Literarische Verfremdung in Bernard Dadiés "Un Negre à Paris"


Trabajo Escrito, 2021

13 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Verfremdung als literarisches Verfahren

3. Literarische Verfremdung in Un Nègre a Paris
3.1 Die Perspektive des Erzählers als Ausgangspunkt für Verfremdung
3.2 Sprachliche Verfremdung
3.3 Verfremdung durch absichtliche Missverständnisse
3.4 Verfremdung durch Relativierung
3.5 Verfremdung von Religion

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Bernard Binlin Dadiés Roman Un Nègre â Paris (1959). Der Roman soll untersucht werden als Teil der frankophonen afrikanischen Literatur im Kontext der Dekolonisierung Afrikas und der u.a. durch Aimé Césaire und Frantz Fanon geprägten Négritude.

Un Nègre â Paris besteht aus einem fiktiven Brief, den Tanhoe Bertin, das fiktive ,alter- ego‘ Dadiés, an einen unbekannten Freund aus Afrika schreibt. Er schildert darin in einem episodenhaften, humoristischen Stil die Eindrücke eines scheinbar Fremden Afrikaners bei einem zweiwöchigen Aufenthalt in Paris. Diese Technik, einen scheinbar Fremden auf das Pariser Leben schauen zu lassen, als sähe er es zum ersten Mal, erinnert stark an Montesquieus Lettres persanes.1

Auf den folgenden Seiten soll das in Dadiés Roman vorherrschende Verfahren der Verfremdung untersucht werden, welches Viktor Schklowski in seinem Essay Kunst als Verfahren (1917) als das wichtigste literarische Verfahren überhaupt definiert.

Dazu soll in einem ersten Schritt (2.) kurz die literarische Verfremdung, wie sie Schklowski definiert, beschrieben werden. Auf dieser theoretische Grundlage sollen im Hauptteil verschiedene Arten der Verfremdung, die in Un Nègre â Paris angewandt werden, untersucht werden: sprachliche Verfremdung (3.2), Verfremdung durch absichtliche Missverständnisse (3.3), Verfremdung durch Relativierung (3.4) und Verfremdung von Religion (3.4). Als Grundlage für die Verfremdung dient die besondere Perspektive die Dadié seinen Erzähler einnehmen lässt (3.1).

Im Kontext der Dekolonisierung Afrikas soll dabei untersucht werden, welche Funktion und Didaktik hinter der Verfremdung steckt. Dadié ist ganz im Sinne Sartres ein ,engagierter Schriftsteller‘, der mit seinem Roman eine ganz bestimmte didaktische Absicht verfolgt. Sartre beschreibt ,engagierte Prosa‘ als „Handeln durch enthüllen“.2 Durch das Enthüllen einer Situation soll Ebendiese verändert werden. Es soll beantwortet werden, in wie fern Dadié mit seinem Roman mit dem vorherrschenden eurozentrischen Denkmuster bricht: „[T]he West, formerly the sovereign gaze and the master word, is no being identified as the Other“.3 Auf der Untersuchung dieser Identifizierung des Parisers als ,the Other‘, die Dadié durch verschiedene Verfahren der Verfremdung erreicht, soll der Fokus der vorliegenden Arbeit liegen.

„Vergegenwärtigen wir uns die allgemeinen Gesetze der Wahrnehmung, so sehen wir, daß zur Gewohnheit gewordene Handlungen automatisch ablaufen“.4 Von dieser Automatisierung der Wahrnehmung ausgehend entwickelt Schklowski seine Verfremdungstheorie. „Die Automatisierung verschlingt die Dinge, die Kleider, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges“.5 Werden Dinge wiederholt wahrgenommen, so nehmen wir sie nur noch wiedererkennend wahr. Aufgabe der Kunst - und damit der Literatur - ist es daher, ein Empfinden für die Dinge zu vermitteln, das sie uns sehen und nicht nur wiedererkennen lässt; ihre Verfahren sind die , Verfremdung ‘ der Dinge und die erschwerte Form, ein Verfahren, das die Wahrnehmung erschwert und verlängert, denn dieser Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muss zeitlich gedehnt werden.6 7 8 9

Verfremdung dient demnach in der Literatur dazu Dinge so darzustellen, als würde man sie zum ersten Mal sehen. Sie soll den Automatisierungsprozess verhindern, der durch wiederholtes wahrnehmen der gleichen Sache entsteht. Das Abstumpfen gegen den Schrecken des Krieges, das z.B. durch wiederholte Wahrnehmung von Kriegsdarstellungen erfolgen kann, soll verhindert werden.

Wenden wir dieses Verfahren nun auf Un Nègre a Paris und den kolonialen Kontext an: Mit seinem Roman bricht Dadié bewusst mit der in Europa vorherrschenden eurozentrischen Sichtweise, die ,den‘ Afrikaner als the Other darstellt. Frantz Fanon beschreibt dieses Othering durch die Europäer ausführlich in Black Skin, White Masks7: „Not only must the black man be black; he must be black in relation to the white man“.8 Der Schwarze, so Fanon, ist nicht einfach schwarz - er ist durch den Blick des Anderen, des Weißen, immer schwarz in Relation zum ,weißen Mann‘. Durch diesen Blick des Anderen (Othering) wird der Schwarze nicht als Individuum, sondern nur als Schwarzer identifiziert: „And already I am being dissected under white eyes, the only real eyes. I am fixed‘.9

Indem er Paris und die Pariser Kultur und Gesellschaft aus der Sicht eines scheinbar fremden Afrikaners beschreibt, erreicht Dadié einen Verfremdungseffekt: Paris wird dem Leser so beschrieben, als sähe er es zum ersten Mal.

3. Literarische Verfremdung in Un Nègre a Paris

3.1 Die Perspektive des Erzählers als Ausgangspunkt für Verfremdung

Ausgangspunkt für die Verfremdung in Un Nègre â Paris ist die Perspektive, die Dadié seinen Erzähler, Tanhoe Bertin, einnehmen lässt. Als ein Fremder, der zum ersten Mal nach Paris reist, beschreibt er seine Eindrücke und Reflexionen. Zu Beginn des Romans erklärt er seinem fiktiven afrikanischen Freund die Intention seiner Reise: „J’aurais bien voulu, si cela était faisable, emporter avec moi tes yeux pour qu’ils voient ce que je vais voir [...] Partir avec les yeux de tous les amis [...]“.10

Bertin ist einerseits auto-diegetischer Erzähler und alter ego Dadiés, andererseits vereint er aber auch exemplarisch die wichtigsten Aspekte afrikanischer Charakterzüge11 und soll damit repräsentativ mit den Augen der afrikanischen Bevölkerung (den Augen seines ,Freundes‘) auf Paris gucken. „J’irais a l’aventure, et je regarderais.je regarderais pour moi, pour toi, pour tous les nötres. Je vais voir le Paris vivant [...]“ (9/10). Die Absicht ist also eindeutig: Bertin, als Repräsentant der kolonisierten afrikanischen Bevölkerung, wird nach Paris reisen mit Augen so weit geöffnet „que les Parisiens en auront peur“ (8). Er wird sich Paris und dessen Bevölkerung angucken und seinem Freund davon berichten.

Was Dadié in diesem Roman also tut, ist folgendes: Er nimmt die zur Zeit der Publikation des Romans noch durchaus beliebte Literatur, in welcher der europäische Reisende nicht-okzidentale Kulturen als exotisch und fremd beschreibt, und kehrt das Ganze um: „Dadié renverse en effet la vapeur et feint de regarder les Parisiens comme une peuplade exotique“.12

Dadié tut dies allerdings immer mit einem Augenzwinkern und viel Humor, ohne dabei ein wertendes Urteil abzugeben. Er karikiert einerseits die europäische Gesellschaft, andererseits aber z.B. auch den afrikanischen Aberglauben, indem er Bertin darstellt „comme un villageois ingénu qui s’imagine que son euphorie est due a quelques diables parisiens qui l’auraient déja envoüté“.13

Ein wiederholtes Verfahren der Verfremdung in Un Nègre a Paris ist die sprachliche Verfremdung. Dadié verwendet oftmals falsche oder sprachlich nicht passende Ausdrücke, um einen Effekt der Verfremdung zu erschaffen. Als Bertin z.B. Mütter mit ihren Kindern beobachtet, schreibt er: „J’ai meme trouvé ici des contes identiques aux nötre , et si les mamans poussent leurs enfants dans des espèces de lits roulants, et ne leurs donnent pas le sein, c’est leur faqon de les aimer“ (33). Anstatt hier das passende Wort ,poussette‘ zu benutzen, verwendet Dadié ,des espèces de lits roulants‘, um damit einen Verfremdungseffekt zu erreichen und die europäische Kultur als fremd oder exotisch darzustellen.

Wenn er über Martin Luther und die protestantische Religion schreibt, bezeichnet er Luther als „la tete de son clan“ (87). Dieser Ausdruck ist aus europäischer Sicht ebenfalls sprachlich nicht unbedingt passend, würden doch nicht viele Europäer die Protestantische Kirche als ,Clan‘ bezeichnen. Hier wird also durch die Wahl eines unkonventionellen sprachlichen Ausdruckes verfremdet. Der besondere Status, den die christlichen Religionsgemeinschaften in Europa innehaben, wird hinterfragt: Ist die christliche Kirche nicht eigentlich genau das, als was sie Dadié bezeichnet, nämlich ein Klan oder eine Sekte? Die Verfremdung führt also beim europäischen Leser dazu, die - um mit Schklowskis Worten zu sprechen - automatisierte Wahrnehmung zu durchbrechen.

Weiterhin bezeichnet er die Pariser Journalisten als ,jongleurs‘: „Leur veritables ancetres, du moins ceux des écrivains, seraient les ménestrels d’ou seraient sortis les jongleurs [...]" (112). Von dieser Textpassage an verwendet Dadié nur noch das Wort ,jongleur‘ als Synonym für ,j ournalist‘: „Pour les paysans ces j ongleurs n’étaient pas des hommes bien [...]“ (113); „Les jongleurs, courant provinces et hameaux, ne perdaient jamais le Nord“ (114); „Les jongleurs avaient chaqun un maitre“ (115). Dadié parodiert mit dieser sprachlichen Verfremdung eine Art des Denkens, die gerne und oft vom Europäer auf die kolonialisierten Afrikaner angewandt wird: Er reduziert den Pariser Journalisten auf seine ,Vorfahren‘, die er als Narren oder Spaßmacher (ménestrels/jongleurs) bezeichnet. Fanon beschreibt diese Reduzierung des Afrikaners auf seine Vorfahren folgendermaßen:

I was responsible at the same time for my body, for my race, for my ancestors. I subjected myself to an objective examination , I discovered my blackness, my ethnic characteristics; and I was battered down by tom-toms, cannibalism, intellectual deficiency, fetichism, racial defects, slave-ships, and above all else, above all: ,Sho‘goodeatin‘“.14

Durch die bewusste Verwendung eines sprachlich verfremdenden Ausdruckes parodiert Dadié also diese Denkweise des Europäers, Afrikaner auf ihre ,Vorfahren‘ zu reduzieren.

3.3 Verfremdung durch absichtliche Missverständnisse

Oft verfremdet Dadié, indem er seinen Erzähler bestimmte gängige Ausdrücke oder Sprichwörter falsch- oder missverstehen lässt. Dadurch wird ebenfalls der automatisierte Wahrnehmungsprozess des Lesers durchbrochen.

Er beschreibt allgemeine Verständigungsprobleme im Zusammenhang mit der französischen Sprache: „Il [le Parisien] use en outre d’une langue difficile et cela m’amène a poser la question suivante: se comprennent-ils tous ce ceux qui parlent cette langue?“ (34). Diese exotische, in seinen Nuancen für einen Fremden schwierig zu verstehende Sprache, müsse selbst für Einheimische unverständlich sein. Mit einem Wortspiel belegt er diese ,Stolpersteine‘, die die französische Sprache bereit hält: „Donc avoir un enfant sans etre marié est mal vu. L’enfant est bien un enfant, mais pas un enfant bien, comprends-tu?“ (34). Dadié, der erwiesenermaßen als der französischen Sprache mächtig gelten kann, verfremdet, indem er seinen Erzähler darstellt, als habe er Probleme mit dem Verständnis des Französischen.

Bertin lässt sich über die Égalité der Pariser aus: „L’esprit de l’égalité poussé jusque dans ses extremes limits donne aux descendants du Roi Soleil la meme voix (du papier) que Monsieur Dupuyht le crocheteur“ (131). Als nächstes stellt er fast, dass „ce peuple a l’avant- garde du progrès et dont le sol rend un homme libre, soutient, mon ami, qu’une blanche vaut deux noires“ (131). ,Une blanche vaut deux noires‘, diese Aussage bezieht sich natürlich ursprünglich auf die Musiktheorie, wo eine ,weiße‘ (=halbe) zwei ,schwarzen‘ (=viertel) Noten entspricht. Dadié verfremdet hier die sprachliche Wahrnehmung, indem er Bertin diesen Ausdruck absichtlich wortwörtlich verstehen lässt. So verstanden und aus dem eigentlichen Kontext gerissen handelt es sich um eine rassistische Aussage: eine ,Weiße‘ zählt so viel wie zwei ,Schwarze‘.

Eine weitere Redewendung, die Dadié verfremdet, ist das sprichwörtliche ,grain de sel‘, das Salzkörnchen, das der Franzose gerne dazu gibt. „La consommation du sel dans ce pays est effrayante“ (91), stellt Bertin fest. Das Salz finde man in Paris sur les tables, dans lesproverbs etsur lesfonts baptismaux ou leprëtre le metsur la langue de l’enfant nouvellement admis a figurer parmi les élus de Dieu“. (91)

[...]


1 Vgl. Elisabeth Mudimbe-Boyi u. Mildred Mortimer (1992). Travel, Representation, and Difference, or How Can One be a Parisian? In: „Research in African Literature". Vol. 23, No. 3. S. 25-39. Online verfügbar: www.jstor.org/stable/3820053. Hier: S. 29.

2 Jean-Paul Sartre; Hans Georg Brenner (Übers.) (1958). Was ist Literatur? Hamburg: Rowohlt. S. 17.

3 Mudimbe-Boyi u. Mortimer, Travel, S. 29.

4 Viktor Schklowski; Erhard Weinholz (Übers.) (1991). Kunst als Verfahren. In: Fritz Mierau (Hg.)„Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule". S. 16.

5 Ebd., S. 17.

6 Ebd., S. 18.

7 Das fr. Original erschien 1952 unter dem Titel Peau noire, masques blancs.

8 Frantz Fanon; Charles L. Markmann (Übers.) (1967). Black Skin, White Masks. New York: Grove Press. S. 110.

9 Ebd., S. 116.

10 Bernard Dadié (1959). Un Nègre â Paris. Paris: Présence Africaine. S. 8. Weitere Zitate nach dieser Ausgabe erfolgen direkt im Fließtext.

11 Vgl. Janis A. Mayes (1977). Bernard Dadié and the Aesthetics of the Chronique: An Affirmation of Cultural Identity. In: „Présence Africaine". No. 101/102. S. 102-118. Hier: S. 106.

12 Jacques Chevrier (1989). Lecture d',Un Nègre â Paris': ou il estprouvé qu'on peut ëtre Parisien et raisonner comme un Agni. In: „L'Afrique littéraire et artistique", no. 85, S. 33 - 45. Hier: S. 35.

13 Katharina Städtler (1999). Regards africains sur Paris. In: „Francophonia", 8, S. 325-351. Hier: S. 335.

14 Fanon, Black Skin, white masks, S. 112.

Final del extracto de 13 páginas

Detalles

Título
Literarische Verfremdung in Bernard Dadiés "Un Negre à Paris"
Universidad
University of Göttingen
Calificación
1,3
Autor
Año
2021
Páginas
13
No. de catálogo
V1011965
ISBN (Ebook)
9783346404701
ISBN (Libro)
9783346404718
Idioma
Alemán
Palabras clave
literarische, verfremdung, bernard, dadiés, negre, paris
Citar trabajo
Cedric Sell (Autor), 2021, Literarische Verfremdung in Bernard Dadiés "Un Negre à Paris", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1011965

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