Sollte der deutsche Bildungsföderalismus abgeschafft werden? Das Bundesstaatsprinzip und seine Folgen


Libro Especializado, 2021

109 Páginas


Extracto

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitende Worte

2 Grundlagen des Föderalismus als Staatsstrukturprinzip

2.1 Begriffsdefinition & Abgrenzungen

2.1.1 Föderalismus und politische Organisationsformen: Bundesstaat, Staatenbund & Einheitsstaat

2.1.2 Komplementärbegriffe zum Föderalismus: Dezentralisierung, Devolution & Regionalismus

2.2 Bewertung der föderalen Staatsordnung

2.2.1 Vorteile föderalistischer Systeme

2.2.2 Kritik am Bundesstaatsprinzip

2.3 Typen & Ausprägungen des Föderalismus

3 Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland

3.1 Verfassungsrechtliche Basis des Bundesstaates

3.2 Verteilung der staatlichen Aufgaben zwischen Bund & Ländern

3.2.1 Gesetzgebende Befugnisse

3.2.2 Zuständigkeiten hinsichtlich der Exekutive

3.2.3 Kompetenzverteilung in der Rechtsprechung

3.2.4 Befugnisse im Bereich der Auswärtigen Politik

3.3 Der Bundesrat als zentrales Organ des föderalen Systems

3.3.1 Funktionen des Bundesrates

3.3.1.1 Legislative Funktionen

3.3.1.2 Mitwirkung an der Europapolitik

3.3.2 Zusammensetzung & Organisation

4 Überblick zum Bildungswesen in Deutschland

4.1 Akteure auf staatlicher Ebene & Kernelemente des Bildungssystems

4.2 Grundstruktur & Bildungseinrichtungen

4.2.1 Elementarbereich und Primärbereich

4.2.2 Sekundarbereich I

4.2.3 Sekundarbereich II

4.2.4 Tertiärer Bereich

5 Der Bildungsföderalismus – Folgen des Bundesstaatsprinzips für das deutsche Bildungssystem

5.1 Bundesländerunterschiede in Bezug auf das Bildungssystem

5.2 Probleme des bildungsföderalen Status Quo

5.3 Argumente für den Bildungsföderalismus

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang


Abkürzungsverzeichnis

 

AFBG                           Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz

Art.                               Artikel

BAföG                          Bundesausbildungsförderungsgesetz

BLK                              Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung

DDR                             Deutsche Demokratische Republik

EU                                Europäische Union

G8                                 achtjähriges Gymnasium

G9                                 neunjähriges Gymnasium

GG                                Grundgesetz

GWK                            Gemeinsame Wissenschaftskonferenz

KMK                            Kultusministerkonferenz

OECD                           Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

PISA                             Programme for International Student Assessment

Abbildungsverzeichnis

 

Abb. 1: Drei Typen von Staatstrukturprinzipien

Abb. 2: Gesetzgebungsbefugnisse in Deutschland gemäß Grundgesetz

Abb. 3: Verteilung der exekutiven Kompetenzen in der Bundesrepublik Deutschland

Abb. 4: Gerichtsorganisation in Deutschland

Abb. 5: Zusammensetzung des Bundesrates

Abb. 6: Grundstruktur des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland

1 Einleitende Worte

 

Im Jahr 2000 führte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erstmals eine international standardisierte Schulleistungsuntersuchung durch. Im Zuge der als „Programme for International Student Assessment“ (PISA) bezeichneten Leistungsstudie wurden rund 180.000 15-jährige Schüler aus 32 Staaten u.a. in den Bereichen „Lesekompetenz“, „mathematische Grundbildung“ und „naturwissenschaftliche Grundbildung“ getestet.[1]

 

Das Resultat der etwa 5.000 Teilnehmer aus Deutschland war verheerend; sie schnitten auf allen Gebieten unterdurchschnittlich ab.[2]

 

Als Folge des sog. „PISA-Schocks“ entfachte eine in der Öffentlichkeit geführte bildungspolitische Debatte über die Leistungsfähigkeit deutscher Bildungseinrichtungen. Ein Kommentar der damaligen Bundesministerin für Bildung und Forschung Edelgard Bulmahn im Jahr 2002 lautete folgendermaßen:

 

„Die PISA-Studien haben zentrale Schwächen des deutschen Bildungssystems aufgedeckt und damit die Bildungspolitik wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt. Das deutsche Schulsystem erbringt nur unterdurchschnittliche Leistungen auf zentralen Gebieten wie der Lesekompetenz, der Mathematik oder den Naturwissenschaften.“[3]

 

Die international durchgeführte PISA-Studie wurde im selben Jahr durch eine Variante auf nationaler Ebene ergänzt (sog. PISA-E), um mögliche Leistungsunterschiede zwischen den Bundesländern zu erfassen. Dabei wurden die oben angesprochenen Kompetenzen bei einer noch größeren Anzahl von Schülern geprüft.[4]

 

Diesbezüglich wurde ein enormes Leistungsgefälle zwischen den Ländern festgestellt. Während z.B. an bayerischen Schulen in allen Disziplinen überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt werden konnten, belegten Bremen und Brandenburg stets die hinteren Plätze der Länderrangliste.[5]

 

Als Folge der ersten PISA-Studie wurden bildungspolitische Maßnahmen, wie z.B. der Ausbau von Ganztagsschulen, bundesweit beschlossen.[6] Zwar fielen die Resultate deutscher Teilnehmer an den PISA-Tests in den Folgejahren zunächst besser aus; jedoch lässt sich seit 2012 in den Bereichen „Mathematik“[7] und „Naturwissenschaften“[8] sowie seit 2015 hinsichtlich der „Lesekompetenz“[9] eine kontinuierliche Verschlechterung der Leistungen feststellen.

 

In diesem Zusammenhang wurde u.a. die Tatsache kritisiert, dass in Deutschland 16 verschiedene Bildungssysteme nebeneinander bestehen und die Bundesländer über deren Gestaltung eigenständig entscheiden können. Als wesentlicher Grund für die unzufriedenstellenden Leistungen der Schüler wurde das Fehlen von bundeseinheitlichen Bildungsstandards genannt.[10]

 

Doch trägt der sog. Bildungsföderalismus als Bestandteil des Bundesstaatsprinzips tatsächlich die Schuld an der deutschen Bildungsmisere?

 

Jene Ansicht ist in Deutschland weit verbreitet, denn laut einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2019 befürwortet die Mehrheit der Bevölkerung bundeseinheitliche Regelungen bezüglich des Bildungswesens sowie ein höheres Mitspracherecht des Bundes in bildungspolitischen Angelegenheiten.[11]

 

Um dem im Rahmen der PISA-Studien registrierten Leistungseinbruch der Schulkinder entgegenzuwirken, beschloss die Bundesregierung 2019 die Bildung eines Nationalen Bildungsrates im Koalitionsvertrag. Dieses Beratungsgremium soll eine Zusammenarbeit zwischen Bildungsforschern und Abgeordneten ermöglichen und „auf Grundlage der empirischen Bildungs- und Wissenschaftsforschung Vorschläge für mehr Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen vorlegen.“[12]

 

Allerdings befürchteten die Landesminister von Bayern und Baden-Württemberg eine Einschränkung ihrer Kompetenzen im Bereich der Bildungspolitik sowie eine Herabsetzung des Bildungsniveaus in ihren Ländern.

 

Deshalb lehnten sie die Einrichtung des Nationalen Bildungsrates ab. Ohne die Zustimmung aller Bundesländer steht dieses Projekt trotz der Vereinbarung im Koalitionsvertrag voraussichtlich vor dem Aus.[13]

 

An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, ob und in welchem Ausmaß die Länder grundsätzlich das Recht haben, bildungspolitische Entscheidungen unabhängig vom Gesamtstaat zu treffen.

 

Um diese Angelegenheit zu ergründen, muss man sich zunächst mit dem föderalen Charakter der Bundesrepublik Deutschland eingehend auseinandersetzen, da dieser die Grundlage für die Verteilung von Kompetenzen zwischen den politischen Ebenen bildet.

 

Ausgehend von jener Überlegung soll diese Arbeit einen Beitrag zu der aktuellen Bildungsdebatte leisten, indem sie den Zusammenhang zwischen dem verfassungsrechtlich verankerten Bundesstaatsprinzip und dem deutschen Bildungswesen darstellt.

 

Die Zielsetzung der Bachelorthesis liegt somit in der Analyse und Bewertung der Folgen des Föderalismus für das deutsche Bildungssystem.

 

An diesem Ziel orientiert sich die Struktur der Arbeit, deren Hauptteil aus vier übergeordneten Kapiteln besteht.

 

Dazu soll zunächst im Kapitel 2 der Föderalismusbegriff definiert und von anderen politischen Organisationsformen sowie Komplementärbegriffen abgegrenzt werden.

 

Im nachfolgenden Kapitel wird die Art und Weise, wie dieses Prinzip in der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt wird, systemisch erläutert. Dabei wird in erster Linie die Rolle des Grundgesetzes als verfassungsrechtliche Basis des Bundesstaatsprinzips untersucht.

 

Neben dem Aufzeigen der gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Zuständigkeiten soll außerdem die Bedeutung des Bundesrates, der als wichtigstes Organ des deutschen Föderalismus gilt, thematisiert werden.

 

Da eine kritische Betrachtung des föderalen Staatsstrukturprinzips bereits im zweiten Kapitel stattfindet, wird im Kapitel 3 auf kontrovers diskutierte Themengebiete im Zusammenhang mit dem deutschen Föderalismus, wie z.B. die Politikverflechtung, nicht detailliert eingegangen.

 

Anschließend kommt es im Kapitel 4 zu einer Darstellung der zentralen Merkmale und Grundzüge des deutschen Bildungssystems. Gemäß dem Grundsatz „vom Allgemeinen zum Speziellen“ stellt dieser Abschnitt darüber hinaus eine Überleitung zum fünften Kapitel her, in dem eine kritische Auseinandersetzung mit einem Teilgebiet des Föderalismus – dem Bildungsföderalismus – erfolgt.

 

Zum Abschluss werden die wesentlichen Ergebnisse dieser Diskussion im sechsten und letzten Kapitel zusammengefasst und beurteilt. Ferner werden mögliche zukünftige Perspektiven vom Autor aufgezeigt.

2 Grundlagen des Föderalismus als Staatsstrukturprinzip

 

Um ein nachhaltiges Verständnis der Folgen des Föderalismus für das deutsche Bildungswesen zu gewährleisten, soll das Bundesstaatsprinzip nachfolgend erst einmal erklärt und im Anschluss terminologisch abgegrenzt werden.

2.1 Begriffsdefinition & Abgrenzungen

 

Betrachtet man den Föderalismusbegriff aus der historischen Perspektive heraus, so findet sich seine Ursprungsbedeutung im lateinischen Wort foedus, was übersetzt „Bund“ oder „Vertrag“ bedeutet.[14]

 

Individuen, Gruppen oder politische Einheiten schließen sich aufgrund von gemeinsamen Zielen zu einer dauerhaften Unität zusammen, die die Grundlage des föderalistischen Prinzips darstellt. Dabei steht die Schaffung einer übergeordneten und eigenständigen Einheit nicht im Konflikt mit der Autonomie der gleichberechtigten Mitglieder.[15]

 

Ferner ist die Gewährleistung der ethnischen, sprachlichen und kulturellen Integrität der einzelnen Teilnehmer des Bündnisses ein wichtiger Bestandteil dieses Konzepts.[16]

 

In der Staatstheorie wird die Föderalismusdiskussion mit den grundlegenden Prinzipien der Staatsorganisation verknüpft. Diese werden im Folgenden analysiert.

2.1.1 Föderalismus und politische Organisationsformen: Bundesstaat, Staatenbund & Einheitsstaat

 

Im Rahmen der Staatslehre ist der Föderalismus ein Staatsstrukturprinzip, welches auf einem freiwillig geschlossenen Abkommen zwischen mehreren politischen Einheiten beruht. Das Ziel des Abkommens ist eine langfristig angelegte Vereinigung dieser Einheiten. Damit sollen beispielsweise die Erhöhung der Sicherheit durch eine gemeinsame Verteidigungspolitik oder die allgemeine Steigerung des Wohlstands bezweckt werden.[17]

 

Ein föderaler Staat, der sich aus Teilstaaten zusammensetzt, wird als Bundesstaat bezeichnet.[18] Die Gliedstaaten haben die Möglichkeit, in den im Abkommen definierten Bereichen unabhängig vom Zentralorgan zu agieren (self-rule).[19] Deshalb ist es essenziell, dass jene bis zu einem gewissen Umfang autonom wirtschaften dürfen.[20]

 

Darüber hinaus wirken sie an Entscheidungen und Umsetzungen von politischen Zielen der gesamtstaatlichen Institutionen mit und beteiligen sich damit aktiv an der „Willensbildung des Gesamtstaates“[21] (shared rule).

 

Außerdem gilt laut Laufer/Münch in einem Bundesstaat „ein Dualismus von Entscheidungszentren“[22]. Demnach dürfen weder Zentralorgane noch Teilstaaten die gegenseitigen Machtverhältnisse ohne die Zustimmung der jeweils anderen Ebene verändern.[23]

 

Eine föderalistische Staatsstruktur muss in der Verfassung eines Staates juristisch verankert sein. Eines ihrer Merkmale ist die bilaterale Gewaltenteilung. Hinsichtlich der Bundesrepublik Deutschland bedeutet dies beispielsweise, dass sowohl die Bundesländer als auch die zentralen Organe jeweils gesetzgebende, ausführende sowie rechtsprechende Gewalt ausüben.[24]

 

An die genannten Rahmenbedingungen einer föderalen Staatsstruktur knüpft auch der Standpunkt des Politologen Ronald L. Watts an. Für ihn ist der Föderalstaat ein normatives Konstrukt, welches die Auf- und Verteilung der staatlichen Aufgaben auf mehrere politischen Ebenen umfasst. Dabei ist die Verknüpfung von Einheit und Vielfalt die Grundvoraussetzung dafür, dass die verschiedenen regionalen Identitäten innerhalb einer zentralen politischen Einheit erhalten bleiben. Die Staatsorganisation ist durch eine Synergie aus regionaler Selbstbestimmung und übergeordneter Entscheidungskompetenz charakterisiert.[25]

 

Die Gliedstaaten eines Bundesstaates (in Deutschland werden sie als Bundesländer bezeichnet) sind völkerrechtlich nicht souverän, sodass lediglich der Gesamtstaat über eine staatliche Souveränität verfügt.[26]

 

Zudem werden in einem föderalistischen Staatssystem Kompetenzen und Zuständigkeiten nicht einseitig zugewiesen, sondern gemeinsam zwischen den verschiedenen Ebenen ausgearbeitet.

 

Sollte eine Zuweisung von Zuständigkeiten entweder einseitig durch die Teilstaaten oder durch das Zentralorgan erfolgen, spricht man von einem Staatenbund bzw. einem Einheitsstaat.[27]

 

Der Staatenbund (auch Konföderation genannt) ist ein Prinzip der Staatsorganisation, welches sich vom Bundesstaat dadurch unterscheidet, dass sich hierbei souveräne Staaten zusammenschließen und zugleich ihre Unabhängigkeit bewahren.

 

Sie schließen einen völkerrechtlichen Vertrag miteinander ab[28] und besitzen trotzdem weiterhin eigenständige Regierungsinstitutionen.

 

Für die Koordination klar definierter gemeinsamer Aufgaben werden spezielle Organe eingerichtet, in die Vertreter der Mitgliedsstaaten entsandt werden.[29]

 

Die Entscheidungen der Organe auf supranationaler Ebene müssen von den nationalen Regierungen ratifiziert werden, die aber auch das Recht haben, gefasste Beschlüsse abzulehnen. Rechtskraft erlangen die Beschlüsse erst, wenn alle Mitglieder des Staatenbundes sie gebilligt und ratifiziert haben.

 

Aktuell existieren weltweit keine Konföderationen im klassischen Sinne.[30] Zu den historischen Beispielen zählen die amerikanische Konföderation im 18. sowie der Deutsche Bund im 19. Jahrhundert.[31]

 

Im Gegensatz zum Bundesstaat und zum Staatenbund geht bei einem Einheitsstaat (auch Zentralstaat genannt) der Großteil der Staatsgewalt von zentralen Regierungsorganen aus. In einem Zentralstaat überträgt die Zentralregierung Kompetenzen an die subnationalen Einheiten, die die politischen Entscheidungen der übergeordneten Ebene umsetzen müssen. Heute sind die meisten Nationalstaaten im Grundsatz einheitsstaatlich organisiert; sie unterscheiden sich aber teilweise stark in der Durchführung des Einheitsstaatsprinzips, beispielsweise in Bezug auf den Autonomiegrad der lokalen Organe.[32]

 

Die föderalistischen Staatsstrukturen in den verschiedenen Bundesstaaten unterscheiden sich auch hinsichtlich der Stärke der Zentraleinheit und der Betonung der Vielfalt einzelner dezentraler Subeinheiten.[33]

 

 

Abb. 1: Drei Typen von Staatstrukturprinzipien

Quelle: Eigene Darstellung.

 

Unabhängig von den dargestellten Typen von Staatsstrukturprinzipien, werden im alltäglichen Sprachgebrauch einige Fachtermini irrtümlicherweise mit dem Föderalismusbegriff gleichgesetzt. In der Konsequenz bedarf es einer weiteren Differenzierung.

2.1.2 Komplementärbegriffe zum Föderalismus: Dezentralisierung, Devolution & Regionalismus

 

Die Dezentralisierung ist eines dieser Fachbegriffe. Sie steht dem Föderalismus zwar nahe, weil die subnationalen Einheiten in einem dezentralisierten Staat in festgelegten Bereichen Entscheidungen eigenständig treffen.[34]

 

Dabei haben die untergeordneten Gebietskörperschaften die rechtliche Möglichkeit, Beschlüsse bürgernah zu fassen, die explizit administrativen Charakter haben.[35]

 

Nichtsdestotrotz handelt es sich bei der Dezentralisierung um eine Form des Einheitsstaates. Das liegt daran, dass die Entscheidungskompetenzen von Gliedstaaten und anderen untergeordneten Einheiten allein vom Zentralstaat bestimmt und auch wieder zurückgenommen werden können. Beispielhaft dafür ist die Entwicklung Großbritanniens von einem dezentralisierten hin zu einem zentralistischen Einheitsstaat zum Ende des 20. Jahrhunderts. Dies geschah im Wesentlichen dadurch, dass die Zentralregierung die Befugnisse der Gebietskörperschaften immer weiter einschränkt hatte.[36]

 

Daneben wird der Föderalismusbegriff in der Fachliteratur gelegentlich in Verbindung mit der Devolution angesprochen.[37]

 

Tatsächlich handelt es sich bei der Devolution um eine besondere Form der Dezentralisierung, denn es werden nicht nur administrative, sondern auch legislative und finanzielle Verantwortungsbereiche von Zentralorganen an untergeordnete Einheiten übertragen.[38] Diese können aber auch in einem einseitigen Willensprozess des Zentralorgans wieder zurückgenommen werden.

 

Der Grundgedanke der Devolution besteht darin, dass beispielsweise separatistischen Bewegungen entgegengewirkt werden soll.[39] Folglich muss dieser Begriff dem einheitsstaatlichen Staatsstrukturprinzip zugeordnet werden.

 

Schließlich wird auch der Terminus Regionalismus als Komplementärbegriff zum Föderalismus betrachtet. Der Regionalismus bezeichnet eine gegebene oder angestrebte Entwicklung einer gemeinschaftlichen Bewegung von untergeordneten Einheiten, deren Ziel die größere Einflussnahme innerhalb eines souveränen Staates ist. Dies geschieht zumeist aus sozialökonomischen, politischen oder kulturellen Gründen.

 

In diesem Zusammenhang versuchen häufig Regionen, deren Bürger kulturelle, ethnische und historische Gemeinsamkeiten aufweisen, ihren Autonomiegrad im Staat zu erweitern.[40]

 

Bei der Analyse von Regionen betrachtet man nicht unbedingt Gebietskörperschaften auf unterschiedlichen Ebenen, wie es beim Föderalismus der Fall ist. Stattdessen kann der Regionalismus auch auf Basis gemeinsamer „sozioökonomische[r] Merkmale wie Sprache, wirtschaftliche Performance und Verflechtungen oder Konfessionen“[41] untersucht werden.

 

Mit der Erfassung von Komplementärbegriffen und der Thematisierung von Prinzipien der Staatsorganisation wurde die Komplexität des Föderalismusbegriffs aufgezeigt.

 

Im folgenden Schritt ist nun zu klären, welche Funktionen das föderalistische Staatstrukturprinzip erfüllt und inwiefern es der Bevölkerung eines Bundesstaates Nutzen stiftet.

2.2 Bewertung der föderalen Staatsordnung

 

Die zentrale und damit wichtigste Aufgabe des Föderalismus als politisches Prinzip besteht darin, die verfassungsrechtlich begründete Staatsgewalt zwischen den Mitgliedern des föderalen Verbands aufzuteilen.

 

Dementsprechend sind alle untergeordneten föderalen Einheiten an der Politikgestaltung und der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben beteiligt. Zudem sind die Entscheidungskompetenzen der Zentralorgane juristisch begrenzt, um eine Verletzung der Integrität der Gebietskörperschaften zu verhindern.[42]

 

In der Praxis ergeben sich daraus mehrere Nutzeffekte für den politischen Prozess.

2.2.1 Vorteile föderalistischer Systeme

 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem föderalen System und einem Einheitsstaat ist die vertikale Gewaltenteilung – ein Funktionsprinzip, welches die Aufteilung der Staatsgewalt zwischen den zentralen Organen und Gliedstaaten bewirkt. Diese Gewaltenteilung soll Machtmissbrauch durch zentrale Institutionen verhindern und die Freiheit des gesamten Staates und seiner Bevölkerung schützen.[43]

 

Exemplarisch dafür ist das politische System der Bundesrepublik Deutschland, wo die Staatsgewalt auf Bundesebene durch den Bundestag, die Bundesregierung und die Bundesgerichte sowie auf Länderebene durch die Landesparlamente, die Landesregierungen und die Landesgerichte ausgeübt wird.[44]

 

Des Weiteren fördert der Föderalismus die Bewahrung von Frieden, Stabilität und gegenseitiges Entgegenkommen in Staaten, in denen räumlich konzentrierte Unterschiede in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit, Religion, Kultur oder Sprache existieren.[45]

 

In Nationalstaaten mit mehreren Millionen Einwohnern kann die geographische Entfernung zwischen den zentralen Regierungsinstitutionen und Teilen der Bevölkerung ein Problem darstellen. Denn mit zunehmender Entfernung wird es für jene Bevölkerungsgruppen grundsätzlich schwieriger, sich auf politischer Ebene ausreichend Gehör zu verschaffen.[46]

 

Auch ist es nicht auszuschließen, dass Personen, die den politischen Prozess im Zentrum dominieren, die Bedürfnisse und Bestrebungen aller Bürger nicht nachvollziehen können. Daraus können schließlich politische Fehlentscheidungen resultieren. Ein Vertrauensverlust der Bevölkerung in das Regierungssystem wäre die Konsequenz.[47]

 

Eine föderalistische Ordnung wirkt der aufgezeigten Gefahr entgegen, da in ihr ein wesentlicher Teil der Staatsgewalt auf der Ebene von Ländern oder Gebietskörperschaften ausgeübt wird. Dadurch lässt sich die Politikgestaltung stärker an den Bedürfnissen der Bürger ausrichten, während die gesamtstaatlichen Organe lediglich für die Bewältigung bestimmter übergeordneter Aufgaben verantwortlich sind.[48]

 

Daneben bestärkt der Föderalismus die Bürger darin, sich besser mit einer demokratischen Staatsordnung zu identifizieren. Dies wird damit begründet, dass die Möglichkeit der Teilhabe an politischen Prozessen im Rahmen des Föderalismus erhöht wird. Beispielhaft dafür sind Wahlen, die nicht nur auf nationaler, sondern auch auf regionaler und kommunaler Ebene stattfinden.[49]

 

Sofern die Bewohner mit der Politik ihres Gliedstaates unzufrieden sind, haben sie das Recht, diesen zu verlassen und zugleich die Freiheit zu entscheiden, wo sie innerhalb des Gesamtstaates leben möchten.[50]

 

Beispielsweise können Eltern in Baden-Württemberg, die ein achtjähriges Gymnasium für ihr Kind als ungeeignet ansehen, verschiedene Schulsysteme deutschlandweit miteinander vergleichen und einen Umzug nach Rheinland-Pfalz in Erwägung ziehen, wo das Abitur erst nach der 13. Jahrgangsstufe erreicht wird.[51]

 

Ein weiterer Vorteil von föderalen Systemen ist die Betonung der Vielfalt und die damit verbundene Anerkennung von Gemeinschaften mit unterschiedlichen Identitäten ethnischer, religiöser oder sprachlicher Natur.

 

Gruppen mit gemeinsamen Wertvorstellungen und dem daraus erwachsenen besonderen Zusammengehörigkeitsgefühl können ein begrenztes Maß an Autonomie auf regionaler und kommunaler Ebene erhalten.

 

Die Anerkennung und Autonomie einzelner Gruppen lässt sich durch eine Bundesverfassung sicherstellen, sodass Minderheiten geschützt, Konflikte unterbunden und mögliche separatistische Bestrebungen verhindert werden. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich derartige Gruppen in bestimmten geographischen Gebieten konzentrieren.[52]

 

Zusätzlich ermöglicht das Subsidiaritätsprinzip, laut dem „eine (staatliche) Aufgabe soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden [soll]“[53], den Zentralorganen, sich auf die wesentlichen, gesamtstaatlichen Aufgaben zu fokussieren. Aus diesem Prinzip, welches ein zentrales Konzept föderaler Bundesstaaten ist, ergibt sich ein „Entlastungsmechanismus“, sodass die zentralen Organe noch effektiver handeln können.[54]

 

Darüber hinaus begünstigt die Autonomie der Gliedstaaten innerhalb föderaler Staatsordnungen das Erarbeiten und Umsetzen von innovativen und experimentellen Konzepten, die auf nationaler Ebene aus unterschiedlichen Gründen nicht durchsetzbar sind.[55]

 

Ein Beispiel dafür ist die Reform des Gesundheitssystems im US-Bundesstaat Massachusetts im Jahr 2004, die dazu führte, dass die Mehrheit der einkommensschwachen Haushalte des Bundesstaates Zugang zur medizinischen Versorgung erhielt. Auf Bundesebene fehlte hingegen eine äquivalente gesetzliche Regelung.[56]

 

Zuletzt gilt es zu erwähnen, dass ein föderales Staatssystem sich durchaus positiv auf die Rekrutierung von kompetenten Personen für politische Ämter auswirken kann.

 

Aufgrund dessen, dass Politiker nicht nur auf nationaler, sondern auch auf subnationaler Ebene benötigt werden und somit insgesamt ein erhöhter Personalbedarf besteht, wird „die Rekrutierungsbasis erweitert, und die Chancen [für Abgeordnete], politische Erfahrungen sammeln zu können und sich zu qualifizieren, sind größer.“[57]

 

Beispielhaft dafür sind Politiker wie Gerhard Schröder oder Helmut Kohl, die vor ihrer Tätigkeit als Bundeskanzler jeweils das Amt des Ministerpräsidenten in Niedersachsen[58] bzw. Rheinland-Pfalz innehatten.[59] Obgleich Bundesstaaten mehrere Vorteile gegenüber Einheitsstaaten aufweisen und inzwischen über 40 Prozent der Weltbevölkerung in 25 föderalistisch organisierten Staaten lebt[60], werden einige Aspekte des Bundesstaatsprinzips von Politikwissenschaftlern kritisch betrachtet.

2.2.2 Kritik am Bundesstaatsprinzip

 

In Bundesstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland oder den USA werden innerhalb subnationaler Einheiten eigene Parlamente gewählt und Regierungen gebildet, die in klar definierten Bereichen unabhängig vom Gesamtstaat politisch aktiv sind.

 

Die gewählten Abgeordneten haben den Auftrag, die Interessen der Landesbevölkerung bestmöglich zu vertreten. Da die Interessen einzelner Teilstaaten sich nach ihren eigenen Bedürfnissen richten und häufig nicht miteinander übereinstimmen, kommt es infolge des eigennützigen Verhaltens zu Differenzen und Konflikten, die auch zu einer Schwächung des Gesamtstaates führen können.[61]

 

In diesem Zusammenhang wird das Problem der "räumliche[n] Externalitäten"[62] genannt. Es liegt dann vor, wenn in einem Gliedstaat Leistungen zur Verfügung gestellt werden, die auch Bürger anderer Teilstaaten nutzen können, ohne sich an den Kosten jener Leistungen zu beteiligen.

 

Beispielsweise ist die Errichtung von Universitäten mit einem hohen finanziellen Aufwand für ein Bundesland verbunden. Dessen Nachbarland hat theoretisch die Möglichkeit, auf den Hochschulbau zu verzichten, um selbst Kosten zu vermeiden. Demzufolge werden dessen Bürger die Einrichtungen des erstgenannten Landes für ein Studium nutzen. Eine Überlastung der Kapazitäten und höhere finanzielle Ausgaben für das Land, welches die Leistung anbietet, sind die Folge.[63]

 

Zugleich können aufgrund der begrenzten Plätze insgesamt weniger Studenten aufgenommen werden, sodass mehr Personen keinen Hochschulabschluss erhalten. Dies schadet wiederum dem Gesamtstaat und der Wirtschaft, da nun weniger Fachkräfte zur Verfügung stehen.

 

Derartige externen Kosten können auch im Umweltbereich anfallen, wenn Industrieunternehmen in einem Bundesland ansässig sind und besteuert werden, jedoch zusätzlich Luftverschmutzung im Nachbarland verursachen und für diese nicht verantwortlich gemacht werden. Die genannten Problemstellungen lassen sich u.a. durch Ausgleichszahlungen im Rahmen eines Umverteilungssystems lösen.[64]

 

Sofern ein solches System nicht existiert oder nicht effizient umgesetzt wird und ärmere Teilstaaten nicht von den wohlhabenderen Regionen finanziell unterstützt werden, ruft eine föderalistische Struktur ökonomische Ungleichheiten hervor.[65]

 

Sie können zum Beispiel durch die unterschiedliche Verteilung natürlicher Ressourcen bedingt sein. Auch hinsichtlich der Qualität öffentlicher Dienstleistungen können in einem Bundesstaat Disparitäten entstehen.[66]

 

Darüber hinaus kann es durch den Wettkampf der Gliedstaaten um die Attraktivität als Standort für Investoren zum Abbau von Sozial- und Umweltstandards kommen. Sofern keine Regulierungsmechanismen vorhanden sind, erfolgt dies etwa dadurch, dass die Teilstaaten Unternehmenssteuern senken, Mindestlöhne abschaffen oder auf ausreichende Umweltregulierungsmaßnahmen verzichten.[67]

 

Weiterhin kann eine föderalistische Struktur zusätzliche Kosten durch eine Zunahme der Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung verursachen. Denn durch das Vorhandensein mehrerer politischer Ebenen sind Bundesstaaten in der Regel einem höheren Maß an Bürokratie ausgesetzt als Einheitsstaaten, sodass die Kosten für die Verwaltung steigen.[68] Der hohe administrative Aufwand lässt Ineffizienzen dadurch entstehen, dass sich Zuständigkeiten einzelner politischer Ebenen überlappen und beispielsweise ein legislativer Beschluss auf Länderebene durch die Kommunalebene blockiert wird.

 

Für Bürger wird es zunehmend schwieriger, die Verantwortungsbereiche der jeweiligen administrativen Einheit zu erkennen. Die erwähnten Ineffizienzen können z.B. entstehen, wenn die Einhaltung bestimmter Vorschriften sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene mehrfach kontrolliert werden.[69]

 

Im Hinblick auf die Sicherstellung der Rechte von Minoritäten können Minderheiten auf der einen Seite Anerkennung und weitreichende Autonomie durch den Föderalismus erlangen. Andererseits ist anzunehmen, dass Landesregierungen noch eher als nationale Regierungen die individuellen Rechte und Freiheiten von Minderheiten innerhalb der Gliedstaaten einschränken können, weil die Wählerschaft eines Teilstaates ethnisch und kulturell homogener ist als die des Gesamtstaates.[70]

 

Historisch belegt ist dies durch die Sklaverei in den USA im 18. und 19. Jahrhundert. Während in mehreren nördlichen Bundesstaaten die Sklavenhaltung von Afroamerikanern bis zum Beginn des Amerikanischen Bürgerkriegs gesetzlich verboten wurde, setzten sich die meisten Südstaaten bis zum Ende des Sezessionskriegs für deren Aufrechterhaltung ein.[71]

 

Entsprechend der Zielsetzung dieses Kapitels, den Föderalismus grob darzustellen und dem Leser ein Verständnis der Zusammenhänge zu ermöglichen, sollen abschließend einige Konzepte jenes Staatsstrukturprinzips vorgestellt werden, die aufgrund von besonderen Merkmalen herausragen.

2.3 Typen & Ausprägungen des Föderalismus

 

Föderalistische Systeme lassen sich nach der unterschiedlichen Verteilung der Kompetenzen an Gliedstaaten differenzieren.

 

Bei einem symmetrischen Föderalismus sind Teilstaaten verfassungsrechtlich gleichgestellt, sodass weder Unterschiede im Bereich der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit noch hinsichtlich der Beziehung zum Gesamtstaat existieren.[72]

 

Als grundsätzlich symmetrisch gilt das Staatssystem der Vereinigten Staaten von Amerika, wo die 50 Bundesstaaten gleichermaßen autonom sind und jeweils über gesetzgebende, exekutive und judikative Institutionen verfügen.[73]

 

Anders verhält es sich beim asymmetrischen Föderalismus, bei dem sowohl der Autonomiegrad als auch der Umfang der Kompetenzen einzelner politischer Subjekte variieren. Damit soll z.B. gewährleistet werden, dass spezifische Regionen eine ausreichende Selbstbestimmung erhalten, um möglichen Unabhängigkeitsbestrebungen im Vorfeld entgegenzuwirken.[74]

 

In der Verfassung der Russischen Föderation ist die Gleichbehandlung von Provinzen und Regionen zwar festgeschrieben; de facto ist die Staatsorganisation jedoch von einer Asymmetrie geprägt. Die Staatsstruktur umfasst sechs Kategorien von territorialen Einheiten (sog. „Föderationssubjekte“), die jeweils verfassungsrechtliche Unterschiede aufweisen. Dazu gehören Republiken, Regionen, Gebiete, bundesbedeutsame Städte, ein autonomes Gebiet sowie autonome Bezirke.[75]

 

Die Republiken besitzen im Gegensatz zu den anderen Föderationssubjekten beispielsweise eine eigene Verfassung und einen eigenen Präsidenten. Die genaue Festlegung der jeweiligen Entscheidungsbefugnisse wird durch Verträge zwischen den Zentralorganen und Föderationssubjekten sichergestellt. Einige Republiken haben dabei umfangreichere Autonomierechte als andere Einheiten, sodass letztlich Asymmetrien entstehen.[76]

 

Im Falle der Bundesrepublik Deutschland sind innerstaatliche Ungleichmäßigkeiten nicht institutionell bedingt, sondern haben einen ökonomischen Ursprung und sollen u.a. mit Hilfe des horizontalen Finanzausgleichs beseitigt werden.[77]

 

Abseits der Analyse der Kompetenzverteilung sind zwei gegensätzliche föderalistische Modelle zu veranschaulichen, welche die Verhältnisse zwischen politischen Ebenen kennzeichnen.

 

Der Kooperative Föderalismus stellt eine besondere Form des föderalistischen Organisationsprinzips dar. Hierbei kommt es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Gliedstaaten (horizontale Beziehung) – häufig unter Mitwirkung von Zentralorganen (vertikale Beziehung) – mit dem Ziel, komplexe Problemstellungen zu lösen, Lebensbedingungen zu vereinheitlichen und Streitfälle von vornherein zu unterbinden.

 

Als Beispiel führen Kilper und Lhotta die Festsetzung von Feiertagen in Deutschland an. Aufgrund des damit zusammenhängenden Fahrverbots für Lastkraftwagen bedarf es einer Abstimmung zwischen den Bundesländern, da bestimmte Feiertage nicht bundeseinheitlich gelten.[78]

 

In der Bundesrepublik Deutschland wurde für die intensive Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen der Begriff Politikverflechtung geprägt.[79] Jene Ausprägung eines Mehrebenensystems ist von einem "Geflecht von sich überschneidenden Zuständigkeiten, von Koordinations- und Absprachemustern sowie von formellen und informellen Mitsprachebefugnissen [...]"[80] gekennzeichnet.[81]

 

Dieses Prinzip ist rechtlich im Grundgesetz (GG) verankert. Beispielhaft dafür sind die Artikel (Art.) 91a und 91b im GG, die eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in den Bereichen regionale Wirtschaftsstruktur, Agrarstruktur und Küstenschutz sowie Wissenschaft, Forschung und Lehre begründen.[82]

 

Charakteristisch für die Kooperation in Deutschland ist außerdem der Vollzugsföderalismus, im Zuge dessen Gesetze, die vom Bundestag verabschiedet wurden, durch die administrativen Organe der Länder umzusetzen sind. Der Gesetzesvollzug erfolgt in diesem Fall somit nicht durch die Behörden der Bundesebene.[83]

 

Im Gegensatz zum kooperativen Föderalismus sollen die Teilstaaten im Rahmen des Wettbewerbsföderalismus vordergründig um finanzielle Mittel und Einwohner konkurrieren.[84] Befürworter dieses Prinzips betrachten ein föderalistisches System wie einen Gütermarkt, in dem Angebot und Nachfrage für eine bessere Ressourcenverteilung und mehr Wohlstand in der Bevölkerung sorgen.[85]

 

Um dies zu erreichen, sind die Zuständigkeiten der politischen Ebenen klar abzugrenzen. Konträr zu einer Politikverflechtung wird im kompetitiven Föderalismusmodell demzufolge eine Entflechtung der Befugnisse angestrebt.[86] Darüber hinaus sollen Teilstaaten gemäß dem Subsidiaritätsprinzip möglichst eigenständig agieren.

 

Ein Wettbewerb kann etwa im Bereich der Steuergesetzgebung dazu führen, dass die einzelnen Gliedstaaten die Höhe der Ertragssteuern individuell festlegen und somit die Attraktivität des Standortes für Investitionen beeinflussen können.[87] Eine Beispiel für diese Steuerautonomie ist die Schweiz, wo zwischen den einzelnen Kantonen ein fiskalischer Wettbewerb stattfindet.[88]

 

Wie auch der Wettbewerbsföderalismus steht das Modell des dualen Föderalismus, welches vor allem im 19. Jahrhundert in den USA praktiziert wurde,[89] im Widerspruch zum kooperativen Föderalismus.

 

Die Entscheidungskompetenzen zwischen dem Gesamtstaat und den Teilstaaten sind in diesem Fall strikt getrennt. Da die beiden ebenbürtigen politischen Ebenen jeweils für mindestens einen Bereich verantwortlich sind, in dem sie autonom agieren, wird dieser Zustand als duale Souveränität bezeichnet.[90]

 

Diese Autonomie kann nicht von der jeweils anderen Ebene eingeschränkt werden.

 

Beispielhaft dafür war das politische System der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Aufgrund der Tatsache, dass Vertreter der antiföderalistischen Bewegung in den USA im 18. Jahrhundert großen Rückhalt in der Bevölkerung genossen, wurde die Verfassung im Jahr 1791 durch den 10. Zusatzartikel ergänzt, um eine Abschaffung des Föderalismus zu verhindern.[91]

 

Laut diesem Artikel sind die Bundesstaaten für sämtliche Bereiche zuständig, die nicht ausdrücklich per Verfassung der Bundesregierung zugewiesen worden sind.[92]

 

Infolgedessen war der duale Föderalismus bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das vorherrschende politische Konzept in den USA.

 

In den folgenden Jahrzehnten setzte sich dort jedoch der kooperative Föderalismus durch.[93] Während die Bundesstaaten zuvor versuchten, möglichst unabhängig politisch zu handeln, begannen sie spätestens mit den Reformen des New Deal, wirtschaftliche und soziale Probleme in Zusammenarbeit mit der Zentralregierung zu lösen.[94]

 

Die genannten Ausprägungen des Bundesstaatsprinzips machen deutlich, dass eine föderalistische Staatsstruktur auf eine vielfältige Art und Weise ausgestaltet werden kann.

 

Im anschließenden Kapitel gilt es, die Grundzüge der Bundesstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland darzustellen.

3 Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland

 

Der Föderalismus in Deutschland zählt neben der Demokratie, der Republik, dem Sozial- sowie dem Rechtsstaat[95] zu den wesentlichen Prinzipien der grundlegenden Staatsordnung und ist durch das Grundgesetz konstituiert. Um dessen Einfluss auf das deutsche Bildungssystem nachvollziehen zu können, sollen zunächst die wichtigsten verfassungsrechtlichen Artikel erläutert werden, die in direkter Verbindung mit der Bundesstaatlichkeit stehen.

3.1 Verfassungsrechtliche Basis des Bundesstaates

 

"[...] Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk."[96]

 

Bereits die Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland weist als einleitende Erklärung darauf hin, dass sich die Verfassung auf einen Bundesstaat bezieht, der sich aus 16 Teilstaaten zusammensetzt. Die tatsächliche Festlegung des föderalen Systems folgt im Art. 20 I GG, in dem die Bundesrepublik Deutschland als ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“[97] bezeichnet wird.

 

Zwar steht lediglich dem Zentralstaat völkerrechtliche Souveränität zu; allerdings übt jener nicht die Gesamtheit der Staatsgewalt aus. Diese geht originär von den Gliedstaaten aus, deren Befugnisse nicht einseitig durch den Bund beschränkt werden können.[98]

 

Die Kompetenzen der Bundesländer sind im Grundgesetz festgeschrieben und können nur geändert werden, wenn eine Zweidrittelmehrheit des Bundesrates dafür stimmt[99], welcher sich aus Mitgliedern der Länderregierungen zusammensetzt.[100]

 

Im Zusammenhang mit dem Bundesstaatsprinzip steht das Gebot der Bundestreue[101], das eingreift, sobald es zu einer Überschneidung von Kompetenzbereichen zwischen Bund und Ländern kommt. Daraus resultierende Streitfälle sind auf eine kooperative und respektvolle Art und Weise miteinander zu lösen.[102] Dies umfasst die gegenseitige Abstimmung zwischen den politischen Ebenen sowie die Gleichbehandlung der Länder durch den Bund.[103]

 

In Verbindung mit Art. 11 I GG bedingt das Gebot der Bundetreue, dass „alle Deutschen […] Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet [genießen]“[104]. Demgemäß haben die Teilstaaten sicherzustellen, dass deutsche Bürger ohne erhebliche Schwierigkeiten von einem Bundesland in ein anderes wechseln können.[105]

 

Durch die sog. Ewigkeitsklausel[106] im Art. 79 III GG werden die „Gliederung des Bundes in Länder“[107] sowie die legislativen Kompetenzen der Gliedstaaten als unveränderlich festgesetzt. Somit ist eine Änderung der Staatsform in einen Einheitsstaat ausgeschlossen.[108]

 

Zwar ist die Bundesstaatlichkeit an sich unantastbar; jedoch gibt es nach Art. 29 GG die Möglichkeit, die räumliche Größe oder Anzahl der Länder zu verändern.[109]

 

Ein Beispiel dafür war die Diskussion um die Fusion von Berlin und Brandenburg.[110]

 

Die durch die Ewigkeitsklausel festgesetzten Gesetzgebungsbefugnisse der Länder beinhalten neben der eigenständigen Verabschiedung von Gesetzen auch die Beteiligung am legislativen Prozess des Gesamtstaates sowie das Recht, den durch den Bund beschlossenen Gesetzen zu widersprechen.[111]

 

Das zuvor erläuterte Subsidiaritätsprinzip findet man zunächst im Art. 23 I GG in Bezug auf das Verhältnis zwischen Deutschland und der Europäischen Union (EU).[112]

 

Zudem wird auf subnationaler Ebene die Zuweisung einer größtmöglichen Eigenverantwortung an die Gemeinden im Art. 28 II GG geregelt, zu der auch die finanzielle Selbstbestimmung zählt.[113]

 

Auch die Beziehung zwischen Bund und Ländern ist der Subsidiarität unterworfen, da die Länder nach Art. 30 GG in aller Regel „grundsätzlich die Gesamtheit der staatlichen Tätigkeit in Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung“[114] ausüben.

 

Allerdings ist diese Regelung nachrangig und gilt nur, solange Kompetenzen nicht durch andere Vorschriften des Grundgesetzes explizit zugeordnet werden.[115]

 

Obgleich die Bundesländer laut Art. 28 I GG an das Homogenitätsgebot gebunden sind und sich dementsprechend an den Wahlgrundsätzen und der Verfassungsstruktur des Bundes nach Art. 20 GG orientieren müssen[116], verfügen sie über eine ausgeprägte Eigenstaatlichkeit.

 

Sie haben das Recht, ihre Verfassungen so zu gestalten, dass beispielsweise der Ministerpräsident per Direktwahl durch das Volk gewählt werden könnte.[117]

 

Hingegen würde die Umgestaltung der Herrschaftsordnung hin zu einer monarchischen Staatsform dem Gebot der Homogenität widersprechen,[118] sodass der Bund in diesem Fall gem. Art. 28 III GG in die Landesverfassung eingreifen bzw. mit Gegenmaßnahmen reagieren müsste.[119]

 

Im Sinne des Bundeszwanges nach Art. 37 GG darf der Bund auch einschreiten[120], „um das Land […] zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten.“[121] Zu diesen gehören neben der Einhaltung der Grundsätze des Art. 28 I GG auch die Verpflichtung zur Leistung gegenseitiger Rechts- und Amtshilfe[122] zwischen den Bundes- und Länderbehörden nach Art. 35 I GG.[123]

 

Des Weiteren ist Art. 31 GG, in dem die Vorrangigkeit des Bundesrechts gegenüber dem Landesrecht beschrieben wird[124], von entscheidender Bedeutung für das Bundesstaatsprinzip. Er kommt dann zum Tragen, wenn z.B. unterschiedliche rechtliche Konsequenzen bei einer Diskrepanz zwischen Bundes- und Landesrecht auftreten.[125]

 

In Verbindung mit dem Föderalismus steht auch der Art. 33 I GG[126], der die Gleichheit aller Deutschen unabhängig von der Landeszugehörigkeit hinsichtlich der Beziehung zwischen Staat und Bürger gewährleistet. So muss ein Staatsbürger in jedem Bundesland beispielsweise die Möglichkeit haben, Sozialleistungen vom Staat zu bekommen.[127]

 

Sollte es trotz des Gebots der Bundestreue sowie umfassender Regelungen im Grundgesetz zu einem Konflikt zwischen Bund und Ländern kommen, fällt die Aufgabe der Schlichtung in den Verantwortungsbereich des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 93 I Nr. 3 GG.[128]

 

Ein derartiger Streitfall kann beispielsweise entstehen, wenn Kompetenzen des Zentralstaates oder der Teilstaaten durch die jeweils andere Partei verletzt werden.

 

Im Anschluss an die Erfassung der zentralen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Bezug auf das Bundesstaatsprinzip soll dementsprechend die Abgrenzung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern thematisiert werden.

3.2 Verteilung der staatlichen Aufgaben zwischen Bund & Ländern

 

Die im Art. 30 GG festgeschriebene Subsidiarität regelt zwar die grundsätzliche Kompetenzverteilung im deutschen Bundesstaat; sie ist jedoch nachrangig gegenüber anderen Vorschriften des Grundgesetzes. Dieses teilt die Befugnisse sowohl nach einzelnen Sachgebieten (z.B. „Beziehungen zu Staaten außerhalb des Bundesgebiets“) als auch nach den Gewalten der Staatstheorie (Legislative, Exekutive und Judikative) auf.

 

Eine strikte Abgrenzung zwischen Bundes- und Länderkompetenzen ist dabei nicht immer möglich, weil einige Aufgabenbereiche von beiden Ebenen wahrgenommen werden. Auf Grundlage der Verfassung gilt der Bund insbesondere im Bereich der Legislative als dominierend gegenüber den Ländern. Dies soll im folgenden Unterkapitel näher untersucht werden.

3.2.1 Gesetzgebende Befugnisse

 

Im Art. 30 GG wird die Gesamtheit der staatlichen Befugnisse den Ländern zugewiesen. Darüber hinaus wird jene Vorschrift durch den Art. 70 I GG konkretisiert, welcher den Teilstaaten die grundsätzliche Gesetzgebungskompetenz verleiht.[129]

 

Beide Rechtsgrundlagen unterliegen jedoch der Nachrangigkeit und sind anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen untergeordnet.

 

Jene Unterordnung gilt zunächst gegenüber Rechtsnormen, die die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 71 GG berühren.[130] Laut Bundesverfassungsgericht betrifft Art. 71 GG die juristischen Bereiche, „wo nach der Natur des zu regelnden Gegenstandes bei seiner rechtlichen Ordnung regionale Verschiedenheiten grundsätzlich nicht geduldet werden können oder gar nicht denkbar sind“[131].

 

Nur mittels einer expliziten Ermächtigung durch ein Bundesgesetz können auch die Bundesländer befähigt werden, in diesem Bereich Gesetze zu erlassen.[132]

 

Die ausschließliche Gesetzgebung umfasst laut Art. 73 I GG u.a. das Währungswesen, die Regelung des Luftverkehrs, das Postwesen und die Telekommunikation sowie das Waffenrecht.[133] Ferner ergeben sich aus dem Grundgesetz weitere legislative Befugnisse, über die explizit der Bund verfügt, wie z.B. die Steuergesetzgebungskompetenz im Art. 105 I GG.[134]

 

Abgesehen von der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes nimmt auch die konkurrierende Gesetzgebung eine Vorrangstellung gegenüber der Grundregel der Länderzuständigkeit für die Legislative des Art. 70 GG ein.[135] Der die konkurrierende Gesetzgebung regelnde Art. 72 GG gliedert sich in drei Teilbereiche, die jeweils unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen erfordern.

 

Gemäß Absatz I steht den Ländern die legislative Kompetenz zu, „solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.“[136] Demzufolge muss der Bund keine zusätzlichen Voraussetzungen erfüllen, um Gesetze zu erlassen, sofern der Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nicht den Absätzen II und III des Art. 72 GG zugeordnet wird.

 

In diesem Fall besitzt der Gesamtstaat also die legislative Vollkompetenz analog zur ausschließlichen Gesetzgebung. Der Unterschied zu Art. 71 GG besteht darin, dass die Länder nicht erst ermächtigt werden müssen, Gesetze zu verabschieden, sondern dies eigenständig tun können, solange der Bund sein Recht nicht per Gesetz ausübt. [137] Falls letzteres geschieht, wird bestehendes Landesrecht laut Art. 31 GG außer Kraft gesetzt.

 

Die konkurrierende Gesetzgebung betrifft Rechtsgebiete, die u.a. im Art. 74 GG definiert sind. Dazu gehören beispielweise das bürgerliche Recht, das Strafrecht oder das Personenstandwesen,[138] die alle zu der Voll- bzw. Kernkompetenz des Bundes nach Art. 72 I GG zählen.

 

Daneben steht im Art. 71 II GG die Bedarfskompetenz,[139] die z.B. für das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht von Ausländern, die öffentliche Fürsorge entsprechend dem Sozialstaatsprinzip oder für die Regelung der Ausbildungsbeihilfen gilt.[140]

 

In diesen Bereichen kann der Bund Gesetze erlassen, sofern „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“[141]

 

Mit der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen, der Sicherung der Rechtseinheit sowie der Wahrung der Wirtschaftseinheit liegen drei Varianten vor, die gesondert zu analysieren sind.

 

Im ersten Fall kann der Bund nur dann Gesetze in den Bereichen der Art. 72 II GG (in Verbindung mit Art. 74 I GG) erlassen, wenn gravierende soziale Diskrepanzen zwischen den Bundesländern vorherrschen. Es reicht nicht aus, wenn lediglich regionale Unterschiede bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine Interpretation dieser Rechtsnorm die Kompetenzen der Länder weitgehend geschützt.[142]

 

So entschied es im Jahr 2005, dass eine bundesweite Abschaffung von Studiengebühren unzulässig ist. Dabei wurde begründet, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in jenem Fall nicht notwendig ist, selbst wenn „Unterschiede in der Erhebung von Studiengebühren zwischen den Ländern erhebliche Wanderungsbewegungen auslösen würden.“[143]

 

Unabhängig davon kann sich der Bund auf die Sicherung der Rechtseinheit berufen, um in diesem Zusammenhang die legislative Kompetenz des Art. 72 II GG zu erlangen.

 

Hiermit ist jedoch nicht gemeint, dass in jedem Land in allen Bereichen die gleichen Gesetze zu gelten haben, was in einem Bundesstaat kaum vorstellbar wäre.[144]

 

Die gesetzlichen Unterschiede zwischen den Teilstaaten erfüllen erst dann die notwendige Tatbestandsvoraussetzung, „wenn sie eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstelle[en], die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann.“[145]

 

Als letzte Variante der Vorschrift ist die Wahrung der Wirtschaftseinheit zu nennen, die nicht nur für die Gesamtwirtschaft, sondern auch für einzelne Wirtschaftsbereiche gilt. Beispielhaft dafür sind Gesetze, die die einheitliche Gestaltung der Berufsausbildung oder eine Vereinheitlichung der Filmförderung betreffen.[146]

 

In allen drei Varianten ist die zwingende Erforderlichkeit eines Eingriffs durch den Bund Voraussetzung für sein Handeln. Dabei muss die Notwendigkeit eines Bundesgesetzes zur Lösung der jeweiligen Problemstellungen erklärt werden, weil die Gesetzgebungskompetenz andernfalls den Ländern zusteht. [147]

 

Wenn die Notwendigkeit eines zentralstaatlichen Eingriffs im Sinne der Bedarfskompetenz nicht mehr gegeben ist, stellt Art. 72 IV GG als Ergänzung zum Art. 72 II GG sicher, dass die Länder per Bundesgesetz dazu ermächtigt werden können, eine Regelung auf Bundesebene durch eine landesrechtliche Vorschrift zu ersetzen.[148]

 

Davon kann z.B. Gebrauch gemacht werden, wenn mit Hilfe eines Bundesgesetzes gleichwertige Lebensverhältnisse in einem bestimmten Bereich hergestellt wurden und jenes Bundesgesetz nicht mehr für die Erhaltung des Zustands erforderlich ist, sodass es durch Landesgesetze ersetzt werden kann.[149]

 

Die Abweichungsgesetzgebung im Art. 72 III GG stellt neben der Vollkompetenz und der Bedarfskompetenz die dritte Kategorie der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz dar. Sie gilt für sieben Rechtsgebiete, von denen die ersten sechs zum Katalog des Art. 74 I GG gehören. Darunter fallen u.a. das Jagdwesen, die Bodenverteilung sowie die Raumordnung. Die Grundsteuer als siebtes Rechtsgebiet der Abweichungsgesetzgebung[150] wird mittels Art. 105 II S. 1 GG ebenfalls der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet.[151]

 

Falls der Bund in den sieben Bereichen Gesetze erlässt, haben die Länder nach Art. 72 III GG das Recht, abweichende Regelungen zu treffen.

 

Anders als bei den bisher genannten Ordnungsprinzipien der Legislative, bei denen sich die Zuständigkeiten des Bundes und der Länder für ein Rechtsgebiet gegenseitig ausschließen, können in der Abweichungsgesetzgebung Bundes- und Landesrecht parallel existieren.[152] So kann beispielweise das Land Niedersachsen eine Bundesvorschrift hinsichtlich des Jagdwesens akzeptieren, während sich Bayern diesbezüglich für eine eigene und abweichende Regelung entscheidet. Damit können für einen Regelungsgegenstand (Jagdwesen) Gesetze auf zwei verschiedenen Ebenen gelten.

 

Dementsprechend werden in diesem Zusammenhang die landesrechtlichen Vorschriften nicht dem Bundesrecht im Sinne des Art. 31 GG untergeordnet.[153] Stattdessen „geht im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vor.“[154]

 

Sowohl die verfassungsrechtlichen Vorschriften zur ausschließlichen als auch zur konkurrierenden Gesetzgebung regeln im Grundsatz endgültig die legislativen Kompetenzen des Bundes.

 

In dieser Hinsicht stellt die ungeschriebene Bundeszuständigkeit einen Sonderfall dar und wird nur dann berücksichtigt, wenn eine bundeseinheitliche Regelung als dringend notwendig angesehen wird.[155]

 

Daraus kann sich zum einen die Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhanges ergeben, die dem Bund die Regelung einer übergreifenden Rechtsmaterie erlaubt, welche sich nicht ausschließlich in dessen Kompetenzbereich befindet.[156]

 

So liegt die Zuständigkeit für das Parteienrecht gemäß Art. 21 V GG beim Bund[157] während den Ländern nach Art. 70 GG die sog. Rundfunkhoheit[158] zusteht.

 

Unter Berufung auf die ungeschriebene Bundeszuständigkeit hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Bund kraft Sachzusammenhanges zusätzlich Sendezeiten an politische Parteien im Rahmen eines Wahlkampfs zuteilen darf, was zu einer Einschränkung der Rundfunkhoheit der Länder führt.[159]

 

Eine zweite Fallgruppe von ungeschriebenen Kompetenzen des Bundes wird als Kompetenz kraft Natur der Sache bezeichnet. Auf diese kann sich der Gesamtstaat berufen, wenn der einen Rechtsgegenstand beschreibende Begriff eine Regelung durch das Bundesgesetz impliziert. Exemplarisch dafür ist die Gestaltung von Bundessymbolen wie der Nationalhymne oder der Bundesflagge.[160] Aus der Analyse der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung sowie den ungeschriebenen Bundeskompetenzen ergibt sich ein Übergewicht des Bundes gegenüber den Teilstaaten im Bereich der Legislative.

 

Zu den diesbezüglich verbliebenen ausschließlichen Landeskompetenzen, die aus Art. 70 I GG hervorgehen, zählen u.a. das Kulturrecht, das Polizei- und Ordnungsrecht, das Presserecht sowie das Schulrecht.[161]

 

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Abb. 2: Gesetzgebungsbefugnisse in Deutschland gemäß Grundgesetz

Quelle: Eigene Darstellung.

 

Im Anschluss an die Betrachtung der Gesetzgebungsbefugnisse stellt sich die Frage nach der Aufgabenverteilung im Hinblick auf Gesetzesvollzug und Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland.

3.2.2 Zuständigkeiten hinsichtlich der Exekutive

 

Der Ausgangspunkt der Zuweisung von Verwaltungskompetenzen ist Art. 83 GG, welcher – korrespondierend zum Art. 70 I GG im Bereich der Legislative – die Grundnorm für die Aufgabenverteilung im Bundesstaat nach Art. 30 GG präzisiert.

 

Jener Artikel ordnet einerseits die Verantwortlichkeit für die Exekutive im Grundsatz im Sinne einer Residualkompetenz[162] den Ländern zu; vorbehaltlich einer alternativen Bestimmung durch das Grundgesetz.[163] Dementsprechend stehen dem Bund ausschließlich die ihm explizit zugeteilten administrativen Kompetenzen zu.

 

Andererseits haben die Länder das Recht, die „Bundesgesetze als eigene Angelegenheit“[164] zu vollziehen. Sie handeln demnach eigenverantwortlich und müssen nicht der Direktive des Bundes folgen.[165]

 

Im Unterschied zur legislativen Staatsgewalt steht den Bundesländern de facto die Mehrheit der administrativen Befugnisse zu[166], sodass Art. 83 GG als die „Grundentscheidung der Verfassung für einen dezentralen Vollzug“[167] angesehen werden kann. Demzufolge ist der Bund auf die exekutiven Tätigkeiten der Länder angewiesen.

 

Während für die Ausführung der Landesgesetze eindeutig die Bundesländer verantwortlich sind[168], definiert das Grundgesetz für den Vollzug von Bundesgesetzen drei Möglichkeiten hinsichtlich der Kompetenzverteilung.

 

Zum einen bestimmen Art. 83 GG und Art. 84 GG die Landeseigenverwaltung, die als Regelfall gilt. Dabei richten die Länder für die Ausführung von Bundesgesetzen Behörden ein und sind für das Verwaltungsverfahren zuständig.[169]

 

Darüber hinaus regelt Art. 84 GG, in welchem Umfang der Bund auf die Landeseigenverwaltung einwirken darf. So kann er beispielsweise die Richtlinien zum Gesetzesvollzug im Rahmen des erlassenen Bundesgesetzes vorschreiben; allerdings haben die Länder das Recht, von einer derartigen Vorschrift abzuweichen, solange sie eine effiziente Ausführung der Gesetze sicherstellen.[170]

 

Nur in Ausnahmefällen kann der Bund das Abweichungsrecht der Länder ausschließen. Dafür sind sowohl das Vorliegen „eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung“[171] als auch die Zustimmung des Bundesrates notwendig.

 

Das Einverständnis der letztgenannten Institution ist auch dann erforderlich, wenn die Bundesregierung allgemeine Verwaltungsanweisungen vorschreiben will, um einen einheitlichen Gesetzesvollzug zu gewährleisten.[172] Ebenfalls sind Einzelweisungen zustimmungsbedürftig, in deren Zuge die Bundesregierung bestimmte administrative Maßnahmen anordnen oder verbieten will.[173]

 

Die Bundesregierung hat im Zusammenhang mit der Landeseigenverwaltung die Rechtsaufsicht über den Vollzug der Bundesgesetze durch die Länder. Dabei werden im Sinne einer kontrollierenden Maßnahme Beauftragte entsendet, die überprüfen, ob das geltende Recht eingehalten wird und allgemeine Verwaltungsvorschriften sowie die Einzelweisungen beachtet werden.[174]

 

Die zweite Möglichkeit für die Ausführung von Bundesgesetzen ist die Bundesauftragsverwaltung, die sich aus Art. 85 GG ergibt. In diesem Fall werden die Bundesländer vom Bund mit dem Gesetzesvollzug beauftragt.[175]

 

Die Bezeichnung ist an sich missverständlich, da es sich hierbei um eine Variante der Landesverwaltung handelt. Überdies stellt die Bundesauftragsverwaltung einen Ausnahmefall gegenüber dem Art. 84 GG dar und kommt nur dann zum Einsatz, wenn es bestimmte Normen des Verfassungsrechts eindeutig vorschreiben.[176] Derartige Normen regeln u.a. die Verwaltung von Bundesstraßen, des Luftverkehrs oder der Bundeswasserstraßen.[177]

 

Das wesentliche Charakteristikum der Bundesauftragsverwaltung ist der Einfluss des Bundes (sog. Ingerenzrechte) auf den Gesetzesvollzug, der stärker ist als im Falle der Landeseigenverwaltung.[178]

 

So kann die Bundesregierung mit der Zustimmung des Bundesrates auf die – im Regelfall den Ländern zustehende – Organisationsgewalt zugreifen, um beispielsweise eigenständig Vollzugsbehörden einzurichten.[179]

 

Des Weiteren hat der Bund die Möglichkeit, die administrativen Tätigkeiten durch allgemeine Verwaltungsanweisungen zu steuern und kann darüber hinaus auch bei Personalentscheidungen mitwirken, indem er Beamte und Angestellte speziell für den Vollzug von Bundesgesetzen einheitlich ausbildet.[180]

 

Die dem Bund im Art. 84 III GG zugebilligte Rechtsaufsicht über die Exekutive gilt auch im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung und wird zudem mit der Aufsicht über die Zweckmäßigkeit des Vollzugs erweitert.

 

Die letztgenannte Aufsichtsart wird ferner durch das Weisungsrecht der Bundesbehörden ergänzt, sodass man diesbezüglich von einer Fachaufsicht des Bundes spricht.[181]

 

Mit der Befugnis, Weisungen in Bezug auf einen konkreten Sachverhalt zu erteilen, gewährt die Verfassung dem Bund die Sachkompetenz im Bereich der Bundesauftragsverwaltung. Die Weisungen müssen verfassungskonform, bestimmt und klar sein und dem Grundsatz der Bundestreue entsprechen. Sie können sich sowohl auf das Verwaltungsverfahren als auch auf administrative Entscheidungen beziehen und werden von der obersten Bundesbehörde an die oberste Landesbehörde erteilt.[182]

 

Mit Hilfe des Weisungsrechts sollen Konflikte zwischen den politischen Ebenen hinsichtlich der Ausführung der Gesetze möglichst effektiv gelöst werden.[183] Im Übrigen steht den Ländern in Bezug auf die Vorschriften des Art. 85 GG anders als bei der Landeseigenverwaltung kein Abweichungsrecht zu.

 

Schließlich begründet Art. 86 GG die dritte Möglichkeit des Vollzugs von Bundesgesetzen und erlaubt dem Bund im Sinne der bundeseigenen Verwaltung, die Gesetze eigenständig auszuführen.

 

In der Konsequenz werden die Länder vom Vollzug ausgeschlossen. Genauso wie im Falle der Bundesauftragsauftragsverwaltung kommt es erst dann zur Anwendung der bundeseigenen Verwaltung, wenn Artikel des Grundgesetzes dies explizit vorschreiben.[184] Entsprechende Vorschriften verpflichten den Bund zum selbstständigen Vollzug beispielsweise im Hinblick auf den Auswärtigen Dienst, die Bundesfinanzverwaltung oder die Aufstellung von Streitkräften.[185]

 

Für die Organisation der bundeseigenen Verwaltung gibt es unterschiedliche Einrichtungsformen.

 

Als oberste Bundesbehörde in der Hierarchie der Exekutive gelten die Bundesministerien, in deren Zuständigkeit die Verwaltungsaufgabe fällt. Die Tätigkeit der Bundesminister sowohl als Leiter von Verwaltungsressorts als auch als Mitglieder des Bundeskabinetts ergibt, dass Verwaltung und Regierung miteinander verknüpft werden.[186]

 

Im Sinne der unmittelbaren Bundesverwaltung steuern und beaufsichtigen die Ministerien untergeordnete und rechtsunfähige Bundesoberbehörden und Zentralstellen, die ohne die Unterstützung der Landesverwaltung agieren und in Ausnahmefällen über einen eigenen Verwaltungsunterbau verfügen.

 

Dagegen spricht man von einer mittelbaren Bundesverwaltung, wenn juristische und mit Rechtsfähigkeit ausgestattete Personen des öffentlichen Rechts die Gesetze unter der Aufsicht des Bundes vollziehen.[187]

 

Sowohl für die mittelbare als auch für die unmittelbare Bundesverwaltung kann die Bundesregierung analog zu den Vollzugsformen nach Art. 84 GG und Art. 85 GG allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. Unter Vorbehalt anderer Grundgesetznormen[188] ist der Bund in beiden Varianten für die Einrichtung von Behörden verantwortlich.[189]

 

Ergänzend soll darauf hingewiesen werden, dass im Bereich des Vollzugs von Bundesgesetzen ähnlich wie bei der Legislative ungeschriebene Verwaltungskompetenzen des Bundes in Ausnahmefällen existieren. So kann die Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhanges beispielsweise „für Hilfstätigkeiten und untergeordnete Nebenzwecke“[190] vorliegen.

 

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Abb. 3: Verteilung der exekutiven Kompetenzen in der Bundesrepublik Deutschland

Quelle: Eigene Darstellung.

 

Neben der Gesetzgebung und der Exekutive stellt die Rechtsprechung einen weiteren Bestandteil der dreigliedrigen Gewaltenteilung dar. Ebenso wie die anderen Staatsgewalten unterliegt auch die Judikative in Deutschland der Aufteilung zwischen Bund und Ländern.

3.2.3 Kompetenzverteilung in der Rechtsprechung

 

In der Bundesrepublik Deutschland steht die rechtsprechende Gewalt ausschließlich unabhängigen Richtern zu, die sich nur vor dem Gesetz zu verantworten haben.[191]

 

Vergleichbar mit den Abschnitten zur Gesetzgebung und zum Gesetzesvollzug, wird auch der judikative Bestandteil des Grundgesetzes mit einem lex specialis zum Art. 30 GG eingeleitet.[192]

 

So legt Art. 92 GG fest, dass sowohl der Bund als auch die Länder für die Errichtung von Gerichten und für deren personelle Besetzung zuständig sind.[193]

 

Diese Aufgaben erfüllt der Bund in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht, die obersten Gerichtshöfe in den Gebieten der fünf Fachgerichtsbarkeiten des Art. 95 I GG sowie die Organisation der Gerichte nach den Vorschriften des Art. 96 GG.[194]

 

Die übrigen Gerichte werden von den Bundesländern errichtet und besetzt. Dementsprechend ist die Mehrheit der Gerichte auf Länderebene vertreten.[195]

 

Zu den fünf Fachgerichtsbarkeiten gehört zunächst die ordentliche Gerichtsbarkeit, die für Zivil- und Strafangelegenheiten verantwortlich ist.[196]

 

Wie auch alle anderen Gerichtsbarkeiten ist sie durch den möglichen Rechtszug durch die verschiedenen Revisionsinstanzen gekennzeichnet.[197]

 

Auf Bundesebene stellt der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die letzte Instanz zu den sog. bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten der ordentlichen Gerichtsbarkeit dar. Die Urteile der unteren Instanzen werden hingegen auf Länderebene in den Amtsgerichten, den Landgerichten und den Oberlandesgerichten gefällt.[198]

 

Für öffentlich-rechtliche und nicht die Verfassung betreffende Streitfälle ist die aus drei Instanzen bestehende Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig. Den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten folgt als letzte Instanz das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.[199]

 

Der dritte Zweig der deutschen Gerichtsbarkeit ist gemäß Art. 95 I GG die Finanzgerichtsbarkeit, die für Steuerangelegenheiten verantwortlich ist. Ihre zweistufige Organisation der Instanzen umfasst die Finanzgerichte sowie den Bundesfinanzhof mit Sitz in München.[200]

 

Daneben gibt es noch die Arbeitsgerichtsbarkeit für Rechtsstreitigkeiten hinsichtlich des Arbeitsrechts sowie die Sozialgerichtsbarkeit, in deren Rahmen sozialrechtliche Konflikte gelöst werden. Diese beiden Gerichtsbarkeiten sind dreistufig aufgebaut.

 

Auf Länderebene entsprechen die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte den ersten beiden Instanzen im Hinblick auf die Arbeitsgerichtsbarkeit. Äquivalent dazu sind die Sozial- und Landessozialgerichte im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit. Die letzten Revisionsinstanzen – das Bundesarbeitsbericht in Erfurt sowie das Bundessozialgericht in Kassel – finden jeweils auf Bundesebene statt.[201]

 

Zu der Gerichtsbarkeit des Bundes zählt außerdem gemäß Art. 94 GG das Bundesverfassungsgericht, welches zu der Verfassungsgerichtsbarkeit gehört.

 

Diese unterscheidet sich von den fünf oben dargestellten Zweigen der Fachgerichtsbarkeit dadurch, dass sie keinen Instanzenzug aufweist.

 

Darüber hinaus steht das Bundesverfassungsgericht über allen anderen Gerichtszweigen und kontrolliert, ob politische Subjekte wie Parlamente oder Regierungen Entscheidungen und Gesetze im Einklang mit dem Grundgesetz treffen und erlassen.

 

Zusätzlich regelt es Konflikte zwischen den verschiedenen Bundesorganen und überprüft mögliche Verstöße gegen das Grundgesetz im Rahmen des Bund-Länder-Streits.

 

Neben dem Bundestag, dem Bundesrat, dem Bundespräsident und der Bundesregierung ist das Bundesverfassungsgericht ein eigenverantwortliches und unabhängiges Verfassungsorgan auf Bundesebene.

 

In den Bundesländern sind die Landesverfassungsgerichte als Teil der Verfassungsgerichtsgerichtsbarkeit für Streitfälle hinsichtlich der jeweiligen Landesverfassungen zuständig. Sie sind keine Vorinstanz des Bundesverfassungsgerichtes.[202]

 

Schließlich verfügt der Bund neben der Zuständigkeit für die Errichtung und Organisation der obersten Gerichtshöfe über die Möglichkeit, Gerichte für besondere Sachgebiete und Angelegenheiten zu errichten und zu besetzen. Dazu zählen beispielsweise die auf Patent- und Urheberrecht spezialisierte Bundesgerichte oder die Wehrstrafgerichte für Streitkräfte.[203]

 

Damit sind die Befugnisse des Zentralstaats und der Gliedstaaten in Bezug auf die Judikative weitgehend geklärt; jedoch beschränkt sich die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nicht nur auf die drei Staatsgewalten. Auch die außenpolitischen Verantwortlichkeiten sind im Grundgesetz definiert.

 

 

Abb. 4: Gerichtsorganisation in Deutschland

Quelle: Eigene Darstellung.

3.2.4 Befugnisse im Bereich der Auswärtigen Politik

 

Im Art. 32 I GG wird die umfangreiche Kompetenz der Aufrechterhaltung auswärtiger Beziehungen dem Bund zugewiesen.[204]

 

Gemäß dem völkerrechtlichen Verständnis der Staatssouveränität tritt die Bundesrepublik Deutschland als eine Einheit gegenüber anderen Staaten auf, um „wirksam Einfluss auf die Entwicklung und Gestaltung internationaler Beziehungen“[205] zu nehmen.

 

Der Gesamtstaat ist im Wesentlichen für den Abschluss völkerrechtlich bindender Verträge verantwortlich.[206]

 

Die daraus resultierende Einschränkung der Befugnisse der Teilstaaten auf internationaler Ebene ist daran ersichtlich, dass die Bundesstaaten über keine eigenen Außen- oder Verteidigungsminister verfügen.[207]

 

Allerdings ist der Bund zu einer Anhörung eines Gliedstaates verpflichtet, falls eine völkerrechtliche Vereinbarung die besonderen Merkmale dieses Bundeslandes – beispielsweise das Territorium[208] – tangiert.[209]

 

Die Bundesländer haben gemäß Art. 32 III GG die Möglichkeit, eingeschränkt Verträge mit anderen Staaten zu schließen und besitzen dementsprechend eine sog. „partielle Völkerrechtssubjektivität“[210]. Dies setzt jedoch stets das Einverständnis der Bundesregierung voraus.[211]

 

Außerdem muss sich der Vertragsgegenstand im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz des Bundeslandes befinden; beispielsweise im Bereich des Schulwesens oder des Sports.[212]

 

Die Verfolgung einer eigenständigen Außenpolitik durch die Länder ist damit ausgeschlossen und das einheitliche außenpolitische Auftreten Deutschlands sowie die Souveränität des Gesamtstaats werden nicht durch den Art. 32 III GG in Frage gestellt.

 

Neben der Schließung internationaler Verträge hat der Bund nach Art. 24 I GG auch das Recht, „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen [zu] übertragen“[213].

 

Anwendungsbezogen erlaubt diese Vorschrift dem Zentralstaat, Befugnisse wie beispielsweise die Gesetzgebungshoheit (Verabschiedung und Durchsetzung von Gesetzen), die Wehrhoheit (Landesverteidigung) oder die Finanzhoheit (Erhebung von Steuern) an internationale Organisationen abzutreten.[214]

 

Eine derartige Institution mit supranationalen Entscheidungskompetenzen stellt die Europäische Union dar.

 

Ferner regelt der Art. 24 II GG, dass der Bund die Einordnung Deutschlands in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit […] zur Wahrung des Friedens [und für die Sicherung] eine[r] friedliche[n] und dauerhafte[n] Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt“[215] beschließen kann.

 

Dadurch wird zum Beispiel der Beitritt zu den Vereinten Nationen rechtskräftig bestätigt, um potenzielle militärischen Auseinandersetzungen innerhalb des Sicherheitssystems zu verhindern oder externen Angriffen gemeinsam entgegenzutreten. Dazu gehört auch die Bereitstellung von Militäreinheiten zum Zwecke der Verteidigung.[216]

 

Mit der Neukonzipierung und dem Inkrafttreten des Art. 23 GG („Europa-Artikel“) im Zuge der Gründung der EU durch den Vertrag von Maastricht im Jahr 1993 wurde die Handlungskompetenz des Bundes hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 I GG begrenzt.[217]

 

So kann die Delegation von Hoheitsrechten grundsätzlich nicht ohne eine mehrheitliche Zustimmung des Bundesrates erfolgen.

 

Sollte eine Änderung des Primärrechts der EU beabsichtigt sein, die eine Änderung des Grundgesetzes nach sich ziehen würde, ist die Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit des Bundesrates notwendig.[218]

 

Die Bundesländer haben dadurch eine indirekte Kompetenz bei Fragen im auswärtigen Bereich.

 

Ihre Mitwirkung an politischen Prozessen, welche über die Grenzen der Gliedstaaten hinausgehen, ist jedoch nicht auf das Mitspracherecht auf europäischer Ebene beschränkt. Im nachfolgenden Kapitel wird ein Verfassungsorgan näher untersucht, über das die Länder an der Willensbildung des Bundes beteiligt werden.

3.3 Der Bundesrat als zentrales Organ des föderalen Systems

 

Zahlreiche Bundestaaten, wie z.B. das Vereinigte Königreich oder die Schweiz, sind durch den Bikameralismus gekennzeichnet. In diesem System besteht das Parlament aus zwei Kammern, die beide für den Gesetzgebungsprozess zuständig sind.[219]

 

Das politische System der Bundesrepublik Deutschland weist jedoch keine Aufteilung des Parlaments auf, sondern ordnet die legislative Gewalt zwei eigenständigen Verfassungsorganen – dem Bundestag und dem Bundesrat – zu, sodass einige Politikwissenschaftler die Charakterisierung des Bundesrates als eine Form der Zweiten Kammer ablehnen.[220]

 

Im nächsten Abschnitt sollen die wichtigsten Aufgaben des Bundesrates, der als Ausdruck des Föderalismus in Deutschland gilt, aufgezeigt werden.

3.3.1 Funktionen des Bundesrates

 

Die Grundlage für die Befugnisse des Bundesrates (auch als Ländervertretung bezeichnet) ist das Grundgesetz.

 

Ferner wird explizit darauf hingewiesen, dass es sich beim Bundesrat nicht um ein Organ auf Länderebene, sondern um ein Oberstes Bundesorgan handelt.[221]

 

Gemäß Art. 50 GG ist der Bundesrat eine Institution, die den Ländern Mitwirkungsrechte auf Bundesebene gewährt. Diese beziehen sich auf die in anderen Grundgesetznormen festgelegten Bereiche der Legislative, der Exekutive sowie der Europapolitik.[222]

3.3.1.1 Legislative Funktionen

 

Im Bereich der Gesetzgebung besitzt der Bundesrat schwerpunktmäßig vier Hauptkompetenzen, welche in den Artikeln 76 und 77 des Grundgesetzes geregelt sind.[223]

 

Zunächst verfügt er gemäß Art. 76 I GG über die Möglichkeit des Initiativrechts, das ihm erlaubt, Gesetzesvorlagen beim Bundestag einzubringen. Dabei wird eine Gesetzesvorlage zunächst der Bundesregierung zugeleitet, die dazu Stellung nehmen muss, bevor eine Weiterleitung des Entwurfs an den Bundestag erfolgt.[224]

 

Im Anschluss an die Ausübung des Initiativrechts durch den Bundesrat muss sich das Plenum des Bundestages mit dem Gesetzentwurf befassen und schließlich entscheiden, ob das Gesetz verabschiedet oder die Gesetzesvorlage abgelehnt wird.[225]

 

Im Übrigen können auch die Bundesregierung und der Bundestag jeweils von ihrem Initiativrecht Gebrauch machen.[226]

 

Die zweite Mitwirkungsmöglichkeit des Bundesrates an der Gesetzgebung ist die Stellungnahme, die es ihm erlaubt, Gesetzentwürfe der Bundesregierung zu prüfen und diese zu kommentieren.

 

Der Bundesrat kann eine Korrektur des Entwurfs empfehlen oder ihn auch in vollem Umfang ablehnen; allerdings besitzen die Anmerkungen des Bundesrates in diesem Fall keine rechtliche Bindungswirkung.[227]

 

Nach der Stellungnahme wird die Gesetzesvorlage beim Bundestag eingebracht.

 

Zusätzlich zum Initiativrecht und der Möglichkeit der Stellungnahme, die beide zum sog. ersten Durchgang des Gesetzgebungsverfahrens gehören, ist der Bundesrat mit zwei weiteren Mitwirkungsinstrumenten im Hinblick auf die Legislative ausgestattet.[228]

 

Diese werden Einspruch und Zustimmung genannt. Um die beiden Mitwirkungsrechte zu erörtern, bedarf es vorab einer Erläuterung des Gesetzgebungsverfahrens sowie der Differenzierung zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen.

 

Sobald ein Gesetzentwurf durch die Regierung an den Bundestag weitergeleitet wurde, wird er dort im Rahmen des Hauptverfahrens in drei Lesungen diskutiert.[229]

 

Im Anschluss an die Beratungen und mögliche Änderungsanträge können die Bundestagsabgeordneten das Gesetz mit einer einfachen Mehrheit verabschieden.[230]

 

Daraufhin folgt der zweite Durchgang, im Zuge dessen das vom Bundestag beschlossene Gesetz an den Bundesrat übermittelt wird.[231]

 

Falls dieser mit dem Gesetzesbeschluss nicht einverstanden ist, hat er in erster Linie das Recht, mit absoluter Mehrheit der Stimmen einen Vermittlungsausschuss anzurufen.

 

In dieses Gremium werden jeweils 16 Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates entsandt, die den Auftrag haben, über die Gesetzesvorlage zu beraten und einen Einigungsvorschlag vorzulegen.[232]

 

Wenn der ausgearbeitete Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses vom ursprünglichen Gesetzesvorschlag abweicht, muss der Bundestag über den Vorschlag diskutieren und anschließend darüber abstimmen.

 

Falls die Mehrheit des Parlaments für die Empfehlung des Vermittlungsausschusses stimmt, wird der ursprüngliche Gesetzesentwurf entweder komplett aufgehoben oder geändert erneut an den Bundesrat weitergeleitet. Bei einer Ablehnung des Einigungsvorschlags durch den Bundestag, wird dessen ursprüngliche Form ebenfalls dem Bundesrat zugeleitet.[233]

 

Die sich anschließende Vorgehensweise der Ländervertretung ist davon abhängig, ob es sich bei dem Gesetzesbeschluss um ein Zustimmungsgesetz handelt. Das Inkrafttreten solcher Gesetze erfolgt nur dann, wenn der Bundesrat mit einer Mehrheit der Stimmen abschließend zustimmt.

 

Das Erfordernis einer Zustimmung regeln explizit die einzelnen Normen des Grundgesetzes, welche sich drei Gruppen zuordnen lassen.[234]

 

Zum einen sind das Gesetze, aus denen eine Änderung des Grundgesetzes folgt. Jene müssen nach Art. 79 II GG mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundesrates gebilligt werden.[235]

 

Die zweite Gruppe umfasst Bundesgesetze, die Folgen für die Finanzen der Länder haben.[236] Dies gilt beispielsweise, wenn die Steuereinnahmen der Teilstaaten nach Art. 105 III GG betroffen sind.[237]

Zuletzt wird die Zustimmung des Bundesrates auch dann benötigt, wenn die Abweichungsmöglichkeit der Länder von Vorschriften zu einem Verwaltungsverfahren im Sinne der Landeseigenverwaltung durch ein Bundesgesetz ausgeschlossen wird.[238] Näheres dazu im Kapitel 3.2.2.

 

Falls ein zustimmungsbedürftiges Gesetz schlussendlich vom Bundesrat abgelehnt wird, ist es gescheitert.

 

Gesetze, die nicht durch die Verfassung als ausdrücklich zustimmungsbedürftig bestimmt sind, werden als Einspruchsgesetze bezeichnet.

 

Sie durchlaufen das gleiche Verfahren wie Zustimmungsgesetze; allerdings mit dem Unterschied, dass sie nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen.[239]

 

Stattdessen hat der Bundesrat die Möglichkeit, mit der Mehrheit seiner Stimmen Einspruch gegen das Gesetz einzulegen, wenn er die Einberufung des Vermittlungsausschusses bereits in Anspruch genommen hat.

 

Der Einspruch wirkt sich jedoch nur aufschiebend auf den Gesetzesbeschluss aus und stellt folglich „kein echtes Vetorecht“[240] dar.[241] Denn der Bundestag kann den Einspruch des Bundesrates gemäß Art. 77 IV GG mit einer absoluten Mehrheit zurückweisen.

 

Falls mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Bundesrates für den Einspruch gestimmt haben, muss die Zurückweisung durch den Bundestag ebenfalls mit einer Zweidrittelmehrheit erfolgen und zugleich mindestens von der Mehrheit aller Bundestagsmitglieder getragen werden.[242]

 

Im Ergebnis führt eine erfolgreiche Zurückweisung des Einspruchs dazu, dass das Gesetz zustande kommt.

 

Hinsichtlich der Gesetzgebung nimmt der Bundesrat zusätzlich zu den genannten Funktionen in Ausnahmefällen noch weitere Aufgaben wahr.

 

Zu den entsprechenden Sonderfällen zählen die Situation eines Gesetzgebungsnotstandes[243] oder der rechtliche Status eines Verteidigungsfalls.[244]

 

Exekutive Funktionen

 

Im Bereich der Verwaltung übt der Bundesrat seine Befugnisse regelmäßig aus. Dies gilt insbesondere für Rechtsverordnungen, die ebenso wie Gesetze zu den Rechtsnormen gehören. Sie sind jedoch den Gesetzen untergeordnet, sodass bei widersprüchlichen Regelungen der Gesetzestext Vorrang hat.

Final del extracto de 109 páginas

Detalles

Título
Sollte der deutsche Bildungsföderalismus abgeschafft werden? Das Bundesstaatsprinzip und seine Folgen
Autor
Año
2021
Páginas
109
No. de catálogo
V1012118
ISBN (Ebook)
9783964873415
ISBN (Libro)
9783964873422
Idioma
Alemán
Palabras clave
Föderalismus, Bildungswesen, Bildungspolitik, Bildungsdebatte, Schulsystem, Bundesstaatsprinzip, Deutschland, Dezentralisierung, Regionalismus, Nationaler Bildungsrat, Subsidiaritätsprinzip, Ewigkeitsklausel, PISA-Studie
Citar trabajo
Roman Shatokhin (Autor), 2021, Sollte der deutsche Bildungsföderalismus abgeschafft werden? Das Bundesstaatsprinzip und seine Folgen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1012118

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