Die Geschichte der Deutschen Rechtschreibung nach 1994


Tesis, 2002

54 Páginas, Calificación: sehr gut (1)


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Die neue Rechtschreibung – im Kreuzfeuer der Diskussionen
I.1. Rechtschreibreform als Sache der Rechtsprechung
I.2. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz und die Wiener Absichtserklärung
I.3. Die Frankfurter und die Dresdner Erklärung
I.4. Konstituierung der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung
I.5. Erster Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung und die Mannheimer Anhörung. Zweiter Bericht der Kommission
I.6. Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts
I.7. Volksentscheid in Schleswig-Holstein – Sonderweg bei Rechtschreibreform
I.8. Rechtschreibkrieg der Wörterbuchverlage
I.9. Umstellung der Agenturen auf neue Rechtschreibung
I.10. Rechtschreibdebatte neu entfacht
I.11. Rückkehr der FAZ zur alten Rechtschreibung
I.12. Befürworter der Reform unter Druck. Münchner Appell
I.13. Konstituierung des Beirats für deutsche Rechtschreibung und dritter Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung

II. Inhaltliche Bemängelung der Reform

III. Chronik der wichtigsten Etappen der Rechtschreibreform nach den 3. Wiener Gesprächen

IV. Die Auflagen des Rechtschreib-Duden von 1880 bis 2000 Nachwort

Literaturverzeichnis

Weiterführende Literatur

Anhang 1: Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung

Anhang 2: Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform

Anhang 3: Kerstin Güthert / Klaus Heller: Das Märchen von tausendundeiner Differenz

Anhang 4: »Immer wieder falsche Beispiele«

Vorwort

Die Rechtschreibreform – kaum ein anderes Thema hat die Gemüter in Fachkreisen und der breiteren Öffentlichkeit in letzter Zeit dermaßen bewegt. Die vorliegende Arbeit will anhand von knapp 200 authentischen Quellen (vor allem von Zeitungsartikeln, offiziellen Erklärungen usw.) der Frage nachgehen, warum die Rechtschreibreform so ungünstig aufgenommen wurde.

Vor Jahren wusste ich von der Rechtschreibreform nur so viel, dass sie die ß -Schrei­bung abschafft. Dass das nicht ganz den Tatsachen entspricht, erfuhr ich erst später, als ich an der Hochschule in Eger (Ungarn) die Möglichkeit bekam, ein Seminar über die neue Rechtschreibung abzuhalten. Mit viel Elan ging ich an die Arbeit heran, mehrere Semester lang befasste ich mich (und tue es auch heute noch) mit den Inhalten der Reform und ich war sofort ein Befürworter der neuen Regeln, die tatsächlich die angekündigte Einheitlich­keit in das Schriftdeutsch zu bringen schienen – ihre Tücken blieben mir im Verborgenen. Umso mehr ärgerte es mich, dass so viel Aufhebens von der Rechtschreibreform gemacht wird. Dass sie sogar Menschenrechte berühren würde, fand ich schon maßlos übertrieben. Aber die Rechtschreibreform wurde nicht von der Tagesordnung abgesetzt. Bekannte Schriftsteller, namhafte Professoren übten vernichtende Kritik an dem ihrer Meinung nach fehlgeschlagenen Regelwerk. Da muss doch etwas dran sein! Die Themenwahl meiner Diplomarbeit lag so auf der Hand: Die neue Rechtschreibung von 1995 bis April 2002. Diese Arbeit will all denjenigen, die sich schon einmal mit der Neuregelung auseinander gesetzt oder Näheres davon gehört haben, die Rechtschreibre­form von einer größtenteils aus den deutschsprachigen Medien bekannten Seite vorstel­len und zu einem objektiveren Urteil über die Reform bewegen.

I. Die neue Rechtschreibung – im Kreuzfeuer der Diskussionen

I.1. Rechtschreibreform als Sache der Rechtsprechung

Noch bevor das neue Regelwerk 1996 unterschrieben wurde (s. I.2.), erfuhr die Öffentlichkeit über die Inhalte der bei den 3. Wiener Gesprächen beschlossenen Reform in einer Extra­ausgabe des Sprachreport (Institut für Deutsche Sprache) und in den Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung (Dudenverlag). Bald darauf erschien ein Aufsatz des Jenaer Doktoranden Wolfgang Kopke, der sich auf Anregung von Rolf Gröschner, Staatsrechtler und Rechtsphilosoph von der Universität Jena, inzwischen bester Kenner der Materie in rechtswissenschaftlicher Sicht, der juristischen Grundlagen der Rechtschreibre­form angenommen – und keine gefunden hatte. Erst seine Arbeit habe „die Grundlagen für jede, auch zukünftige Rechtschreibreform“[1] gelegt, so Gröschner. Nämlich sei die Durchführung der Reform auf dem Erlasswege ohne Zustimmung der Parlamente verfas­sungswidrig – bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes am 14. Juli 1998 (s. I.6.) ein wichtiges Gegenargument der Reformkritiker. Nach der Ansicht von Gröschner dürften nämlich die wesentlichen juristischen Entscheidungen nicht per Erlass von den Regierun­gen der Länder, sondern von den Parlamenten verabschiedet werden[2]. Außerdem ändere sich durch neue Schreibweisen auch der Text der Grundgesetzes, ohne dass der Gesetzge­ber gefragt worden sei. Als er 1996 eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfas­sungsgericht einreichte, scheiterte diese, weil Gröschner nach Ansicht der Richter von der Reform nicht selbst betroffen sei. Der Gründungsdekan der juristischen Fakultät Passau, Michael Kobler ging noch weiter, als er sagte, dass durch die Reform das Erziehungsrecht der Eltern und das Persönlichkeits­recht der Schüler eingeschränkt würden. „Jeder Schüler, der nun Probleme mit den neuen Regeln hat, könne von seinen Eltern einge­klagt werden“[3] – tatsächlich kam es später zu Dutzenden von Prozessen, die von Eltern eingeleitet wurden. Verfassungsrechtlich bedenklich sei die Rechtschreibreform laut Gröschner auch aufgrund der Beteiligung von Mitarbeitern der Dudenredaktion in der für die Reform verantwortlichen Kommission. Schon der Beschluss der Kultusministerkonfe­renz 1955, den Duden praktisch mit Regelungsgewalt auszustatten, war verfassungswidrig. Dazu hätte es eines Gesetzes bedurft. Ganz unschuldig an der Juristenschelte war der Mannheimer Dudenverlag auch nach Meinung von Wolfgang Sauer, Sprachwissen­schaftler an der Universität Hannover, nicht. Der Duden habe sich immer mit der Aura der Amtlichkeit umgeben.[4]

I.2. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz und die Wiener Absichtserklärung

Nach Österreich und der Schweiz einigten sich am 1. Dezember 1995 auch die Kultusminister Deutschlands bei ihrer Konferenz in Mainz auf die Rechtschreibreform. Verzichtet wurde aber auf die umstrittene Eindeutschung von Fremdwörtern wie Katastro­phe oder Alphabet. Die Neuregelung sollte am 1. August 1998 in Kraft treten. Die Über­gangsfrist, in der die alte Schreibweise zwar als überholt, aber nicht als falsch gilt, dauert bis 31. Juli 2005, so dass keine Schulbücher wegen der Reform neu gedruckt werden müssen. Nachdem die Öffentlichkeit von dem Beschluss erfuhr, hagelte es Kritik von allen Seiten. Helmut Glück, Sprachwissenschaftler an der Universität Bamberg, erklärte in einem Welt -Artikel für das späte Aufwachen vieler Sprachwissenschaftler, dass sie sich mit ihrer Kritik nur deshalb so lange zurückgehalten haben, weil sie sich einen anderen Ausgang erhofft hatten. Sie wollten, dass der Duden-Redaktion das Monopol auf die Entscheidung über rechtschreibliche Zweifelsfälle und Neuerungen entzogen wird, das sie seit Jahren genoss. Denn der Duden habe den orthographischen Regelapparat 90 Jahre lang unübersichtlich und widersprüchlich gemacht. Statt dessen sollte einerseits eine wissen­schaftliche Kommission ins Leben gerufen werden, die die Entwicklung der Sprache analysierend verfolgt und ab und zu Vorschläge für rechtschreibliche Veränderungen macht. Andererseits wäre ein Gremium notwendig, das Entscheidungen über solche Vorschläge trifft. Über die Änderungen müssten Schriftsteller, Journalisten, Wissen­schaftler und Politiker, die Kreativität und Kompetenz im Umgang mit der Sprache bewiesen haben, entscheiden.[5]

Am 1. Juli 1996 unterzeichneten die offiziellen Vertreter Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie fünf weiterer Staaten, in denen Deutsch Amts- oder Minderheiten­sprache ist (Liechtenstein, Belgien, Italien, Rumänien, Ungarn) die Neuregelung in der „Wiener Absichtserklärung“ (s. Anhang 1). Außerdem wurde über die Einrichtung einer Kommission entschieden, welche die Einführung der Regelung begleiten soll (Die Kommission konstituierte sich am 25. März 1997, s. I.4.). Geplant war die Einführung der Neuregelung für 1998 in Schulen und Behörden – also dort, wo der Staat Regelungs­kompetenz hat. Doch einige Bundesländer preschten vor und begannen mit der neuen Rechtschreibung schon ab dem neuen Schuljahr (1996/1997). Auch neue Wörterbücher gab es bald zuhauf, gleich am darauf folgenden Tag erschien das erste Rechtschreibwör­terbuch in neuer Orthographie (Bertelsmann, Die neue deutsche Rechtschreibung), das jedoch an zahlreichen Stellen Fehler aufwies. Der neue Duden (21. Auflage), der jedoch auch nicht fehlerfrei war, erschien erst am 22. August 1996. Wahrscheinlich deshalb, weil im Dezember 1995, als sich die Kultusministerkonferenz – mit nachträglichen Änderungen – auf die Reform einigte, die bereits gedruckte Neuausgabe des Duden Makulatur wurde.

I.3. Die Frankfurter und die Dresdner Erklärung

Am 6. Oktober unterzeichneten mehr als 100 namhafte Schriftsteller und Wissen­schaftler auf der Frankfurter Buchmesse die Frankfurter Erklärung (s. Anhang 2) des Weilheimer (Bayern) Studienrates, Friedrich Denk, in der sie den sofortigen Stopp der Reform forder­ten. Zu den Unterzeichnern gehörten u.a. die Autoren Günter Grass, Siegfried Lenz („Kostspieliger Unsinn“), Martin Walser („Ich fahre fort, die Wörter möglichst so zu schreiben, wie ich sie höre und wie ich sie ihrer Herkunft nach verstehe“) Botho Strauss, Ernst Jünger, Walter Kempowski („Wir haben den Skandal schlicht verschlafen“), Ilse Aichinger und Magnus Enzensberger („Eine solche ‚Reform’ ist natürlich so überflüs­sig wie ein Kropf [...] Wer ist überhaupt dieser Herr Konrad Duden? Irgendein Sesselfur­zer? [...] Die Schriftsteller seien die wahren Gesetzgeber der Sprache [...] Die Regierungen sollten die Finger von Dingen lassen, von denen sie nichts verstehen...“). Schon früher äußerte sich die Präsidentin der Schriftstellervereinigung P.E.N.-Zentrum West, Ingrid Bacher ziemlich kritisch zur Neuregelung, aber ihre Worte verhallten ungehört: „Kein Schriftsteller saß in diesem Gremium [...] Mit Recht wurden wir nicht gefragt. Unsere Arbeit ist, die Komplexität der Sprache zu erhalten, nicht die Orthographie schulmeister­lich für alle zu ändern. Und doch werden die Veränderungen auch uns treffen.“[6] Wachgerüt­telt wurden die Dichter und Denker erst durch Lehrer Denk, der, um den „Terror durch Orthographie“ doch noch aufzuhalten, eine Protestresolution mit zehn Argumenten aufsetzte. Fünftausend Flugblätter nahm er mit auf die Frankfurter Buch­messe. „Umgehend“, forderten die versammelten Unterzeichner, müsse Schluss sein mit einem Vorhaben, das „Millionen von Arbeitsstunden vergeuden, jahrzehntelange Verwir­rung stiften, dem Ansehen der deutschen Sprache und Literatur im In- und Ausland schaden und mehrere Milliarden Mark kosten würde.“ Schluss zudem mit einem Plan, der verschwörungsartig „von einer kleinen, weitgehend anonymen Experten­gruppe durchgezogen worden sei“[7]. Ärger riefen bei ihnen weniger die klaren Umstellun­gen als die zahllosen Kann-Bestimmungen und Variantenlösungen (Panther oder Panter) hervor, durch die eine „mentale Zwei-Klassen-Gesellschaft“[8] entstehen könnte. Und obwohl die Neuregelung nur in Behörden und Schulen verbindlich war, müsste irgend­wann auch mit Rücksicht auf die Schulpraxis, selbst die große klassische Literatur entsprechend den Neuerungen gedruckt werden. Mehr zu fürchten hatten die Schulbuch­verleger, denn für sie war die Übergangsfrist allzu knapp kalkuliert. Ihr Fachverband hat errechnet, dass allein die Korrektur der 30.000 Schulbuchtitel an die 300 Millionen Mark kosten würde. Wenn die Rechtschreibreform doch noch gekippt würde, würde der Branche nach Rechnungen des Verbandes der Schulbuchverlage ein Schaden von 200 Millionen DM entstehen[9]. Karl-Heinz Reck (SPD), früherer Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) beteuerte hingegen, dass nur einige Nachschlagwerke und Schulbücher neu gedruckt werden müssten, was keinen Extraaufwand bedeute. Klaus Heller, vom IDS Mannheim (später Geschäftsführer der Kommission für deutsche Rechtschreibung), hielt den Protest für völlig deplatziert, denn die Kritiker hatten mindestens zwölf Jahre Zeit gehabt, sich zu melden. Doch Denk und die Poeten ließen sich nicht beirren und konterten: „Wer zu spät kommt, hat deswegen noch nicht unrecht.“[10] Nach ihrer Ansicht ist die Reform 1) „ein finanzieller Schildbürgerstreich, da nur ein halbes Prozent des Textbildes verändert werde“ 2) „überflüssig, konfus, falsch und so hübsch wie Pickel im Gesicht“ 3) „ein Angriff auf den Wortschatz, ein Anschlag auf das Lesevergnügen, Quelle jahrelanger Verwirrung und Verärgerung und überhaupt Quälerei, Betrug und Zwang“ 4) „Abschre­ckung und Verwirrspiel für lernwillige Berufsanwärter oder Fremdsprachler“ 5) „keines­wegs fortschrittlich, ja sozial fatal, da oftmals Varianten erlaubt würden, die die Unbildung des Schreibenden zeigten“ 6) „vor allem aber ein Milliardengeschäft, das wir bezahlen sollen.“[11] Auch der einflussreiche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki machte das späte Aufwachen der Schriftsteller für den Erfolg der Reformer verantwortlich: „... wo waren sie diesmal, da es doch um eine Sache ging, von der sie etwas verstehen...“[12] Der Protest der Autoren führte er darauf zurück, dass viele, die die Erklärung unterschrie­ben haben, schon über sechzig Jahre alt waren, und keine Lust hatten, sich die Regeln einer neuen Rechtschreibung anzueignen.

Das Institut für Deutsche Sprache wies die Proteste der Schriftsteller in einer Presseer­klärung zurück („Was manche Schriftsteller alles nicht wissen“, 15. Oktober 1996). Die Argumente, die die Schriftsteller vorbringen, hätten nur gelegentlich mit Rechtschreibung zu tun, außerdem sei kein einziges unter ihnen, die in den letzten zwölf Jahren nicht eingehend diskutiert worden wäre. Dass sie nicht gefragt worden seien, stimme auch nicht, auf eine entsprechende Anfrage des Bundesinnenministeriums und der KMK hätten aber weder die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung noch das P.E.N.-Zentrum geant­wortet. All diese Fakten würden aber in der Erklärung nicht erwähnt, dabei sei erstaunlich, dass Schriftsteller eine Erklärung unterschreiben, die Unrichtigkeiten und Verdrehungen enthalte. Zehn Tage später verabschiedete die KMK die Dresdner Erklärung, in der auch sie die Argumente der Frankfurter Erklärung zurückwies. Die Schriftsteller hätten die Chance, sich in den demokratischen Entscheidungsprozess einzuschalten, nicht wahrge­nommen und beklagten jetzt das Ergebnis eines Willensbildungsprozesses, dem sie sich verweigert hätten. Die Reform stelle die Sprache nicht auf den Kopf, sondern beseitige behutsam die Ungereimtheiten, die sich in 100 Jahren entwickelt hätten. Die neue Ortho­graphie orientiere sich in erster Linie an Bedürfnissen der Schulen und Behörden, für die die Regierungen unmittelbar Verantwortung tragen. Die literarische Produktion sei nicht betroffen, die Künstler könnten auch in Zukunft frei mit der Sprache umgehen und sie individuell gebrauchen. Sie brauchten sich um Orthographieregeln wie bisher nicht zu kümmern. Auch der Vorwurf, wonach durch die Neuregelung Kosten in Milliardenhöhe entstehen würden, sei falsch. Durch die neunjährige Übergangsfrist könnten Schulbücher im normalen Erneuerungsturnus ersetzt werden. Dem Ansehen der deutschen Sprache würde durch die Neuregelung nicht geschadet, Schaden entstehe nur dadurch, wenn sich Deutschland von dem lange demokratisch diskutierten Neuregelungsvorschlag distanzie­ren würde. Acht Monate nach der Frankfurter Erklärung protestierten die Autoren (unter ihnen Günter Grass, Ilse Aichinger, Hans Magnus Enzensberger, Sarah Kirsch, Siegfried Lenz und Martin Walser) noch einmal gegen die Reform, die es möglich mache, „daß literarische Texte, z.T. sinnentstellend, verändert werden.“[13] Die Autoren erklärten, dass sie eine Anwendung dieser Reform auf ihre Texte ablehnen. Ein Satz aus dem „Zögling Törleß“ von Robert Musil sei nach der neuen Kommsetzung nur schwer zu verstehen: „Ich versprach ihm daher nur kurz mir noch überlegen zu wollen, was mit ihm geschehen werde?“ Im Original hatte der Schriftsteller ein Komma nach „kurz“ gesetzt.

I.4. Konstituierung der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschrei­bung

Auf Grund der Wiener Erklärung konstituierte sich am 25. März 1997 im Institut für Deutsche Sprache (IDS), Mannheim, die Zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung. Österreich und die Schweiz sind mit je drei, Deutschland mit sechs wissenschaftlich ausgewiesenen Fachleuten in der zwölfköpfigen Kommission vertreten. (Später traten zwei Mitglieder aus der Kommission aus: der Erlanger Professor Horst Haider Munske im September 1997, weil er sich mit seiner Forderung nach Änderung der Regeln im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung nicht durchsetzen konnte und der Potsdamer Linguist Peter Eisenberg im März 1998, weil die KMK nach anfänglicher Unterstützung von der Arbeit der Kommission abrückte. Sie wurden später durch neue Mitglieder ersetzt.) Die Kommission wählte Gerhard Augst (Siegen) zum Vorsitzenden, Geschäftsführer wurde Klaus Heller (Mannheim). Die Sitzungen der Kommission sind in der Regel nicht öffentlich, doch können an ihnen Vertreter der unterzeichneten Länder als Beobachter teilnehmen. Die Kommission hat folgende Aufgaben: Sie wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin, begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. „Soweit erforderlich, erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks“[14], so der frühere Vorsitzende der KMK, Rolf Wernstedt. Damit war die bis dahin in allen deutschsprachi­gen Ländern anerkannte Duden-Redaktion faktisch entmachtet. Karl Blüml, österreichi­sches Mitglied der Kommission, offenbarte später in einem Interview: „Das Ziel der Reform waren aber gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlages in die staatliche Kompetenz zurückzuho­len.“[15] Des Weiteren müssten laut der Kommission die durch unterschiedliche Schreibung in den Wörterbüchern entstandenen Unstimmigkeiten kurzfristig geklärt werden. Hartmut Günther, Professor für germanistische Linguistik an der Universität Köln, wies schon im Sprachreport 4/96 auf die Widersprüche hin. Seine Stellungnahme war besonders bedeut­sam, weil er die Rechtschreibreform grundsätzlich bejahte. Seine Beobachtungen basierten auf dem Studium der ersten beiden Wörterbücher für die neue Rechtschreibung, des Duden und des Bertelsmann, später sind aber mindestens sieben weitere Wörterbücher erschienen. Sein Vorschlag: Wer künftig in einem Rechtschreibdiktat oder einem Bewerbungsschrei­ben keinen Fehler angerechnet bekommen will, gibt am besten das Wörterbuch an, auf das er sich mit seiner Rechtschreibung stützt. „Ein Schüler [...], der über ‚Holografie’ schreibt, bekommt von der den ‚Duden’ verwendenden Lehrerin einen Fehler angestrichen, sein über ‚Telegrafie’ schreibender Mitschüler nicht; und in der anderen Schule, wo man ‚Bertelsmann’ verwendet, haben beide keine Fehler gemacht.“[16] Die Widersprüche haben sich zu einem Chaos gesteigert, so dass die Lehrer in den Wörterbüchern nicht mehr nachschlugen, d.h. nicht mehr ordentlich korrigierten. In ihrer zweiten Sitzung am 6. bis 7. Juni 1997 räumte die Kommission ein, dass die Neuregelung der Rechtschreibung eine außerordentlich komplexe Aufgabe sei, die nicht reibungslos und nicht ohne den guten Willen aller Beteiligten gelöst werden könne. Eine erste Analyse habe bestätigt, dass viele Probleme sich nicht aus den neuen Rechtschreibregeln, sondern aus unterschiedlichen Darstellungsweisen und aus Missverständnissen ergeben. In Zukunft werde sie deshalb den Wörterbuchredaktionen Empfehlungen für eine einheitliche Umsetzung der neuen Regeln geben. In einer Pressemitteilung weist der Kommissionsvorsitzende, Gerhard Augst die Behauptung zurück, wonach es zwischen den Wörterbüchern 8.000 Differenzen (1.000 widersprüchliche Wortschreibungen und 6.000 bis 7.000 unterschiedliche Silbentrennun­gen) gebe. Kerstin Güthert und Klaus Heller stellten eine Untersuchung vor, in der sie zum Ergebnis kamen, dass sich die beiden führenden Wörterbücher Duden und Bertels­mann auf der Buchstabenstrecke H in lediglich 35 Fällen voneinander abwichen (s. Anhang 3). Der Untersuchung lag allerdings nicht die Erstausgabe des Bertelsmann vom 1. Juli, sondern der 10. Nachdruck zugrunde, der sich bereits an vielen Stellen dem Duden angeglichen hatte.

I.5. Erster Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschrei­bung und die Mannheimer Anhörung. Zweiter Bericht der Kommission

Im Dezember 1997 formulierte die Kommission in ihrem ersten Bericht über die von der Öffentlichkeit geforderte „Reform der Reform“ Vorschläge zur Präzisierung und Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung. Damit versuchte sie der heftigen inhaltlichen Kritik an der Reform Rechnung zu tragen. In dem 66-seitigen Bericht erhob die Kommission den Anspruch, alle ernst zu nehmenden Einwände gegen die Reform geprüft zu haben. Die Kommission sah keinen Änderungsbedarf der neuen Regeln. Dennoch wurden zahllose Neuinterpretationen, Präzisierungen und Erweiterungen der Regeln vorgeschlagen. Im Fall der Getrennt- und Zusammenschreibung (wo nun auch die Wortbetonung mitentscheidend sein soll, z.B. frei sprechen vs. freisprechen) sah die Kommission sogar die Notwendigkeit eines Eingriffs in den Regeltext. Die Zeichensetzung blieb unberührt, da sie „in den Wörterbüchern keine Rolle spielt.“[17] Bei den Verbverbindungen Leid tun, Nut tun usw. sollte auch Kleinschreibung wieder möglich sein. Gleichzeitig wurde aber betont: „Alle vorliegenden Wörterbücher behalten ihre Gültigkeit, da die neuen Schreibungen in der Regel behalten bleiben.“[18] Seit ihrem Bekanntwerden waren die Kommissionsvorschläge auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit gestoßen. Der Kritik hatten sich selbst solche Verbände und Verlage angeschlossen, die früher als Befürworter der Reform gegolten hatten, darunter das Deutsche Bibliographi­sche Institut und der Dudenverlag. Ihr Haupteinwand: Die von der Kommission vorge­schlagene Wiederzulassung alter Schreibweisen führe zu 500 bis 1000 neuen Varianten und zerstöre die Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache. Der Leiter der Duden-Redaktion, Matthias Wermke: „...plädieren wir seit eh und je dafür, die Zahl der Schreib­varianten gering zu halten.“[19] Die Duden-Redaktion sehe mit weinendem Auge, dass die Kommission in entgegengesetzte Richtung gehe. Der Bericht wurde an 36 Verbände verschickt, die sich am 23. Januar 1998 zu den Vorschlägen bei einem „Hearing“ äußerten (Mannheimer Anhörung). In vorbereiteten schriftlichen Stellungnah­men hatten mehrere Verbände sowohl die Zusammensetzung des Hearings als auch die späte Versendung der Änderungsvorschläge der Kommission kritisiert. Der Vorschlag für eine „Reform der Reform“ wurde dann am 6. Februar 1998 von den Kultusministern nicht übernommen, um die Reform als solche nicht zu gefährden und die Übergangsfrist zur Sichtung eventueller Probleme auch wirklich zu nutzen. Außerdem halte das Regelwerk den kritischen Einwen­dungen stand. Ende März 2000 legte die Kommission ihren zweiten Bericht vor, der den Zeitraum von Februar 1998 bis Dezember 1999 umfasste. In dem 4-seitigen Bericht schloss die Kommission eine Überarbeitung der Reform nicht aus, da die Korrekturen an der amtlichen Regelung, wie sie die Kommission in ihrem ersten Bericht empfohlen hatte, unberücksichtigt blieben: „Sie [...] ist [...] bestrebt die Grundlagen dafür zu erarbeiten, dass bis zum Ende der Übergangszeit gegebenenfalls Maßnahmen ergriffen werden können, die der Optimierung der Neuregelung dienen können“.

I.6. Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts

Am 14. Juli 1998 fällte das Karlsruher Bundesverfassungsgericht ein einstimmiges Urteil und besiegelte damit das Schicksal der Reform. Die Richter stuften nämlich die Neuregelung als verfassungsgemäß ein: „Notwendigkeit und Inhalt, Güte und Nutzen der Rechtschreibreform ... können nicht nach verfassungsrechtlichen Maßstäben beurteilt werden.“[20] Dem Urteil gemäß könnten die neuen Regeln wie geplant in Deutschland und in deutschsprachigen Ländern in Kraft treten. Die Verfassungsbeschwerde hatten Lübecker Eltern noch im August 1997 eingelegt („Ich glaube, ganz Deutschland wartet auf eine solche Entscheidung“[21], so die Klägerin), nachdem ihre Beschwerde in zweiter Instanz vom Oberverwaltungsgericht Holstein zurückgewiesen worden war. Die Eltern wollten erreichen, dass ihre Zwillinge nach den alten Regeln unterrichtet werden, weil durch die Einführung der Reform auf dem Erlasswege das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Kinder bzw. ihr eigenes elterliches Erziehungs- und Persönlichkeitsrecht verletzt seien. Die Richter hatten damals erklärt, dass für die Umsetzung der Rechtschreibreform an den Schulen kein Gesetz notwendig sei. Die Rechtschreibung beruhe im deutschen Sprachraum nicht auf Rechtsnormen, sondern auf sprachlichen und damit außerrechtlichen Regeln. Wegen des ablehnenden Urteils wandten sich die Eltern an das Bundesverfassungsgericht. Gleich zu Beginn der mündlichen Verhandlung, bei der Gegner und Befürworter die Gelegenheit erhielten, in einer öffentlichen Anhörung Stellung zu nehmen, stellte das höchste deutsche Gericht klar, dass es nicht über Richtigkeit und Sachgerechtigkeit der Rechtschreibreform entscheiden würde. Das Gericht beanspruche nicht die Rolle eines sprachwissenschaftlichen Obergutachters. Es habe lediglich zu klären, ob die Einführung der Reform an den Schulen auf dem Wege des ministeriellen Erlasses Grundrechte von Eltern und Schülern verletze. Eine Woche vor der Urteilsverkündung zogen die Kläger ihre Beschwerde zurück und kritisierten massiv das Bundesverfassungsgericht. Ihrer Ansicht nach sei die Entscheidung des Gerichts bereits vorab in Bonner Kreisen bekannt geworden, so dass man nicht mehr mit einem fairen Verfahren rechnen könne. Sie bezogen sich auf das Nachrichtenmagazin „Focus“ und die „Frankfurter Rundschau“, die detailliert über den Inhalt des Urteils berichtet und sich dabei auf Bonner Kreise berufen hatten. Das Lübecker Anwaltsehepaar übte Kritik auch am Stile des Gerichts, das bei der mündlichen Verhand­lung sechs Gegnern 50 Befürworter der Schreibreform entgegengestellt habe, denen zwei Drittel der Redezeit zugeteilt worden seien. Demzufolge gingen die Richter offenbar von falschen Annahmen über den Umfang der Reform aus. Von ihr seien zehn Prozent der 12.000 Wörter des deutschen Sprachschatzes – und nicht, wie die Richter behaupteten, lediglich 185 Wörter – betroffen. Das Bundesverfassungsgericht stufte die Rücknahme der Verfassungsbeschwerde durch die Kläger als unwirksam ein und hielt an dem für den 14. Juli angekündigten Termin für die Urteilsverkündung fest.

[...]


[1] Gröschner, 27. Oktober 1995, Welt online

[2] Gröschner, ibd.

[3] Kobler, 27. Oktober 1995, Welt online

[4] Sauer, 30. November 1995, Welt online

[5] vgl. Glück, 13. Dezember 1995, Welt online

[6] Bacher am 28. November 1995 in der Welt online

[7] zitiert nach Spiegel 42/1996, S.262

[8] ibd.

[9] vgl. 22. Oktober 1996, Welt online

[10] zitiert nach Spiegel 42/1996, S.267

[11] ibd.

[12] Spiegel 42/1996, S.273

[13] zitiert nach Spiegel 23/1997, S.226

[14] zitiert nach der Welt online, 27. März 1997

[15] zitiert nach Der Standard

[16] zitiert nach der Welt online, 26. März 1997

[17] zitiert nach Spiegel 3/1998, S.146

[18] zitiert nach der Welt online, 07. Januar 1998

[19] zitiert nach der Welt online, 19. Januar 1998

[20] zitiert nach der Welt online, 15. Juli 1998

[21] zitiert nach der Welt online 14. August 1997

Final del extracto de 54 páginas

Detalles

Título
Die Geschichte der Deutschen Rechtschreibung nach 1994
Universidad
University of Debrecen  (Germanistisches Institut)
Calificación
sehr gut (1)
Autor
Año
2002
Páginas
54
No. de catálogo
V10145
ISBN (Ebook)
9783638166645
Tamaño de fichero
557 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Geschichte, Deutschen, Rechtschreibung
Citar trabajo
Tamás Csehó (Autor), 2002, Die Geschichte der Deutschen Rechtschreibung nach 1994, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10145

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