Depressionen aus systemischer Sicht. Beziehungsmuster in Verbindung mit depressiven Störungen


Trabajo Escrito, 2021

39 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Hintergrund zu Depressionen aus systemischer Sicht
1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit

2 Theorieteil
2.1 Störungsbild der Depression
2.1.1 Symptome
2.1.2 Diagnostik und Verlauf
2.2 Epidemiologische Betrachtung
2.2.1 Gesamt- und Lebenszeitprävalenz
2.2.2 Geschlechts- und Altersunterschiede
2.2.3 Sozioökonomischer Status und Fehltage
2.3 Ätiologie & systemische Beziehungsmuster
2.3.1 Ätiopathogenese und Risikofaktoren
2.3.2 Systemische Betrachtung mit Fokus auf Beziehungsmuster

3 Methodischer Teil
3.1 Fragestellung
3.2 Strukturbaum
3.2.1 Partnerschaftsdimension: Partnerschaftszufriedenheit und -stabilität
3.2.2 Familiendimension: Familienloyalität und -dynamik
3.2.3 Individuelle Dimension: Perfektionismus und Helfersyndrom
3.3 Forschungsdesign
3.3.1 Erstellung und Aufbau des Fragebogens
3.3.2 Durchführung
3.3.3 Auswertung des Fragebogens

4 Diskussion und Ausblick
4.1 Kritische Reflexion des Vorgehens
4.2 Depression im Sinne des „Lebensproblems“ und „Problemsystems“
4.3 Ausblick

5 Literaturverzeichnis

6 Anhang

1 Einleitung

1.1 Hintergrund zu Depressionen aus systemischer Sicht

Depressive Störungen nehmen global zu und stellen - neben dem hohen individuellen Leid für die Patienten - auch eine hohe Belastung für Partner und Angehörige sowie eine große gesundheitsökonomische Herausforderung dar (DGPPN, 2015, S. 21-24). Der Fokus in Diagnostik und insbesondere Therapie liegt heute vor allem auf „klassi­schen“ psychotherapeutischen Verfahren - wie der kognitiven Verhaltenstherapie - in Kombination mit der Gabe von Psychopharmaka (Messer & Hermann, 2018, S. 13­17). Die Systemische Therapie als ein psychotherapeutisches Verfahren stellt eine er­weiternde oder ergänzende Sichtweise auf die Entstehung und Behandlung des „Stö­rungsbildes“ der Depression dar, da sie den Fokus auf den sozialen Kontext psychi­scher Störungen legt. Es werden zusätzlich zum „Indexpatienten“ weitere Mitglieder des für die Patientin oder den Patienten1 bedeutsamen sozialen Systems einbezogen (Sydow & Borst, 2018, S. 47). Dabei werden „Wechselwirkungen zwischen intrapsychi­schen, biologisch-somatischen und interpersonellen Prozessen von Individuen und Gruppen als wesentliche Aspekte von Systemen“ (Sydow & Borst, 2018, S. 47) be­trachtet.

Als Grundlage für die Diagnostik und Therapie von psychischen Erkrankungen, so auch der Depression, dienen die Elemente der jeweiligen Systeme und ihre wechsel­seitigen Beziehungen. „Diagnostische Fragen [dienen] weniger der Erhebung von indi­vidualpsychologischen Zustandsbildern als vielmehr der Beschreibung von familiären Kommunikationsabläufen und den damit verbundenen Perspektiven und Erwartungs­haltungen der Betroffenen“ (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 28). Der diagnostische Prozess dient damit nicht nur der Gewinnung von Informationen, sondern auch ihrer Erzeugung, sodass Diagnostik und Intervention ineinanderfließen. (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 29). Die Systemischen Therapie hat das Ziel, symptomfördernde, insbesondere partnerschaftliche und familiäre Interaktionen, Strukturen und dysfunktio­nale Lösungsversuche infrage zu stellen und gleichzeitig die Entwicklung neuer, ge­sundheitsfördernder Interaktionen und Lösungsversuche anzuregen (Sydow & Borst, 2018, S. 47). Dabei wird dem systemischen Verständnis nach Krankheit nicht als ein persönliches Merkmal angesehen, das ein Klient oder Patient für sich allein hat („Ich habe eine Depression“), oder im Sinne einer dominierenden Eigenschaft identisch ist („Ich bin depressiv“) oder auf das er von anderen reduziert werden kann („Der Depressive in Zimmer 13") (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 16). Vielmehr beziehen sich systemtherapeutische Strategien auf das ätiologische Modell, das zum Beispiel depressives Verhalten als Teil des interaktionellen Geschehens, etwa in einer Paarbe­ziehung, betrachtet (Sydow & Borst, 2018, S. 436).

1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit

Auf der Beleuchtung eben dieses systemtherapeutischen Verständnisses des ätiologi­schen Modells depressiver Störungen liegt der Fokus dieser Arbeit, ergänzt um die Fragestellung, welche Risikofaktoren sich aus dieser Betrachtung ableiten und für den Praxistransfer im Rahmen von Patientenbefragungen nutzen lassen.

Die Basis wird im theoretischen Teil gelegt, in welchem zunächst das Störungsbild der Depression nach aktuellem Forschungsstand unter anderem anhand von klinischen Symptomen, Verläufen und epidemiologischen Daten dargestellt wird. Darauf aufbau­end folgt eine Auseinandersetzung mit der Ätiologie depressiver Störungen, wobei ver­schiedene Theorien aufgezeigt werden, der Schwerpunkt allerdings auf den aus syste­mischer Sichtweise in Verbindung mit depressiven Symptomen häufig zu beobachten­den Beziehungsmustern liegt.

Im methodischen Teil erfolgt die Auseinandersetzung mit dem aus den Beziehungs­mustern abgeleiteten Konstrukt der „Risikofaktoren zur Entwicklung depressiver Stö­rungen aus systemischer Sicht". Um diese Risikofaktoren messbar zu machen, wird zur Operationalisierung dieses Konstrukts ein Strukturbaum entwickelt. Dessen Dimen­sionen, Kategorien und Indikatoren leiten sich aus in der wissenschaftlichen Literatur bestehenden diagnostischen Methoden ergänzt um eigene Interpretationen ab. Dar­über hinaus erfolgt eine Beschreibung, wie dieser Strukturbaum und die darin aufge­zeigten Risikofaktoren in einen Fragebogen für Patienten einfließen können, wie dieser Fragebogen, Erläuterungen zur Durchführung und Auswertung des Tests inkludierend, in der Praxis genutzt werden kann.

Im abschließenden Kapitel erfolgt eine Reflexion der Depression im Hinblick auf die in der systemischen Praxis genutzten Konzepte des Lebensproblems sowie des Prob­lemsystems. Außerdem werden das empirische Vorgehen sowieso der Fragebogen kri­tisch, insbesondere hinsichtlich der Erfüllung wissenschaftlicher Gütekriterien und der Praxisrelevanz, beleuchtet. Dies bildet die Grundlage für den Ausblick auf die notwen­digen weiteren Schritte in der empirischen Forschung, um weitere Anwendungsfelder für den Fragebogen zu ermöglichen.

2 Theorieteil

2.1 Störungsbild der Depression

Depressive Störungen zählen zu den am häufigsten auftretenden psychischen Störun­gen und werden gemäß der internationalen Klassifikation für Krankheiten (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den affektiven Störungen (F30-39) zugeordnet, welche eine Veränderung der Stimmung und des allgemeinen Aktivitätsniveaus gemein haben.

2.1.1 Symptome

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die unipolaren depressiven Störungen, welche sich in dem häufig verwendeten Begriff der „Depression“, abgeleitet vom lateini­schen „deprimere" für niederdrücken, wiederfinden und somit eines der Hauptsymp­tome - die gedrückte Stimmung - zum Ausdruck bringen. Weitere Hauptsymptome de­pressiver Episoden sind Freudlosigkeit und Interessensverlust sowie Verminderung des Antriebs und ausgeprägte Müdigkeit bereits nach kleinsten Anstrengungen (DGPPN, 2015, S. 28-30). Als Zusatzsymptome können Konzentrations- und Schlaf­störungen, Grübelneigung oder Appetitminderung auftreten. Begleitet wird dies häufig von vermindertem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühlen, einer pessi­mistischen Einstellung zur Zukunft sowie Suizidgedanken oder Suizidhandlungen. (DIMDI, 2017). Aufgrund dieser Symptomatik sind „depressive Menschen durch ihre Erkrankung meist in ihrer gesamten Lebensführung beeinträchtigt [und] es gelingt ihnen nicht oder nur schwer, alltägliche Aufgaben zu bewältigen [...]. Depressionen ge­hen wie kaum eine andere Erkrankung mit hohem Leidensdruck einher, da diese Er­krankung in zentraler Weise das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl von Patienten beeinträchtigt“ (DGPPN, 2015, S. 17).

2.1.2 Diagnostik und Verlauf

Abhängig von der Anzahl und Schwere der beschriebenen Symptome werden depres­sive Episoden als leicht, mittelgradig oder schwer klassifiziert. Zur Diagnosestellung müssen für die leichte und mittelgradige Depression zwei der Hauptsymptome und zwei beziehungsweise (bzw.) drei bis vier der Zusatzsymptome seit mindestens zwei Wochen bestehen. Bei einer schweren Depression müssen alle drei Hauptsymptome und mindestens vier Zusatzsymptome ebenfalls seit mindestens zwei Wochen beste­hen (DGPPN, 2015, S. 30-32). Typischerweise zeichnen sich Depressionen durch ei­nen episodischen Verlauf aus, sodass die Krankheitsphasen zeitlich begrenzt sind. Die durchschnittliche Episodendauer durch Therapie und / oder Psychopharmaka behandelter depressiver Störungen wird auf 16 Wochen geschätzt, wobei bei ungefähr 90 Prozent der Patienten die depressive Episode als mittel- bis schwergradig einge­schätzt wird (Kessler et al., 2003).Treten depressive Episoden (unabhängig vom Schweregrad) wiederholt auf, dies betrifft etwa 60 Prozent der Patienten, wird dies als rezidivierende depressive Störung bezeichnet. Hält eine depressive Episode länger als zwei Jahre ohne Besserung an, was bei etwa 10 bis 15 Prozent der Betroffenen der Fall ist, spricht man von einer chronischen depressiven Episode (DGPPN, 2015, S. 26; Prölß et al., 2019, S. 30).

2.2 Epidemiologische Betrachtung

Gemäß der WHO zählen depressive Störungen zu den wichtigsten und weiter an Be­deutung zunehmenden Volkskrankheiten. Weltweit leiden etwa 264 Millionen (Mio.). Menschen darunter (Ritchie & Roser, 2018). Bezogen auf die Summe an Jahren, die durch Behinderung oder vorzeitigen Tod aufgrund einer Erkrankung verlorengehen, stand die unipolare depressive Episode bisher an dritter Stelle. „Die WHO geht [...] da­von aus, dass unipolare Depressionen bis 2030 unter den das Leben beeinträchtigen­den oder verkürzenden Volkskrankheiten insgesamt die größte Bedeutung vor allen anderen Erkrankungen haben werden" (DGPPN, 2015, S. 21).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Durch Krankheiten weltweit verlorene Lebensjahre in Millionen - Hochrechnung der WHO für Industrieländer 2030 (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an WHO, 2008)

2.2.1 Gesamt- und Lebenszeitprävalenz

Während weltweit circa (ca.) 3,4 Prozent der gesamten Bevölkerung an depressiven Störungen leiden, lag die Prävalenz2 innerhalb der EU-Länder 2015 bei 6,6 Prozent und in Deutschland bei 9,2 Prozent (Hapke et al.). Depressive Störungen zählen neben Angststörungen und Alkoholstörungen damit nicht nur zu den häufigsten psychischen Störungen (Jachertz, 2013), sondern auch insgesamt zu den häufigsten Erkrankungen. Dennoch sind sie hinsichtlich ihrer individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung eine der am meist unterschätzten Erkrankungen (Murray et al., 1996). Dies ist der Fall, ob­wohl die Lebenszeitprävalenz, also das Risiko, im Laufe des Lebens an Depressionen zu erkranken sowohl national als auch international bei 16 bis 20 Prozent liegt (Ebmeier et al., 2006; Kessler & Bromet, 2013).

2.2.2 Geschlechts- und Altersunterschiede

In zahlreichen Studien zeigte sich, dass Frauen etwa doppelt so häufig von Depressio­nen betroffen sind wie Männer (Kessler & Bromet, 2013; Kuehner, 2003; Parker et al., 2014). „In der Literatur wird diskutiert, inwieweit die Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit von Depressionen lediglich auf unterschiedliches Inanspruchnahmeverhal­ten, unterschiedliche Erkennungsraten oder durch unterschiedliche Symptomatologie von Depressionen bei Männern und Frauen erklärbar sind" (DGPPN, 2015, S. 17). Bis­her konnten diesbezügliche Hypothesen nicht abschließend geklärt werden. Ebenso lassen Studien vermuten, „dass das Erkrankungsrisiko für Mädchen und junge Frauen steiler ansteigt als für ihre männlichen Altersgenossen“ (DGPPN, 2015, S. 18), da Mädchen möglicherweise schon vor der Adoleszenzphase im Vergleich mehr Risiko­faktoren aufweisen (z.B. Missbrauchserfahrungen), die zusammen mit den Herausfor­derungen im Jugendalter das Entstehen einer Depression begünstigen (Nolen- Hoeksema & Girgus, 1994).

Dies spiegelt sich ebenso im Gesamtanstieg von Depressionen bei Kindern und Ju­gendlichen wider - in nationalen sowie internationalen Studien wird von Prävalenzen von 15 bis 20 Prozent bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres berichtet (Birmaher et al., 1996; H. U. Wittchen et al., 1998). Damit ist auch das durchschnittliche Alter bei ei­ner depressiven Ersterkrankung gesunken - 50 Prozent der Patienten in Deutschland erkranken erstmalig an einer Depressionen vor ihrem 31. Lebensjahr (Jacobi et al., 2004). Dennoch zeigen sich die höchsten Prävalenzraten in der Altersgruppe der 50- bis 69-Jährigen und im höheren Lebensalter sind Depressionen die häufigste psychi­sche Störung. Gründe können, eben insbesondere im Alter, die hohe Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen oder psychosoziale Faktoren wie Verwitwung oder Armut sein (DGPPN, 2015, S. 19; Prölß et al., 2019, 30-31.)

2.2.3 Sozioökonomischer Status und Fehltage

Soziale Unterstützung gilt als einer der wesentlichen gesicherten Protektivfaktoren bei Depressionen (Härter et al., 2010), sodass auf der anderen Seite getrennte, geschie­dene und verwitwete Personen und solche ohne enge Bezugspersonen eher erkran­ken. So zeigte sich im Rahmen einer Studie eine deutlich erhöhte 12-Monatsprävalenz affektiver Störungen für diese Gruppe (16,3 Prozent) im Vergleich zu Personen, die in einer festen Partnerschaft leben (7,1 Prozent) (Jacobi et al., 2014). Darüber hinaus korrelieren unter den sozioökonomischen Faktoren ein höheres Bildungsniveau und eine sichere berufliche Anstellung mit niedrigeren Depressionsraten, sodass das Risiko zur Entwicklung depressiver Störungen von Personen aus der unteren sozialen Schicht mehr als doppelt so hoch ist wie das derjenigen aus hohen sozialen Schichten (RKI, 2013).

Beim Blick in die Gesundheitsreports der deutschen Krankenversicherungen zeigt sich ein homogenes Bild bezüglich der Entwicklung der Fehltage aufgrund psychischer und insbesondere depressiver Störungen. Die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankun­gen stehen an zweiter Stelle der Ursachen für krankheitsbedingte Fehltage und haben sich zwischen 1999 und 2019 fast verdreifacht (Marschall et al., 2020, S. 19). Als Ein­zeldiagnosen waren (rezidivierende) depressive Episoden (F32 und F33) die häufigs­ten psychischen Störungen als Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage und lagen in den vergangenen beiden Jahren bei etwa 100 Fehltagen pro 100 Versicherte (Knieps & Pfaff, 2019). Als auffällig zeigt sich, dass die durch Depression bedingten Fehltagen am häufigsten innerhalb von Wirtschafts- oder Berufsgruppen auftreten, deren Tätig­keitsschwerpunkte auf der Arbeit mit bzw. am Menschen liegen. An der Spitze stehen hier seit mehreren Jahren und mit steigender Tendenz Mitarbeiter im Gesundheits- und Sozialwesen (z.B. Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Sozialarbeiter), aber auch Mitar­beiter im Verkehrswesen (z.B. Reisebegleiter) oder Führungskräfte und Manager (Knieps & Pfaff, 2019, S. 123).

2.3 Ätiologie & systemische Beziehungsmuster

2.3.1 Ätiopathogenese und Risikofaktoren

Depressive Störungen zeigen kein homogenes Krankheitsbild und es wird von der Mehrzahl der Experten von multifaktoriellen Erklärungskonzepten ausgegangen, die eine Wechselwirkung aus biologischen und psychosozialen Faktoren abbilden. So sind das Auftreten und der Verlauf depressiver Störungen nach dem Vulnerabilitäts-Stress­Modell bedingt durch die komplexe Interaktion zwischen genetischer Disposition, früh­kindlichen Erfahrungen, hormonellen Umstellungen, somatischen Erkrankungen oder psychosozialen Faktoren (z. B. Verluste, Trennungen, berufliche Enttäuschungen, Überforderungen, Beziehungskrisen, mangelnde soziale Unterstützung). Die Bedeu­tung der verschiedenen Faktoren kann von Patient zu Patient erheblich variieren (Sydow & Borst, 2018, S. 435). Darüber hinaus verweisen psychologische Theorien auf den Verstärkerverlust, die erlernte Hilflosigkeit (Seligman & Petermann, 2016), die in­adäquaten Attributionen und Kognitionen des depressiven Patienten (Beck et al., 1979) oder sehen in Depressionen nach innen gewendete Aggressionen (Meiss, 2009, S. 496).

2.3.2 Systemische Betrachtung mit Fokus auf Beziehungsmuster

Die systemische Sichtweise widerspricht dieser Betrachtung nicht, nimmt allerdings ei­nen anderen Blickwinkel ein. Nach diesem Verständnis bieten eben genannten Fakto­ren Anhaltspunkte zu Ursachen der Depression und potenziellen Hindernissen beim Gesundwerden. Allerdings spielen sie eine untergeordnete Rolle, unabhängig davon, „ob man die Depression für sozial konstruiert oder für eine reale Erkrankung mit biolo­gischer Grundlage hält" (Asen, 2013). Die Ursache einer Depression ist aus systemi­scher Sicht nicht festzumachen. Auch wenn sich bestimmte Korrelationen zeigen, weil beispielweise belastende Lebensereignisse oder -verhältnisse als Risikofaktoren für Krankheitsentwicklungen angesehen werden (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 29), kann die Kausalität nicht objektiv zugeschrieben werden. Symptome - als nicht erklär­bare Verhaltensweisen - können als Reaktionen auf veränderte Umweltbedingungen, welche das System gefährden könnten, beschrieben werden. In der systemischen The­rapie wird daher nach Problemen im System gesucht, für die das Symptom eine Lö­sung sein könnte (Ruf, 2015, S. 42-43). Welche Rolle depressive Verhaltensweisen in engen sozialen Beziehungen spielen können, wird anhand der folgenden Beziehungs­muster dargestellt, welche sich vorwiegend im Rahmen der Partnerschaft und der Her­kunftsfamilie abspielen.

Aufforderung zum Engagement: Häufig können depressive Signale eine Botschaft an den Partner oder die Partnerin sein, sich mehr zu engagieren. Die depressive Sympto­matik kann dem Betroffenen dabei helfen, unerfüllte „Wünsche und Bedürfnisse deut­lich werden zu lassen, die anders nicht ausgesprochen werden können" (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 76). Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass die Depression durch ein emotional kühles Klima gekennzeichnet sei und es unvorstellbar sei, ,Be­achte mich, denn ich fühle mich einsam‘ zu sagen ( Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 77 nach Linares & Campo, 2003).

Partner binden: Eine wesentliche Funktion depressiven Verhaltens kann darin liegen, ein bestehendes soziales System aufrecht zu erhalten, „es kann den Partner oder Kin­der zumindest eine Zeitlang daran hindern, das Haus zu verlassen" (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 77). Für den depressiven Partner, der aufgrund der depressiven Symptomatik als der vermeintlich Schwache in der Beziehung betrachtet wird, hat die Depression so gleichzeitig einen verdeckten „starken" Charakter. „Der Starke wird durch die Depression gezwungen, dem Schwachen beizustehen - und so vertauschen sich ihre Positionen" (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 77). Den Systemprinzipien der Homoöstase und Autopoiese folgend, regulieren Systeme sich selbst und streben meist nach einem Zustand des Gleichgewichts (Selvini Palazzoli et al., 1988, S. 15).

Am Beispiel einer Kommunikationsabfolge, die als rückbezügliches Muster beschrie­ben werden kann (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 77 nach Reiter, 2012), stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Depression für die Partnerschaft hat und ob in einer ursprünglich symmetrisch aufgebauten Partnerschaft diese Symmetrie verloren gegan­gen ist (Depressiver Partner: „Ich bin so depressiv, weil unsere Ehe so schlecht ist". - nichtdepressiver Partner: „Unsere Ehe ist so schlecht, weil du so depressiv bist."). Mit schlecht funktionierenden Partnerschaften - gekennzeichnet unter anderem durch Konfliktvermeidung oder uneindeutiges Miteinanderagieren - ist insbesondere bei Frauen depressives Verhalten verbunden (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 71-72). Die Depression könnte somit die Funktion habe, das Gleichgewicht wiederherzustellen, welches aufgrund der vielen Schwankungen allerdings instabil ist und die depressiven Symptome noch verstärken kann (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 78) „Es handelt sich häufig um eine Wechselwirkung, einen zirkulären Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Partnerschaft und Depression" (Sydow & Borst, 2018, S. 434)

Der Faktor der Gender-Ungleichheit wird an dieser Stelle aus soziokultureller Brille be­trachtet, da weniger die individuelle biologische und genetische weibliche „Ausstattung" als Risikofaktor angesehen wird. Wie bereits beschrieben (S. 7), sind Frauen deutlich häufiger von Depressionen betroffen. In der systemischen Betrachtung wird unter an­derem vermutet, dass Frauen mehr deprimierende Erfahrungen von Einflusslosigkeit machen, Distress anders und depressiver ausdrücken als Männer. Ein starker Zusam­menhang wird bei Frauen zur ehelichen Unzufriedenheit gesehen, Männer hingegen scheinen eher auf Arbeitsstress depressiv zu reagieren. (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 71).

Bindung an Vergangenes: An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass soziale Unter­stützung als einer der am besten belegteste Schutzfaktor für die psychische und physi­sche Gesundheit gilt (Faltermaier, 2017, S. 302) und insbesondere der familiären Unterstützung, Verbundenheit und Anerkennung eine große Rolle bei der Überwindung depressiver Phasen zugesagt wird (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 72). Umgekehrt können vergangene Familienereignisse im Rahmen der Entstehung einer Depression eine bedeutende Rolle spielen. Im Sinne der systemischen Beziehungsmuster kann depressives Verhalten „metaphorisch bestimmte Familienereignisse symbolisieren - in ihm kann die Erinnerung an ein verstorbenes Familienmitglied wachgehalten oder mit ihm die anhaltende Verbindung ausgedrückt werden" (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 77). Auch die Gestaltung frühkindlicher Bindungsmuster (im Sinne von Bowlby, 1975) scheint ein guter Prädiktor für Depressionen zu. Beispielsweise trägt die Tren­nung von den Eltern oder der Verlust eines Elternteils unabhängig von der genetischen Veranlagung zu einer erhöhten Vulnerabilität im Erwachsenenalter bei sein (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 73)

Loyalität: Depressives Verhalten kann somit auch als Loyalität insbesondere gegen­über den Eltern verstanden werden. „Menschen, deren Eltern ein schweres (ggf. de­pressives) Schicksal hatten und die ihren Eltern gegenüber sehr loyal sein wollen, [trauen] sich (unbewusst) oft nicht [...], es sich besser gehen zu lassen, als es ihren El­tern ging" (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 77). Des Weiteren kann es systemthera­peutisch sehr lohnend sein, Kinder im Rahmen der der Verarbeitung von elterlichen Depressionen direkt in der akuten klinischen Phase zu unterstützen. „Für Kinder kann [...] die Störung der Eltern auch zu einer Herausforderung für persönliches Wachstum werden und dazu beitragen, den Zusammenhalt der Familie zu stärken" (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 73).

Perfektionsdruck: Perfektionsdruck kann sich unter anderem in individuellen Mustern depressiven Denkens und Erlebens widerspiegeln, zum Beispiel als „dringende Not­wendigkeit, zu sein und zu tun, was andere bedeutsame Personen erwarten". Aus ver­gangenen Verlust-, Verunsicherungs- und oder Enttäuschungserlebnissen kann ein starkes Sicherheitsbedürfnis in Kombination mit einer überstarken Abhängigkeit von anderen Menschen entwickeln. Da zugleich die ein (im Erleben nicht zugelassenes) Aufbegehren gegen diese Abhängigkeit entsteht, entwickelt sich zwischen diesen bei­den Polen häufig die depressive Symptomatik. Darüber hinaus können „kollektive, im sozialen System geteilte [und] Druck erzeugende Ideen vom Typ ,Man kann und muss immer alles richtig machen“1 depressive Symptomatiken fördern. Dies gilt, insofern diese Ideen bei den Beteiligten Überforderung auslösen oder sie an ihnen scheitern (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 78).

Konfliktfreiheit und Zusammenhalt als oberste Werte: Dieser Perfektionsdruck „gilt spe­ziell für den Versuch, in zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch alles richtig zu machen, dass Konfliktfreiheit und Zusammenhalt als oberste Werte hochgehalten wer­den" (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 78 nach Simon, 2012). Dies daraus resultieren­den starken familiären Loyalitätsverpflichtungen erschweren das ausbalancierte Be­trachten und Umsetzen eigener Bedürfnisse. Trauen sich die Betroffenen, ihre eigenen Bedürfnisse, die der vorherrschenden Familienideologie (,Es gibt keine Konflikte und es ist alles normal‘) auszusprechen und nach ihnen zu handeln, kann dies enorme Schuldgefühle hervorrufen (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 78).

Hilfreiche Helfer, hilflose Geholfene: Wie bereits im Rahmen des Beziehungsmusters der Loyalität angerissen, können sich depressive Verhaltensweisen in der „Position des ewig Hilfreichen, der anderen (depressiven) Menschen zu helfen versucht" (Schmidbauer, 1978) widerspiegeln. Dieses „Helfersyndrom" zeigt sich zum Beispiel darin, dass „depressiv kommunizierende Mitglieder" ihren Gegenpart häufig aufmun­tern und zur Aktivität einladen und selbst vermehrt Verantwortung übernehmen, ohne dass Aussicht auf Erfolg besteht (Schlippe & Schweitzer, 2015, S. 77).

Diese typischen aus systemischer Sicht beschriebenen Beziehungsmuster bei depres­siven Patienten zusammenfassend lässt sich sagen, dass Depressionen häufig Aus­druck von nicht erfüllter Sehnsucht nach Zuneigung und Aufmerksamkeit sind, die be­reits im Kindesalter in der Beziehung zu den Eltern oder in der Partnerschaft wachsen kann. Darüber hinaus nehmen Depressionen häufig eine Rolle in der Beziehung ein, um auf Verluste und Verlustängste, die Nichterfüllbarkeit von Erwartungen sowie auf eine aus Schuld- und Pflichtgefühlen heraus entstandene, zu viel Raum einnehmende, familiäre Loyalität und Hilfsbereitschaft hinzuweisen.

[...]


1 Die in dieser Arbeit im Folgenden gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche und männliche Personen.

2 Prävalenzrate: Prozentsatz aller Krankheitsfälle in einer definierten Population zu einem be­stimmten Zeitpunkt bzw. innerhalb einer bestimmten Zeitperiode (Wittchen und Hoyer (2011)

Final del extracto de 39 páginas

Detalles

Título
Depressionen aus systemischer Sicht. Beziehungsmuster in Verbindung mit depressiven Störungen
Universidad
SRH - Mobile University
Calificación
1,0
Autor
Año
2021
Páginas
39
No. de catálogo
V1014859
ISBN (Ebook)
9783346413161
ISBN (Libro)
9783346413178
Idioma
Alemán
Palabras clave
Depression, systemische Therapie, systemische Beratung, Gesundheitspsychologie, Diagnostik, Empirische Forschung, Fragebogen, depressive Störung
Citar trabajo
Isabel Heim (Autor), 2021, Depressionen aus systemischer Sicht. Beziehungsmuster in Verbindung mit depressiven Störungen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1014859

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