Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Biografie: Antonio Tabucchi
3. Aufbau und Inhalt von Per Isabel
4. Analytischer Teil der Identitätsproblematik des Protagonisten
4.1 Name
4.2 Präsenz
4.2.1 Zeitliche Gegenwart
4.2.2 Räumliche Anwesenheit
4.3 Memoria
4.4 Sprache
4.5 Lebensstil
4.6 Interessen
4.6.1 Politik
4.6.2 Religion
4.6.3 Astronomie
4.7 Soziales Netzwerk
4.8 Beziehung zu Isabel
5. Identitätssuche
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Mensch baut sein Selbstbild allgemein aufgrund ähnlicher Fragestellungen auf. Wer bin ich? Wo möchte ich hin? Was tue ich und warum? Das sind jedenfalls, laut Gast, drei grundsätzliche Fragen, deren Antworten in ihrer Summe die eigene Identität ergeben. Also das, was den einen Mensch von einem anderen Menschen unterscheidet und ihn damit zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit, einem Individuum, macht (Gast 2014, S. 67).
Doch was macht die Identität eines Menschen aus? Woran ist sie geknüpft, welchen Einflüssen unterliegt sie und was macht sie greifbar? Um diese Fragen zu beantworten, müsste zunächst einmal geklärt werden, was Identität genau ist. Doch diese Frage kann nicht kurz und eindeutig beantwortet werden: „Der Begriff der Identität hat so viele Bedeutungen [...], wie es Theorien gibt, die ihn verwenden “ (Levita 2002, S. 9). Was wir wissen ist, dass das Wort Identität auf das lateinische Wort idem zurückgeht, welches der- oder dasselbe bedeutet. Das Wort Identität beschreibt somit die für einen Menschen typischen Eigenarten, die jeden zu einem einmaligen, unverwechselbaren Individuum machen.
Diese Arbeit soll sich mit der Identität und vor allem der Identitätsproblematik des Protagonisten Waclaw Slowacki, auch genannt Tadeus, in dem postumen Roman Per Isabel von Antonio Tabucchi von 2013 auseinandersetzen. Sie beginnt mit ein paar Worten zu dem Autor, Antonio Tabucchi, gefolgt von einer Erklärung zu dem Aufbau und Inhalt des hier zugrunde liegenden Werkes Per Isabel. Da diese Arbeit der Untersuchung dient, ob und inwiefern die Identität des Protagonisten problematisch ist, wird im analytischen Hauptteil erörtert, was man über die Identität des Protagonisten erfährt, was daran kritisch zu betrachten ist und was daran letztlich problematisch sein könnte. Dafür wird Identität in einige Bestandteile zerlegt, die aufgrund ihrer Präsenz im Roman gewählt wurden, um diese dann nacheinander auf den Protagonisten im Roman zu beziehen. Die gewählten Kategorien und deren Analyse dürfen, da sie die Vielschichtigkeit und Komplexität der Thematik nicht vollständig abdecken können, nicht als allumfassend und abschließend verstanden werden. Die ausgewählten Kategorien: Name, Präsenz, Memoria, Sprache, Lebensstil, Interessen, soziales Netzwerk und Beziehung zu Isabel dienen der Filterung und Ordnung der Identitätsanalyse. Anschließend werden mögliche Zusammenhänge zwischen der Suche nach Isabel und der Selbstsuche des Protagonisten untersucht. Die Arbeit endet mit einem abschließenden, fusionierenden Fazit.
2. Biografie: Antonio Tabucchi
Antonio Tabucchi wurde am 23. September 1943 in Pisa geboren und verstarb am 25. März 2012 in Lissabon. Er gilt heute als einer der bedeutendsten italienischen Autoren der Gegenwartsliteratur. Er wird zu der Gruppe der giovani scrittori der 1980er Jahre gezählt und gilt besonders außerhalb Italiens, aufgrund seines fragmentarischen Schreibens, als postmoderner Autor. Eine Zwischenposition von Modernismus und Postmodernismus scheint seinen Schreibstil jedoch besser einzuordnen, denn Tabucchis literarische Werke weisen einige charakteristische Züge der postmodernen Ästhetik auf und vermitteln dennoch seine ironisch distanzierte Haltung in Hinblick auf dieselbe, da es seiner Meinung nach unmöglich ist, „futuri a noi stessi“ (Tabucchi 2002, S. 120) zu sein.
Erste literarische Arbeiten veröffentlichte er in den 70er Jahren. In dieser Zeit studierte er Werke des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa, einem der wichtigsten Dichter in portugiesischer Sprache, sowie der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts und der Weltliteratur, die ihn selbst zum Schreiben anregten. In Italien wurde Tabucchi ursprünglich als Herausgeber und Übersetzer von Pessoa berühmt, mit dem er sich sein Leben lang befasste. Folglich kann er als wahrer Kenner, Kritiker und Übersetzer der Werke Pessoas angesehen werden. Er selbst lehrte, neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit, als Professor die portugiesische Sprache und Literatur erst an der Universität Bologna und ab 1978 an der Universität Genua, was ihn zu einem Grenzgänger zwischen italienischer und portugiesischer Kultur machte. Durch die Beschäftigung mit Pessoas Werken, entwickelte Tabucchi seine Leidenschaft für Portugal, was eine wichtige Rolle in Tabucchis Schaffen spielt. In einem Interview von 1991 mit Andrea Borsari bezeichnete er es als seine zweite Heimat:
E bello avere due paesi, come, del resto, assumere due modalitâ diverse di vita. Perché un paese presuppone un modo di vita, delle forme di comportamento proprie di quel paese, ossia quello che si chiama campo semantico, e, ovviamente, esistono sia un campo semantico italiano che uno portoghese. Se mi reco in Portogallo devo adottare queso ultimo, e cid mi rende anche diverso. Non è una questione di travestimento, ma è una manierea di uscire dalla costrizione di me stesso, importante specialmente per uno scrittore come me che ha sempre fatto il possibile per immergersi, penetrare, o diventare un'altra persona scrivendo. Diventare un altro è una grandissima liberazione, un grande senso di sollievo (Borsari 1991, S. 7).
Portugal bot Tabucchi einen Freiraum, der ihm die Entfaltung seiner Persönlichkeit und das Ausbrechen aus der eigenen Kulturauffassung ermöglichte.
Hinsichtlich seiner Themen und seiner Erzählweise sind vor allem Fernando Pessoa und Luigi Pirandello seine Vorbilder. Sie gelten für ihn als Vorläufer bei der Entdifferenzierung des Realen und des Imaginären (Klinkert, Rössner 2006, S. 174). Bezugnehmend auf seinen Schreibstil wird von Kritikern behauptet, dass Tabucchis größte Stärke darin lag, in der alltäglichen Wirklichkeit das Rätselhafte, Fantastische und Bedrohliche abenteuerlich aufzuzeigen. Tabucchi äußert über seine Bücher, dass sich in jedem eine eigene Geschichte verstecke;„Posso rispondere che l’anima cambia in ogni libro, perché ogni libro è un’avventura diversa [...]“ (Dolfi, Papini 1998, S. 193). Mit dieser persönlichen Aussage unterstreicht er die zahlreichen Handlungsstränge sowie deren Relevanz für seine Werke. Diese sind oft geprägt von den nachhallenden, traumgleichen Erinnerungen der Figuren und deren Suche nach sich selbst, nach ihrer Identität.
3. Aufbau und Inhalt von Per Isabel
Per Isabel wurde erst 2013, nach dem Tod von Antonio Tabucchi, von seiner Frau veröffentlicht. Der Autor hatte das Manuskript, das den Untertitel „EinMandala“ trägt, bereits Mitte der 90er Jahre fertiggestellt. Der Roman erstreckt sich über 119 Seiten und handelt von einem Mann, Waclaw Slowacki, der auf der Suche nach der Frau ist, die er einst liebte und die im faschistischen Portugal unter Salazar spurlos und unter ungeklärten Umständen verschwand. Waclaw versucht sich Isabel, die er vor rund dreißig Jahren aus den Augen verlor, in neun konzentrischen Kreisen zu nähern. Zwischen Lissabon, Macao und Neapel sucht er jene, die Isabel kannten und nimmt im Laufe der Erzählung mit neun Menschen Kontakt auf. Trapani schreibt, dass diese Personen dem Protagonisten schrittweise ermöglichen das Zentrum des Mandalas zu erreichen:
Ad ogni capitolo, infatti, come in un mosaico, conosciamo le persone - una ricca galleria di personaggi, descritti in modo assolutamente inconfondibile - che le sono state vicine e che gradualmente permettono, raggiungendo il centro del mandala, il rincontro fugace nella riviera napoletana tra Tadeus e Isabel, prologo finale in un’atmosfera visionaria e surreale (2015, S. 875).
Darunter sind ihre Kinderfrau, ein philosophierender Fotograf und ein Dichter, mehr Geist als Mensch. Jedes der neun Kapitel endet mit einem neuen Hinweis auf Isabels Verbleib. Klarheit findet Waclaw bei seinen Nachforschungen trotzdem nicht. Von den wenig vertrauenswürdigen Personen, auf die Waclaw trifft, erfahren wir, Isabel sei schwanger gewesen, leide an einer Depression, habe einen zweiten Liebhaber gehabt und sei ein aktives, sich aber nun im Untergrund aufhaltendes Mitglied einer Verschwörungsorganisation gegen die politischen Auferlegungen in Portugal. Sie könne sogar Selbstmord begangen haben. Eine Trauerfeier gibt es jedenfalls in Cascais, bei der lediglich Isabels alte Schulfreundin Monica anwesend ist; Ein Leichnam nicht.
Angelehnt ist die Struktur dieser Suche an die konzentrischen Kreise eines Mandalas, das als mythisches Symbol auf die Mitte ausgerichtet ist, auf Isabel. Die schneckenhausförmige Bewegung hin zu einem Mittelpunkt stimmt mit dem Aufbau eines Mandalas überein. Alles folgt dem Formprinzip des Kreises: der Rhythmus der Satzketten, die Folge der Figuren, die Anordnung der Schauplätze. Ein Mandala ist ein religiöses Schaubild, das im Buddhismus und Hinduismus, aber auch in therapeutischen Situationen Verwendung findet. Es ist ein rundes Symbol des Universums, das verwendet wird, um eine tiefergehende Bedeutung darzustellen (Krüger 1966, S. 367). Trapani schreibt dazu: „[...] il primo romanzo postumo di Antonio Tabucchi appare come un vero e proprio viaggio nello spazio e nel tempo, metafora di una ricerca esistenziale che si compie in nove capitoli che riflettono i nove cerchi concentrici del mandala orientale “ (2015, S. 875).
Isabel, die in dem Roman totgeglaubte oder zumindest verschwundene Frau, wurde zum ersten Mal in „NotturnoIndiano“ (1984) erwähnt. Isabel und Tadeus tauchen gemeinsam in mehreren Kurzgeschichten und Romanen von Tabucchi auf, wie in „Requiem“ von 1992. Ihre Geschichte bleibt jedoch fragmentiert, verstrickt und mysteriös.
4. Analytischer Teil: Identitätsproblematik des Protagonisten
Im folgenden, analytischen Teil dieser Arbeit, wird speziell die Identität des Protagonisten des Buches anhand mehrerer Kriterien untersucht, um die Probleme seiner Identität auszumachen und zu differenzieren.
4.1 Name
„Mi chiamo Waclaw, risposi, ma questo è solo il nome di battesimo, per gli amici sono Tadeus “ (Tabucchi 2013, S. 16). Zu Beginn des Buches stellt sich der Protagonist einem alten Mann in einem Café mit seinem Taufnamen Waclaw und seinem Rufnamen Tadeus vor. Sein Nachname geht aus seiner Vorstellung nicht hervor.
Das System der Vor- und Nachnamen, wie es in Deutschland und vielen anderen Ländern üblich ist, beinhaltet zweierlei Identitätskomponenten: Durch den Nachnamen wird das Individuum einer Gruppe, wie seiner Familie, zugeordnet und damit als Teil einer bestimmten Gemeinschaft gekennzeichnet und identifiziert. Ein oder mehrere Vornamen und die Kombination aus Vor- und Nachnamen können dem Einzelnen dagegen seine persönliche Identität innerhalb der Familie und der Gesellschaft geben. Janich und Thim- Mabrey behaupten, „erst der Name macht eine Person zu einem in der Gesellschaft identifizierbaren Einzelwesen mit einer einmaligen und fest bleibenden individuellen Identität“ (2003, S. 10). Der Protagonist stellt sich nicht mit Vor- und Nachnamen vor, sondern mit zwei Vornamen: mit einem, den er bei der Taufe bekam, und einem, bei dem ihn seine Freunde nennen. Dadurch, dass der Protagonist sich anfangs gar nicht mit seinem Nachnamen vorstellt, wird eine gewisse Anonymität des Protagonisten schon zu Beginn des Romans thematisiert.
Er ist aber einer der wenigen Charaktere in dem Roman, der einen Vor- und Nachnamen hat: Waclaw Slowacki. Seinen Nachnamen Slowacki erfährt der Leser beiläufig erst auf Seite 52 in der Mitte des Buches, als er sich Frau Almeida, der Frau des Gefängniswärters Joaquim Fransisco Tornas de Almeida, den er aber auch Tom nennen kann, vorstellt. Auffällig ist hier, dass das Gegenüber des Protagonisten einen vollständigen Namen, also Vor- und Nachnamen hat, keiner aber auf dem Klingelschild des Hauses zu finden ist. Auf der vorherigen Seite steht: „[...] sul campanello come al solito non c ’erano i nomi, bisognava ricordarsi il piano [...]. “ Dieser Satz lässt verstehen, dass Namen üblicherweise bei der Suche nach Personen nicht von großer Hilfe sind. Laut dem Protagonisten sei es hilfreicher, sich das Stockwerk zu merken. Das Konzept des Namens wird also dadurch geschwächt, dass ihm die Qualität aberkannt wird, einen Menschen aufgrund seines Namens zuordnen oder auffinden zu können.
Der beiläufig fallende Nachname des Protagonisten ist allerdings ein ganz besonderer. Juliusz Slowacki (1809-1849) war einer der berühmtesten und wichtigsten Vertreter der polnischen Romantik, dessen Hauptgenre das literarische Drama war (Grob 2009). Da Tabucchi in sämtlichen Werken Bezug zu realen Persönlichkeiten, Musik, Kunst und Literatur herstellt, ist anzunehmen, dass die Wahl des Nachnamens in diesem Werk nicht zufällig getroffen wurde. Für Lausten sind diese Verweise ein grundlegender Aspekt der Identitätsdarstellung bei Tabucchi:
Anche nei racconti di Tabucchi vita e arte si intrecciano, e i personaggi sono come degli attori. Questo fenomeno è un altro aspetto importante del modo in cui Tabucchi rappresenta l'identitâ che infatti sembra costruirsi in contatto non solo con i ricordi, i sogni, e le fantasie, ma anche con le fmzioni - quelle lette, ascoltate, assorbite durante una vita. [...] Nei racconti di Tabucchi i riferimenti intertestuali a letteratura, film, teatro o quadri non sono solo mere strategie stilistiche, ma giocano un ruolo concreto e importante per l'esperienza dei personaggi (2006, S. 92).
Die Wahl eines so besetzten Namens lässt sich in zweierlei Hinsicht auf die Identität des Protagonisten beziehen: Zum einen, kann sie dem Protagonisten viele Qualitäten zusprechen und Identitäts- und Identifizierungsraum bieten. Dadurch, dass man ihn besser zuordnen kann, nimmt der Protagonist Struktur an und wird greifbarer und realer. Der Nachname kann den Leser dazu einladen, den Protagonisten selbst für einen bedeutenden Schriftsteller und großen Denker zu halten.
Zum anderen, nimmt ein besetzter Nachname auch Individualität. Das Potenzial als einmalig und unverwechselbar zu erscheinen, schrumpft, da bereits Verhaltensmuster und Charaktereigenschaften mit dem Nachnamen verknüpft sind, die, fälschlicherweise, auf die Person, hier den Protagonisten, projiziert werden und ihm Selbstdarstellungsfreiraum nehmen. Ein besetzter Name könnte für die eigene Identität Probleme kreieren.
Auf Seite 63 stellt sich der Protagonist wieder mit seinem Nachnamen vor, dieses Mal der Sekretärin des Fotografen Signor Tiago. „Lei mi chiese il mio nome. Io risposi semplicemente: Slowacki“ (Tabucchi 2013). In manchen Situationen scheint es dem Protagonisten zu genügen, sich mit seinem Nachnamen vorzustellen. Dann wiederum stellt er sich der chinesischen Konkubine des Dichters mit seinem Nachnamen vor, ergänzt aber unverzüglich, dass er auch bei seinem Taufnamen Waclaw genannt werden könne: „Lei chi è? , mi chiese la cinese. Mi chiamo Slowacki, dissi, mapud dire anche Waclaw [...]“ (Tabucchi 2013, S. 92). Seinen Rufnamen Tadeus verwendet er weitaus seltener als seinen Tauf- und Nachnamen, dafür aber in nennenswerten Situationen. Auf Seite 106 lässt er eine Visitenkarte auf einer Holzbank zurück. Auf diese schreibt er Tadeus, also seinen Rufnamen und seine Zimmernummer. Der Protagonist besitzt also eine Visitenkarte, auf der aber anscheinend kein Name steht. Von welchem Nutzen eine Visitenkarte sein kann, mit der man nicht identifiziert werden kann, bleibt fraglich und unterstreicht erneut die Namenlosigkeit des Protagonisten. Als Tadeus stellt er sich aktiv nur einer anderen Person vor, Xavier. Der Name Xavier taucht unter anderem in dem Roman Notturno Indiano von 1984, der ebenfalls von Antonio Tabucchi ist, auf. Xavier ist in dem Roman, wie unser Protagonist in Per Isabel ebenso feststellt, möglicherweise ein alter Freund des dortigen Protagonisten Roux. „Si, continuai, ma sbuca veramente dal nulla, avevo sentito dire che si era perso in India, me lo aveva comunicato una persona qualche anno fa, e invece eccola qui sulle Alpi svizzere a fare ilsantone “ (Tabucchi 2013, S. 107). Für Tabucchi-Kenner bieten das Aufeinandertreffen und das Gespräch zwischen Tadeus und Xavier viele neue Verknüpfungselemente zwischen verschiedenen Romanen des Autors. Aufgrund der Handlungsstränge in anderen Romanen und Tabucchis Erzählstil, erscheint es als möglich, dass Xavier und Tadeus sich kennen oder gar die gleiche Person sind.
Die einzige Person, die den Protagonisten von sich aus Tadeus nennt, ist Isabel auf Seite 116, was vermuten lässt, dass die Behauptung des Protagonisten, von Freunden Tadeus genannt zu werden, wahr ist. Isabel ist folglich die einzige Person, die den Protagonisten identifizieren kann und ihm einen Namen zur Identifikation zuspricht. Da sie die einzige ist, die ihn identifizieren kann, wird ihr Namenswechsel umso aussagekräftiger. Ab einem gewissen Zeitpunkt im Buch ist nicht mehr klar, ob Isabel ihren Namen aus Sicherheitsgründen abgelegt hat und sich nun Magda nennen lässt:
[...] signor Tiago, dissi, questa Isabel si faceva chiamare Magda, ma era solo un nome in codice e credo che lei conoscesse bene il suo vero nome e il nome in codice, diciamo Isabel dettaMagda, come una donna che in tutta questa storia forse c’entra oforse non c’entra, non le dice niente? (Tabucchi 2013, S. 64).
Der Protagonist ist nicht mehr nur auf der Suche nach einer Isabel, sondern auch nach einer Magda, oder einer Isabel, die sich Magda nennen lässt. Dieser Namenswechsel intensiviert erfolgreich die Verwirrung des Lesers und fungiert als Mechanismus, um die Suche des Protagonisten zu erschweren. Im Romanverlauf wird immer unklarer, wer eigentlich gesucht wird. Der Priester im sechsten Kapitel fragt verständnislos: „Insomma, figliolo, chiese lui spazientito, si chiamava Isabel o Magda?“ (Tabucchi 2013 S. 85). Dennoch bleibt festzuhalten, dass Isabel, oder auch Magda, den Protagonisten wiedererkennt und damit eine gemeinsame Geschichte unbestimmter Art bestätigt. Die anderen Figuren, auf die der Protagonist trifft, behaupten, dessen Namen nicht zu kennen, so wie Xavier auf Seite 107: „Ma lei chi è?“
Die vorhergehenden Textstellen zeigen, dass der Protagonist zwischen seinen Namen hin und her wechselt und sich auf keinen festlegt. Identität lässt sich vor allem durch den eigenen Namen ausdrücken. Es ist daher bezeichnend, dass der Protagonist in Per Isabel zwischen drei Namen wechselt und dadurch letztendlich anonym bleibt (Gast 2014, S. 68). Auch lässt sich keine Logik hinter der Verwendung von Vor- und Nachnamen erkennen, da er einem Fremden in einer Bar anbietet, ihn bei seinem Rufnamen zu nennen, anderen Fremden aber inkonsequenterweise nicht. In Kapitel acht wird außerdem deutlich, dass kein Konsens darüber besteht, ob man sich mit Vor- oder Nachnamen anspricht. So stellt sich der Protagonist mit seinem Nachnamen vor, während sein Gegenüber sich mit dem Vornamen vorstellt. „ Buonasera, dissi io, mi chiamo Slowacki. Buonasera disse la donna, il mio nome è Lise [...]“ (Tabucchi 2013, S. 99). Wie vielen anderen Figuren in diesem Roman, wird Lise, der Astrophysikerin, kein weiterer Namenzusatz zugeteilt und bleibt in allen Situationen einfach Lise.
Noch innerhalb desselben sehr tiefgründigen Gesprächs mit dem Protagonisten vergisst Lise dessen Namen: „[...] non so perché racconto tutto questo a lei di cui non ricordo neppure ilnome. Slowacki, ripetei, mi chiamo Slowacki “ (Tabucchi 2013, S. 103). Durch das Vergessen des Namens wird deutlich, dass der Protagonist nicht anhand seines Namens identifiziert und erinnert wird. Sein Nachname spielt weder in dem Gespräch mit ihr, noch in Kapitel sieben, in dem der Protagonist einen Dichter aufsucht, der von den Chinesen „Fantasma che cammina“, was zu Deutsch „der wandelnde Geist“ bedeutet, genannt wird, eine Rolle. Eigentlich spielt sein Name für keine seiner Begegnungen eine Rolle. Dadurch wird ihm ein wichtiges Identitätsmerkmal abgesprochen. Seine Namenlosigkeit, die dadurch begründet ist, dass er sich mit drei Namen vorstellt und ihm kein Name eindeutig zugesprochen wird, deutet auf die Wurzellosigkeit des Protagonisten hin (Gast 2014, S. 68).
Die Art und Weise, wie Tabucchi Informationen zur Identität seiner Figuren gibt, ist so eigenartig, dass sie einem Spiel ähnelt. Dabei werden über den ganzen Roman hinweg Namen, oft Vornamen, gegeben, die aber ebenso oft ohne wirklichen Informationsgehalt zu der Person verbleiben. Einige der Bekanntschaften tragen nicht einmal einen Vornamen, wie der alte Mann, der mit dem Protagonisten im ersten Kapitel ein Glas Portwein trinken möchte. Bei anderen Figuren bleibt es hingegen oft bei einem Vornamen oder die Namensgebung endet in einer Aneinanderreihung von endlosen Namen, wie im Falle des Gefängniswärters.
Das Kriterium des Namens, schafft einen ersten Eindruck über die Problematik der Identität des Protagonisten, da er als mehr oder weniger namenloses Ich beschrieben wird, dessen Name in den meisten Fällen keine Identifizierung erlaubt.
4.2 Präsenz
Präsenz bezieht sich auf Anwesenheit und Gegenwart, zugleich auf einer räumlichen sowie auf einer zeitlichen Ebene und ist stark abhängig von der Wahrnehmung anderer (Buki 2015, S. 6). Eine Person kann von einer anderen als alles zwischen besonders einnehmend oder gar nicht wahrgenommen werden. Ferner hängt mit dem Begriff, der Präsenz ein zur Verfügung stehen zusammen, da dies unmittelbar mit dem Vorhandensein einer Person verbunden ist. Nur wenn eine Person anwesend und gegenwärtig ist, kann sie auch zur Verfügung stehen.
Zwischen Anwesenheit (räumlich) und Gegenwart (zeitlich) wird in den romanischen Sprachen, wie auch schon im Lateinischen „praesens“, anders als im Deutschen, nicht unterschieden.
Gegenwärtig, also zeitlich greifbar zu sein, spielt für die Präsenz einer Person eine entscheidende Rolle. Die Identitätsproblematik des Protagonisten beginnt hinsichtlich der zeitlichen Verfügbarkeit bereits damit, dass aus dem Roman nicht ersichtlich wird, wie alt er ist und wie viel Zeit vergangen ist, seitdem er Isabel das letzte Mal sah. Auch wird nicht ersichtlich, welche Zeitspanne der Roman abdeckt. Der Leser erfährt von dem Protagonisten und anderen Figuren zuerst im Buch nur, dass viel Zeit vergangen sei. „Joaquim, dissi io, com’è che ti ricordi cosi bene?, è passato tanto tempo “ (Tabucchi 2013, S. 42). Diese Aussage gewinnt an Relevanz, da sie über den Verlauf des Buches hinweg immer wieder fällt. Die Vergänglichkeit der Zeit scheint eine tragende Rolle für den Protagonisten und den ganzen Roman zu spielen: „voglio sapere la verita, lei non puö avere paura della verita, ormai è passato tanto tempo, questo paese è cambiato, nessuno puö farle alcun male, mi dica tutto“ (Tabucchi 2013, S. 53). Anhand solcher Aussagen und insbesondere durch Bezüge zur politischen Situation Portugals, wie der Salazar-Diktatur und dem Wandel des Landes, kann sich der Leser grob auf einen Zeitraum festlegen. In Kapitel fünf verrät der Protagonist, dass circa dreißig Jahre vergangen seien. Wie der Protagonist diese Zeit aber bis zu seiner Suche nach Isabel verbracht hat, erfährt der Leser nicht. Es scheint auch keine Rolle zu spielen. Der Sinn des Buches und des Protagonisten, scheint das Verbleiben und Finden Isabels zu sein.
Wie ungegenwärtig der Protagonist ist, zeigt sich vor allem in den Dialogen mit anderen. In seiner Unterhaltung mit Magda, Isabels Jugendfreundin, im sechsten Kapitel, fragt ihn diese, aus welchem Winkel der Zeit er käme: „[...] non si sa mai da che angolo del tempo arriva, tu da che angolo del tempo arrivi? Moltopiu avanti di te, risposi, èpassato molto tempo “ (Tabucchi 2013, S. 79). Der Protagonist scheint demnach in einem ungreifbarem Zeitkontinuum zu sein, das Magda, aber auch andere Personen, nicht zu erkennen und zu verstehen vermögen. Zeit scheint in dem Roman ungewöhnlich zu verlaufen und eine formbare und unbeständige Variable zu sein. Das Gespräch mit Lise im achten Kapitel unterstützt die Losgelöstheit des Protagonisten von Raum und Zeit: „Nella sala c’era un silenzio innaturale come se fossimo fuori dal tempo“ (Tabucchi 2013, S. 104). Die Beschreibung Lises regt den Leser dazu an, die Existenz oder zumindest die Form der Existenz des Protagonisten zu hinterfragen. Die Skepsis des Lesers wird dadurch bestärkt, dass der Protagonist regelmäßig von seinen Bekanntschaften, wie auch von dem Priester im sechsten Kapitel, als von einem Raum außerhalb der Zeit kommend bezeichnet wird: „[...] era unpoeta, forse avrebbepotuto darti un’indicazione sullapersona che cerchi ancheperché lui come te credo cheprovenisse fuori dal tempo“ (Tabucchi 2013, S. 86).
Der Höhepunkt der Zeitlosigkeit des Protagonisten wird im neunten Kapitel erreicht, da er sich selbst die Frage stellt, wann zu sein. Isabel erklärt ihm daraufhin: [...] siamo nel nostro allora. Ma non sipuo essere contemporaneamente nell’ora e nell’allora, risposi, Isabel, non è possibile, ora siamo nel nostro ora. L’ora e l ’allora si sono annullati, rispose Isabel, tu mi stai dicendo addio come a quel tempo, ma siamo nel nostro presente, il presente di ciascuno di noi, e tu mi stai dicendo addio (Tabucchi 2013, S. 115).
Der Protagonist hält ungläubig daran fest, dass man nicht gleichzeitig im Damals und im Jetzt sein könne. Isabels Aussage, dass beide Welten, das Damals und das Jetzt, nichtig seien, lässt den Leser im Unklaren darüber, ob die beiden zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind. Der Gedanke einer Parallelwelt oder Zwischenebene tut sich auf. Verlaufen die Handlungsstränge chronologisch, parallel oder rekursiv? Dass die Zeit flexibel ist und durcheinander verläuft, wird auch durch die folgende Aussage im neunten Kapitel angedeutet: „Passato remoto, disse, passatoprossimo, presente, futuro, mi scusi, ma non conosco i tempi, non conosco il tempo, per me è tutto uguale “ (Tabucchi 2013, S. 114). Obgleich die Aussage nicht vom Protagonisten stammt, sagt sie doch viel über das Verständnis von Zeit im Roman aus.
Zurückgreifend auf das Gespräch mit Magda im sechsten Kapitel, das über verschiedene Zeitebenen hinweg stattfindet, kann der Leser erkennen, dass die Handlungsstränge nicht chronologisch, also hintereinander ablaufen, sondern dass sich die Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eher wie ein Puzzle innerhalb eines groben Rahmens zusammensetzen: „ Da quale tempo mi parli?, chiesi io. Il pipistrello fece una piccola risata sonora. Ma dagli anni sessanta, mio bello stupidone, rispose la voce di Magda, da quali anni vuoi che tiparli la tuaMagda? “ (Tabucchi 2013, S. 76). Tabucchi bricht durch die Kommunikation, die unabhängig von Raum und Zeit stattfindet, die temporale Linearität und schafft ein neues Zeitverständnis. In anderen, aber auch in diesem Werk wird Zeit zu einer bloßen Konstruktion, durch die sich Interpretationen multiplizieren und sich alles auf die Frage nach der Perspektive runter bricht. Tabucchi erklärte passend dazu in La gastrite di Platone: Quello che mi interesso di piu [...] era la reversibilitâ del Tempo. [...] Leggere la realtd al rovescio, scambiando l’asse causa-effetto era allettante. E se alla reversibilitd del Tempo si sostituisce la reversibilitd della Storia, la lettura si fa ancora piu interessante e puo riservare sorprese, soprattutto quando le cause sono avvolte nel mistero (Tabucchi 1998, S. 24).
Für den Leser bedeutet dies, dass der Protagonist sehr schwer zu identifizieren ist, da man ihm keine Gegenwärtigkeit zuschreiben kann. Er ist aber nicht nur zeitlich schwer zu fassen, sondern zusätzlich auch schwer zu lokalisieren.
Die örtliche Anwesenheit macht den zweiten Teil der Präsenz aus und auch hier zeigen sich Probleme bezugnehmend auf die Identität des Protagonisten. Auffällig ist, dass sich der Protagonist allen vorstellt und dennoch nicht vollständig wahrgenommen wird. Wiederholt stellt er erfolglos seine Fragen. Fragen, nach kausalen Zusammenhängen von Geschehenem, von dem er nur seine lückenhafte Perspektive kennt. Er kann mit den Informationen kein sinnstiftendes Verständnis schaffen. Über die meisten seiner Fragen wird allerdings hinweggegangen, während einige unpassend, und wenige, auf Umwegen, spärlich beantwortet werden. Folgendes Beispiel illustriert, wie explizit der Protagonist wird, um letztendlich dennoch keine Antwort auf seine Frage zu bekommen:
Senta, signor Almeida, dissi io, mi racconti tutto. [...] Tutto cosa?, chiese. Tutto, dissi io. Tutto è niente, rispose lui allargando le braccia. Se tutto è niente allora voglio sapere il tutto che è niente, replicai io, come è morta, perché ha ingoiato i vetri, chi l ’aveva denunciata, lei lo sa, lei è stato il suo secondino a Caxias per una settimana, ha avutopossibilita diparlare con lei, lei sa tutto di Isabel. [...] Tutto è niente, rispose (Tabucchi 2013, S. 52).
Die meisten seiner Unterhaltungen verlaufen sich, wie diese, im Nichts. Gerade so, als würde der Protagonist trotz seiner Beharrlichkeit nicht wahrgenommen werden. Oft erscheint ein Dialog eher wie zwei parallel geführte Monologe, die wenig auf den des anderen eingehen; Häufig wird gänzlich aneinander vorbeigeredet. Obwohl die Gesprächspartner am gleichen Ort sind, scheinen sie nicht gleichermaßen anwesend zu sein.
Löst man sich von den verstrickten Gesprächen und betrachtet das Geschehen des Romans von außen, fällt auf, dass der Roman außerdem von verwirrenden Wegbeschreibungen und Ortsangaben geprägt ist. Sämtliche Orte werden samt ihrer Straßennamen detailliert beschrieben und sind von Relevanz für den Protagonisten, da sie ihn näher an sein Ziel, zu Isabel, bringen und ihm auf seiner Suche als Anhaltspunkte dienen sollen. In den genauen Ortsbeschreibungen findet sich, wie in vielen anderen Motiven die Tabucchi präsentiert, Pessoa wieder. Tabucchi übernahm einige der charakteristischen Schreibtechniken Pessoas; Dazu gehört die genaue Beschreibung von Ort und Zeit (Neumann 2000, S. 189). Dennoch bleiben sämtliche Identitäten, die durch die Rückverfolgung ihrer Spuren, durch konkrete Orts- und Straßennamen lokalisiert werden sollen, letztendlich schwer auffindbar.
[...]
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- Anonym, 2019, Die Identitätsproblematik des Protagonisten in "Per Isabel" von Antonio Tabucchi, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1005095
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