere Geschehen: ,,Nachdem eine MPI-Salve von drei Schuss einige Meter vor dem Grenzverletzer ins Wasser abgefeuert wurde und dieser nicht umkehrte, erfolgte die Abgabe von zwei gezielten Schüssen, worauf der Grenzverletzer unterging."

Zwei Stunden später wird die Leiche von Vopos aus der Spree geborgen. Günter Litfin ist der erste Flüchtling, der an der Berliner Mauer durch gezielte Schüsse getötet wurde. Der offizielle Lagebericht enthält auch eine Meldung über die Beisetzung. ,,An der Beerdigung des Litfin (Verbrecher - Humboldt-Hafen) nahmen ca. 80 Personen, überwiegend ältere Menschen, teil. Es gab keine besonderen Vorkommnisse."

Fluchtversuche - im Jargon der Grenztruppen ,,Grenzdurchbrüche" genannt - werden zunehmend schwieriger und gefährlicher. Am 29. August wird ein Mann beim Versuch, den Teltow-Kanal zu durchschwimmen, erschossen. Am 13. Oktober wird ein Flüchtling an der Grenze zwischen Potsdam-Babelsberg und West- Berlin von Angehörigen der Transportpolizei erschossen. Bis Ende Oktober 1961 kommen an der Grenze zu West-Berlin 15 Menschen zu Tode.

Jede bekannt gewordene Flucht wird von den Grenztruppen der DDR genau registriert.

Benutzte Hilfsmittel, z. B. PKW oder Boote, werden ebenso festgehalten wie die näheren Umstände der Flucht. Diese Informationen werden von den Führungsstäben ausgewertet und den Planungen zum weiteren Ausbau der Grenzbefestigungen zugrundegelegt. Obwohl die Organisierung des Grenzregimes und der weitere Ausbau der Sperranlagen rasch voranschreiten, verzeichnen die Grenztruppen allein bis zum 18. September 1961 insgesamt 216 Durchbrüche mit 417 beteiligten Personen. Auf einer Sitzung des ,,Zentralen Stabes" am 20. September 1961 moniert Honecker namens des Politbüros ,,noch bestehende unzulängliche Pioniermaßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze in Berlin". Den Kommandeuren der Grenztruppen gibt er die Anweisung, an der Grenze künftig konsequent durchzugreifen. ,,Alle Durchbruchsversuche müssen unmöglich gemacht werden." Das SED-Politbüro hatte schon am 22. August 1961 vorgeschlagen, dass ganze Kompanien schriftlich ihre Entschlossenheit erklären sollten, auf Flüchtlinge zu schießen. Zur Warnung und Abschreckung der Bevölkerung soll- ten diese Erklärungen, z. T. mit Fotos der Grenzposten, veröffentlicht werden. Tatsächlich erscheinen in der DDR- Presse in den folgenden Wochen und Monaten eine Vielzahl solcher ,,Selbstverpflichtungen". Zur Verhinderung von Fluchtversuchen sollte, wenn es keine andere Möglichkeit zur Festnahme mehr gebe, auch gezielt geschossen werden. ,,Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden Beobachtungs- und Schussfeld ist in der Sperrzone zu schaffen."

Eine Grenztruppen-Statistik listet für den Monat Oktober 1961 trotzdem noch 85 ,,Grenzdurchbrüche" auf (,,49 einfache Fälle; 36 schwere Fälle"), bei denen insgesamt 151 Personen (in den Akten genau nach Geschlecht und Alter aufgeteilt) die Flucht nach WestBerlin gelang. In der Kategorie ,,Richtung" sind zwei Spalten aufgeführt: ,,DDR - West" und ,,West - DDR". Letztere bleibt allerdings leer.

Als häufigste Fluchtmethoden werden in der Statistik ,,Zerschneiden" oder ,,Durchkriechen der Drahtsperre" und ,,Überklettern der Mauer" genannt. Im erfassten Zeitraum Oktober 1961 werden 9 Warnschüsse und 8 Zielschüsse abgegeben, wobei eine Person verletzt worden sein soll. Ein Zielschuss vom 5. Oktober wird in der Auflistung als ,,unberechtigt" deklariert, allerdings ohne Begründung.

Eine Aufstellung des Ministeriums des Innern der DDR vom 18. Oktober 1961 enthält für den Zeitraum vom 13. August bis 10. Oktober 1961 genaue Angaben über den Schusswaffengebrauch bei ,,Grenzdurchbrüchen" im Bereich der 1. Grenzbrigade. Insgesamt wurden demnach 50 Warnschüsse und 8 Zielschüsse abgegeben. Unter der Rubrik ,,erzielte Wirkung" heißt es: ,,2 Tote, 13 Verletzte, 40 Festnahmen."

Fraglos waren die Grenzposten verpflichtet, zur Verhinderung von ,,Grenzdurchbrüchen" in letzter Konsequenz auch gezielte Schüsse abzugeben. Dies sollte aber nach dem Willen der Hauptverantwortlichen in Partei und Militär nur ultima ratio sein, nicht zuletzt mit Blick auf den Schaden für das internationale Ansehen der DDR sollten Schüsse an Mauer und innerdeutscher Grenze möglichst vermieden werden. Das Grenzsicherungssystem wird auch darum immer tiefer gestaffelt und engmaschiger gestaltet - mit mehreren Sperrzonen, dem Einsatz von ,,Freiwilligen Helfern" etc. -, um zu verhindern, dass Flüchtlinge überhaupt in die Nähe von Mauer und Sperrzaun gelangen. Zugleich werden die Grenzposten im Rahmen der politisch-ideologischen Schulung belehrt, dass diejenigen, die es bis unmittelbar an die Mauer schafften, von besonders hoher ,,krimineller Energie" und damit besonders gefährliche ,,Staatsfeinde" seien, gegen die rücksichtsloser Einsatz der Schusswaffe gerechtfertigt sei. Etwaige Skrupel sollen den Grenzern durch regelrechte Verteuflung der Flüchtlinge ausgetrieben werden. So äußert das Politbüro-Mitglied Albert Norden in einer Rede am 30. September 1963 vor Angehörigen der Grenzbrigade Berlin: ,,Ihr haut alle diejenigen auf die Finger, die ihre Schweineschnauze in unseren sozialistischen Garten hinein- stecken wollen. ... Ihr schießt also nicht auf Bruder und Schwester, wenn ihr mit der Waffe den Grenzverletzer zum Halten bringt. Wie kann der euer Bruder sein, der die Republik verlässt, der die Macht des Volkes verrät ... Auch der ist nicht unser Bruder, der zum Feinde desertieren will. Mit Verrätern muß man sehr ernst sprechen. Verrätern gegenüber menschliche Gnade zu üben, heißt unmenschlich am ganzen Volke zu handeln." Und weiter: ,,Ich sage, jeder Schuss aus der Maschinenpistole eines unserer Grenzsicherungsposten ... zur Abwehr solcher Verbrecher rettet in der Konsequenz Hunderte von Kameraden, rettet Tausenden Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik das Leben und sichert Millionenwerte am Volksvermögen." In der DDR wird es bald zur Gewohnheit, jedes Vorkommnis an der Mauer, bei dem DDR- Grenzposten irgendwie in Bedrängnis geraten, ungeheuer aufzubauschen. Die Gefährlichkeit des ,,imperialistischen Gegner" muß bewiesen, das ,,Heldentum" der Grenzsoldaten gefeiert werden, manchmal auch um den Preis der Lächerlichkeit. Im März 1962 werden zwei DDR- Grenzposten auf der Havel ans West-Berliner Ufer getrieben. Das FDJ-Zentralorgan ,,Junge Welt" macht daraus eine wahre Heldengeschichte: ,,Stetig weht der Wind in Richtung Staatsgrenze; er treibt das Boot auf den Westen zu. Paddeln? Unmöglich! Stabsgefreiter Radewald reißt deshalb die Leuchtpistole aus der Tasche. ,Eilt zu Hilfe`, schreibt die Leuchtkugel an den nächtlichen Himmel. Ob es die Genossen noch schaffen werden? Und wenn nicht - da sind doch die geheimen Dienstunterlagen im Boot! ,Versenken!` befiehlt der Bootsführer In respektablem Abstand warten die westlichen Polizeiboote und holen Verstärkung heran: 16 weitere Polizisten und vier Militärpolizisten. 25 Mann beträgt jetzt ihre ,Streitmacht`. Erst als diese ,Armee` sich anschickt, Gewalt anzuwenden, verlässt die Besatzung des G 12-72 ihr Boot. Inzwischen sind alle Dienstunterlagen vernichtet. Unaufhörlich prasseln die Fragen auf den Genossen Radewald nieder. Doch der Stabsgefreite schweigt. Er verrät keine Geheimnisse, sondern setzt den Agenten mit seinen Argumenten hart zu. Beim Soldaten Olbricht versucht man es auf die süße Tour: ,Bleiben Sie doch hier, Sie haben hier alle Möglichkeiten. Sie können auch mal nach Italien fahren.`" Doch auch mit diesen Mitteln ist dem Soldaten nicht beizukommen. ,,`Ich verlange eine sofortige Rückführung`, sagt er, setzt sich demonstrativ im Sessel zurecht und beginnt zu schlafen. Die Geheimdienstleute beenden das aussichtslose Verhör." Am nächsten Morgen kehren die Grenzsoldaten nach Ost-Berlin zurück. Die ,,Junge Welt" beendet ihren Bericht: ,,Auch heute zieht das G 12-72 ... seine Bahn, davon kündend, dass Soldaten unserer Republik mit keinem Mittel zu besiegen sind ... ,,

Nicht immer geht es so vergleichsweise harmlos zu wie in solchen Propagandageschichten. Im Mai 1962 kommt es bei einem spektakulären Zwischenfall an der Mauer zu einem regelrechten Feuergefecht zwischen DDR-Grenzern und West-Berliner Polizisten. Ein erst 15jähriger Junge aus Thüringen, Wilfried T., springt gegen 17.45 Uhr in den Spandauer Schifffahrtskanal, um nach West-Berlin zu schwimmen. DDR-Grenzposten eröffnen das Feuer. Trotz mehrerer Schusswunden kann Wilfried T. das westliche Ufer erreichen, wo ihm Transportarbeiter zu Hilfe kommen. Dennoch schießen die DDR-Grenzsoldaten weiter auf den Flüchtling, woraufhin zwei West-Berliner Polizisten das Feuer erwidern. Bei dem heftigen Schusswechsel wird der 21jährige DDR-Grenzsoldat Peter Göring tödlich getroffen. Insgesamt geben die DDR-Grenzer 121 Schüsse ab. Der durch einen Querschläger getötete Peter Göring hat nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden selbst nicht geschossen. Waren West-Berliner Polizisten berechtigt, ,,Feuerschutz" zu geben, wenn von DDR- Grenzposten auf Flüchtlinge geschossen wurde? Den militärischen Ausdruck ,,Feuerschutz" hört man bei der Polizeiführung nicht gern, man spricht von ,,Notwehrsituationen". Diese gelten als gegeben, wenn ein Flüchtling, der bereits West-Berliner Gebiet erreicht hat, beschossen wird. Auch wenn DDR- Grenzposten einen Flüchtling westlich der Mauer, aber noch auf Ost-Berliner Gebiet beschießen und dabei Polizei oder andere Personen auf West- Berliner Gebiet gefährden, sollen zunächst Warnschüsse, bei anhaltendem Feuer von der Ostseite der Mauer auch gezielte Schüsse abgegeben werden.

Im August 1962, ein Jahr nach der Grenzsperrung, führt der qualvolle Tod des Peter Fechter die Monstrosität der Mauer aller Welt mit grausamer Deutlichkeit vor Augen. Mit einem Arbeitskollegen will der 18jährige Maurergeselle in der Zimmerstraße, unmittelbar am Checkpoint Charlie, in den Westen fliehen. Beide haben den ersten Zaun bereits überklettert, als sie von Grenzposten entdeckt und nach Anruf beschossen werden. Insgesamt fallen 21 Schüsse. Während der Freund die Sperranlagen überklettern kann, bleibt Peter Fechter, in Bauch und Rücken getroffen, unterhalb der Mauer auf östlicher Seite liegen. Die DDR- Grenzer machen keinerlei Anstalten, dem Verblutenden zu helfen. West-Berliner Polizisten können an den um Hilfe rufenden Fechter nicht herankommen, er liegt auf Ost-Berliner Gebiet. In ihrer Hilflosigkeit werfen sie dem Schwerverletzten Verbandspäckchen zu. Auch am Checkpoint Charlie diensttuende amerikanische Soldaten schrecken davor zurück, Ost- Berliner Gebiet zu betreten, um dem Verwundeten erste Hilfe zu leisten. Auf der Westseite der Mauer sammeln sich Hunderte von West-Berlinern, die in ohnmächtiger Wut und Empörung die DDR-Grenzer beschimpfen und zur Hilfeleistung auffordern. Sie beschwören die Amerikaner einzugreifen. Vergeblich. In lauernder Starre stehen sie sich gegenüber - West-Polizisten, die nicht helfen können, DDR-Grenzer die nicht helfen wollen, nicht helfen dürfen? Zwischen ihnen der Getroffene, dessen Rufe immer leiser werden. Nach einer Stunde wird der leblose Peter Fechter von DDR-Grenzpolizisten weggetragen. Kein Zwischenfall an der Mauer hat die Berliner so aufgewühlt wie das langsame Sterben des Peter Fechter. In den folgenden Tagen kommt es in West-Berlin zu wütenden Protestdemonstrationen. Aufgebrachte Menschen werden gegen Sowjetsoldaten handgreiflich, auf den Bus, der sowjetische Soldaten zum Ehrenmal im Tiergarten fährt, fliegen Steine. Auch die Alliierten bekommen den Zorn zu spüren. Erstmals gibt es Beschimpfungen und sogar Tätlichkeiten gegen amerikanische Militärangehörige.

Warum haben die DDR-Grenzsoldaten dem verblutenden Fechter nicht geholfen? Ein Aspekt dieser nie geklärten Frage ist, dass auch sie wahrscheinlich Angst hatten. In den vorangegangenen Wochen waren zwei DDR-Grenzsoldaten durch Schüsse eines Flüchtlings - eben am Checkpoint Charlie, dem Ort, an dem Peter Fechter zu Tode kam -, im anderen Fall bei einem Schusswechsel mit West-Berliner Polizisten getötet worden. Die Angehörigen der Grenztruppen waren im Sommer 1962 stark verunsichert. Bei der Führung der Grenztruppen setzte sich nach diesen Vorkommnissen die Erkenntnis durch, dass für verletzte Flüchtlinge keinerlei Vorkehrungen getroffen waren. Um die Wiederholung eines derartigen Vorfalls mit seinen verheerenden politischen Wirkungen zu ver- hindern, wurde umgehend das Bereithalten von Krankentragen und Sanitätswagen bei den Grenzregimentern angeordnet. Der Tod Peter Fechters bewirkte bei der West-Berliner Bevölkerung und den Politikern eine Bewusstseinsveränderung. Die Zurückhaltung der Amerikaner hatte gezeigt, dass es zuallererst Aufgabe der Berliner Politiker sein würde, der Grenze wenigstens einen Teil ihres Schreckens zu nehmen, sie nach Möglichkeit durchlässiger zu machen. Unter den West- Berliner Politikern waren es neben Willy Brandt vor allem Egon Bahr und Heinrich Albertz, die aus dieser schmerzlichen Einsicht konkrete Politik machen wollten.

Reaktionen

Die Lage im Westen

In Washington treffen die ersten Nachrichten aus Berlin kurz nach 5.00 Uhr MEZ (gegen Mitternacht Ortszeit) ein. Als erster wird John Ausland, Mitarbeiter der Berlinabteilung im US- Außenministerium, informiert. Er hört sich den Telefonbericht an und geht wie- der zu Bett. Vier Stunden später erhält er ein CIA-Telegramm aus Berlin, welches das Code-Wort zur sofortigen Unterrichtung des Präsidenten enthält. Nun eilt Ausland ins State Departement und sucht in den Unterlagen hektisch nach Plänen für den vorliegenden Fall. Nach längerem Suchen findet er endlich einen Ordner mit der entsprechenden Aufschrift ,,Border closure" - er ist leer.

US-Präsident Kennedy wird um 12.30 Uhr Ortszeit an Bord seiner Yacht in Hyannis Port, dem Familiensitz in Massachusetts, in Kenntnis gesetzt. Er ist zunächst ungehalten, erst jetzt von den Berliner Ereignissen zu erfahren, beruhigt sich jedoch rasch. Mit Außenminister Dean Rusk entwirft er eine Presseerklärung und sagt dann: ,,Ich gehe jetzt segeln. Gehen Sie wie geplant zu Ihrem Baseball-Spiel." In der Presseerklärung heißt es: ,,Die Absperrung Ost- Berlins ist eine für alle Welt sichtbare Niederlage des kommunistischen Systems. Das ost- deutsche Ulbricht-Regime ist für die unmenschliche Einsperrung der eigenen Landsleute vor aller Welt verantwortlich."

Auch in Paris und London bleibt es an diesem Sonntag ruhig. Präsident Charles de Gaulle erholt sich weiter in seinem Heimatort Colombey-les-deux-Eglises; der britische Premier Harold Macmillan lässt sich nicht bei der Jagd in Schottland stören.

In vertraulicher Runde macht Kennedy aus seiner Erleichterung über die Entwicklung keinen Hehl. ,,Chruschtschow hätte doch keine Mauer bauen lassen, wenn er wirklich West-Berlin will. Wenn er die ganze Stadt besetzt, dann braucht er keine Mauer Keine besonders angenehme Lösung, aber eine Mauer ist verdammt noch mal besser als ein Krieg." Zudem waren die ,,drei Essentials" der amerikanischen Berlin-Politik gewahrt. Für Washington bestand somit wenig Anlass zu energischem Handeln. Gegenüber seinem Vertrauten Kenneth 0'Donnell gibt Kennedy, den das Berlin-Problem in den vergangenen Monaten stark belastet hat, seine Erleichterung deutlich zu erkennen: ,,Die anderen sind in Panik geraten - nicht wir. Wir werden jetzt nichts tun, weil es keine Alternative gibt außer Krieg. Es ist vorbei, sie werden Berlin nicht überrollen."

Die Menschen im Westen, sofern sie nicht Augenzeugen wurden, erfuhren zuerst aus den Radionachrichten über die dramatischen Vorgänge in Berlin. Hier sieht man die Dinge völlig anders. So mancher reibt sich die Augen. Keine Rede von Gegenmaßnahmen, keine konkreten Forderungen, kein Ultimatum In all die Wut und Ängste mischt sich die Enttäuschung, und zwar über die Westalliierten.

Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt befindet sich nicht in der Stadt, sondern in einem Wahlkampfsonderzug auf der Fahrt von Nürnberg nach Berlin. Brandt ist SPD- Kanzlerkandidat für die im September 1961 anstehenden Bundestagswahlen. Um 4.30 Uhr wird er von Heinrich Albertz, dem Chef der Senatskanzlei, geweckt. Mit dem ersten Flug- zeug kehrt Brandt nach Berlin zurück. ,,Am Flughafen Tempelhof empfingen mich Albertz und Polizeipräsident Stumm. Wir fuhren zum Potsdamer Platz und ans Brandenburger Tor und sahen überall das gleiche Bild: Bauarbeiter, Hindernisse, Betonpfähle, Stacheldraht, Militärs der DDR. Im Rathaus Schöne- berg entnahm ich den Meldungen, dass rings um die Stadt sowjetische Panzer in Bereitschaft gegangen seien und Walter Ulbricht den mauerbauenden Einheiten bereits gratuliert habe ..." Wut und Zorn empfindet er an diesem Morgen und Besorgnis über eine mögliche Eskalation der Lage.

Noch am Vormittag fährt Brandt zu den westlichen Stadtkommandanten in den Villenvorort Dahlem. Er fragt ein- dringlich, was die Westalliierten zu tun gedächten, und erntet zunächst betretenes Schweigen. In wachsender Erregung fordert der Regierende Bürgermeister wenigstens einen scharfen Protest in Moskau und fügt hinzu: ,,Schickt mindestens sofort Patrouillen an die Sektorengrenze, um dem Gefühl der Unsicherheit zu begegnen und den West-Berlinern zu zeigen, dass sie nicht gefährdet sind." Das immerhin veranlassen die drei Stadtkommandanten. Ansonsten sehen sie wenig Grund zu Aktivitäten, zumal sie auf Instruktionen aus ihren Hauptstädten warten. Vom passiven Verhalten der westlichen Stadtkommandanten ist Willy Brandt maßlos enttäuscht. ,,Selten habe ich Brandt so vor Wut bebend erlebt wie nach der Rückkehr von dem Gespräch mit den drei westlichen Kommandanten ..." schreibt sein langjähriger Vertrauter Egon Bahr. Ganz anders verhielt sich sein Kontrahent, der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer. Scheinbar ungerührt, als sei nicht Besonderes geschehen, setzte er seine Wahlkampftour fort, stichelte und polemisierte weiter mit miesen Anspielungen gegen Willy ,,Brand alias Frahm", statt durch einen Besuch in Berlin (West) wenigstens ein symbolisches Zeichen der Verbundenheit und Anteilnahme zu setzen. Als ,,Adenauers größten Fehler" hat Horst Osterheld, damals Leiter des außenpolitischen Büros im Kanzleramt, dies bezeichnet - zu Recht. Es war mehr als nur ein Fehler, vielmehr symptomatisch für Adenauers Stil und Berlin-ferne deutsche Politik. Dies war der Lackmustest. Noch so kunstvoll gewobene Sagas vom gesamtdeutschen Heros Adenauer können nicht verdecken, dass er beim Mauerbau versagte. Das Versagen entsprang wohl der Logik seiner Grundhaltung und seines Konzeptes.

Als er am 22. August - viel zu spät nach dem Empfinden der Menschen in der Stadt - nach West-Berlin kommt, schlägt ihm eine kühle, fast ablehnende Atmosphäre entgegen.

Doch gegen die brutale Abriegelung der Grenze konnte weder ein Adenauer etwas Wirksames tun, noch waren die westlichen Alliierten dazu bereit. Diese reagieren auf den Mauerbau lediglich mit einer Protestnote, die den folgenden Wortlaut hatte (USA): ,,[..] Die Regierung der Vereinigten Staaten protestiert feierlich gegen die [...] Maßnahmen, für die sie die sowjetische Regierung verantwortlich macht. Die Regierung der Vereinigten Staaten erwartet, dass die sowjetische Regierung diesen illegalen Maßnahem n ein Ende setzt. Diese einseitige Verletzung des Vier-Mächte-Status von Berlin kann die bestehenden Spannungen und Gefahren nur vergrößern."

In der West-Berliner Bevölkerung verbreitet sich das Gefühl, im Stich gelassen zu werden. ,,Der Westen tut nichts" titelt die Bild-Zeitung am 16. August und bringt damit die Gefühle einer halben Stadt zu Ausdruck. Bei den Menschen wachsen Enttäuschung über die Westalliierten und Angst vor weiteren Aggressionen aus dem Osten. In dieser Situation entschließt sich Brandt zu einem ungewöhnlichen Schritt: Er schickt unter Umgehung des US-Stadtkommandanten ein Telegramm an US-Präsident Kennedy. Darin hält er den Amerikanern ihre zögerliche Haltung vor, die geeignet sei, bei der West-Berliner Bevölkerung ,,Zweifel in die Reaktionsfähigkeit und Entschlossenheit der drei Mächte zu wecken." Könne es der Westen einfach so hinnehmen, dass z. B. der Viermächte-Status Berlins in so eklatanter Weise beschädigt wird? In fast undiplomatischer Direktheit fordert der regierende Bürgermeister vom Westen Aktionen ,,1. Untätigkeit und reine Defensive könnten eine Vertrauenskrise zu den Westmächten hervorrufen. 2. Untätigkeit und reine Defensive könnten zu übersteigertem Selbstbewusstsein des Ostberliner Regimes führen. Bei Kennedy ruft das Schreiben Verärgerung hervor. Er will sich nicht vorschreiben lassen, was er zu tun oder zu lassen hat, macht Brandt allerdings einige Zusagen, was den Schutz West-Berlins und das Engagement der USA an- geht. Dass ein energischeres Handeln des Westens dringend geboten ist, wird nicht zuletzt durch diesen Brief drei Tage nach Grenzsperrung immer deutlicher.

m Nachmittag des 16. August haben sich rund 300.000 West-Berliner vor dem Schöneberger Rathaus zu einer Protestkundgebung versammelt. Die Stimmung ist aufgehetzt. Auf Plakaten ist zu lesen: ,,Wir sind schutzbedürftig. Wo sind die Schutzmächte?" - ,,Genug der Proteste. Jetzt lasst Taten sprechen" - ,,Was muß noch geschehen, damit etwas geschieht?" - ,,Vom Westen betrogene." Brandt steht vor einer überaus schwierigen Aufgabe. Einerseits muß er die Gefühle der Menschen ansprechend, andererseits verhindern, dass es zu einer Verschärfung der Lage und zu unbedachten Handlungen an den Sperranlagen kommt.

Mit seiner Rede trifft er den richtigen Ton: ,,Die Sowjetunion hat ihrem Kettenhund Ulbricht ein Stück Leine gelassen. Sie hat ihm gestattet, seine Truppen einmarschieren zu lassen in den Ostsektor dieser Stadt Die Proteste der drei westlichen Kommandanten waren gut, aber dabei allein darf es nicht bleiben!" An Funktionsträger und Militärs der DDR richtet er einen dringlichen Appell: ,,Lasst euch nicht zu Lumpen machen! Zeigt menschliches Verhalten, wo immer es möglich ist, und vor allem, schießt vor allem nicht auf eure Landsleute! ... Diese Stadt Berlin wünscht den Frieden, aber sie kapituliert nicht Nachgeben und Beschwichtigen sind nur die Einladung zu neuen Übergriffen ... Berlin erwartet mehr als Worte, Berlin erwartet politische Aktionen ..." Die Menschen jubeln. Sie sind dankbar für die deutlichen Worte. Sie sind in jenen Tagen dankbar für jede Ermutigung. Unterdessen laufen in Washington alarmierende Berichte aus West-Berlin ein. Ein Mitarbeiter des State Departement telegrafiert: ,,Es besteht die Gefahr, dass jene leicht verderbliche Ware zerstört wird, die man Hoffnung nennt." Es steht zu befürchten, dass die Amerikaner durch Zurückhaltung ihren Kredit bei den Menschen in West-Berlin, ja in der ganzen Bundesrepublik verspielen. In dieser Lage entschließt sich Kennedy zu zwei symbolischen Aktionen. Er schickt 1500 GI's zur Verstärkung der US-Garnison über die Autobahn von Helmstedt nach Berlin, wo sie von der Bevölkerung stürmisch begrüßt werden. Und er ent- sendet seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson in die abgeriegelte Stadt. Als Johnson am 19. August auf dem Flughafen Tempelhof eintrifft, ist er überwältigt von dem triumphalen Empfang. Hunderttausende säumen die Straßen auf seiner Fahrt durch die Westsektoren. Unter dem Jubel von 300 000 Menschen versichert er vor dem Rathaus Schöneberg, dass die USA auch weiterhin die Freiheit West-Berlins und den ungehinderten Zugang zur Stadt garantieren werden.

Mit Johnson ist General Lucius D. Clay nach Berlin gekommen, der in der Stadt als Organisator der Luftbrücke von 1948/49 noch in bester Erinnerung ist. Clay ist als Vertreter einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Sowjets bekannt und mag durch seine bloße Anwesenheit zur Beruhigung der Bevölkerung beitragen. Ende Oktober 1961 schon wird seine Entschlossenheit besonders gefragt sein.

Die Lage im Osten

Während die Bilder der Wut und des Protestes der West-Berliner um die Welt gehen, dringt über die Situation im Ost- Sektor kaum etwas nach außen. Die DDR-Medien verbreiten nur Propaganda-Meldungen. ,,Seit Sonntag stehen in Berlin Grenzpfähle", heißt es am 17. August im ,,Neuen Deutschland". ,,Die Bevölkerung der DDR schützt diese Pfähle, weil diese Pfähle der Bevölkerung der DDR den besten Schutz vor den westdeutschen Militaristen bieten. Die Störenfriede in Schöneberg und Bonn ereifern sich über diese Pfähle, weil ihnen diese Pfähle unmissverständlich die Grenzen ihrer Macht demonstrieren. Die Bevölkerung der DDR bekennt sich zu diesen Pfählen, weil diese Pfähle handfeste Garantien für eine friedliche und demokratische Wiedervereinigung sind."

Dieselbe Zeitung drei Tage später unter der Überschrift ,,Die DDR rettete den Frieden": ,,Jetzt sind die über Westberlin in die DDR greifenden Fangarme des militaristischen Ungeheuers abgehackt ..." Vom ,,antifaschistischen Schutzwall" ist in diesen Tagen noch nicht die Rede - diese später zur verbindlichen Sprachregelung erhobene Bezeichnung der Mauer wurde erst Monate später geprägt.

Wie erleben die Menschen in Ost-Berlin die Abriegelung der Stadt? ,,Straßenbahnen fuhren vorbei, olivgrüne Militärlastwagen, auf denen Uniformierte saßen mit eisernen Mienen", beschreibt der Schriftsteller Klaus Schlesinger rückblickend den 13. August. ,,An der Dimitroff sprang mir ein Transparent ins Auge, das weiß auf rot ,Alle Kraft zur Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe` forderte ... Überall dasselbe Bild, Sperrketten bewaffneter Kampfgruppen und auf beiden Seiten Menschen. Ich ... lief instinktiv die Straßen in Grenznähe entlang ... überall Menschen vor bröckelnden Fassaden, Kopfschütteln und heftige Armbewegungen. An einer Ecke standen Frauen und sahen hinüber auf die andere Seite. Eine rief: Verwandte ersten Grades dürfen immer, Verwandte zweiten Grades nur auf Genehmigung!"

Die DDR-Presse verbreitet nichts als Jubelmeldungen und Solidaritätsbekundungen. Das ,,Neue Deutschland", 14. August: ,,Junge Eisenbahner an Walter Ulbricht: Gefahrenherd Westberlin austreten!" - ,,Wir können aufatmen" - ,,Wehe dem, der frech wird!" werden ,,Werktätige der DDR und ihrer Hauptstadt" zitiert. Eine vergleichsweise differenzierte Darstellung findet sich am 15. August in der ,,Berliner Zeitung": ,,Rund 30 Stunden sind vergangen, seit die Menschenhändler in Westberlin kalte Füße bekamen. In diesen Morgenstunden des Montag ist unser Berlin längst zur neuen Tagesordnung übergegangen Und überall, wo sich die Werktätigen auf dem Weg zur Arbeit oder beim Umkleiden vor Schichtbeginn treffen, ist der Schlag gegen die Fronstadtleute, sind die Maßnahmen unserer Regierung gegen die Militaristen Hauptgespräch ,Haste unsere Polizei und die Jungens von den Kampfgruppen gesehen - die sind richtig!` ... Hier und da auch eine besorgte Stimme: ,Hoffentlich bleibt alles ruhig ...` Und auch darauf gleich eine Antwort: ,Ist es ruhig zugegangen und ist es jetzt ruhig? Na siehste - und es bleibt ruhig. Die drüben haben gesehen, was bei uns Sache ist.`" Heute zugängliche Geheimberichte der SED-Kreisleitungen geben Einblick in die Stimmungslage der Ost- Berliner Bevölkerung unmittelbar nach der Grenzschließung. Diese ,,Informationsberichte" zeigen ein erstaunlich ungeschminktes Bild von den Reaktionen in den Stadtbezirken. Recht drastisch führen die zentral ausgewerteten und an Ulbricht weitergeleiteten Meldungen der SED-Führung vor Augen, was viele Menschen in Ost-Berlin vom ,,antifaschistischen Schutzwall" tatsächlich halten. Wollankstraße, Bezirk Pankow, am Morgen des 13. August, 10.30 Uhr. Der anonyme Informant berichtet: ,,So schrie eine Frau: ,Gehen wir doch durch die Straßenmitte und machen einen gewaltsamen Durchbruch. Wir alle sind Deutsche, wir wollen rüber zu unseren Brüdern.` Andere Jugendliche brüllten: ,Eine Schande, dass ihr euch dafür hergebt, die Grenze zu bewachen und uns nicht hinüberzulassen. Ihr seid keine Deutschen.`" Eine andere Meldung: ,,Kollegen aus dem Gaswerk Lichtenberg: ,Jetzt wird es noch schöner: Jetzt haben wir schon Grenzen innerhalb der Stadt.` In der Drisener Straße, Prenzlauer Berg, hatten Bewohner die Fenster geöffnet und grölten sehr laut: ,Morgen schuften wir für 1,20 DM, wir kommen nicht mehr rüber. Jetzt gibt es keine Butter mehr` usw Die Kreisleitung hat eine Einsatzgruppe der VP hingeschickt, um die Ruhe herzustellen." Etwas kleinlaut heißt es in einem Bereicht aus Weisensee, ebenfalls vom 13. August: ,,Es gibt eine ganze Anzahl von negativen Äußerungen. Sie haben im wesentlichen folgenden Inhalt: Vertiefung der Spaltung durch uns, Beschränkung der Freiheit, das ist keine Demokratie, in einer Anzahl von Gesprächen kommt erneut die Kriegsangst zum Ausdruck." Besonders heftig äußert laut Informationsbericht ein Ost-Berliner Busfahrer sein Wut: ,,Der Bus ist nicht im Verkehr geblieben, sondern nach Weißensee auf den Hof gefahren.. Dort erklärten Fahrer und Schaffner, bei uns sei das genau wie bei den Nazis, wenn man nicht einverstanden ist, kriegt man paar auf die Fresse." Über Maßnahmen der Staatsgewalt schweigt sich der Bericht aus.

An vielen Orten greift das Regime bei den ersten Ansätzen von Kritik hart durch: ,,Auf dem Bahnhof Schönhauser Allee wurde ein Provokateur verhaftet, der u.a. auftrat: ,Bei uns gibt es keine Demokratie`, und er wird schon ein Loch finden, wie er rüberkornmt." ,,In der Straßenbahnlinie 69E wurde in der Nähe des Tierparks von einem BVG-Angehörigen ... provoziert: ,Die müssen aber Angst haben, 300 Panzer sind im Einsatz und die Schienen haben sie aufgeschweißt.` Als ihm ein Genosse entgegentrat, jammerte er um Bananen für seine Kinder usw Der Genosse wurde darauf hingewiesen, wie mit solchen Provokateuren in Zukunft zu verfahren ist." Am 16. August meldet die ,,Abteilung Organisation und Kader" der SED-Kreisleitung aus Weißensee: ,,Eine Frau Dienzloff, ... Weißensee, anlässlich der Listenversammlung der Nationalen Front: ,Jetzt sitzen wir hinter Stacheldraht und das nennt sich Freiheit.`"

Wie die ,,Informationsberichte" zeigen, gibt es vielfältige Formen des Protests: ,,Im PKB

Kohle wurde ein Mitglied der Kampfgruppe verhaftet, weil er sich in provokatorischer Weise gegen die Partei und Regierung äußerte und Befehle verweigerte. An einigen Punkten gab es ,Zufälligkeiten` mit Arbeitspausen, gerade zu der Zeit, als der DGB in Westberlin zum sogenannten Proteststreik aufrief. Z. B. im VEB Heizkraftwerk wurde zu dieser Zeit der Riemen an einer Maschine ... ausgewechselt, so dass die Maschinen ausfielen. Auch im VEB Milchhof wurde um 11. 00 eine Maschine repariert und bewirkte damit eine ... Arbeitsstille. An der Werkmauer des OWL, Treptow, wurde in den Mittagsstunden des 15.8. die Losung angemalt: ,Jetzt haben wir das Zuchthaus in Berlin.` Die Täter wurden noch nicht ermittelt.` Die SED schickt in den kritischen Tagen auch mehrere Dutzend ,,Agitatoren" auf die Straße, die sich in Diskussionen einmischen und größere Menschenansammlungen zerstreuen sollen. Sie haben keinen leichten Stand. Die Agitatorin Luise Z. meldet über ihren Einsatz am 13. August an der Wollankstraße: ,,Als es wieder einmal notwendig war, Ordnung zu schaffen, wehrte sich ein Mann ... gegen das Eingreifen unserer Polizei Als man den ganz Widerspenstigen mit ,Gewalt` zur Ordnung zwang, er beinahe schreiend unserer Volkspolizei folgte, sagte ein junger Mann, dass der Betreffende vielleicht deshalb so schreit, weil er 12 Jahre den Stacheldraht von Buchenwald gesehen hat. Man solle ihn also verstehen und Verständnis entgegenbringen. Ohne es auszusprechen, war er also der Meinung, dass sich dieser Mann offensichtlich vor dem Stacheldraht der Arbeiter. und Bauernmacht fürchtet. Mit meiner Antwort, dass ein Mann, der 12 Jahre im Konzentrationslager der Faschisten saß, sich nicht gegen die Arbeiter- und Bauernmacht, nicht gegen die Volkspolizei auflehnt, war er einverstanden. Wenn es dennoch ein Mann tut, dann müsse er wohl zu einer anderen Sorte von Menschen gehören.

Auch aus der Charité werden empörte Meldungen zugetragen. Eine Meldung vom 16. August übermittelt folgende Aussage: ,,Maßnahmen werden dazu führen, dass ein 17. Juni 1963 folgt." Was mit demjenigen passierte, der so unverblümt von einem neuerlichen Volksaufstand sprach, ist nicht überliefert.

In einem zusammenfassenden Bericht aus dem VEB Volksbau Lichtenberg vom 2 8. August wird die Stimmung wie folgt gekennzeichnet: ,,... haben nicht nur einige Kollegen, sondern auch einige Genossen die Maßnahmen nicht verstanden und sind sogar feindlich aufgetreten." Vereinzelt kommt es auch zu offener Verweigerung: Der Genosse Danis von der Brigade Drolshagen hat verweigert, an der Sektorengrenze zu mauern. Er wurde sofort von der Brigade isoliert, sein Dokument (SED-Parteibuch, d.Verf.) ... wurde ihm später abgenommenen."

Ab dem 15. August häufen sich Meldungen über Hamsterkäufe (,,Angsteinkäufe"), insbesondere von Zucker und Konserven in Ost-Berlin. Auch gibt es jetzt zunehmend Proteste, gegen die Polizei und Stasi mit großer Schärfe vor- gehen. ,,Hetzerische Äußerungen wurden von Ang. der Staatsoper bekannt. Die entsprechenden Untersuchungen sind eingeleitet."

Vereinzelt gibt es auch offenen Protest und Befehlsverweigerung von Volkspolizisten und Grenzposten. So erscheint am 15. August ein Offizier der Volkspolizei nicht zum Dienst. ,,Obwohl er in der Aussprache auf sein politisch falsches Verhalten hingewiesen wurde, reagierte er mit der Abgabe des Parteidokumentes und Dienstbuches darauf. Die erforderlichen Maßnahmen wurden veranlasst." Ein Volkspolizist erklärt laut Lagemeldung, dass er die Sperrung der Grenze nicht billige und ,,diesen Mist nicht mehr mitmachen würde." In allen Bezirken Ost-Berlins gab es in den ersten Tagen und Wochen zahlreiche Proteste, vereinzelt auch Zusammenstöße mit der Polizei. Nach einer für Ulbricht gemachten Aufstellung wurden bis Ende August im Zusammenhang mit Protesten gegen die Grenzschließung allein in Ost-Berlin 2.192 Personen festgenommen, 691 Personen für längere Zeit inhaftiert. Durch den gezielten Einsatz von Polizei und Stasi gelang es der SED- Führung bis etwa Oktober 1961, Kritik und Protest weitgehend zum Schweigen zu bringen.

Final del extracto de 30 páginas

Detalles

Título
Dokumentation zum Bau der Berliner Mauer
Autor
Año
2001
Páginas
30
No. de catálogo
V100462
ISBN (Ebook)
9783638988889
Tamaño de fichero
601 KB
Idioma
Alemán
Notas
Aus Gründen der Größe habe ich die Bilder nicht eingefügt. Wer sie sehen möchte, kann mir eine Mail schicken
Palabras clave
Dokumentation, Berliner, Mauer, Thema Berliner Mauer
Citar trabajo
Maik Felber (Autor), 2001, Dokumentation zum Bau der Berliner Mauer, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100462

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