Zeitwahrnehmung und Verantwortungsübernahme für die Zukunft. Eine Interview-Studie


Diplomarbeit, 2009

174 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund und Begriffsklärung
2.1 Nichtwissenschaftliche Anschauungen zu Zeit
2.1.1 Die Philosophie und die Zeit
2.1.2 Die Religion und die Zeit
2.1.3 Der Mensch und der Umgang mit Zeit
2.2 Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Zeit
2.2.1 Die Physik und die Zeit
2.2.2 Die Biologie und die Zeit
2.2.3 Die Psychologie und die Zeit
2.3 Theoretische Eingrenzung
2.4 Überlegungen zu Verantwortung
2.5 Zusammenfassung

3 Konzeptualisierung der Fragestellung

4 Methode
4.1 Wahl der Forschungsmethode
4.2 Sampling, Feldzugang und Durchführung
4.3 Erhebungsmethode
4.3.1 Das problemzentrierte Interview
4.3.2 Instrumente des problemzentrierten Interviews
4.3.3 Begründung der Methodenwahl
4.4 Auswertung und Vorbereitungen zur Theoriebildung
4.4.1 Das zirkuläre Dekonstruieren
4.4.2 Die Grounded Theorie
4.4.3 Begründung der Methodenwahl

5 Ergebnisse und Theoriebildung
5.1 Kurzfragebogen
5.2 Einzelauswertung der Interviews (Gruppe 1)
5.2.1 Interview mit Frau L
5.2.2 Interview mit Herrn K
5.2.3 Interview mit Herrn U
5.2.4 Interview mit Herrn W
5.3 Abgeleitetes Modell Gruppe 1
5.4 Einzelauswertung der Interviews (Gruppe 2)
5.4.1 Interview mit Frau A
5.4.2 Interview mit Herrn M
5.4.3 Interview mit Herrn B
5.5 Abgeleitetes Modell Gruppe 2
5.6 Integratives Modell
5.7 Zusammenfassung

6 Diskussion und Konklusion
6.1 Zusammenfassung
6.2 Diskussion
6.3 Relevanz für die Zukunft
6.4 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhang
1. Interview-Leitfaden mit Kurzfragebogen
2. Transkriptionsregeln
3. Datenschutzvertrag
4. Kodierfamilien nach Glaser (1978)

Vorwort

„Wir begegnen da einem Phänomen am Menschen, das ich für fundamental anthropologisch halte: die Selbst-Transzendenz menschlicher Existenz! Was ich damit umschreiben will, ist die Tatsache, daß Menschsein allemal über sich selbst hinausweist auf etwas, das nicht wieder es selbst ist - auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder auf anderes menschliches Sein, dem wir da liebend begegnen. Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe, je mehr er hingegeben ist an seinen Partner, um so mehr ist er Mensch, um so mehr wird er selbst. Sich selbst verwirklichen kann er also eigentlich nur in dem Maße, in dem er sich selbst vergißt, in dem er sich selbst übersieht.“ (Frankl, 1968. In: Frankl, 2008, S. 147)

Die vorliegende Diplomarbeit ist das Ergebnis eines einjährigen Forschungsprozesses. Sie stellt einen Zwischenstand dar, der Einblick in die speziellen Themengebiete Zeitwahrnehmung und Verantwortung gestattet, und mögliche Verknüpfungen dieser psychologischen Konzepte mit Variablen des menschlichen Erlebens und Verhaltens aufzeigt.

Ich danke meiner Frau für ihre Liebe und Unterstützung.

Der Verfasser dankt den befragten Personen für die Bereitschaft an einem Interview teilzunehmen. Alle Interviewdaten wurden auf Wunsch der Befragten anonymisiert.

Mein Dank für die außerordentliche Betreuung gilt Univ.-Prof. Dipl.-Psych. Dr. Peter Schmuck

1 Einleitung

Wie sieht die Welt in 100 Jahren aus und welche Rolle wird der Mensch in dieser Welt spielen? Diese spannende Frage wird wohl niemand beantworten können. Dennoch lassen sich Zukunftsszenarien entwerfen, welche - zumindest vergleichend - der Vergangenheit, sowie den momentanen Gegebenheiten gegenübergestellt werden können. Dabei spielen Hoffnungen und Wünsche, Erwartungen und Utopien ebenso eine Rolle, wie wissenschaftlich fundierte Prognosen. Die aktuellen ökologischen, ökonomischen, sozialen, politischen und religiösen Herausforderungen haben im 21. Jahrhundert, angesichts einer immer größer werdenden Vernetzung, eine globale Dimension eingenommen.

In diesem Zusammenhang erhält die Frage, welche Rolle die Verantwortung oder vielmehr die Wahrnehmung einer Verantwortlichkeit dabei spielt, eine hinreichende Relevanz.

Im Rahmen dieser Diplomarbeit soll untersucht werden, ob die Zeitwahrnehmung eines Menschen Einfluss auf sein Verantwortungsbewusstsein hat. Desweiteren wird diskutiert, ob sich aus der Zeitwahrnehmung die Bereitschaft des Menschen ableiten lässt, die Verantwortung für eine Zukunft zu übernehmen, die er selbst nicht mehr erleben wird.

Um diesen Fragen nachzugehen, werden Interviews nach qualitativen Richtlinien durchgeführt und anschließend mit - speziell zu diesem Zweck entwickelten - Verfahren ausgewertet. Ziel dieses Vorhabens ist es, eine vorläufige Theorie abzuleiten, die im Kern alle wesentlichen Elemente dieses großen Untersuchungsfeldes erfasst. Diese Elemente werden abschließend in einer integrierenden Diskussion erweitert, die letztendlich in ein Fazit mündet, das einen kleinen Ausblick für Zukünftiges liefern soll.

2 Theoretischer Hintergrund und Begriffsklärung

2.1 Nichtwissenschaftliche Anschauungen zu Zeit

Im Folgenden setzt sich der Verfasser mit dem Thema Zeit und damit verbundenen Aspekten auseinander. Dieses notwendige Unterfangen soll einen Überblick darüber geben worauf sich Zeitbewusstsein überhaupt gründet, bzw. welche Wurzeln letztendlich den Baum dieses Bewusstseins speisen. Den - zugegeben - recht abstrakten philosophischen Anschauungen wird im Anschluss eine dienliche religiöse Interpretation des menschlichen Erfahrens von Zeit angestellt, auf die eine intuitiv gut zugängliche Herleitung der Entwicklung eines menschlichen Zeitbewusstseins folgt.

2.1.1 Die Philosophie und die Zeit

Die Auseinandersetzung mit der Zeit ist nach heutiger Kenntnis erstmals seit der Antike im 6. Jahrhundert vor Christus dokumentiert. Dort prägte Anaximander den Satz: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge" ist das Apeiron (das grenzenlose Unbestimmbare, Unendliche). In dieses kehren sie auch zurück (vgl. Kramer, 2000, S. 24).

In der älteren griechischen Philosophie wird zwischen Aion, Chronos und Kairos unterschieden. Chronos stellt die „Zeit an sich" dar, die als bewegtes Abbild der Ewigkeit mit der Welt geschaffen ist. Kairos ist das eigentliche Wort für den Zeitpunkt. Es wird gleichzeitig als Begriff für den entscheidenden Augenblick benutzt (vgl. Delling, 1950, S. 457). Das Wort Aion bezeichnet die „relative Zeit, die einem Wesen zukommt", also die Lebenszeit (vgl. Sasse, 1953, S. 197). Erst später nahm das Wort Aion den Begriff der Ewigkeit - als die Zeit Gottes - an, da die Zeit des Aion über die chronische Zeit hinausreicht, die in eins mit dem Raum, zur Verfassung der Welt gehört (vgl. Theunissen, 1991, S. 301).

Weitere Grundlagen für die Zeitbestimmung lieferten Heraklit (um 550-480 v. Chr.) und Parmenides (geb. um 515 v. Chr.). Für Heraklit besitzt die Zeit einen irreversiblen Ablauf wie der Strom eines Flusses, und die Welt war in einem ständigen Werden begriffen. Parmenides hingegen sah die Welt nur als eine scheinbare an. Für ihn stellte die Zeit einen reversiblen Faktor einer unveränderlichen Welt dar.

Weitere Überlegungen über die Zeit sind von Platon (427-347 v. Chr.) und Plotin (205-270 n. Chr.) überliefert. Die platonische Zeitvorstellung steht unter dem Zeichen der Idee. Da für ihn die Idee das ist, was sich immer gleich verhält, ist auch der aion die „zeitlose, ideelle Ewigkeit ohne Tage, Monate oder Jahre" (vgl. Sasse, 1953, S. 197). In seinem Parmenides-Dialog gelingt es Platon die Gegensätze von Heraklit und Parmenides zu überwinden, indem er die Veränderung und das Werden mit dem Unveränderlichen und mit dem Permanenten verbindet. Für ihn gibt es also einen Zeitfluss, aber er behält das Jetzt als Augenblick bei (vgl. Kramer, 2000, S. 24f). Plotin als Neuplatoniker differenziert zwischen dem Urbild der Ewigkeit und dem Abbild der Zeit:

„Die Ewigkeit und die Zeit nennen wir verschieden voneinander und weisen jene der ewigen Wesenheit zu, die Zeit aber dem Reich des Werdens, unserem Weltall“ (vgl. Plotin, Enneaden III, Nr. 1, S. 177).

Plotin kannte, wie auch Platon, den Unterschied zwischen der Weltseele und der Einzelseele. Während die Weltseele aus dem göttlichen Geist hervorgegangen ist, sind die Einzelseelen alle aus der Weltseele entstanden. In ihrem Wesen entsprechen die Einzelseelen der Weltseele. Plotins Philosophie hatte großen Einfluss auf die Kirchenväter des Altertums. Besonders der Ewigkeitsbegriff berührte die christliche Glaubenslehre des Augustins (vgl. Kramer, 2000, S. 25).

Aristoteles' (384-322 v. Chr.) Vorstellungen von Raum und Zeit sind an die Gegebenheit dieser Welt gebunden und haben hinsichtlich ihrer Veränderungen hier ihren Platz. Für ihn besitzt die Zeit einen paradoxalen Charakter. Sie wird als Prozess und zugleich als ein Moment in diesem Prozess verstanden. Den Kern der Zeit erkennt er im „Jetzt" (nyn) (vgl. Kramer, 2000, S. 26). Seine Definition lautet:

„Dies nämlich ist die Zeit, die Zahl der Bewegung nach ihrem Früher und Später“ (vgl. Aristoteles, Physik, 219b, 1ff).

Für Aristoteles ist Zeit also ebenso mit Bewegung (auch im Sinne von Veränderung) verbunden, und außerdem eine Art Zahl. Zeit wird durch Bewegung gemessen und wird so zum Maß der Bewegung und ihres Ablaufs (dem Früher und Später) sowie der Dauer (vgl. Aristoteles, Physik, 221 a, 7).

Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.), der besonders das Gedankengut Plotins aufgriff, war der erste Theologe, der die Zeit vom Menschen aus dachte und Zeit auf das Individuum bezog. Für ihn besteht (wie auch bei Plotin) zwischen Zeit und Ewigkeit ein qualitativer Unterschied, und ebenso wie bei Aristoteles ist auch für Augustinus die Zeit untrennbar von der Welt und ihren Veränderungen. Er spricht nicht vom Anfang der Zeit, sondern von ihrem Ursprung (principicum): „Und dies ist Gott selbst bzw. Gottes Weisheit (sapientia die)“ (vgl. Rudolph, 1990).

Für ihn ist also die Zeit mit der Welt erschaffen worden. Diese Auffassung spiegelt sich heute zum Beispiel in der Urknalltheorie der Physik wieder. Anstatt Zeit und Bewegung - wie bei Aristoteles - zu verknüpfen, nimmt Augustinus die Zeit des Stillstandes hinzu. Darum kann er im menschlichen Geist Ursprung und Maßstab der Zeit erkennen. In der Seele zeigt sich die Zeit als eine Erfahrung der Gegenwart. Die Gegenwart ist also der zentrale Aspekt seines Zeitbegriffs. Für ihn gibt es eine Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein, und eine Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung (vgl. Augustinus, Buch XI, 20, S. 280). Augustinus vereint die drei Zeitmodi allein in der Seele zu einer Dreiheit. Im Grunde beschreibt Augustinus hier bereits die Grundlagen der Zeitwahrnehmung des Menschen.

Für Kant ist die Zeit eine „notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zu Grunde liegt". In ihr ist „alle Wirklichkeit möglich" (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1966) § 4, S. 94). Sie entspringt nicht der Abstraktionsfähigkeit des Verstandes, sondern ist eine „reine Form der sinnlichen Anschauung" (vgl. Kant, ebd., S. 95). In seinen fünf Thesen über die Zeit und ihren Merkmalen versucht Kant den spekulativ-subjektiven Zeitbegriff zu verobjektivieren. Ähnlich wie bei Newton, hat für Kant die Zeit einen absoluten Charakter. Nach Auffassung von Hegel und Heidegger wird Kants Zeit-Interpretation durch die Endlichkeit fixiert (vgl. Kramer, 2000, S. 65). Denn Kants Philosophie ist durch die auf sich selbst gegründete „endliche Zeitlichkeit" bestimmt (vgl. Manzke, 1997, S. 156).

Hegel hat seine Überlegungen zu Zeit an Aristoteles angelehnt. Auch er sieht die Zeit im „Jetzt" und hier speziell als Punkt konzentriert. Dabei schließt er über die Betrachtung des Punktes im Raum - für ihn „Jetzt-Punkt“ - auf die Zeit.

Raum ist wegen seines Jetzt-Charakters Zeit, und Zeit ist die „Wahrheit des Raumes“. „So wird der Raum zur Zeit“ (vgl. Hegel, Enzyklopädie (1970) Bd. 9, § 257, S. 48). Zum speziellen Charakter der Zeit schreibt er:

„Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht alles, sondern die Zeit selbst ist dies Werden, Entstehen und Vergehen, das seiende Abstrahieren, der alles gebärende und seine Geburten zerstörende Kronos“ (vgl. Hegel, ebd., § 258, S. 49).

Entsprechend seinen Betrachtungen ist Ewigkeit ohne die „natürliche Zeit". Sie ist die „absolute Zeitlosigkeit“. Darum ist von der Ewigkeit zu sagen, dass sie ist. Weder wird sie sein, „noch war sie“ einmal! Demzufolge ist die „wahre Gegenwart“ die Ewigkeit (vgl. Hegel, ebd., § 259, Zusatz, S. 55).

Für Heidegger ist die Zeit der Schlüssel zur Deutung des Seins. Sie ist die Grundbefindlichkeit des Seins, von der her alles Seiende zu erklären ist (vgl. Heidegger, 1979, S. 44). Das Sein des Daseins ist in seiner ontologischen Struktur als „Sorge“ zu interpretieren. Aber die Sorge-Struktur kann das Ganze des Daseins nicht aufdecken. Erst die „Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur“ (vgl. ebd., S. 328). In dem Begriff der Zeitlichkeit steckt die Selbstbehauptung des Daseins. Die Zeit ist nicht: aber das Dasein ist, indem es „zeitigt“ (vgl. Barth, 1948). Die Zeitlichkeit weist darauf hin, dass das Dasein aus sich selbst heraus „ganz“ sein kann. Aus ihr wächst das „alltäglich-vulgäre Zeitverständnis“, das sich zu einem „traditionellen Zeitbegriff“ entfaltet (vgl. Heidegger, 1963, § 45, S. 235).

Bei Heidegger lässt sich eine Besonderheit in der Zeitauffassung entdecken. Er versucht, die drei Zeitbereiche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die von Augustinus erörtert worden sind, in eine neue Ursprungsordnung zu setzen. Er betont, dass die menschliche Existenz ein Aus-sich-Heraustreten, ein „ek- sistere“, ein Vorlaufen auf den Tod, den antizipierten Tod ist (vgl. Baumgartner, 1994, S. 198).

„Von diesem Vorlaufen her und im Lichte dieser Zukunft erhält die Gegenwart absolute Bedeutung und damit auch das, was aus der Vergangenheit als Erbe in diese Gegenwart hereinragt. Der Ort seiner Rekonstruktion des Zeitbewusstseins ist also nicht mehr das präsentische Bewusstsein der Entfaltungen der Zeitdimensionen, mithin die Gegenwart.

Vielmehr werden von der Zukunft aus Gegenwart und Vergangenheit ursprünglich begründet“ (vgl. Baumgartner, 1994, S. 198).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich innerhalb der Philosophie und ihrer Auseinandersetzung mit der Zeit, zwei unterscheidbare Richtungen entwickelt haben. Die eine Richtung beschreibt eine objektive welt- oder kosmisch bezogene Zeitauffassung, wie sie von Platon, Aristoteles, Newton und Kant vertreten wurde. Die andere Richtung nähert sich einer subjektiven vom Erleben her getragenen Ansicht, wie bei Augustinus, bzw. einer subjektiv­existenzbezogenen, die bei Heidegger zu finden ist (vgl. Baumgartner, 1994, S. 198f).

Die neuere Philosophie geht inzwischen von einer Unterscheidung absoluter Zeit-Bestimmungen (sog. A-Reihe, z.B. vergangen, gegenwärtig, zukünftig), wie bei Augustinus, und relativer Zeit-Bestimmungen (sog. B-Reihe, z.B. früher als, gleichzeitig, später als) wie bei Kant und den modernen Naturwissenschaften, aus. (Die Unterteilung in A- und B-Reihe erfolgte erstmals bei McTaggart, 1908).

Nachdem mit Hilfe der Philosophie der Sprache Argumente dafür geliefert wurden, dass Begriffe der einen Zeitreihe nicht in Begriffe der anderen übersetzt werden können, gibt es demnach drei mögliche Versionen für die Begründung der B-Reihe (tenseless theory): eine zeichenanalytische (token­reflexive), eine Version auf Basis der Zeitpunkte (date version) und eine neuere Version der Satztypen (sentence-type) (vgl. Craig, 2000).

2.1.2 Die Religion und die Zeit

In der Religion hat die Zeit einen zyklischen Charakter, der sich aus der Naturbeobachtung heraus - besonders dem Wandel der Gestirne, dem Wechsel der Jahreszeiten und des Tag-Nacht-Rhythmus - entwickelte. Da die mächtigen Naturvorgänge das menschliche Vorstellungs- und Erkenntnisvermögen überstiegen, entwickelte sich über Jahrtausende eine Kräfte- oder Mächteverehrung, denen sich der Mensch unterordnete. Der daraus entstandene Poly- und spätere Monotheismus steht immer noch unter diesem Einfluss.

„Die religiöse Weihe der Naturvorgänge verstärkt die innere Bereitschaft, sie zu respektieren. Man , unterwirft1 sich dann nicht nur der höheren Gewalt, sondern vertraut gläubig der göttlichen Weisheit und Güte, die den Wechsel zu unserem Heil geschaffen hat.“ (vgl. Wendorff, 1988, S. 145)

Kern jeder Religion ist der Glaube daran, seinen menschlichen Beitrag zum göttlichen Werk zu leisten, ohne auf Abwege zu geraten. Sowohl die Schritte, die dafür notwendig sind - motiviert durch den Erlösungsgedanken, als auch die Konsequenzen des Abweichens vom Weg - bekräftigt durch drohende Strafen, bzw. negative Konsequenzen, sind in jeder Religion angelegt.

Das Bewusstsein von der Endlichkeit des eigenen Lebens und die Annahme eines allmächtigen, ewigen Schöpfers, begünstigte die Entwicklung eines Wiedergeburtsglaubens (auch Reinkarnation oder Palingenese), der in vielen Kulturen und religiösen Lehren Verbreitung fand. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass die menschliche Seele oder fortbestehende mentale Prozesse sich nach dem Tod - der „Exkarnation" - erneut in anderen empfindenden Wesen manifestieren. Diese Sichtweise lässt eine besondere Betrachtung der Zeit zu. Zum einen bedeutet die ewige Wiederkehr eine Annäherung an die Unendlichkeit. Zum Anderen verlagert sie die Perspektive des eigenen Lebens im Verhältnis zu Zeit in Richtung Zukunft, und gibt somit möglichen Lebensentscheidungen eine andere Gewichtung.

Die Unterordnung unter die göttlichen Mächte stand nicht im Wiederspruch zu der Erkundung der göttlichen Ordnung in der Welt. Die Erkenntnisse aus der Beobachtung der Sternenbewegungen, der Naturkreisläufe und dem gegenwärtigen Erleben, führten zur Entwicklung eines Zeitbewusstseins, welches religiös-kulturell tief im Menschsein verwurzelt ist.

Zum Beispiel ist die disziplinierte innere Bereitschaft der Gläubigen, besonders der Mönche - als Ausdruck von Unterwerfung und Gehorsam einer höheren Macht gegenüber - die geforderten Gebetszeiten einzuhalten, um Gott angemessen loben und danken zu können, eine der bedeutsamsten Quellen des (europäischen) Zeitbewusstseins (vgl. Wendorff, 1988, S. 15). Diese Konsequenz im täglichen Tun begünstigte unter anderem die Gewöhnung an die Stundeneinteilung des Tages (siehe 2.1.3 Der Mensch und der Umgang mit Zeit).

Derjenige, der in der Lage war, die aus der Naturbeobachtung gewonnenen Erkenntnisse zu deuten und zu nutzen, war sozusagen auch der „Herr" über die Zeit. So bildeten letztlich auch religiös bewertete besondere Ereignisse, die Grundlage für unsere heutige Zeitrechnung. Ein anderes Beispiel dafür, ist der Übergang von einer kirchlich bestimmten Zeit (Fest- und Feiertage, Reglementierung des Alltagslebens) - die unter anderem dazu beigetragen hat, dass sich die menschliche Zeitwahrnehmung an zeitlichen Markierungen orientiert - zu einer vom Handel und den Kaufleuten geprägten Zeit, durch die Erfindung der mechanischen Uhr (vgl. Dohrn-van Rossum, 1992).

2.1.3 Der Mensch und der Umgang mit Zeit

Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit. Er ist Teil einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer Kultur und letztlich auch der Welt, die wiederum in universelle Gegebenheiten eingebettet ist. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Zeit ist phylogenetisch (menschheitsgeschichtlich) ein sehr junges Phänomen. Mit der Todes-Erfahrung entsteht gleichzeitig (wie oben erwähnt) das Bewusstsein von der Endlichkeit und Begrenztheit des eigenen Lebens und somit auch die Hoffnung auf irgendeine Fortdauer. Diese Tatsache ist eine der frühsten kulturellen Errungenschaften der Menschheit (vgl. Wendorff (1988), S. 8). Zeitvorstellungen sind sowohl von ihren Voraussetzungen, als auch Wirkungen vollständig in der Kultur integriert und haben keine davon unabhängige Existenzmöglichkeit. Daraus lässt sich ableiten, dass es kulturell bedingte Unterschiede in den Zeitideen und Zeitgewohnheiten gibt, die gleichzeitig nebeneinander bestehen können. Dieser Fakt weist auf einen besonderen Charakter der Zeit, den es näher zu untersuchen gilt.

Die Beobachtung der Welt und die Entstehung der ersten Schriftsysteme begünstigte die Entwicklung eines Zeitsystems, das sich in drei Bereiche gliedern lässt, in denen jeweils besondere Gesetzmäßigkeiten gelten. Der chronologisch frühste Bereich ist die Jahresgliederung, abgeleitet aus den Sternenbeobachtungen, die im Kalender dokumentiert wurden, und den Wechsel der Jahreszeiten. In diesem Zusammenhang erfolgte über Jahrhunderte und beeinflusst von kulturellen und besonders religiösen Vorstellungen (siehe oben Punkt 2.1.2 Die Religion und die Zeit) die Teilung des Jahres in Monate, Wochen und Tage.

„Der heute in vielerlei Formen verbreitete Kalender ist ein selbstverständlich gewordenes Instrument der Lebenstechnik im öffentlichen, wie im privaten Bereich. Sein stummer Hinweis auf Fluß, Begrenztheit und Gliederung der Zeit als Folge von Tagen, Wochen und Monaten ist ein ständiger Appell zu zeitlicher Wachheit und Verantwortung.“ (vgl. Wendorff, 1988, S. 13)

Nur das Jahr und der Tag sind als Zeitgliederung von der Natur vorbestimmt. Alle anderen Zeiteinheiten sind künstlich genormte Werte von Astronomie, Mathematik und Physik.

Der zweite Bereich ist die Gliederung des Tages in Stunden und deren Untereinheiten. Diese Gliederung ist von Anfang an verbunden mit einer physikalisch-mechanischen Zeitmessung, aus der sich nach und nach die Uhr als wichtigstes Instrument behauptet hat. Ein Grund für die Gewöhnung an die Stundeneinteilung des Tages ist die Untergliederung des vor allem landwirtschaftlich bestimmten Arbeitstages im Sinne des „hellen Tages", der im Sommer länger dauert als im Winter. Mit der zivilisatorischen Entwicklung erfolgte ein langfristiger Prozess der zeitlichen Qualitätssteigerung. Besonders in den Städten erhöhte sich die Nutzung und Wertung der Stunde, bzw. die „zeitliche Höflichkeit" machte genauere Zeitangaben notwendig (vgl. ebd., S. 14).

Der dritte Bereich betrifft die Kenntnis der Geschichte und das Bewusstsein, wie und wo man selber in einen größeren historischen Prozess eingeordnet ist. Die Dokumentation dieses Prozesses, der bis heute andauert, ist dadurch charakterisiert, bestimmte Zeitabschnitte entsprechend der in ihnen stattgefundenen besonderen Ereignisse zu klassifizieren. Dabei zeigt sich deutlich die Tendenz, dass diese Abschnitte in ihrer Dauer immer kürzer werden, vielleicht deshalb, weil sich Veränderungen heute immer schneller und tiefgreifender vollziehen. Die Schaffung einer einheitlichen, in aller Welt gültigen historischen Zeitachse ist ein spätes Ergebnis der europäischen Kultur (vgl. ebd, S. 18).

In diesem Zusammenhang offenbart sich ein interessanter Aspekt des Verhältnisses zwischen der Zeit und dem Menschen. Noch im 18. Jahrhundert gab es eine traditionelle Begrenzung aller bisherigen und künftigen Welt- und Naturgeschichte auf sechstausend Jahre. Diese Zeitspanne enthielt verhältnismäßig wenige Zeitmarkierungen. Mittlerweile hat die Zeitspanne zwischen Vergangenem und Zukünftigem eine Ausdehnung von mehreren Milliarden Jahren und demzufolge sehr viel mehr zeitliche Markierungen. Aufgrund der heute vorherrschenden Genauigkeit und Detailliertheit sind - je nach Gewichtung - im Grunde fast unendlich viele zeitliche Markierungen möglich. Diese Vielzahl macht sicherlich eine neue Art der Ordnung beziehungsweise Hierarchisierung notwendig.

Dieser Aspekt führt uns zu der Erkenntnis, das Raum und Zeit Eigenschaften besitzen, die dem menschlichen Verstand nicht zugänglich sind. Für den Raum ist es die Unendlichkeit, ein endloses Nebeneinander. Für die Zeit ist es die Ewigkeit, ein ewig andauerndes Nacheinander. Dabei meint Ewigkeit nicht nur begrenzte Zeit ohne Anfang und Ende, sondern vielmehr Zeitlosigkeit (siehe oben unter 2.1.1 Die Philosophie und die Zeit). Dies ist ebenso schwer vorstellbar, wie Raumlosigkeit als Steigerung des Begriffes der räumlichen Unendlichkeit (vgl. Wendorff, 1988, S. 23).

Im Spannungsfeld zwischen gegenwärtigem Erleben und der Ahnung von Ewigkeit und Unendlichkeit, die die menschliche Existenz relativieren, bildeten sich über die Jahrtausende zwei verwandte Zeitempfindungen. Auf der einen Seite lässt sich die Zeit als ständig in eine Richtung fließender Strom empfinden. Aus dieser Erfahrung entwickelte sich das, was wir heute als lineare Zeitvorstellung beschreiben. Sie bringt uns in Kontakt mit dem Bewusstsein von Unumkehrbarkeit und somit auch von Einmaligkeit. Durch diese Perspektive rücken die Konsequenzen, d.h. eine gewisse Unwiederholbarkeit menschlichen Handelns und Erlebens an einer bestimmten Stelle innerhalb der Zeit, mehr in den Vordergrund. Alle Ereignisse lassen sich auf einem „Zeitpfeil“ oder besser noch einer Linie anordnen, als Prinzip der endlos integrierenden Verbindung zwischen allen aufeinanderfolgenden Punkten. Ebenfalls charakteristisch für diesen „Zeitpfeil“ sind Kontinuität und Stetigkeit in beide Richtungen. Es bildet sich der Eindruck von unendlich vielen Möglichkeiten, und die Chance zu unendlich viel Neuem. Die lineare Zeitvorstellung öffnet den Blick des Menschen für die Offenheit der Zeit in Hinblick auf ihre Unbegrenztheit, sowie die damit verbundenen Verlockungen und Herausforderungen aber auch der Ungewissheit.

Als Gegensatz dazu steht die Erfahrung der Wiederholung vieler natürlicher Phänomene und dem damit einhergehenden Gedanken der zuverlässigen Wiederkehr von Ereignissen. Diese Empfindung begünstigte die Entwicklung einer zyklischen Zeitvorstellung und beinhaltet gleichwohl die Erkenntnis, dass jede Tendenz einen vorläufigen, vorübergehenden Charakter hat. Die Idee, dass sich jede Bewegung nach einem Umlauf wieder ihrem Ausgangspunkt nähert, führte zur Konzeption der Aufeinanderfolge von Kreisläufen. Damit verknüpft ist die Vorstellung, dass mit Vollendung eines zeitlichen Kreises, der Beginn eines neuen einhergeht. Das Gefühl der Wiederkehr von Erscheinungen in zyklischen Zeitabläufen wirkt wie ein Wertstempel, der Gültigkeit und Echtheit besiegelt (vgl. Wendorff, 1988, S. 37). Gleichzeitig beinhaltet dieses Gefühl den besonderen Reiz des Neubeginns, der eine Konfrontation mit der Zukunft bereithält.

Die Ambivalenz zwischen diesen beiden Zeitvorstellungen trägt denselben Charakter, wie das unlösbare Phänomen der sogenannten „Kippfiguren“. Der Mensch kann nur zwischen beiden Varianten hin und her wechseln aber sie nie gleichzeitig wahrnehmen.

„ Vielleicht bietet der Hinweis auf die von Anfang an gegebene Ambivalenz der Zeitauffassungen einen guten Ausgangspunkt, um die später auftauchenden vielen Wandlungen des Zeitbewußtseins nicht als beliebige Neuerungen zu sehen, sondern als Variationen innerhalb eines traditionellen, begrenzten Bezugsrahmens, als Wandlungen im Zusammenspiel verschiedener, im Zeitphänomen grundsätzlich verwurzelter Komponenten!“ (vgl. Wendorff, 1988, S. 33f)

Die Wahrnehmung erlaubt es dem Menschen, Veränderungen im Moment ihres Auftretens zu erfassen. Mit Hilfe des Gedächtnisses kann er die Reihenfolge der erlebten Veränderungen wiederherstellen und somit auch zukünftige Veränderungen antizipieren. Auf diese Weise bildet sich nach und nach ein zeitlicher Horizont zwischen Vergangenheit und Zukunft (siehe unten Punkt 2.2.3 Die Psychologie und die Zeit). Außerdem ist dieses Vorgehen ein wesentliches Merkmal für das Zeitbewusstsein, denn jeder Mensch bestimmt für sich eine Zeitlinie (time line), auf die Erinnerungen in chronologischer Folge abgebildet werden. Die wichtigsten Ereignisse dienen ihm als zeitliche Markierungen und formen somit die Möglichkeit zum Vergleich einzelner Lebensphasen sowie zur Einschätzung von Dauer. Dabei wird die Gegenwart zur genauen Bestimmung des Augenblicks im Sinne unserer Einstiegstelle in die Zeit genutzt (vgl. Wendorff, 1988, S. 45).

„Der gegenwärtige Augenblick ist der kritische und entscheidende Punkt auf den jedes Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft angewiesen bleibt.“ (vgl. ebd., S. 45)

Zwischen 1940 und 1970 lassen sich verschiedene Bestrebungen der Psychologie identifizieren, die um die Gegenwart spielenden „Zeitstrecken“ - in Vergangenheit und Zukunft hinein - in Bezug auf das Zeitbewusstsein des Menschen zu interpretieren. Das Konzept der „Zeitperspektive“ (erstmals Frank, 1939) als Spannweite des auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogenen Zeitbewusstseins und der Bedeutung solch qualifizierter Zeitbezogenheit für Erleben, Verhalten und Handeln, diente dabei als nützliches Konstrukt. Eng damit verbunden ist die Auffassung, dass die Zeitperspektive als Zeithorizont verstanden werden kann, der in dieser oder jener Schwerpunktbestimmung Ausdruck einer Kultur ist (vgl. Wendorff, 1988, S. 47; zum Überblick über kulturvergleichende Forschung vgl. Thomas (1993)).

„Die vorzugsweise Hinwendung zu nur einem oder zwei dieser Bereiche ist gewichtiger Ausdruck einer kulturell, religiös, politisch, sozial und anderweitig bestimmten Einstellung zur Welt und zum eigenen Lebensverlauf und bestimmt Verhalten und Handeln.“ (vgl. Wendorff, 1988, S. 48) Zeitbewusstsein ist kein besonderer Sinn, mit dem der Mensch geboren wird, sondern es entwickelt sich in einem ungefähr zwölf Jahre dauernden stufenweisen Prozess (ein Überblick dazu findet sich in Wendorff, 1988, S. 50f). Für Piaget (1980) ist Zeitbewusstsein das Ergebnis eines in den Anfängen unbewussten Lernprozesses der die Loslösung der automatischen Eingebundenheit in den Zeitfluss zur Ausbildung eines „wachen“ Zeitbewusstseins beinhaltet.

Der persönliche Zeithorizont eines Menschen, im Sinne einer Zeitstrecke zwischen Geburt und Tod, ist die eigene Lebenszeit. Der Tag der Geburt oder das gesamte Alter wurden in der Vergangenheit oft nicht dokumentiert. Die privaten Lebensdaten waren nicht wichtig, weil das Leben des einzelnen eingebettet war in die Familie oder den Stamm (vgl. Wendorff, 1988, S. 56). Der persönliche Lebenslauf gewann erst mit der Herausbildung des Individuums und seiner Abgrenzung von der Gesellschaft an Gewicht. Hier lässt sich auch ein Unterschied zwischen individualistischen und kollektivistischen Gesellschaften ermitteln.

Mit der technologischen Entwicklung und den Fortschritten auf sämtlichen Gebieten des Lebens verbesserte und verlängerte sich die mittlere Lebenszeit des Menschen (die maximale Lebensdauer änderte sich kaum!). Außerdem ging der durchschnittliche Anteil der erwerbswirtschaftlichen Arbeitsstunden an der Gesamt-Lebensstundenzahl von über 30 Prozent in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf knapp 14 Prozent zurück (vgl. ebd., S. 63). Diese Entwicklung stellt den Menschen heute vor die Aufgabe, viele Jahrzehnte sinnvoll auszufüllen, und sein Leben entsprechend zu gestalten, d.h. dem eigenen Leben bewusst soviel wertvollen Inhalt wie möglich zu geben.

Wie ein Mensch plant und handelt, ist zum großen Teil davon geprägt, was hinter ihm liegt.

„Jeder Mensch ist nicht nur Kind seiner Eltern, sondern auch Kind seiner Kultur, Erbe einer langen Vergangenheit.“ (vgl. ebd., S. 73)

Woran sich der Mensch erinnert und welche Ereignisse und Entwicklungen im eigenen Leben oder in der Geschichte er für sein Selbst- und Weltverständnis, für seine gegenwärtige Positionsbestimmung und als Voraussetzung für seine Zukunft als wichtig ansieht, liegt im Ermessen jedes einzelnen.

„Aus allem, was einmal gewesen ist, trifft jeder seine (sich im Laufe der Zeit wandelnde) ganz persönliche Auswahl.“ (vgl. ebd., S. 68)

In diesem Zusammenhang offenbart Viktor E. Frankl (1960) eine besondere Sicht auf die Vergangenheit.

„Es sind nämlich jeweils nur die Möglichkeiten, die da vergänglich sind - sobald sie jedoch einmal verwirklicht wurden, sind sie ein für alle Mal verwirklicht worden, und wenn sie auch vergangen sein mögen: eben in ihrem Vergangensein sind sie vor der Vergänglichkeit gerettet - hineingerettet worden in die Vergangenheit: in ihr sind sie nicht unwiederbringlich verloren, sondern, im Gegenteil, unverlierbar geborgen; denn was einmal geschehen, läßt sich nicht mehr wieder ungeschehen machen, läßt sich nimmer herausschaffen aus der Vergangenheit [...] Das ist es aber auch, was alles Menschsein zutiefst und zuletzt zu einem Verantwortlichsein stempelt.“ (vgl. ebd., In: Frankl, 2008, S. 78)

Auf das Thema Verantwortung wird unter Punkt 2.4 (Überlegungen zu Verantwortung) näher eingegangen.

Die Vergangenheit mündet in die Gegenwart, die eigentlich nicht mehr ist, als ein Punkt oder eine Markierung der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dennoch wird sie vom Menschen eher als ein mehr oder weniger großes Umfeld um das Jetzt herum gesehen und gewinnt erst dadurch an Anschaulichkeit und Realität (vgl. Wendorff 1988, S. 80). In der Gegenwart ist eine besondere Erfahrung möglich: das Innehalten des stetigen Wandels als Augenblick der Zeitlosigkeit.

„Manchmal wird ein Gegenwartserlebnis so zum Erlebnis von Zeitlosigkeit und dabei auch zum vertieften Erlebnis des Raumes, in dem es nur Nebeneinander und kein Nacheinander gibt.“ (vgl. ebd., S. 81)

In der Gegenwart beginnt die Zukunft. Zukunftsbezogenheit hat sich vorwiegend im Rahmen der abendländisch-westlichen Zivilisation entwickelt (vgl. ebd., S. 89). Mit dem Zukünftigen sind sowohl Utopien, die ein - in wichtigen Punkten ganz anderes - System den gegenwärtigen Verhältnissen gegenüberstellen, als auch Fortschrittsdenken (positiv) und Fortschrittsgläubigkeit (negativ) verbunden. Die Anerkennung einer Zukunft macht Planung unvermeidbar. Doch Zukunft lässt sich nicht voraussagen, sie ist stets ungewiss. Dennoch ist die Einbeziehung unsicherer Zukunft in die Entscheidungsgrundlagen, eine notwendige Basis gegenwärtiger wichtiger Entscheidungen. Diese Tatsache erklärt den Wunsch des Menschen immer bessere Vorhersagemechanismen zu entwickeln, um mehr Raum von der Zukunft zu gewinnen. Oder anders formuliert: der Zukunft die Zeit bis zu ihrem „Eintreten" zu verlängern.

Das Empfinden von Zeit und die Zeitwertung ist abhängig davon, ob ein Mensch sich passiv oder aktiv verhält, ob er Zeit erlebt oder erleidet.

„Zeit nutzen heißt, der zunächst rein formalen oder leeren Zeit bewusst einen ganz bestimmten Inhalt geben.“ (vgl. Wendorff, 1988, S. 103)

Die wichtigste Voraussetzung für die Nutzung der Zeit als Lebensprinzip ist gesteigertes Selbstbewusstsein gegenüber der Natur und den Ablauf der Geschichte. Ausdruck dieses Selbstbewusstseins ist auch die Freiheit zur Gestaltung der Privatzeit.

Die rasante Entwicklung in allen Bereichen des Lebens hat in den vergangenen Jahrzehnten die Vielfalt der Möglichkeiten fast exponentiell gesteigert. Was für die einen ein riesiger Pool an Chancen ist, stellt sich für andere als unüberwindliche Barriere dar, die sich als unangenehmer Druck bemerkbar macht und oft sogar als Stress empfunden wird. In diesem Zusammenhang bilden die Medien eine zusätzliche Quelle der Inspiration zur Entwicklung oder Übernahme eines eigenen Lebenskonzeptes mit den dazugehörigen Entscheidungen zur Zeitnutzung. Entscheidend dabei ist der bewusst erlebte Wechsel zwischen Aktivität und Passivität sowie die Notwendigkeit einer Prioritätensetzung.

Die Natur und die künstliche Zeitmessung schaffen Zeitstrecken, mit denen der Mensch ständig konfrontiert wird und an denen er sich orientiert. Durch die Uhr wurde ein gleichmäßig unterteiltes, messbares und kontrollierbares Zeitnetz geschaffen, welches im starken Missverhältnis zu der natürlichen - gröberen und leicht variierenden - Zeitgliederung mit weichen Übergangsphasen steht. „Dieses Mißverhältnis ist ein anthropologisches Problem - zumal solche Wandlungen des Zeitbewusstseins nicht von heute auf morgen, sondern über viele Jahrzehnte hinweg in langfristigen weiteren Zivilisationsprozessen korrigierbar wären.“ (vgl. ebd., S. 114)

Dieses Ungleichgewicht sowie der zusätzliche Konflikt zwischen dem persönlichen und dem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Zeitplan sind eine der Hauptursachen für eine immer größer werdende gesellschaftliche Zeitnervosität. Dem gegenüber stehen Impulse zur Entschleunigung, zum bewussten Abschalten und „Ausklinken“ aus dem Zeitraster, sowie die Wiederentdeckung des Rhythmus als ein zeitliches Urerlebnis, welches dem Menschen die Erfahrung der Zyklizität und Periodizität wieder näher bringt.

2.2 Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Zeit

„ [...] es gehört sogar zum Wesen der Wissenschaft, daß sie heuristisch von der Volldimensionalität eines Phänomens absieht und von der Fiktion einer unidimensionalen Realität ausgeht. Bedenklich wird dieses Vorgehen erst, sobald es ideologisiert wird.“ (vgl. Frankl, 1961. In: Frankl, 2008, S. 84)

Es die Philosophie (als Mutter aller Wissenschaften, da sie die wichtigen Fragen liefert) und die in ihr wurzelnde Weisheit, die den Forschenden am Ende seiner Karriere mit wissender Güte empfängt.

Im Folgenden werden wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse zum Thema Zeit umrissen. Dabei liegt der Fokus auf solchen Befunden, die einerseits einen Überblick geben, andererseits - in Hinblick auf die zentralen Themen der vorliegenden Arbeit - den theoretischen Rahmen etwas erweitern, welcher weiter unten unter Punkt 2.4 (Theoretische Eingrenzung) genauer spezifiziert wird.

2.2.1 Die Physik und die Zeit

Zeit ist in der Physik sowohl eine fundamentale Größe als auch eine Dimension. Sie wird bis heute ausschließlich über Verfahren zu ihrer Messung definiert, da sie sich bisher nicht auf grundlegendere Phänomene zurückführen lässt. Im internationalen Einheitensystem ist die Zeit als Einheit „Sekunde", auf der Basis einer atomaren Schwingung (das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Caesium-Isotops 133Cs entsprechenden Strahlung) definiert (vgl. Le Système international d’unités (SI), 2006, S. 113). Gegenstand der Physik sind sowohl der Makrokosmos (Astrophysik), als auch der Mikrokosmos (Atomphysik), der den Übergang zur Chemie (die Lehre vom Aufbau, Verhalten und der Umwandlung von Stoffen sowie den dabei geltenden Gesetzmäßigkeiten) darstellt. Die Physik wird heute als grundlegende oder fundamentale Naturwissenschaft aufgefasst, die sich stärker als andere Naturwissenschaften mit den Grundprinzipien befasst, welche die natürlichen Vorgänge bestimmen.

Zu den Theoriengebäuden der Physik zählen - in chronologischer Reihenfolge - die Mechanik, die Elektrodynamik, die Thermodynamik, die Relativitätstheorie und die Quantenphysik.

Für die klassische Mechanik, die durch Newton begründet wurde, gelten Raum und Zeit als unbeweglicher Hintergrund, vor dem physikalische Prozesse - in diesem Fall die Bewegung von Körpern - ablaufen. Hierbei wird die Zeitkoordinate im Sinne einer „absoluten Zeit", als kurzer und zweckmäßiger Ausdruck für einen weltweiten Zusammenhang aller Vorgänge, verwendet (vgl. Hund, In: Aichelburg, 1988, S. 179). Der Begriff der absoluten Zeit bedeutet eine einfache und enge Beziehung zwischen allen Bewegungen. Zum Beispiel wird bei der Bewegung von Partikeln der Ort als Funktion der Zeit angegeben (vgl. ebd. S. 178). Absoluter Raum und absolute Zeit bezeichnen die dynamische Einbettung eines lokalen physikalischen Systems in das Universum (vgl. ebd. S. 180).

Dieses Verständnis der klassischen Mechanik von Raum und Zeit wurde durch die spezielle Relativitätstheorie (Einstein, 1905) neu definiert. Beide Größen werden hier formal als gleichwertig miteinander in Beziehung gesetzt und lassen sich so zu einer vierdimensionalen Raumzeit verbinden.

Für die verschiedenen Erscheinungsgebiete der Physik wurden verschiedene natürliche Einheiten entdeckt. Das deutet darauf hin, dass die physikalische Wirklichkeit verschiedene Schichten aufweist. Je nach dem Verhältnis der natürlichen Einheiten zu den menschlichen Größenordnungen (Länge der Gliedmaßen, der Pulsschlag oder die Schrittdauer, das Gewicht der Gliedmaßen) sind diese Schichten dem Menschen in verschiedener Weise zugänglich. In allen diesen Ebenen wurden charakteristische Zeitdauern ermittelt. Die bisherigen Extrempunkte bilden auf der einen Seite die „Elementaruhr“ mit dem kürzesten Zeitintervall von 10-24, und auf der anderen Seite das „Weltalter“ mit einer Zeitdauer von 1018. Interessant ist, dass der Zeitfaktor zwischen all diesen Schichten etwa 1016 beträgt (vgl. ebd. S. 182). Dies deutet auf einen Charakter der Zeit in einem Universum, welches in seinen Gesetzen symmetrisch gegenüber Translationen und Drehungen in der Raum­Zeit ist.

In seinem Beitrag „Zeit als physikalischer Begriff" (veröffentlicht in Aichelburg (1988), „Zeit im Wandel der Zeit", S. 184ff) gibt Hund einen verständlichen Überblick zur physikalischen Bestimmung von Vergangenheit und Zukunft, der hier nur kurz dargestellt wird.

Nach den Gesetzen der Mechanik lässt sich ein Modell mit nur einer Raum- und einer Zeitdimension aufstellen (normalerweise hat der Raum drei und die Zeit nur eine Dimension). Die Bewegung zweier Partikel unter dem Einfluss einer Abstoßung kann in einem xt-Diagramm (x = Raum-Dimension, t = Zeit­Dimension) dargestellt werden. Die entstandene Funktion trägt hier die Bezeichnung „Weltlinie“. Damit lässt sich auch der Satz darstellen, dass ein Körper zwar am gleichen Ort zu verschiedenen Zeiten sein kann, aber nicht zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten. Damit verbunden ist auch die Irreversibilität, bzw. Unumkehrbarkeit der Zeit. Aus dem x,t-Diagramm wird ersichtlich, das jeder Punkt der Weltlinie einer Bewegung immer zwei Zeitabschnitte trennt; aber er trennt nicht immer zwei Raumabschnitte. Diese Einschränkung lässt sich mit Hilfe der Relativitätstheorie lösen, die Raum und Zeit miteinander verknüpft. Hierdurch lässt sich erklären, dass das vierdimensionale (drei plus eins) Gebiet der Raumzeit um einen Punkt P in drei getrennte Abschnitte zerfällt. Daraus ergibt sich, dass jeder Punkt P in Bezug auf Wirkungszusammenhänge zwei Zeitabschnitte trennt (wir nennen sie später Vergangenheit und Zukunft). Allerdings bedeutet dies nicht, dass diese beiden Abschnitte verschieden sind, sie scheinen eher symmetrisch und beliebig vertauschbar. Erst durch die statistische Betrachtung des mikroskopischen Hintergrundes der Vorgänge wird der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft physikalisch begreifbar. Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde diese Hypothese 1872 durch das von Ludwig Boltzmann aufgestellte Eta-Theorem (auch H-Theorem). Das H-Theorem wird als Ausdruck dafür genommen, dass Makrosysteme, bestehend aus statistisch vielen Einzelträgern des physikalischen Geschehens irreversibel in der Zeit angelegt sind, während Mikrosysteme als isoliert betrachtete Geschehnisträger reversible Prozessabläufe aufzeigen (vgl. Fahr, 1994). Wird diese Überlegung auf den Menschen übertragen, ergeben sich interessante Ansätze für Hypothesen über menschliche Entscheidungsstrukturen.

Hund erörtert den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft mit dem Konzept der Entropie (ein gewisses Maß für Unordnung) und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Erst auf dieser Ebene lässt sich eine Asymmetrie der beiden Zeitrichtungen erkennen, die von einem außerordentlich unwahrscheinlichen Zustand am Anfang abgeleitet werden kann. (Im Jahre 1964 entdeckten Physiker, dass gewisse schwach wechselwirkende Teilchen anscheinend die Zeitsymmetrie verletzen (vgl. Gardner, 1988. In: Aichelburg. S. 212).)

Zusammenfassend kommt Hund zu der Überzeugung, dass die Asymmetrie zwischen den beiden Zeitrichtungen nicht in den allgemeinen Naturgesetzen zu finden ist. Dennoch sei sie bedingt, durch ein Faktum der wirklichen Welt, nämlich ihrer niedrigen Entropie. Das erste Entstehen der vorausgegangenen Zustände noch niedrigerer Entropie sei allerdings physikalisch nicht zu verstehen. Daraus leitet er die Erkenntnis ab, dass Vergangenheit und Zukunft deshalb so verschieden sind, weil die Welt noch sehr jung ist. Abschließend erklärt Hund:

„Wie das tägliche Leben, zeigt auch die Physik zwei Aspekte der Zeit. Zeit als Koordinate beschreibt die Einbettung in das Universum. Zeit als Folgeordnung zeigt den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft. Der Unterschied steht nicht in den allgemeinen Gesetzen der Physik, sondern kommt von einem speziellen Faktum, einem früheren Zustand sehr niedriger Entropie, dessen Entstehung physikalisch nicht begreifbar ist. Der zweite Hauptsatz der Wärmelehre, der die beiden Zeitrichtungen verletzt, ist eine Aussage über unsere besondere Welt.“ (vgl. ebd. S. 191)

Es zeigt sich, das Zeit zwar Elemente enthält, die beschrieben und durch Eingrenzung ermittelt werden können, jedoch lässt sich bis heute physikalisch nicht vollständig erklären, was Zeit wirklich ist.

2.2.2 Die Biologie und die Zeit

Der Zweig in der Biologie, der sich mit der Zeit auseinandersetzt, wird als Chronobiologie bezeichnet. Chronobiologie (zeitbedingte Biologie) ist eine sehr junge Wissenschaft, welche Mechanismen der biologischen Zeitstrukturen einschließlich rhythmischer Manifestationen des Lebens zum Gegenstand hat (Rensing 1973). Die Chronobiologie entwickelt anwendbare Konzepte und Techniken zur wissenschaftlichen Erkenntnis und Lösung der periodisch ablaufenden Prozesse im Organismus und zum Studium der Effekte von Umweltfaktoren auf die endogenen (im Inneren liegenden) Rhythmus­Mechanismen. Ein Bestandteil der theoretischen Chronobiologie ist die Chronopsychologie, die als ein Zweig der angewandten Chronobiologie angesehen werden kann. Ein zentraler Untersuchungsgegenstand beider Wissenschaften ist die Biorhythmik. Der Biorhythmus ist eine fundamentale, sich ständig wiederholende Eigenschaft des biologischen Daseins unter verschiedenen endogenen Bedingungen. Er erfasst alle Ebenen der biologischen Integration, wie Ökosystem, Population, Gruppen, Individuen, Organ-Systeme, Organe, Gewebe, Zellen, Zellmembranen und zelluläre Strukturen einschließlich deren biochemischer Prozesse (vgl. Jovanovic, 1978, S. 2).

Viele chronobiologischen Befunde machen deutlich, dass die Biorhythmik untrennbar mit Regulation und Koordination bei der Aufrechterhaltung organischer Stabilität, Homöostase (Halteregelung) und Adaptation verbunden ist. So tragen die Erkenntnisse auch zu einem besseren Verständnis der Ontogenese (Entwicklung des Menschen) bei. Von der Geburt bis zum hohen Alter ändern sich Biorhythmen bezüglich ihrer Frequenz und ihrer Schwingungshöhen (Amplituden). Im hohen Alter nehmen Störungen der Biorhythmik zu. Statistisch konnte zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen dem Nachlassen der Vitalität und Störungen der Biorhythmik nachgewiesen werden (vgl. Jovanovic, 1978, S. 1148f).

Speziell die Chronopsychologie beschäftigt sich im Rahmen der Chronopathologie mit Störungen der Biorhythmik oder der zeitlichen Organismus-Umwelt-Beziehungen, sowie deren Bedeutung für die Morbidität (Krankheitswahrscheinlichkeit), insbesondere für neurovegetative Dysregulationen, Neurosen und ähnliche psychogene Störungen.

Insgesamt ist die Forschung bereits soweit fortgeschritten, dass organismische Regulations- und Schwingungsvorgänge auf gemeinsame fundamentale Mechanismen (Rhythmus generierende Oszillatoren („Schrittmacher“)) rückgeführt werden können. Zum Beispiel nimmt Pöppel (1971ff) an, dass es einen Oszillator im Gehirn gibt, dessen Frequenz bei etwa 30 bis 40 Millisekunden liegt, ein Grundtakt also, der sich durch sämtliche Sinnesgebiete zieht und der als Minimalzeit definiert werden kann, die nötig ist, um einzelne Ereignisse zu identifizieren und schnelle Entscheidungen zu ermöglichen. Regel- und schwingungsphysiologische Untersuchungen zeigen, dass biologische Oszillatoren als selbstaufrechterhaltene nichtlineare Regelsysteme aufzufassen sind (vgl. Sinz, 1978, S. 78).

Die aktuelle Forschung beschäftigt sich mit der Gewinnung und Formulierung einer geschlossenen Theorie der Selbstregulation und Selbstordnung des Organismus unter Einbeziehung psychophysiologischer Resultate und Gesetzmäßigkeiten. Einen nützlichen Beitrag dazu, sowie einen hervorragenden Überblick über Entwicklung und Perspektiven chronobiologischer Forschung gibt Sinz (1978). In seinem Buch „Zeitstrukturen und organismische Organisation" stellt er einen Zusammenhang her, zwischen a.) geophysikalischen, ökologischen und sozialen Umweltperiodizitäten (z. B. Erdrotation, lunare Periodik und solare Emission) und b.) biologischen Oszillatoren zellulären Ursprungs. Dabei wirken die Umweltperiodizitäten als Synchronisatoren einer im Laufe der Evolution entwickelten Organismus­Umwelt-Synchronisation. Neben dieser wurde ebenfalls eine interne Synchronisation oder auch Koordination multipler Oszillatoren auf Ebene der Zelle, des Organsystems, des Organismus und der Population gefunden (vgl. ebd., S. 114). Das Spektrum korrespondierender Vorzugssequenzen biologischer und geophysikalischer Oszillatoren reicht vom Circamillisekundenrhythmus bis zur Periodizität von solaren Emissionen (etwa 11 Jahre). So entsprechen zum Beispiel der Sekundenrhythmus (Puls, Pupillenunruhe usw.), der Minutenrhythmus und die tidalen Rhythmen (Gezeiten) von 12,4 Stunden, den an die Erdrotation und Erdrevolution gebundenen geophysikalischen Veränderungen von Strahlung, Luftdruck, Temperatur und Magnetfeldstärke, sowie den lunaren Periodizitäten der Nachthelligkeit (vgl. ebd., S. 134).

Die Ordnungserzeugung im Rahmen irreversibler thermodynamischer oszillierender Prozesse, die koordinative Stabilisierung von lebenswichtigen Zeitstrukturen, die hirnspezifischen Funktionsleistungen der koordinierten Steuerung, die Nullfrequenzcharakteristik, die „innere Uhr" und Zeitabnahme (Zeitschätzung) sowie die sequenzielle Ordnung kognitiver, sensomotorischer und sprachlicher Leistungen, lassen sich auf die Synchronisation essentieller endogener und exogener Oszillationen zurückführen.

Demzufolge lässt sich auch die neuronale Informationsspeicherung - insbesondere von zeitlichen Merkmalen (Frequenzmerkmalen) - mit einer endoneuronalen Oszillations- und Spike-Rhythmusgenerierung erklären, die nach Maßgabe kontingenter (übereinstimmender) neuronaler Eingangsmuster zu einer extrasynaptischen Informationsspeicherung führen kann, wobei die Wiedergabe auf Resonanzmustern in einer Population von Neuronen basiert (vgl. ebd., S. 235f).

In diesem Zusammenhang liefert die Chronobiologie wichtige psychophysiologische Erkenntnisse, die zum besseren Verständnis des Gedächtnisses und damit des Lernprozesses beitragen können.

2.2.3 Die Psychologie und die Zeit

Bei der Überlegung, wie der Mensch die Zeit oder das Vergehen von Zeit wahrnimmt, sind durch methodische Forschung bisher viele nützliche Erkenntnisse gewonnen worden. Zeit wird (wie oben schon aufgeführt) inhärent über die Wahrnehmung der Geschwindigkeit von Bewegungen und Veränderungen wahrgenommen.

Es gibt heute noch keine umfassende Theorie der Zeitwahrnehmung. Grundlegend lassen sich jedoch zwei Theoriegruppen umreißen. Eine Gruppe stützt ihre Forschung auf die Annahme von inneren (letztendlich biologisch fundierten) Zeitgebern, einmal mit großen Rhythmen z.B. die Circadiane Rhythmik und andererseits mit kleinen Rhythmen im Sekundenbereich. Die Zeit wird hierbei also „gequantelt" betrachtet, woraus sich das Konzept des „psychischen Moments" als kleinste Einheit der subjektiven Zeit ergibt (siehe Punkt 2.2.2 Die Biologie und die Zeit).

Innerhalb dieser Theoriegruppe, gibt es einen Bereich, der sich speziell mit der Wahrnehmung der Gegenwart beschäftigt. Aufgrund neuropsychologischer Forschungsergebnisse wird ein Gehirnoszillator im Bereich von 2 bis 3 Sekunden postuliert, der mit Aufmerksamkeitsprozessen zusammenhängt und das Erlebnis der subjektiven Gegenwart, das „Jetzt-Gefühl“, konstituiert. Durch ihn ist die zeitliche Grenze der Integrationsfähigkeit von aufeinander folgenden Ereignissen, also die Grenze der zeitlichen Gestaltbildung, bestimmt (vgl. Pöppel, 1971ff). Alle Untersuchungen weisen darauf hin, dass von einer subjektiven Gegenwart von ungefähr 3 Sekunden ausgegangen werden kann. Aus diesem Grund gibt es Vorschläge die Nomenklatur zu überdenken, d.h. von Zeitwahrnehmung („psychische Präsenzzeit" (Stern, 1897) oder „mentale Gegenwart" (Piéron, 1934)) sollte nur bis zu einer Zeitdauer von 3 bis maximal 5 Sekunden gesprochen werden, bei längerer Zeitdauer ist der Begriff Zeitschätzung adäquater.

„Aufgrund der psychologischen Gegenwart sind wir also Herr über die sich ständig verändernde Welt der Stimulationen. Dank derer nehmen wir Ganzheiten wahr, die ihrerseits wieder einzelne Teile sind, mit denen wir das Gesamtbild unseres psychologischen Lebens zusammenfügen.“ (vgl. Fraisse, 1985, S. 100)

Die zweite Gruppe postuliert anstelle eines endogenen Zeitgebers als Basis der Zeitwahrnehmung einen kognitiven Beurteilungsprozess, durch den z.B. die Anzahl und die Art der Ereignisse eines Intervalls bestimmt werden (vgl. Ornstein, 1969 und Allan, 1979). Die kognitiven Modelle können noch einmal unterteilt werden in solche, die sich auf die Anzahl von stattgefundenen Veränderungen („changes") konzentrieren und solche, die sich eher auf das Ausmaß des vorliegenden Verarbeitungsaufwandes („processing effort") ausrichten (vgl. Funke, 1988).

In der Wahrnehmungspsychologie werden drei grundlegende Phänomene der Zeitwahrnehmung unterschieden. Die Wahrnehmung von:

1. Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit
2. Reihenfolge
3. Dauer

Der benötigte zeitliche Abstand, um Ungleichzeitigkeit wahrzunehmen ist abhängig von den peripheren sensorischen Mechanismen der wahrnehmenden Sinnesmodalität (z.B. hat das Ohr ein feineres zeitliches Auflösungsvermögen als das Auge), d.h. der Übergang von Gleichzeitigkeit zur Ungleichzeitigkeit ist innerhalb der verschiedenen Sinnesbereiche unterschiedlich. Das Gehirn spielt bei der Wahrnehmung des zeitlichen Nacheinander eine wesentliche Rolle. Nicht immer werden zwei unmittelbar aufeinander folgende Reize als gleichzeitig wahrgenommen. Zum Beispiel sind bei der akustischen Wahrnehmung im Mittel etwa 4.5 Millisekunden notwendig, um aus dem Gleichzeitigkeitsfenster herauszukommen. Bei der visuellen Modalität müssen 20 bis 30 Millisekunden vergehen, damit zwei Seheindrücke als ungleichzeitig erscheinen (vgl. Pöppel, 1978ff).

Die Wahrnehmung der Reihenfolge lässt sich nicht auf das unter 1. angeführte Phänomen zurückführen und ist somit Gegenstand eines eigenen Forschungsbereiches innerhalb der Wahrnehmungspsychologie. Gleichzeitigkeit kann schon bei 4 Millisekunden und weniger wahrgenommen werden, zeitliche Ordnung erst bei 30 bis 40 Millisekunden. Dieser Befund trifft auf alle Sinnesmodalitäten zu, was ein Hinweis auf einen zentralen Verarbeitungsmechanismus ist (siehe Punkt 2.2.2 Die Biologie und die Zeit). Bei Untersuchungen zum zeitlichen Reihenfolgeurteil (engl. temporal order judgement, vgl. Neumann u.a. (1992)) konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass der Mensch in der Lage ist, die unmittelbare Zeitwahrnehmung der Reihenfolge von der zeitlichen Markierung von Ereignissen abzutrennen, d.h. er kann außer den Ereignissen selbst, auch die Information über die zeitliche Abfolge speichern und später wiedererkennen und abrufen. Der Mensch besitzt also ein sequenzielles Ordnungsbewusstsein, aus dem seine subjektive Kausalität hervorgeht.

Die Wahrnehmung von Dauer ist ein besonders wichtiger Gegenstand der Zeitwahrnehmungsforschung. Sie entwickelt sich einerseits aus der Anpassung an periodische Veränderungen (einfache Erscheinungen des universellen Wechsels - Sternenbewegung, Gezeiten, Tag-Nacht-Rhythmus usw.), andererseits durch die Konditionierung auf die Dauer, die aus einer Urteilsaufgabe (die Dauerschätzung) hervorgeht. Für die Schätzung der Dauer ist es erforderlich, dass sich Informationen biologischen Ursprungs mit geistigen Konstruktionen verbinden (vgl. Fraisse, 1985, S. 69). In diesem Zusammenhang wurde zum Beispiel der Effekt gefunden, dass bei der Intervall­Dauerschätzung das Vergehen der Zeit als schneller empfunden wird, wenn innerhalb des zu schätzenden Intervalls Ereignisse auftraten im Vergleich zum Intervall ohne weitere Ereignisse.

Als Untergrenze der Dauerwahrnehmung gibt Fraisse (1985) circa 100 Millisekunden an. Stimuli kürzerer Dauer werden als ein Erlebnis der Momenthaftigkeit wahrgenommen. Wahrnehmung von Dauer wird außerdem von motivationalen und emotionalen Faktoren beeinflusst (vgl. Fraisse, 1985, S. 117ff).

Weitere Forschungsergebnisse zur Zeitkognition

Die im Folgenden dargestellten Befunde sind eine kleine Auswahl und sollen einen Aus- und Überblick darüber geben, in welche Richtung sich die psychologische Forschung zum Thema Zeitwahrnehmung entwickelt. Dabei sind besonders solche Befunde gewählt worden, die den Interpretationsspielraum in Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit erhöhen. Diese Darstellung hat aufgrund der Fülle nur einen aufzählenden Charakter.

Navon (1978) beschreibt, dass die zeitliche Dimension die räumliche Dimension dominiert, welche ihrerseits alle anderen Dimensionen (z.B. Form, Farbe etc.) dominiert.

Avrami & Kareev (1994) leiten aus ihren Forschungsergebnissen ab, dass eine Folge von Reizen, die mehrmals in verschiedenen Kontexten wahrgenommen wird, kognitiv zu einer Einheit verknüpft wird. Dies setzt jedoch voraus, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, mithilfe der Wahrnehmung das Geschehen zu segmentieren, also in möglichst Sinn-volle Abschnitte zu teilen.

Freyd (1993) entwickelt das Konzept der Dynamischen Repräsentation. Darin beschreibt sie, dass Veränderungen (z.B. Ereignisse oder Prozesse) dynamisch im Gehirn repräsentiert werden, wobei sich die Repräsentation kontinuierlich ändert, d.h. die Veränderung einer Repräsentation bildet die Veränderung der betreffenden Situation ab. Des Weiteren postuliert sie, dass sich kognitive Verarbeitung generell auf Antizipation richtet. Die Voraussetzungen dafür sind erstens, das Erkennen einer Regelhaftigkeit (unter Berücksichtigung einer wahrgenommenen Kohärenz) und zweitens der Vergleich mit der Erfahrung, was gewöhnlich ist.

Boroditsky und Ramscar (2002) befassten sich mit der Konzeptualisierung der Zeit. In ihren Experimenten operationalisierten sie zwei fundamentale Zeitperspektiven. Erstens die Ego-moving-Perspektive, primär beeinflusst über das Denken von räumlicher Bewegung und zweitens die time-moving- Perspektive, die beschreibt, dass Dinge und Ereignisse auf den Beobachter zukommen.

Zakay und Block (1997) entwickelten das Attentional Gate Modell. Das Ergebnis ihrer Studien zeigte: Je mehr der Fokus auf das Vergehen der Zeit gerichtet ist, desto länger ist auch die Zeitschätzung der Versuchspersonen. Auch wiesen sie den Einfluss von Emotionen (speziell des Arousal (Grad der menschlichen Aktivierung)) auf die Dauerschätzung nach.

Herweg (1990) untersuchte verschiedene Zeitaspekte in der menschlichen Sprache. Hier lässt sich zwischen Ereignis (Ausführung oder Entwicklungen mit Endpunkt) z.B. erbauen, und Ergebnis (punktuell) z.B. entdecken, Prozess z.B. überlegen, und Zustand z.B. wissen, unterscheiden.

Bolz u. a. (1998) bestätigten: Je größer die Segmentierung des Geschehens (chunks), desto eher neigt der Mensch dazu die Dauer von Ereignissen zu unterschätzen und umgekehrt.

Loftus und Marburger (1983) untersuchten, wie genau sich Menschen an vergangene Ereignisse erinnern können: Besondere Ereignisse haben eine größere Gedächtnisstärke. Sie unterschieden zwischen: Erstens „forward- Telescoping", d.h. ein Ereignis X wird als weniger weit zurückliegend betrachtet, als es tatsächlich zurückliegt, und „Backward-Telescoping" genau umgekehrt. Huttenlocher u. a. (1990) sichteten Studien und Theorien zur zeitlichen Einordnung: Dem Menschen unterlaufen - bedingt durch die Art seiner Informationsspeicherung - systematische Fehlertendenzen in der Datierung. Zum Beispiel die Verrauschung von Informationen mit zunehmenden zeitlichen Abstand (z. B. Actor-Observer-bias), beim Setzen einer zeitlichen Ober- und Untergrenze (bounding) für Ereignisse, in Abhängigkeit der persönlichen Perspektive (z. B. Theorie der variablen Perspektive), als auch durch die Tendenz, runde Werte zu nennen (Verallgemeinerung, Stereotypisierung).

2.3 Theoretische Eingrenzung

Die chronobiologischen und physikalischen Erkenntnisse deuten darauf hin, das jedes natürliche Phänomen eine Entsprechung sowohl im mikroskopischen, als auch makroskopischen Bereich besitzt. Es ist Aufgabe einer integrativen Wissenschaft, diese Verbindungen zu identifizieren und zu beschreiben.

Da wo es Dimensionen gibt, gibt es auch Projektionen, d.h. ein Phänomen kann aus seiner eigenen Dimension in eine niedrigere Dimension hineinprojiziert werden. Wie oben gezeigt wurde, kann ein humanes Phänomen (z. B. Zeitwahrnehmung) auf eine subhumane Ebene (z. B. Aufmerksamkeitsprozesse) hineinprojiziert werden. Dieses unidirektionale Vorgehen lässt sich aber auch weiter in die andere Richtung ausdehnen, nämlich ausgehend von dem, was über den Menschen hinausgeht, ihn übersteigt. So sind vielleicht alle beobachtbaren Phänomene in der Welt lediglich Projektionen von höheren Dimensionen. (Eine amüsante, wenngleich aber auch sehr ernst zu nehmende Kurzgeschichte, die eine Ahnung vom gerade Gesagten vermittelt, ist die „mathematische Satire" von Abbott (1884) mit dem Titel „Flatland".)

Bedeutsam für die vorliegende Untersuchung, sind folgende Befunde und Erkenntnisse:

Die Physik bestätigt die oben angesprochene Ansicht, dass die Welt von ihrem unbestimmbaren Ursprung bis hin zu ihren unüberschaubaren Größen, aus beschreibbaren Abschnitten oder „Schichten" besteht, die einzeln betrachtet ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten aufweisen, und die symmetrisch in Beziehung zu einander stehen. Die wohl nützlichste Erkenntnis in diesem Zusammenhang ist das (oben genannte) Eta-Theorem. Wird in dieser Hypothese das Makrosystem mit Kultur (oder Gesellschaft) ausgetauscht, und Mikrosystem mit der Gruppe (oder dem Individuum), so ergibt sich als mögliche Schlussfolgerung, dass das Mikrosystem in der Lage ist (als isoliert betrachteter Geschehnisträger reversibler Prozessabläufe - hier zum Beispiel die Einstellung), eine Veränderung zumindest einzuleiten. Vollziehen wird sie sich erfahrungsgemäß im Makrosystem erst durch die Synchronisation mehrerer Mikrosysteme.

Die Biologie, die unter anderem diese Synchronisation erforscht, fügt hinzu, worin die in ihr liegenden Prozessabläufe begründet liegen, und wie diese zueinander in Beziehung stehen. Die entdeckten „Taktgeber", die letztendlich den „Puls des Lebens" also die Rhythmizität konstituieren, sowie die Kenntnis der damit einhergehenden Selbstorganisation und Selbstregulation, weisen auf fundamentale Eigenschaften der menschlichen Existenz, die es weiter zu erforschen gilt.

Die in diesem Zusammenhang interessante und aus dem Feld der Biologie entlehnte Annahme von Haeckel (1866), die Ontogenese sei (in biologischer Hinsicht) eine Rekapitulation der Phylogenese, lässt sich im Sinne der Symmetrie umkehren und auf die mentale Ebene übertragen. Unter dieser Prämisse wäre es spannend zu erfahren, wie sich die von der Entwicklungspsychologie ausführlich beschriebene Reifung des Menschen auf die Ebene der zukünftigen Menschheitsentwicklung projizieren lässt.

Die Psychologie als sehr junge Wissenschaft liefert mit ihren vielfältigen Methoden nützliche Instrumente, um sich mit humanspezifischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Dabei leistet sie in ihren verschiedenen Fachbereichen, die sich immer mehr voneinander abgrenzen lassen, wertvolle Grundlagenarbeit. Die Erkenntnisse speziell der Wahrnehmungs-, Kognitions- und Allgemeinen Psychologie geben Einblick in die basalen Verarbeitungsprozesse, die letztendlich menschliches Erleben und Verhalten maßgeblich mitbestimmen. Im größeren Kontext können diese in ihren Auswirkungen von der Sozialpsychologie beschrieben und erklärt werden. Hier nun lässt sich der Begriff der Zeitwahrnehmung einordnen, wie er in dieser Untersuchung verstanden wird. Zeitwahrnehmung wird hier folgendermaßen definiert:

1. Als Zeit-Perspektive zwischen a.) der erlebten gegenwärtigen Eigenzeit, als Zeitstrecke zwischen Geburt (Vergangenheit) und Tod (Zukunft), und b.) dem Horizont der vom Individuum antizipierten (bzw. erahnten) Zeitzukunft, welche die Eigenzeit des Individuums übersteigt.
2. Als Zeit-Fokus (im Sinne von „time orientation" (Kluckhohn und Strodtbeck, 1961)), der die Ausrichtung des Individuums auf die Ebenen der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) beschreibt.
3. Als Zeit-Orientierung (im Sinne von „orientation to time" (Saunders, 1958)), welche die kulturelle Orientierung - entsprechend dem dominant vorherrschenden rhythmischen Motiv (linear oder zyklisch) - meint.

Alle drei Teile dieser Definition können unter dem Begriff „Zeitwahrnehmung“ zusammengefasst werden.

2.4 Überlegungen zu Verantwortung

Nach Auffassung des Verfassers besteht ein Unterschied zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit. Verantwortung ist ein systemisches Geschehen, in das eine Person eingebettet ist, ohne dass es ihr bewusst sein muss. Verantwortung wird hauptsächlich passiv übertragen. Verantwortlichkeit hingegen ist ein aktiver Prozess, bei dem sich eine Person der (subjektiven) Konsequenzen einer getroffenen Entscheidung bewusst ist.

Das Konzept der Verantwortung ist von der Psychologie und den mit ihr in enger Beziehung stehenden Wissenschaften bisher nicht eindeutig beschrieben und erklärt worden. Gegenstand sind hier vor allem Fragen der Verantwortlichkeitsattribution (vgl. Finchham und Jaspars, 1979) und Untersuchungen zum Prosozialen Verhalten (Altruismus). Verantwortung kann dabei allgemein als vermittelnde Variable auf dem Weg von einer Situation zum Hilfehandeln betrachtet werden. In diesem Bereich können hauptsächlich drei Konzepte identifiziert werden:

1. Die Hypothese der Verantwortungsdiffusion (z. B. Latané und Darley, 1976),
2. die Norm sozialer Verantwortung (z. B. Staub, 1972) und
3. die Tendenz zur Verantwortlichkeitsabwehr (z. B. Schmitt, M., Montada, L. & Dalbert, C., 1991).

Im Folgenden wird das Konzept der Verantwortlichkeitsübernahme erläutert, die ein zentrales Thema der vorliegenden Arbeit ist. Dabei orientiert sich der Verfasser an der Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse zum Thema Verantwortung von Dalbert (1980).

Im Fokus bei der Entwicklung dieses Konzeptes stehen die Analyse des Prozesses der Verantwortlichkeitsübernahme und seine Verflechtung mit anderen Prozessen. Dabei orientiert sich Dalbert (1980) an Befunden aus Untersuchungen im Zusammenhang mit den oben genannten drei Konzepten, die hier kurz skizziert werden sollen.

Latané und Darley (1976) nehmen an, dass Hilfeverhalten in akuten Notsituationen das Ergebnis einer Entscheidungskette ist, welche idealtypisch folgende Elemente aufweist:

[...]

Ende der Leseprobe aus 174 Seiten

Details

Titel
Zeitwahrnehmung und Verantwortungsübernahme für die Zukunft. Eine Interview-Studie
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
174
Katalognummer
V1020866
ISBN (eBook)
9783346419323
ISBN (Buch)
9783346419330
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zeitwahrnehmung, Verantwortungsbewusstsein
Arbeit zitieren
Stephan Seidel (Autor:in), 2009, Zeitwahrnehmung und Verantwortungsübernahme für die Zukunft. Eine Interview-Studie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1020866

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