Die Entwicklung der Sexualpädagogik nach 1968

Unter besonderer Berücksichtigung der Veränderungen des Sexualverhaltens von Studentinnen und Studenten


Diplomarbeit, 2003

142 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

1 EINLEITUNG

2 ZUR METHODOLOGIE DER VORLIEGENDEN ARBEIT
2.1 Theoretische Grundlagen
2.1.1 Definition von Sexualität
2.1.2 Begriffsbestimmung Sexualpädagogik/ Sexualerziehung
2.1.3 BegriffsdefmitionSozialisation
2.1.4 Definition Sexuelle Sozialisation
2.2 Historischer Hintergrund
2.3 Relevante Theorieansätze der Sexualpädagogik
2.3.1 Die repressive Sexualerziehung
2.3.2 Gesellschaftskritisch-emanzipatorische Ansätze
2.3.3 Die liberal-vermittelnde Richtung
2.3.4 Die individual-emanzipatorische Sexualerziehung
2.3.5 Die feministisch-emanzipatorische Richtung
2.4 Zur Charakterisierung der verwendeten Untersuchungen
2.4.1 Die Studie von GIESE und SCHMIDT 1966
2.4.2 Die Studie von CLEMENT und SCHMIDT 1981
2.4.3 Die Studie von SCHMIDT u.a. 1996
2.5 KRITERIEN DER ANALYSE DIDAKTISCHER MATERIALIEN

3 UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE 1966
3.1 RESULTATE
3.1.1 Institutionalisierte Sexualnorm vs. Informelle Standards
3.1.2 Einstellungsänderungen
3.1.3 Verhaltensänderungen
3.1.4 Diskrepanz zwischen Einstellungsund Verhaltensänderungen
3.1.5 Revolution oder bürgerliche Reform?
3.2 Sexuelle Sozialisation dieser Studentinnen
3.2.1 AllgemeineSozialisation
3.2.2 Weibliche und männliche Sozialisation
3.2.3 Religiöse Sozialisation
3.2.4 Schichtspezifische Sozialisation
3.3 EXKURS: Der Einfluss der Studentenbewegung
3.4 Literaturbeispiele für S exualpädagogik
3.4.1 Sexualinformationen für Jugendliche
3.4.2 Sexualinformationen für Kinder und Eltern
3.4.3 Sexualdidaktisches Material für Lehrerinnen
3.4.4 Zusammenfassung zentraler Tendenzen in der beschriebenen Literatur
3.5 INTERDEPENDENZEN

4 UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE 1981
4.1 RESULTATE
4.1.1 Masturbation
4.1.2 Koitus
4.1.3 Homosexualität
4.1.4 Sexuelle Verhaltensprofile
4.1.5 Sexuelle Einstellungen
4.1.6 Bedeutung der untersuchten Veränderungen
4.2 Sexuelle Sozialisation dieser Studentinnen
4.2.1 Allgemeine sozialisatorische Aspekte
4.2.2 Erziehung, Spiele und Medien
4.2.3 SchulischeSozialisation
4.2.4 Sexualerziehung und Partnererfahrungen
4.2.5 Ergänzende Betrachtungen
4.2.6 Der Beschluss der Kultusministerkonferenz von 1968
4.2.7 Das BVG-Urteil von 1977
4.3 Literaturbeispiele für Sexualpädagogik
4.3.1 AIDS-Kampagne/SaferSex
4.3.2 Sexuelle Missbrauchskampagne- mädchenspezifische Beiträge
4.3.3 Unterrichtsbezogene Beiträge/Elternarbeit
4.3.4 Instanzenkritische Sexualerziehung
4.3.5 Sexualinformationen für Behinderte
4.3.6 Zusammenfassung zentraler Tendenzen in der beschriebenen Literatur
4.4 INTERDEPENDENZEN

5 UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE 1996
5.1 RESULTATE
5.1.1 Heterosexuelle Erfahrungen
5.1.2 Koitusfrequenzen
5.1.3 Gleichgeschlechtliche Wünsche und Erfahrungen
5.1.4 FesteBeziehungen
5.1.5 Masturbation
5.1.6 Ost-West-Unterschiede
5.1.7 Bedeutungen
5.2 Sexuelle Sozialisation dieser Studentinnen
5.2.1 Kinder- und Jugendsozialisation in den 80er Jahren
5.2.2 Sexualaufklärung
5.2.3 Die Vernichtung von Sexualkunde-Material im Rahmen der konservativen Rückwende
5.2.4 AIDS
5.3 Literaturbeispiele für S exualpädagogik
5.3.1 Mädchen- undjungenspezifischeLiteratur
5.3.2 Sexualdidaktische Beiträge für den Grundschulunterricht
5.3.3 Materialien für den stufenübergreifenden Unterricht
5.3.4 Sonstige sexualpädagogische Beiträge
5.3.5 Zusammenfassung zentraler Tendenzen in der beschriebenen Literatur
5.4 INTERDEPENDENZEN

6 GEGENWARTS- UND ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN DER SEXUALPÄDAGOGIK
6.1 POSTMODERNE TENDENZEN
6.2 Orientierungssuche - Sexuelle Menschenrechte

7 LITERATURVERZEICHNIS

Vorwort

Sexualität hat in der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine fast allgegenwärtige Präsenz erlangt, der sich fast niemand mehr entziehen kann. Auf Grund ihrer warenästhetischen Indienstnahme durch die Werbung oder pseudoperverse Inszenierungen in den Talk-Shows des Fernsehens begegnet sie uns täglich. Sexualität lässt sich durch Internet oder Telekommunikation jederzeit und überall konsumieren. Auch vor kindlicher Neugierde können sexuelle Kontexte kaum noch verborgen werden. Sind doch Schlagwörter wie gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, sexueller Missbrauch, VIAGRA, Sextourismus oder Embryonenhandel und Samenspenden immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskurse. Umso mehr verwundert es, wie wenig Jugendliche und junge Erwachsene, von oberflächlichen Informationen einmal abgesehen, tatsächlich über das Thema Sexualität wissen. Dass es darum keineswegs gut bestellt ist, zeigt ein deutlicher Anstieg von Frühschwangerschaften, und auch die schon fast in Vergessenheit geratene Immunschwächekrankheit AIDS ist inzwischen wieder auf dem Vormarsch. Vor dem eben skizzierten Hintergrund erscheint es um so unverständlicher, dass in der universitären Ausbildung von Lehrerinnen, Diplompädagoginnen und -pädagogen sowie Diplomsozialpädagoginnen und -pädagogen die Sexualerziehung kaum eine nennenswerte Rolle spielt. Die vorliegende Arbeit soll mit dazu beitragen, diesem Missstand ein wenig abzuhelfen. Die meisten sexualpädagogischen Publikationen behandeln Teilgebiete wie theoretische Grundlagen von Sexualität, Sexualverhalten, sexuelle Sozialisation oder didaktische Gesichtspunkte voneinander isoliert. Genau da setzt meine Diplomarbeit an, in der versucht wird, unterschiedliche Teilbereiche der Sexualpädagogik zu integrieren und mögliche Interdependenzen aufzudecken. Der Beitrag ist vor allem für Leserinnen gedacht, die sich näher mit Sexualpädagogik befassen wollen, und bietet diesen ein kompaktes Überblickswissen.

Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei allen, die direkt oder indirekt zum Gelingen der Arbeit beitrugen. Dies sind Herr Realschulkonrektor a.D. Werner Kästner, der den Text auf Orthografie- und Interpunktionsfehler durchsah, Frau Dipl.-Päd. Friederike von Natzmer, die mir mit Literatur und kreativen Anregungen half, meine Kommilitonin Yvonne Schürr, die mich immer wieder auf die Besonderheiten der weiblichen Sexualität hinwies, sowie meine Familie, ohne die das lange Studium nicht möglich gewesen wäre.

1 EINLEITUNG

Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit der Entwicklung der Sexualpädagogik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dies bedeutet nicht, dass es vor 1968 keine Sexualpädagogik gegeben hätte. Autoren wie Jos van Ussel, Fritz Koch oder Helmut Kentler haben die repressive traditionelle Sexualerziehung und Sexualmoral vielfachen Analysen unterzogen. Die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Ideologie waren in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft noch überall virulent. Belege dafür sind die „Aktion Saubere Leinwand“ als Reaktion auf Filme wie „Sie tanzte nur einen Sommer“ (der eine Nacktbadeszene enthält), die Verteufelung von Mischehen zwischen Katholiken und Protestanten, der Kuppeleiparagraf, Razzien der Sittenpolizei am Privall in Travemünde (wegen wilden Campens von Jugendlichen), die Ächtung der sogenannten „Onkel-Ehe“ (unverheiratetes Zusammenleben von Witwen mit Männern, um ihre kleine Rente nicht zu verlieren), öffentliche Diskurse über Skandalprozesse wegen Abtreibung und vieles andere mehr.

In den Schulen fand Sexualerziehung nicht statt. Dagegen hatte die Traktätchen-Literatur der Kirche eine weite Verbreitung. Auch damals spielte Sexualität in den Medien und in öffentlichen Diskursen bereits eine große Rolle, allerdings unter einer heuchlerischen Tugend-Tümelei, wie FOUCAULT treffend analysiert. All das änderte sich erst nach 1968, als die bis dahin durch Fresswellen oral regredierte, immer noch anal fixierte Gesellschaft (umhäkelte Klorollen auf jeder Mercedeshutablage) kulturell gesehen in eine Identitätskrise kam.

Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Bedingungsfaktoren aufzudecken, die zu den umwälzenden Veränderungen von Sexualität und Sexualpädagogik Ende der 60er Jahre geführt haben. Dabei stehen Fragen nach der Entwicklung sexueller Verhaltensmuster, sexueller Einstellungen, sexueller Sozialisation und sexualdidaktischer Materialien sowie gegenseitige Abhängigkeiten dieser Größen im Vordergrund. Grundlegend werden zunächst in einem einleitenden Theorieteil Basisdefinitionen des verwendeten begrifflichen Instrumentariums geliefert, die historische Entwicklung der Sexualpädagogik dargelegt sowie relevante sexualpädagogische Richtungen vorgestellt. Der Teil schließt mit einer Charakterisierung der verwendeten empirischen Untersuchungen und den Analysekriterien für sexualdidaktische Materialien. Danach gliedert sich die Arbeit in drei Hauptabschnitte, die jeweils etwa einen Zeitraum von 15 Jahren abdecken. Jeder Block beginnt mit einem Abriss über die Veränderungen des Sexualverhaltens von Studentinnen und Studenten sowie deren sexuelle Einstellungen. Im Anschluss erfolgt eine Abhandlung über die sexuelle Sozialisation dieser Studentinnen, wobei auch bedeutsame sexualhistorische Ereignisse wie die Studentenbewegung, der KMK-Beschluss von 1968, das BVG-Urteil von 1977, die Vernichtung von Sexualkunde-Material 1982 oder die Immunschwächekrankheit AIDS ihren Niederschlag finden. Anschließend werden sexualdidaktische Literaturbeispiele aus der jeweiligen Epoche kritisch analysiert. Am Schluss eines jeden Hauptblocks steht die Zusammenfassung zentraler Tendenzen der untersuchten Literatur sowie ein Teilkapitel über Interdependenzen zwischen dem konstatierten Sexualverhalten, der Sexualisation und der untersuchten Literaturbeispiele. Auf Grund dessen wird auf die ansonsten obligatorische Zusammenfassung in Diplomarbeiten verzichtet, dafür werden Gegenwartstendenzen der Sexualpädagogik beschrieben sowie mögliche Zukunftsorientierungen aufgezeigt.

2 ZUR METHODOLOGIE DER VORLIEGENDEN ARBEIT

2.1 Theoretische Grundlagen

2.1.1 Definition von Sexualität

Am Anfang einer wissenschaftlichen Arbeit steht zunächst die möglichst exakte und dem gegenwärtigen Stand der Forschung entsprechende Definition des verwendeten begrifflichen Instrumentariums. Bei Sichtung der sexualwissenschaftlich relevanten Literatur wird schnell deutlich, dass für den Terminus der „Sexualität“ keine weit verbreitete, unumstrittene und wissenschaftlich exakte Definition existiert. Zunächst lässt sich feststellen, dass es sich um einen relativ jungen Begriff handelt, der erst seit etwa 1800 nachweisbar ist (vgl. ZIMMERMANN 1999, 14 -15). Ursprünglich sollte mit dem Wort „Sexualität“ lediglich auf das Vorhandensein von Pflanzen in weiblicher und männlicher Ausprägung hingewiesen werden. „Sex“ stand also für Geschlecht, Sorte oder Typ (vgl. KENTLER 1982, 254). Der Begriff wird in der Folgezeit wegen seiner Abstraktheit bevorzugt, „um all jene Gegebenheiten und Vorgänge zu erfassen, die früher konkret und exakt benannt wurden, nun aber als anstößig, unzüchtig, unsittlich gelten und daher verschwiegen werden“ (ebd., 254).

Unter dem wachsenden Einfluss der Psychoanalyse von SIGMUND FREUD zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Bedeutung ausgeweitet. „Sexualität“ stand jetzt nicht nur für Fortpflanzung, Erfüllung, Liebe und erotische Lust, sondern umfasste nunmehr auch eine negativ besetzte Seite: „Wir haben den Begriff der Sexualität nur so weit ausgedehnt, dass er auch das Sexualleben der Perversen und der Kinder umfassen kann. Das heißt, wir haben ihm seinen richtigen Umfang wiedergegeben. Was außerhalb der Psychoanalyse Sexualität heißt, bezieht sich nur auf eingeschränktes, im Dienste der Fortpflanzung stehendes und normal genanntes Sexualleben“ (FREUD 1982, 315).

Beeinflusst durch FREUDS psychoanalytisches Triebkonzept entstand eine Definition von Sexualität, die bis in unsere Zeit reicht. Stark vereinfacht ausgedrückt entstehen im Menschen durch biologische Prozesse regelmäßig Sexualtriebe, die in Abhängigkeit des Versagens einer sexuellen Befriedigung einen mehr oder weniger starken (Un)lust/ Mangelzustand aufkommen lassen. Dieser soll durch sexuelles Verhalten befriedigt werden. Modellhaft werden diese Zusammenhänge häufig mit dem Bild eines kochenden Dampfkessels verglichen, der sich zunächst aufheizt (Triebe), zunehmend unter Druck gerät ((Un)lust/

Mangelzustand) und dann Dampf ablassen muss (Befriedigung) (vgl. ZIMMERMANN 1999, 16 - 18). MEYERS GROßES TASCHENLEXIKON von 1983 greift mit seiner Definition auf dieses Triebmodell zurück: „Sexualität (Geschlechtlichkeit), beim Menschen Gesamtheit der Lebensäußerungen, die auf dem Geschlechtstrieb, einem auf geschlechtl. Beziehung und Befriedigung gezielten Trieb, beruhen“ (MEYERS GROßES TASCHENLEXIKON 1983,131).

Dabei ist anzumerken, dass dieses Triebmodell von männlichen Wissenschaftlern entwickelt wurde und eher dazu neigt, männliche Sexualität auszudrücken: „Druck aus dem Kessel ablassen“ lässt sich gedanklich sehr gut mit Spermaentleerung gleichsetzen. Die Beschreibung der weiblichen Sexualität bleibt bei diesem Erklärungsmodell völlig unberücksichtigt (vgl. ZIMMERMANN 1999, 20).

RICHARD E. Wahlen stellte mit seinem 1966 entwickelten und von Gunter Schmidt erweiterten Zwei-Komponenten-Modell den Sexualtrieb als alleiniges Verursacherprinzip sexueller Handlungen in Frage. Für ihn ist die Ursache jeglichen Sexualverhaltens die sexuelle Motivation. Nach seinem Erklärungsmodell gründet sich sexuelle Motivation auf die Erregbarkeit (persönliche Disposition) und die Erregung (aktuelle Situation) (vgl. ZIMMERMANN 1999, 18; vgl. KLUGE 1984, 7). WAHLEN konstatiert, dass Sexualität keineswegs als einheitliche Größe anzusehen ist, die durch Hormone oder Erfahrungen erklärt werden kann. Vielmehr umfasst Sexualität die sexuelle Identifikation, die Objektwahl, die sexuelle Befriedigung, die sexuelle Erregung sowie die sexuelle Erregbarkeit und Aktivität, wobei unter sexueller Motivation sexuelle Erregung und Erregbarkeit verstanden wird (vgl. Kluge 1984, 7). Gunter Schmidt übernimmt aus Wahlens Modell die Komponentenaufteilung der sexuellen Motivation und erweitert dieses, indem er die gesellschaftliche Determiniertheit sexuellen Verhaltens unterstreicht und die Bedeutung von Lernprozessen hervorhebt: „Sexualität kann gesellschaftlich viel stärker in Regie genommen werden und wesentlich vielfältiger, subtiler, verschleierter, undurchdringlicher und wirkungsvoller kontrolliert werden, als man nach dem traditionellen Modell des , Sexualtriebes’ annehmen konnte“ (SCHMIDT 1975, 45). Leider gibt er jedoch keine Auskunft darüber, in welchem Verhältnis Sexualität und sexuelle Motivation stehen. Am Ende wird nicht deutlich, was Sexualität eigentlich ist.

Volkmar Sigusch überzieht das Schmidtsche Sexualitätskonzept mit vernichtender Kritik, indem er diesem vorwirft, SCHMIDT nähme FREUD als ,, ...einen blanken Biologen, Elektrizitätsenergetiker und Hydrauliker wahr...“ (SIGUSCH 1984, 6), greife aber selber auf biologische Phänomene zurück. SIGUSCH zeigt zwar deutlich die Rolle der Gesellschaft auf, die diese für die menschliche Lust spielt, liefert aber auch keine brauchbare Definition von Sexualität (vgl. ZIMMERMANN 1999, 19).

Einen einseitig soziologisch ausgerichteten Erklärungsversuch und damit die vollständige Abkehr vom TriebbegrifF liefern ROLAND FRICKER und JAKOB LERCH, indem sie ähnlich wie HELMUT KENTLER Sexualität als gesellschaftlich bedingt ansehen. So wird Sexualität als das bezeichnet, ,, ...was eine Theorie oder eine Kultur als Sexualität beschreibt“. Sexuelle Motivation ist nach FRICKER/Lerch ,, ...das Ergebnis eines individuellen Lernprozesses, in dem sich selbstentdeckte und sozial vermittelte Verhaltensweisen in Form von positiven und negativen Verstärkungen auf sexuelle Reaktionen zu Gewohnheiten stabilisiert haben“ (FRICKER/LERCH 1976, 76).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Sexualität als solche wie auch als Terminus mehr oder weniger starken gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt und unter dem Sexualitätsbegriif je nach Umfeld Unterschiedliches verstanden werden kann. Dieser Arbeit liegen Vorstellungen von Sexualität zu Grunde, wie sie von emanzipatorisch eingestellten Sexualpädagoginnen und -pädagogen vertreten werden. Sexualität wird danach als ein partnerschaftlich-orientierter, kommunikativer Verständigungsprozess verstanden, der formbar und somit erziehbar ist. Sexualität enthält Phänomene der Körperlichkeit/Genitalität, die Reproduktionsfunktion sowie einen Lust- und Zärtlichkeitsaspekt. Sie ist somit multifunktional und facettenreich.

2.1.2 Begriffsbestimmung Sexualpädagogik/Sexualerziehung

In der einschlägigen Literatur finden sich die Begriffe Sexualerziehung und Sexualpädagogik, wobei diese teilweise synonym verwendet, häufig aber auch unterschieden werden. In den letzten Jahren hat sich die Bezeichnung „Sexualerziehung“ gegenüber ähnlich lautenden Begriffen wie geschlechtliche Erziehung, Geschlechtserziehung oder Sexualaufklärung durchgesetzt. Standen Geschlechtserziehung und geschlechtliche Erziehung in der Vergangenheit doch eher für repressive Konzepte, die gekennzeichnet waren durch Mystifizierungen, Ablenkungen, moralisierende Appelle und eine geschlechtsspezifische, voneinander getrennte Unterweisung von Mädchen und Jungen (vgl. KLUGE 1984, 8). Die „Sexualaufklärung“ war geprägt durch eine gelegentliche Vermittlung rein sexualbiologischer Inhalte.

Die moderne Bezeichnung „Sexualerziehung“ steht hingegen für das komplette Feld einer bewussten, gezielten und geplanten Förderung menschlicher Sexualität auf allen Altersstufen und begreift sich neben anderen als ein Teilbereich der gesamterzieherischen Bemühungen (ebd., 9). Daraus folgt, dass Sexualerziehung in den Aufgabenbereich aller Erziehungsinstitutionen einbezogen werden muss. In komplementärem Zusammenhang mit der Sexualerziehung steht die sexuelle Sozialisation, die neben intentionalen auch funktionale Lernprozesse beinhaltet. Beide ergänzen sich gegenseitig und verhalten sich zueinander wie Unter- und Oberbegriff (vgl. ETSCHENBERG 1984, 281 - 287).

Unter „Sexualpädagogik“ versteht man nach KLUGE Theorie, Lehre und Erforschung der Sexualerziehung. Sie befasst sich mit der altersgemäßen Förderung menschlicher Sexualität sowie deren zielgerichteter Erforschung auf Basis gültiger Standards wissenschaftlicher Methoden (vgl. KLUGE 1984, 9). Die Sexualpädagogik ist eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft; sie greift gleichzeitig aber auch spezifische Fragestellungen der Sexualwissenschaft auf und kooperiert interdisziplinär mit anderen sexualwissenschaftlich orientierten Disziplinen. Im 20. Jahrhundert spaltete sich unter dem Einfluss der Lehren des Psychoanalytikers SIGMUND FREUD die Sexualpädagogik als eigenständiger Teilbereich mit selbstständiger Theorienbildung von der Religionspädagogik ab, welche nach den Maßgaben der christlichen Theologie die kindliche Sexualität gestalten wollte. Inzwischen bedient sich die Sexualpädagogik der gleichen Methodenvielfalt wie andere Sozialwissenschaften auch. (vgl. ETSCHENBERG 1992, 245). In den letzten Jahren trat besonders die empirische sexualpädagogische Forschung in den Vordergrund, um Anregungen für eine wissenschaftsorientierte Sexualerziehung zu liefern und die sexuelle Sozialisation genauer zu durchleuchten. Dabei gilt es zu beachten, dass pädagogisches Handeln immer zielgerichtet ist und Ziele sich nicht aus Daten herleiten lassen, was die praktische Umsetzbarkeit empirisch gewonnener Erkenntnisse deutlich einschränkt. Dennoch leistet die empirische sexualpädagogische Forschung einen Beitrag, auch extreme Positionen vernünftig zu diskutieren und für die praktische Sexualerziehung einen liberalen Mittelweg zu finden (ebd., 245). In dieser Arbeit werden Sexualpädagogik und Sexualerziehung nicht unterschieden, sondern synonym verwendet.

2.1.3 Begriffsdefinition Sozialisation

Im historischen Verlauf der Sozialisationsforschung wurde immer wieder der Versuch unternommen, den Terminus „Sozialisation“ exakt zu definieren. KLAUS HURRELMANN hat diese Vorstöße untersucht und festgestellt, dass der Sozialisationsbegriff in verschiedenen Bereichen verwendet wird: ,, ...1. Zur Bezeichnung gesellschaftlicher Handlungen und Einrichtungen, die direkt oder indirekt auf die Persönlichkeitsentwicklung von Gesellschaftsmitgliedem Einfluss nehmen; 2. zur Bezeichnung eben dieser Entwicklung, sofern diese von Faktoren der soziokulturellen Umwelt bestimmt wird; 3. zur Bezeichnung des Prozesses der Vermittlung von und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Werten, Normen und Handlungsmustem, in dessen Verlauf das Gesellschaftsmitglied zu einem potentiell handlungsfähigen Menschen wird (HURRELMANN 1976, 16). In der sozialisations-wissenschaftlichen Literatur sind alle drei Begriffsverwendungen vorhanden, so dass eine eindeutige Definition des Terminus nicht existiert. Der SozialisationsbegrifF kann aber als Oberbegriff verstanden werden, der Erziehungs- und Entwicklungsprozesse beinhaltet und diese unter dem Aspekt gesellschaftlicher Vermitteltheit begreift (ebd., 16). Diese Prozesse können verschieden ablaufen, nämlich bewusst und unbewusst, gezielt und ungezielt, formal und informell. Sie können aus der Perspektive desjenigen betrachtet werden, der „sozial wird“ und aus der Perspektive derjenigen, die „sozial machen“ (vgl. FEND 1972, 38). Erziehung als Teilgeschehen innerhalb der Sozialisation wirkt aus Sicht derjenigen, die „sozial machen“, bewusst und zielgerichtet, also intentional auf das Individuum ein (vgl. ETSCHENBERG 1984, 281).

MÜHLBAUER versteht Sozialisation als einen weit gefassten Begriff, ,, ...der den Prozess der Menschwerdung des Menschen, der Vergesellschaftung und Individualisierung gleichermaßen umfasst“ (MÜHLBAUER1980, 25). Das FACHLEXIKON FÜR SOZIALE ARBEIT sieht Sozialisation immer bezogen auf das Ziel, einen Erwachsenen hervorzubringen, der gesellschaftlich akzeptierte Beiträge liefert und zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft beiträgt (vgl. FACHLEXIKON DER sozialen Arbeit 1986, 784 - 785).

WEBER greift mit seiner Definition HURRELMANNS dritten Punkt auf, wobei er jedoch den SozialisationsbegrifF von der Enkulturation abgrenzt. Enkulturation bedeutet für WEBER das Erlemen von kulturellen Erfahrungen, Symbolen und Inhalten. Für ihn umfasst „Sozialisation“ nur die sozialen Dimensionen einer Kultur, also das Erlernen der Werte und Normen der jeweiligen Gesellschaft (vgl. WEBER 1985, 63). Dieser Lernprozess geschieht durch autoplastische und alloplastische Anpassung. Unter ersterer versteht man die erforderliche psychische Arbeit, um sich derart zu verändern, damit man sozial handlungsfähig wird und dies auch unter sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen bleibt. Alloplastische Anpassung bezeichnet die Bestrebungen, die darauf ausgerichtet sind, die gesellschaftlichen Werte und Normen sowie die anderen Tatbestände der Umwelt den eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen so anzupassen, dass man mit ihnen leben kann (vgl. Gottschalch 2000, 667). Sozialisation stellt einen lebenslangen Prozess dar und ist keineswegs auf die Kindheit begrenzt. In der primären Sozialisation, welche vor allem die frühe Kindheit umfasst, kommt es zur Vermittlung der Basisnormen, hauptsächlich in der Familie. Die hier erlernten Verhaltensmuster können später differenziert und modifiziert werden, was zum Teil aber äußerst schwierig ist. Nach der primären erfolgt die sekundäre Sozialisation, hauptsächlich in der Schule und durch die Medien (vgl. WEBER 1985, 64).

2.1.4 Definition Sexuelle Sozialisation

Eine zentrale Zielgruppe sexualpädagogischer Arbeit sind Jugendliche. Damit diese Klientel auch erreicht wird, ist es erforderlich, auf jugendliche Lebenswelten Bezug zu nehmen. Genaue Kenntnisse über die Lebenssituation Heranwachsender und über die Jugendphase sind daher eine wichtige Basisgrundlage von Sexualpädagogik. Erst sozialisationstheoretische Erkenntnisse ermöglichen eine Sexualpädagogik, die sich an den Bedürfnissen und Erfahrungen ihrer Zielgruppe orientiert (vgl. HUNFELD 1997, 73).

Sozialisation wird auch in Bezug auf Sexualität verstanden als ein lebenslanger komplexer Prozess der aktiven Auseinandersetzung des Einzelnen mit sich selbst und in Wechselwirkung mit der Lebensumwelt. Diese Lebensumwelten gestalten sich je nach Geschlechtszugehörigkeit unterschiedlich als weibliche oder männliche. Die Entwicklung von Identität gilt als konstituierendes Moment des Sozialisationsprozesses (ebd., 73). Jugendliche entwickeln ihre individuelle und geschlechtsbezogene Identität durch einen aktiven Auseinandersetzungsprozess mit Geschlechterstereotypen, sexuellen Normen und Verhaltensweisen (vgl. HAGEMANN-WHITE 1984, 62 - 63). Sexualität wird je nach Geschlecht und in ihrer individuellen Ausgestaltung unterschiedlich gelebt, erfahren und bewertet. Sie ist sozio-kulturell bestimmt und als Resultat von Lernprozessen somit Gegenstand von Sozialisation. Lediglich das Bedürfnis und die Fähigkeit zu dem Verhaltensanteil, den man als Sexualverhalten bezeichnet, sind angeboren (vgl. KENTLER 1995, 14). „Sexuelle Sozialisation ist ein aktiver, geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Prozess der Auseinandersetzung von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern mit ihren jeweils individuell unterschiedlichen Umwelten. Der Körper wird in diesem Prozess zum Medium sexueller Identität und zugleich wird sexuelle Identität damit verkörpert“ (HUNFELD 1997, 74).

Zum einen umfasst sexuelle Sozialisation Vorgänge der Eingliederung in ein bestehendes Sozialsystem auf Grund sexueller Lernprozesse, zum anderen aber auch solche der Personwerdung als unverwechselbares Individuum. Beide Vorgänge lassen sich aber nur gedanklich trennen. Auf beiden Ebenen ist die subjekthafte Aneignung sexueller Lebenswelten in sozialen Beziehungen erforderlich, womit die aktive Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen, Sexualnormen und gängigen sozialen und sexuellen Verhaltensmustem gemeint ist (ebd., 74). „Gesellschaftlich bedingte, dem historischen Wandel unterworfene Wert- und Normvorstellungen bestimmen weitgehend die Sexualität des Individuums: Von frühster Kindheit an ,lemf der Mensch, was er zu tun oder zu lassen hat, und zwar sowohl durch ihm bewusste Vorschriften von Elternhaus, Schule und anderen Institutionen als auch durch ihm unbewusst bleibende Erwartungen und Leitbilder seiner gesamten Umgebung“ (MARBURGER 1987, 40).

Jedes Individuum muss sich dem Aneignungsprozess einer eigenen Sexualität unterwerfen, damit es sich als Mädchen oder Junge in der Gesellschaft verorten kann. Dieser Vorgang vollzieht sich durch die Wahrnehmung körperlicher Reifungsprozesse, ist aber auch von äußeren Bedingungen abhängig. Dazu zählen Entdeckungsmöglichkeiten des eigenen Körpers, die Verfügbarkeit von außen unkontrollierter Intimbereiche, sinnliche Anregungen und visuelle Einflüsse (vgl. HUNFELD 1997, 74).

2.2 Historischer Hintergrund

Dieses Kapitel gibt einen Einblick in die geschichtliche Entwicklung der Sexualpädagogik des deutschsprachigen Raumes und soll vor allem dazu dienen, ein Vorverständnis für die historischen Wurzeln sexualpädagogischer Theorien zu entwickeln.

Nach einer Untersuchung von ZIMMERMANN ist die Sexualpädagogik im deutschen Sprachraum durch eine lange, repressive Tradition gekennzeichnet. Ursachen der sexualfeindlichen Einstellung sind bestimmte christliche Strömungen sowie seit dem 16. Jahrhundert auch Unterdrückungstendenzen des Bürgertums (vgl. ZIMMERMANN 1999, 24). Insbesondere an Hand der philanthropischen Literatur lässt sich die damalige Einstellung zur Sexualität in der Erziehung exemplarisch belegen. So fordern die Philanthropen von den Heranwachsenden Triebunterdrückung und Enthaltsamkeit bis zur Ehe, worin sie mit bürgerlichen Moralvorstellungen übereinstimmten. Alles, was bei Kindern und Jugendlichen sexuelle Gefühle erzeugen könnte, soll von ihnen femgehalten werden. So postuliert CHRISTIAN G. SALZMANN eine tägliche Abhärtung durch Bewegung im Freien, kalte Bäder, Schwimmübungen und einfache Kost. In seinem Buch „Über die heimlichen Sünden der Jugend“ schlägt SALZMANN als weitere Erziehungsmaßnahmen dauernde Beschäftigung, ständige Beobachtung, keine wache Minute im Bett, Überwachung der Lektüre, Warnung vor der Berührung der Geschlechtsteile sowie die Belehrung über die „Erzeugungsgeschäfte“ vor (vgl. SALZMANN 1786, 233). Der einzige Zweck der für damalige Zeiten recht umfangreichen sexuellen Aufklärung, bestand in der Bekämpfung der Masturbation.

Ähnlich repressive Ansätze finden sich auch bei JOHANN B. BASEDOW, der sich in seinem „Elementarwerk“ der Sexualerziehung annimmt. Er befasst sich dort speziell mit der Stellung von Ehefrau und Ehemann zueinander, dem Familienleben und der Schutzbedürftigkeit von Müttern und Schwangeren. Besonders verzerrend werden Vorgänge um die Geburt dargestellt, die als besorgniserregend, gefährlich, blutig und schmutzig apostrophiert wird (vgl. BASEDOW 1972, 204). Obwohl BASEDOW aus heutiger Perspektive verschleiernd und verklärend zu beurteilen ist, waren seine Worte für damalige Zeiten durchaus offen. Versuchte er doch mit spärlichen Informationen, die meistens mehr Angst einflößten als informierten, den Wissensdurst junger Menschen zu befriedigen (vgl. ZIMMERMANN 1999, 29).

Insgesamt weisen die philantropischen Ansätze eindeutig repressive Züge auf. Dienten ihre Forderungen nach sexueller Aufklärung doch vor allem dem Ziel der Triebunterdrückung. Besonders der Masturbationsbekämpfung hatten sich die damaligen Pädagogen verschrieben. So ist VAN USSEL der Ansicht, dass die Aufklärung im 18. Jahrhundert nicht aus Unwissenheit der Jugend entstand, sondern vielmehr, um die Selbstbefriedigung besser bekämpfen zu können.

Hauptziel war dabei die ausschließliche Verbannung jeglicher Sexualität in die Ehe und innerhalb dieser auf die Fortpflanzung (vgl. VAN USSEL 1977, 166). Durch die Aufklärung wurden andere gesellschaftliche Gruppierungen, die eine ungezwungene Auslebung sexueller Triebe propagierten, wie etwa der Adel mit seiner hedonistischen Moral, bedeutungslos. Trotzdem durfte auch im Zeitalter der Aufklärung wenigstens noch über Sexualität gesprochen werden, auch wenn dies meistens nur zum Zweck der Masturbationsbekämpfung geschah (vgl. ZIMMERMANN 1999, 31).

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es, auch durch die Erkenntnisse FREUDS, der einen erweiterten Sexualitätsbegriff prägte, zu einer kurzfristigen und behutsamen Relativierung der repressiven Sexualnormen, wenn auch die damaligen Reformerlnnen sehr heterogene Vorstellungen verfolgten. Progressive Forderungen nach gleichen sexuellen Rechten für Männer und Frauen formulierten Vertreterinnen der Frauenbewegung und des sozialistischen Umfelds wie CLARA ZETKIN und AUGUST Bebel. Neben politischen Zielen wie dem Frauenwahlrecht, der Frauenbildung und Frauenerwerbstätigkeit setzte sich die Frauenbewegung für eine Neugestaltung der Ehe, Geburtenregelung und Abschaffung des § 218 ein. CLARA ZETKIN verlangte eine wahrheitsgemäße Aufklärung der Kinder, um sie vor den Einflüssen der Gasse zu schützen, forderte gleichzeitig aber auch die Zügelung sexueller Triebe. HELENE STÖCKER, eine Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung, ging über diese Ansätze deutlich hinaus und postulierte die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die Gleichstellung unehelicher Kinder, Sexualaufklärung und Empfängnisverhütung sowie ein Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper und ihre Sexualität (vgl. ZIMMERMANN 1999, 32 - 34). STÖCKERS Forderungen wirken zum Teil bis in die gegenwärtige feministische Sexualerziehung hinein.

MAX HODANN orientierte sich mit seiner Sexualpädagogik an der Lehre SIGMUND Freuds und marxistischem Gedankengut. So verlangte er neben einer erschöpfenden und altersgemäßen Aufklärung auch die Unterrichtung über gesellschaftliche Zusammenhänge (vgl. KOCH 1975, 51). Aus heutiger Perspektive enthält aber auch sein Ansatz repressive Elemente, da er zu einer raschen Überwindung gewohnheitsmäßiger Masturbation und einer sexuellen Enthaltsamkeit bis zum 20. Lebensjahr rät. Mit dem völligen Verzicht auf repressive Aspekte in der Sexualerziehung stellte einzig WILHELM REICH eine Ausnahmeerscheinung dar. In seinen Schriften setzte er sich für die Aufhebung der sexuellen Unterdrückung durch die Klassengesellschaft ein. Auch einer Kinder- und Jugendsexualität stand er positiv gegenüber. An die Stelle der zwangsmoralischen Regulierung des Sexuellen setzte REICH die Selbstregulierung (vgl. ZIMMERMANN 1999, 38).

Auf der Gegenseite standen Pädagogen wie der Freud-Kritiker FRIEDRICH W. FOERSTER. Die von ihm vertretene repressive Sexualpädagogik deckte sich zum Großteil mit den Dogmen der katholischen Kirche. FOERSTER forderte eine asketische Grundhaltung, die Schulung des Willens, totalen Triebverzicht und die konsequente Ablenkung von allem Sexuellen. Eine direkte Aufklärung kam für ihn nicht in Betracht. Sein großer Einfluss reichte bis in die 1960er Jahre (vgl. ZIMMERMANN 1999, 40). Eine eher bürgerlich-liberale Richtung vertraten Ärzte wie ERNST VON DÜRING und ERICH STERN. Sie erkannten durchaus die Notwendigkeit einer sexuellen Aufklärung, die vor allem biologisches, hygienisches und ethisches Wissen umfassen sollte, um der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten vorzubeugen (vgl. KLUGE 1984, 28).

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gründeten sich zahlreiche Vereinigungen zur Sexualreform. Inhaltliche Schwerpunkte dieser Reformvereinigungen waren das Geschlechterverhältnis, Frauenemanzipation, der Geschlechtsverkehr inner- und außerhalb der Ehe, Ehescheidungen, sexuelle Devianz, Geburtenregelung und Sexualerziehung. Am progressivsten stach dabei die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“ mit ihrer Forderung nach dem Recht Jugendlicher auf sexuelle Betätigung und Geschlechtsverkehr hervor (vgl. ZIMMERMANN 1999, 41 - 42). All diese zaghaften Reformversuche fanden mit der nationalsozialistischen Machtübernahme ein jähes Ende. Die NS-Zeit war geprägt durch eine Renaissance der Sexualrepression. Sexualität wurde ausschließlich dem Fortpflanzungszweck unterworfen. Sexualkontakte dienten der reichlichen Erzeugung „rassenhygienisch“ reiner Nachkommen. Deshalb strebte das NS-Regime danach, durch eine Art Auslese in ihren Augen krankhaftes Erbgut auszuschalten und gesundes zu fördern. Die nicht auf die Fortpflanzung ausgerichteten sexuellen Aktivitäten wie Masturbation, Homosexualität, Prostitution und Präventivverkehr wurden bekämpft, Herstellung und Vertrieb von Verhütungsmitteln nach § 219 StGB sogar unter Strafe gestellt. In diesen Kontext passt auch die Verherrlichung der Mutterrolle (ebd., 43 - 44).

Eine starke Abneigung bestand seitens der nationalsozialistischen Sexualpädagogik gegen Erkenntnisse der Psychoanalyse. So kam es zur Zerschlagung der in der Weimarer Zeit entstandenen Sexualforschungseinrichtungen und -beratungssteilen, wozu auch das Institut für Sexualwissenschaft von MAGNUS HIRSCHFELD gehörte, aus dessen Bibliothek alleine über 10.000 Bücher verbrannt wurden (vgl. KOCH 1975, 107). Schwerpunkte der schulischen Sexualerziehung waren Themen wie Vererbungslehre, Rassenkunde, Rassenhygiene, Familienkunde und Bevölkerungspolitik. Nicht rassenkundliche Inhalte wurden an die Familie delegiert, deren patriarchale Struktur die Nationalsozialisten wieder favorisierten (vgl. ZIMMERMANN 1999, 43). Im Nachkriegsdeutschland stand angesichts der Kriegszerstörungen und den daraus resultierenden Problemen Sexualpädagogik zunächst nicht auf der Tagesordnung. Eine Analyse von Biologiebüchem aus den 1950er Jahren förderte die völlige Ausklammerung des Sexualsektors aus dem Unterricht zu Tage, was nach einer Untersuchung von HEINZ HUNGER bei den Schülerinnen zu erheblichen Defiziten sexualbiologischer Kenntnisse führte. Insgesamt lässt sich für die Nachkriegszeit, bis weit in die 60er Jahre, eine Grundtendenz konstatieren, Sexualität aus dem gesellschaftlich kulturellen Leben auszuschließen. Repressiv ausgerichtete Pädagogen wie FRIEDRICH W. FOERSTER bestimmten erneut die Diskussion. Erst im Zuge der Studentenbewegung ab 1967 gewannen sexualreformerische Bestrebungen größeren Einfluss, was schließlich 1968 zu den offiziellen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Sexualerziehung an den Schulen luhrte (vgl. ZIMMERMANN 1999, 47 - 48). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird auf die Entwicklung der Nachkriegs-Sexualpädagogik noch detaillierter eingegangen.

2.3 Relevante Theorieansätze der S exualpädagogik

2.3.1 Die repressive Sexualerziehung

Bei sexualpädagogischen Diskursen drängen sich immer wieder Fragen auf, welche Ziele die Sexualpädagogik verfolgen sollte, welche Aufgaben sie übernehmen kann und welchen Forderungen sie sich stellen sollte. Dazu werden in den folgenden Kapiteln die wichtigsten Theorieansätze vorgestellt und zum Teil einer kritischen Analyse unterzogen. Gegenwärtig lassen sich drei Hauptrichtungen in der Sexualpädagogik unterscheiden:

1. Die repressive Sexualerziehung
2. Gesellschaftlich-emanzipatorische Ansätze
3. Die liberal-vermittelnde Richtung

Darüber hinausgehend sind zwei weitere Theorieansätze, nämlich die individual-emanzipatorische Sexualerziehung und eine feministisch- emanzipatorische Richtung, von Relevanz.

Die repressive Sexualerziehung ist die älteste Grundrichtung auf diesem Gebiet. Sie hat in Europa die Sexualpädagogik seit dem 17./18. Jahrhundert geprägt und wird auch als „negative“ oder „unterdrückende“ Sexualerziehung bezeichnet. Nach KOCH stammt der Begriff „negativ“ von ROUSSEAU und steht in diesem Zusammenhang für „eine Pädagogik, die den Zögling abschirmt“ (KOCH o. Jahr, 17). Als wichtige Vertreterinnen dieser Richtung gelten MEVES, NAUJOKAT, AFFEMANN und ILLIES. Sexualprobleme werden weitestgehend tabuisiert.

Jugendliche sollen nach Möglichkeit vor der Sexualität behütet und von ihr abgelenkt werden. „Sexuelles Handeln wird vorrangig im Kontext mit Fortpflanzung gesehen und gewertet“ (ETSCHENBERG 1992, 242).

Deshalb wird Kindern und Jugendlichen eine eigene Sexualisation verweigert. Das oberste Ziel besteht darin, das überkommene gesellschaftliche Gefüge wie patriarchalische Familienstrukturen und die Ehe als einzige Institution legaler sexueller Betätigung zu konservieren (vgl. KENTLER 1970, 48). Voreheliche Zuneigungen werden den Jugendlichen konsequent untersagt. Vielmehr besteht die Hauptaufgabe der Erzieherinnen darin, Kinder und Jugendliche vor verfrühten sexuellen Sehnsüchten und Begierden zu bewahren. Als pädagogische Instrumente dafür dienen Kontrolle, Überwachung und Abschreckung. „Die gesunde Entwicklung folgt dem langsamen Lauf der Natur. Jede Verführung muss vermieden werden, wenn der Mensch seine leibliche und seelische Kraft entfalten soll“ (KOCH 1971, 108).

Die wesentlichen Prinzipien der repressiven Sexualerziehung sind Femhalten, Ablenken und Verschieben der Aufklärung auf einen späteren Zeitpunkt. Häufig werden auch Ängste und Ekelgefühle, wie grausame Geburtsschmerzen oder die genaue Schilderung von Geschlechtskrankheiten, geschürt. Vorehelicher Geschlechtsverkehr, Masturbation, Petting und Homosexualität werden kategorisch abgelehnt. Die weibliche Sexualität spielt nur eine untergeordnete Rolle (vgl. KOCH o. Jahr, 19). KENTLER charakterisiert die repressive Sexualerziehung wie folgt:

- Rechtfertigung der herrschenden Gesellschaftsordnung
- Beibehaltung traditioneller Rollenerwartung
- Reduzierung der Sexualität auf den Aspekt der Fortpflanzung
- Verzicht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr
- Erlernen von Beherrschung, Entsagung und Opferbereitschaft als Voraussetzungen zur Ehetauglichkeit (vgl. KENTLER 1970)

Nach Auffassung führender Sexualpädagoginnen und -pädagogen gilt die repressive Sexualerziehung inzwischen als völlig gescheitert und hat eher kontraproduktive Auswirkungen. Permanente Verbote und Gebote üben auf Jugendliche eher einen Anreiz aus, die eigene und gegengeschlechtliche Sexualität zu erkunden und auszuprobieren. Damit lehnen sie sich gegen die institutionalisierten Normen auf, die ja gerade von den Vertretern der repressiven Richtung bewahrt werden sollen. Ungewollte Schwangerschaften sind quasi vorprogrammiert, da keinerlei Aufklärung über die Möglichkeiten der Empfängnisverhütung erfolgt. Diese Erziehung zur „Nicht-Sexualität“ könnte auch zur Folge haben, dass Kinder und Jugendliche in ihrem späteren Leben erhebliche Probleme bei der Entfaltung der eigenen Identität sowie in ihrem Sozialverhalten in Bezug auf andere Menschen bekommen. Eine repressive Sexualerziehung verhindert meistens eine positive Einstellung zur Sexualität (vgl. WREDE/HUNFELD 1997, 112).

2.3.2 Gesellschaftlich-emanzipatorische Ansätze

Diese Richtung vertritt eine deutliche Gegenposition zur repressiven Sexualerziehung und wird auch als „positive“ oder „humanistische“ Sexualerziehung apostrophiert. Ihre Anfänge reichen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Die Grundlagen für einen weitgefassten Sexualitätsbegriff basieren auf den Theorien SIGMUND FREUDS:

„Sexualität durchzieht das ganze Leben des Menschen - von der Geburt bis zum Tod. Sexualität wird verstanden als Lust- und Zärtlichkeitserleben. Sexualität ist nicht nur ein Naturereignis, sondern Körpersprache, die gelernt werden muss, wie die Sprache selbst“ (Koch o. Jahr, 20). Grundlegende Theoriengeber der emanzipatori sehen Sexualpädagogik sind u.a. KENTLER, MARBURGER und SlELERT (vgl. WREDE/HUNFELD 1997, 113).

Das oberste Ziel der emanzipatorischen Sexualerziehung liegt in der sexuellen Emanzipation der Jugendlichen und Erwachsenen. Emanzipatorische Sexualerziehung begreift Sexualität als eine Folge von Sozialisationsprozessen und keineswegs als von der Natur determiniert. Sexualität ist deshalb formbar und veränderbar und erhält ihre Prägung von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur (ebd., 113). Die emanzipatorische Sexualerziehung verlangt eine kritische Haltung gegenüber Zwängen und Ansprüchen der Gesellschaft, anstatt sich diesen kritiklos anzupassen. Sie steht für Unabhängigkeit anstelle von Abhängigkeit. Ihre primären Anliegen sind Gleichberechtigung, Partnerschaft und Solidarität sowie Verantwortung sich selber, seinem Partner und der Gesellschaft gegenüber. Gewalt oder jegliche Form der Ausnutzung des Partners werden abgelehnt (vgl. KLUGE 1984, 34 - 35). Emanzipatorische Sexualität setzt sich ein für die Solidarität zwischen den Geschlechtern, aber auch für sozial benachteiligte Gruppen wie Behinderte oder HIV-infizierte Menschen. Ferner wendet sie sich gegen die Diskriminierung andersartiger Lebensformen. So wird Homosexualität als gleichberechtigte Sexualform neben der Heterosexualität angesehen (vgl. KOCH o. Jahr, 22). Emanzipatorische Sexualpädagogik bezieht sich nicht nur auf die Sexualität des Einzelnen, sondern auch auf die sozial-ökonomischen Rahmenbedingungen, die als Ursachen für zwischenmenschliche Konflikte erkannt werden. Im Hinblick auf Gleichberechtigung und Partnerschaft sind die Rahmenbedingungen zu aktualisieren: Der Mann als der Überlegene, der die Familie versorgt und beruflich erfolgreich ist; dagegen die Frau in der Rolle als Haus-, Ehefrau und Mutter, immer verständnisvoll und die eigenen Bedürfnisse hinten anstellend. „Aufgabe der Sexualerziehung ist es, die Einübung neu definierter Geschlechterrollen zu bewirken“ (HEID 1977, 146). Die üblichen gesellschaftlichen Verhaltensmuster sind durch solche abzulösen, welche die Möglichkeit zur Entfaltung gleicher sexueller und emotionaler Fähigkeiten zulassen. Der Frau soll eine eigene Sexualität und ein Recht auf diese zugestanden werden. Sie darf nicht mehr als bloßes Sexualobjekt des Mannes gesehen werden. Damit soll unter die traditionelle „Doppelmoral“ ein Schlussstrich gezogen werden. Alle kommen mit einem undifferenzierten Sexualpotential zur Welt. „Ursprünglich sind sie psychosexuell neutral bzw. nicht festgelegt; grundsätzlich sind alle fähig, sexuelle Lust ebenso allein wie mit andersund gleichgeschlechtlichen Partnern zu erleben“ (GINDORF u.a. 1977, 127).

Sexualität soll als Lusterlebnis bejaht und akzeptiert werden. Sie hat sich keineswegs auf den gesellschaftlich geforderten Fortpflanzungszweck zu reduzieren. Emanzipatorische Sexualität muss den Jugendlichen die Möglichkeit eröffnen, sich mit der eigenen Sexualität, den eigenen Wünschen und der eigenen Sozialisation auseinander zu setzen.

Emanzipation in diesem Sinne steht für den Abbau von Vorurteilen und eine Erziehung zur Toleranz. Jugendliche sollen die Fähigkeit erwerben, sich verbal mit dem Thema Sexualität zu befassen, um eventuell vorhandene Ängste abzubauen. KOCH fasst die Forderungen der emanzipatorischen Sexualerziehung wie folgt zusammen:

- Gleichberechtigung der Geschlechter
- Schaffung eines angstfreien Klimas
- Bejahung der kognitiven, affektiven und genitalen Bedürfnisse
- Anerkennung der kindlichen Sexualität
- Enttabuisierung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs

und der Masturbation sowie die Akzeptanz von Randgruppen (KOCH o. Jahr, 22)

Emanzipatorische Sexualerziehung ermöglicht idealerweise die

Herausbildung Ich-starker Persönlichkeiten. Sie beinhaltet aber auf jeden Fall eine Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und Vorschriften sowie eine Selbstbestimmung der Sexualität. Durch rechtzeitige Information und Aufklärung über gesellschaftliche Grundgegebenheiten wirkt sie einer frühen Festlegung auf tradierte Geschlechterrollen und Stereotypen entgegen (vgl. WREDE/HUNFELD 1997, 113). Auch der sogenannten „Straßenaufklärung“ (die nicht immer korrekte Sexualaufklärung unter Jugendlichen) wird somit offensiv begegnet.

2.3.3 Die liberal-vermittelnde Richtung

Die liberal-vermittelnde Sexualerziehung geht zu allen Extremen auf Abstand und versucht einen Kompromiss zwischen repressiven und emanzipatorischen Ansätzen zu formulieren. Als Hauptprotagonisten dieser Richtung gelten OESTEREICH, MASKUS, PÖGGELER und SCARBATH. Ausgangspunkt der liberalen Sexualerziehung ist ein triebhaftes Verständnis von Sexualität (vgl. WREDE/HUNFELD 1997, 115). Diese Richtung grenzt sich deutlich von der repressiven Sexualerziehung ab, ist aber in der Praxis nur „scheinbar bejahend“. So wird dem Kind zwar ein Recht auf Sexualerziehung zugebilligt, was sich jedoch in erster Linie auf Informationen und kognitive Interessen bezieht. Kinder sollen in die Lage versetzt werden, körperliche Vorgänge zu verstehen und zu verbalisieren, vorhandene Ängste sollen abgebaut werden. Der Sexualerziehung kommt in erster Linie die Aufgabe zu, die notwendige Integration des Individuums in die Gesellschaft zu unterstützen (ebd., 115). Im Gegensatz zu emanzipatorischen Ansätzen will die liberale Richtung nicht über eine Revision der Sexualerziehung gesellschaftliche Strukturen verändern, sondern sie verzichtet gänzlich aufjeden ideologiekritischen Anspruch.

Von einem eigenen kindlichen Lustempfmden wird konsequent abgelenkt. Dies zeigt sich besonders an der Einstellung zur Masturbation: Diese wird zwar akzeptiert, jedoch nur als vorübergehende Erscheinung in der Entwicklung eines Jugendlichen. Ebenso wird die These vertreten, dass Masturbieren zwar keine körperlichen Schäden verursacht, jedoch die Möglichkeit seelischer Schäden nicht auszuschließen sind (vgl. KOCH o. Jahr, 20). Vorehelicher Geschlechtsverkehr wird nur unter den Bedingungen toleriert, dass die Jugendlichen bereits reif sind und sich in stabilen, dauerhaften Beziehungen befinden (ebd., 20). Bürgerlichliberale Sexualpädagogik begreift Geschlechterstereotype als genetisch bedingt und kulturell weiterentwickelt. „Gegenüber jeder einseitig gesellschaftlich orientierten Rollentheorie sucht die progressive Mitte eine realistische Synthese von anlagemäßigen, soziologischen und kulturellen, von endogenen und exogenen, konstanten und variablen Faktoren“ (OESTEREICH 1973, 33). Liberal-vermittelnde Sexualerziehung wird heute in vielen Schulen praktiziert. Sie läuft oft nach dem „Prinzip des heimlichen Lehrplans“. Dabei stehen Kenntnisse über Ehe, Familie sowie biologische Fakten im Vordergrund. Unterschwellig werden immer noch die traditionellen Geschlechterrollen vermittelt, althergebrachte Vorstellungen lediglich in modernes Vokabular verpackt (vgl. ZIMMERMANN 1999, 78).

2.3.4 Die individual-emanzipatorische Sexualerziehung

Ausgangsbasis der individual-emanzipatorischen Sexualerziehung ist die Kritik an gesellschaftlich-emanzipatorischen Konzepten, die vorwiegend auf sozio-ökonomische Bedingungen und gesellschaftliche Relevanz von Sexualität ausgerichtet sind. Diese Konzepte sind nach Auffassung der Vertreter individual-emanzipatorischer Ansätze, zu denen THOMASKY, PAULICH, HOPF und besonders Sielert zählen, inzwischen überholt, da Jugendliche heutzutage nicht mehr gegen Verbote und rigide Moralvorstellungen kämpfen müssen (vgl. WREDE/HUNFELD 1999, 118 - 119). Gegenstand aktueller Sexualpädagogik sollte vielmehr die Frage sein, wie sexuelle Emanzipation individuell umsetzbar ist. Hierzu schlägt SIELERT ein Konzept vor, das sich auf die Kurzformel „weniger Eingriff", mehr freundliches Begleiten“ bringen lässt. Nach SlELERTS Vorstellungen sollten die Erwachsenen das Sexualverhalten von Kindern und Jugendlichen weitestgehend so akzeptieren wie es ist. Durch diese Akzeptanz von Eltern und Pädagogen fühlen sich die Jugendlichen ernst genommen und sind so eher zu sachlichen Auseinandersetzungen über ihre Standpunkte bereit. Kinder und Jugendliche sollen sich selber spüren und erkennen, was für sie gut und wertvoll ist. „Erziehung kann Jugendlichen Mut machen, sich ihres eigenen Verstandes und ihrer eigenen Gefühle zu bedienen“ (SlELERT 1993, 103).

Kinder und Jugendliche sollen ihren eigenen Körper als Kraftquelle begreifen und befähigt werden, gute und ungute Situationen zu unterscheiden; sollen das tun, was sie im Endeffekt selber für richtig halten und wirklich wollen. Den Erwachsenen kommt die Aufgabe zu, sie darin zu bestärken, ihren Eigensinn auch gegen Konventionen und äußere Zwänge zu behaupten, damit Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, sich argumentativ mit anderen Menschen auseinander zu setzen. „Die eigentliche Aufgabe moralischer Erziehung besteht darin, Jugendliche darin zu bestärken, ihren eigenen Sinn auch gegen den Zwang, Konventionen und versprochene Gratifikationen zu behaupten“ (SlELERT 1993, 104).

Dies gilt besonders für

- Intimbeziehungen
- Das Verhalten in Cliquen
- Die Auseinandersetzung mit Erwachsenen
- Das Verhalten gegenüber stereotypen Vorschriften

Von großer Bedeutung ist ferner, dass Jugendliche auch Lust erfahren und ausprobieren können und nicht nur die Liebe im ganzheitlichen Sinn sehen. Auch auf die kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Werten und Normen zielt SlELERTS Konzeption, da sich erst so ein eigenes moralisches Bewusstsein entwickeln kann. „Freundliches Begleiten“ der Sexualerziehung soll Kindern und Jugendlichen bei ihren Selbsterfahrungen zur Seite stehen. Dafür ist ein guter Kontakt zwischen Eltern und Kindern sowie Lehrerinnen und Schülerinnen von grundlegender Bedeutung. „Moralische Erziehung kann diesen Prozess freundlich (manchmal auch mitleidend) begleiten, im Vertrauen auf Eigenerfahrung und Urteilskraft von Jugendlichen. Sie kann die zur Schärfung der Urteilskraft erforderlichen Informationen bereitstellen und zur Selbstreflexion und Auseinandersetzung anregen“ (SlELERT 1993, 106).

„Freundliches Begleiten“ bedeutet konkret, dass mit den Jugendlichen über besondere Ereignisse gesprochen wird, ohne ihre Freiräume einzugrenzen. Individual-emanzipatorische Sexualerziehung steht für eine bejahende Sexualität, für die Gewährung von Freiräumen und die Akzeptanz kindlicher bzw. jugendlicher Persönlichkeit. SlELERT appelliert an Pädagogen und Eltern, Ängsten entgegenzuwirken, das Einfühlungsvermögen für das jeweils andere Geschlecht zu fördern, Mut zur Entdeckung sexueller Lust zu machen, die Verantwortung der Kinder und Jugendlichen zu stärken sowie den Selbst- und Fremdschutz zu fordern (vgl. SlELERT 1993, 106). Wichtige Begriffe individual- emanzipatorischer Sexualpädagogik sind Selbstverwirklichung und die Zubilligung einer eigenen Entscheidungsfreiheit. Dies schließt auch Fehler, Irrwege, Sackgassen und schmerzliche Erfahrungen mit ein. Individual-emanzipatorische Konzepte haben zwischenzeitlich Einzug in die Lehrpläne vieler Bundesländer und Schriften der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gehalten, wie folgender Auszug aus den saarländischen Richtlinien belegt: Sexualerziehung ,, ...soll zu einer ganzheitlichen Persönlichkeitserziehung von Kindern und Jugendlichen beitragen, sie zur Liebesfähigkeit führen und ihnen die Möglichkeit bieten, sich mit unterschiedlichen sexualethischen Anschauungen auseinander zu setzen, um eine persönliche Normfindung und Lebensgestaltung zu ermöglichen. Daher ist der Prozess des Sprechenlemens über Sexualität und Liebe ein durchgängiges Ziel der Sexualerziehung“ (BZgA 1995, 58). Nach MÜLLER besteht das Hauptanliegen darin, Jugendliche zu befähigen, sich so zu nehmen wie sie sind, sich zu akzeptieren und selber zu lieben. Sie sollen eigene Erfahrungen sammeln, auf Grund derer sie zu eigenständigen und kritischen Menschen heranwachsen. Dies ist primär nur durch einen Prozess der Selbsterfahrung und des Selbsterlebens möglich und nicht allein durch Selbstreflexion, wie häufig von Vertretern der emanzipatorischen Sexualerziehung behauptet wird (vgl. MÜLLER 1992, 124).

Nach Ansicht vieler Sexualpädagoginnen und -pädagogen stellt die individual-emanzipatorische Sexualerziehung einen vernünftigen, praktikablen Mittelweg dar. Er räumt der Sexualität den gebotenen Stellenwert im Leben ein, ohne diese auf Genitalität zu reduzieren. Genau das sollte Kindern und Jugendlichen vermittelt werden. Sie müssen die Möglichkeit haben, eigene Erfahrungen mit Sexualität und Partnerschaft zu sammeln. Permanente Verbote und Gebote beeinträchtigen eher die Lust an Sexualität und fördern Hemmungen gegenüber dem jeweils anderen Geschlecht. Eltern nehmen eine positive Rolle ein, wenn sie ihren Kindern bei Problemen und Fragen beratend zur Seite stehen. Kindern und Jugendlichen sollte dabei nicht vorenthalten werden, dass Menschen höchst unterschiedliche Individuen sind und somit auch verschiedene Formen von Sexualität und Partnerschaft leben. Zum Teil immer noch existierende Befürchtungen, Sexualerziehung führe zu einer verfrühten, unnötigen oder gar gefährlichen Sexualisierung von Kindern und Jugendlichen sind unhaltbar.

2.3.5 Die feministisch-emanzipatorische Richtung

Die Wurzeln der feministischen Sexualerziehung liegen zum Teil in der pädagogischen Reformbewegung der 1920er und 30er Jahre, aber auch in der Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wichtige Impulse wie Frauengesundheitszentren oder der Diskurs über sexuellen Missbrauch stammen aus den USA. In Punkten, wie der Hervorhebung des Selbstbestimmungsrechtes von Mädchen und Frauen oder der Anerkennung der Homosexualität als gleichberechtigte Beziehungsform, lassen sich Übereinstimmungen mit der emanzipatorischen Sexualpädagogik konstatieren (vgl. ZIMMERMANN 1999, 105). Vor allem aber durch ihre Kritik am traditionellen Rollenverständnis wurde die feministische Bewegung bekannt. Auch die Befürworterinnen einer grenzenlosen sexuellen Befreiung mussten sich heftige Anfeindungen von Seiten der feministischen Bewegung gefallen lassen. Hatte in ihren Augen doch sexuelle Aufklärung und angebliche Befreiung nicht zu sexueller Emanzipation, sondern zum genauen Gegenteil, nämlich der Forderung nach einer größeren Verfügbarkeit für die sexuellen Bedürfnisse der Männer, geführt. „Früher konnten Frauen sich aus Prüderie oder Angst vor unerwünschter Schwangerschaft wenigstens weigern, wenn sie keine Lust hatten, heute haben sie dank Aufklärung und Pille zur Verfügung zu stehen“ (SCHWARZER 1977, 181).

Die feministische Bewegung führte dazu, dass viele Frauen und Mädchen ein kritischeres Verhältnis zu ihrer Fruchtbarkeit und der Empfängnisverhütung entwickelten. Ferner animierte sie Frauen, die alleinige Verantwortung für die Verhütung abzulehnen und nach Alternativen zur Pille zu suchen, die als gesundheitsschädlich entlarvt wurde (vgl. ZIMMERMANN 1999, 107). Zentrales Element der feministischen Sexualpädagogik ist das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Deshalb steht diese Richtung der Empfängnisverhütung und straffreien Abtreibung weitgehend positiv gegenüber. Die Kommerzialisierung der weiblichen Sexualität in Form von Pornographie und Prostitution wird angegriffen bzw. aus weiblicher Perspektive diskutiert. Teilweise waren feministische Vertreterinnen sogar der Auffassung, nur in lesbischen Beziehungen sei eine befreite Sexualität möglich. Der Begriff der Zwangsheterosexualität wurde somit geprägt (ebd., 109).

Ein Schwerpunkt der praktischen Arbeit feministischer Sexualerziehung ist die Abschaffung der Zwangskoedukation. Statt dessen wird eine geschlechtsspezifische Arbeit angestrebt, die Frauen und Mädchen Freiräume schafft, damit diese auf sexuellem Gebiet das nötige Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl aufbauen können. Die Vermittlung eines positiven Körpergefühls und sexuelle Aufklärung mit einer deutlichen Akzentuierung der sexuellen Missbrauchsprävention sind wesentliche Inhalte der Mädchenarbeit. Gerade der feministischen Bewegung ist es zu verdanken, dass der bisher unterschätzte Umfang der Verbreitung sexuellen Missbrauchs erkannt wurde (ebd., 110).

2.4 Zur Charakterisierung der verwendeten Untersuchungen

2.4.1 Die Studie von GIESE und SCHMIDT 1966

In der Zeit zwischen 1966 und 1996 führte die Abteilung für Sexualforschung des Universitätsklinikums in Hamburg-Eppendorf drei umfangreiche empirische Erhebungen zum Sexualverhalten von Studentinnen und Studenten, jeweils im Abstand von 15 Jahren, durch. Diese Studien liefern Datenmaterial zur Sozialgeschichte der Sexualität für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts. Da die Hauptbezugsgruppe für Sexualpädagogik in dieser Diplomarbeit Jugendliche und junge Erwachsene sind, wird auf die Hamburger Studenten-Erhebungen zurückgegriffen, da die sexuellen Verhaltensmuster dieser Bevölkerungsgruppe nicht untypisch für die Gesamtheit junger Erwachsener sind (vgl. SCHMIDT u.a. 1998, 118).

Die erste Erhebung initiierten HANS GlESE und GUNTER SCHMIDT. Ursprünglich wollten sie die Sexualbiographien ihrer klinischen Patienten mit denen nicht klinischer Gruppen vergleichen. Die Untersuchung zur Studentinnensexualität war dafür als erster Baustein gedacht, nahm dann aber im Zusammenhang mit dem Aufbruch Ende der 1960er Jahre eher sozialpsychologische Züge an. Die Forscher interessierten sich nun nicht mehr ausschließlich für sexuelle Diskrepanzen und Gemeinsamkeiten zwischen klinischen und nichtklinischen Gruppen, sondern für Diskrepanzen zwischen offizieller Moral und Heuchelei einerseits und den sexuellen Realitäten andererseits (vgl. SCHMIDT u.a. 1998, 118). Alle drei Untersuchungen basieren auf postversandten Fragebögen mit jeweils 200 - 300 Fragen oder Itemkomplexen, deren Bearbeitung etwa 60 Minuten erforderte. Die 1966er Befragung fand an 13 repräsentativ ausgewählten westdeutschen Universitäten statt (vgl. Giese/Schmidt 1968, 51). Tabelle I gibt die Stichprobengröße, die Geschlechterverteilung und die Rücksendequote wieder:

Tabelle I:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: SCHMIDT 1998,128

Das Durchschnittsalter der Studentinnen lag 1966 bei etwa 24 Jahren und somit 3 Jahre unter dem Durchschnittsalter heutiger Studierender. Um dennoch eine Vergleichbarkeit der drei Untersuchungen zu gewährleisten, erfolgt eine Beschränkung auf die Altergruppe der 20 - 30-jährigen Studierenden. Diese Auswahlstichprobe wird in Tabelle II abgebildet:

Tabelle II:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: SCHMIDT 1998,128

2.4.2 Die Studie von CLEMENT und SCHMIDT 1981

Die Untersuchung zum Sexualverhalten von Studentinnen wurde 1981 von Ulrich Clement und Gunter Schmidt partiell repliziert. Auch diesmal verwendeten die Forscher wieder Fragebögen, die sie an eine Zufallsstichprobe Studierender von 13 repräsentativ ausgewählten westdeutschen Hochschulen verschickten. Allerdings sind die Erhebungsinstrumente mit denen der 1966er Untersuchung nur noch zum Teil deckungsgleich, da auch sie dem sozialen Wandel der Sexualität unterliegen. So wurde beispielsweise die „voreheliche Sexualität“ 1966 noch kontrovers diskutiert, während dieser Begriff 1981 keine Bedeutung mehr besaß (vgl. SCHMIDT u.a. 1998, 121). Dafür traten 1981 neue Problemfelder, wie „sexuelle Selbstbestimmung“, „sexuelle Gewalt“ und die AIDS-Thematik, hervor. Insgesamt sind von den 194 Items des 1981er Fragebogens 75 identisch mit denen aus der Untersuchung von 1966, 48 Items wurden geringfügig modifiziert, 71 kamen neu hinzu (vgl. CLEMENT/SCHMIDT 1986, 31). Um dennoch eine Vergleichbarkeit der Untersuchungen zu gewährleisten, beschränkt sich diese Arbeit auf die identischen Teile.

Bei der Betrachtung von Tabelle IH fällt zunächst die drastisch gesunkene Rücksendequote im Vergleich zu 1966 auf, was jedoch von CLEMENT/SCHMIDT nicht weiter kommentiert wird. Interessant ist ferner der Frauenanteil, der sich gegenüber der ersten Studie fast verdoppelt hat. Dies ist zum einen mit den tatsächlichen Veränderungen der Geschlechterrelationen zu erklären, zum anderen aber auch damit, dass 1966 eher die Frauen, 1981 vor allem Männer ihre Teilnahme an der Erhebung ablehnten (vgl. SCHMIDT u.a. 1998, 120).

Tabelle III:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: SCHMIDT 1998,128

Das Durchschnittsalter der Studierenden hatte sich zwischen 1966 und 1981 von 24 auf 25 Jahre erhöht. Aus Vergleichbarkeitsgründen erfolgt wiederum eine Beschränkung auf die Altersgruppe der 20 - 30jährigen. Tabelle IV zeigt die genaue Verteilung der Auswahlstichprobe:

Tabelle IV:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: SCHMIDT 1998,128

[...]

Ende der Leseprobe aus 142 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung der Sexualpädagogik nach 1968
Untertitel
Unter besonderer Berücksichtigung der Veränderungen des Sexualverhaltens von Studentinnen und Studenten
Hochschule
Universität Lüneburg  (Institut für Pädagigik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
142
Katalognummer
V1008137
ISBN (eBook)
9783346392480
ISBN (Buch)
9783346392497
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sexualverhalten, Sexualität, sexuelle Sozialisation, Studentensexualität, didaktische Gesichtspunkte
Arbeit zitieren
Niclas Fischer (Autor:in), 2003, Die Entwicklung der Sexualpädagogik nach 1968, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1008137

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Titel: Die Entwicklung der Sexualpädagogik nach 1968



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