Mann, Thomas - Mario und der Zauberer - Inhalt und Deutung


Presentation / Essay (Pre-University), 2001

7 Pages


Excerpt


Wichtige Stationen im Leben und Schaffen von Thomas Mann

Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 als Sohn des Senators Thomas Johann Heinrich Mann in Lübeck geboren. Er entstammt einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, wobei das großbürgerliche Milieu, in dem er aufwuchs, großen Einfluß auf die Konzeption seiner späteren literarischen Stoffe und Figuren hat. Nach dem Tode des Vaters und der Liquidierung der väterlichen Firma wird Thomas Mann 1893 Mitherausgeber des "Frühlingssturm, Monatszeitschrift für Kunst, Literatur und Philosophie". Er verläßt das Gymnasium in der Obersekunda und arbeitet ab 1894 als Volontär in einer Münchener Feuerversicherungsgesellschaft. In diesem Jahr entsteht "Gefallen", seine erste vollwertige Novelle. In den Jahren 1895-1896 lebt der Schriftsteller in Italien (Rom und Palestrina) ; in dieser Phase beginnt die Arbeit an den "Buddenbrooks". Mit diesem Erstlingsroman, der im Jahre 1901 erscheint und den Verfall einer Lübecker Kaufmannsfamilie über drei Generationen thematisiert, wobei sich die Romanhandlung auf Chronik und Charaktere der eigenen Familie stützt, gelingt ihm ein erster internationaler Erfolg. Die gedankliche Problematik dieses Romans ist für die frühe Schaffensperiode des Autors signifikant und von der Philosophie Arthur Schopenhauers geprägt: Diese Problematik entsteht aus der Unvereinbarkeit zwischen der Kunst und der bürgerlich-materiellen Existenzweise. Eine erhöhte Differenzierung des menschlichen Geistes bedeutet laut Thomas Mann zugleich auch eine psychische Schwächung der Menschen, die in letzter Konsequenz zur Lebensuntüchtigkeit führt.

Im Jahre 1905 heiratet Thomas Mann die Professorentochter Katharina Pringsheim , 1912 erscheint seine Novelle "Der Tod in Venedig", welche die Affinität zwischen Eros und Tod zum Thema hat. Mit den 1918 veröffentlichten "Betrachtungen eines Unpolitischen" , in denen der Autor gegen den Pazifismus polemisiert und versucht, den ersten Weltkrieg und das "spezifisch Deutsche" philosophisch zu legitimieren, zeigt sich Thomas Mann als politischer Reaktionär.

In die Zeitspanne von 1920 bis 1930 fällt Thomas Manns Abkehr vom deutsch-nationalen Denken, die dann 1930 in der Erzählung "Mario und der Zauberer" ihren Niederschlag findet. In seiner 1922 gehaltenen, berühmten Rede "Von deutscher Republik" gibt der Autor seine antidemokratische Haltung auf und bekennt sich zur Weimarer Republik.

In die zehnjährige Zeitspanne von 1920 bis 1930 fallen unter anderem der "Zauberberg"(erschienen 1924), die autobiographisch inspirierte Erzählung "Unordnung und frühes Leid" (1926) und der Beginn der Niederschrift des Joseph-Romanes. Zum Zeitpunkt der Machtergreifung durch Adolf Hitler begreift der Autor noch nicht das Ausmaß dieser politischen Wende, er bezieht aber eindeutig Frontstellung gegen den Nationalsozialismus.

1936 wird Thomas Mann die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt; der Autor siedelt in die Vereinigten Staaten über, wo er eine Gastprofessur an der Universität zu Princeton erhält. In diese Zeitphase fällt die Entstehung der Romane "Lotte in Weimar", "Joseph und seine Brüder, Joseph, der Ernährer".

In der Erzählung "Das Gesetz" erzählt Thomas Mann die alttestamentarische Geschichte des Volkes der Israeliten und Moses. Es besteht eine Affinität zwischen "Das Gesetz" und "Mario und der Zauberer", da beide Erzählungen antifaschistisch motiviert sind. Aus diesem Grunde gehe ich näher auf "Das Gesetz" ein: Hier übt Thomas Mann gleichsam in biblischer Stilmaske Kritik am Nationalsozialismus, indem er als Bedingung für das Entstehen und Zusammenwachsen eines Volkes das ehrfurchtgebietende göttliche Gesetz einer nur völkisch-blutsmäßigen Verwandtschaft gegenüberstellt. Das Ende der Erzählung enthält eine verklausulierte Anspielung auf Adolf Hitler.

In das Jahr 1949 fällt die Herausgabe des Romans "Doktor Faustus". Der Autor unternimmt den Versuch, die Katastrophe des faschistischen Deutschlands an einen individuellen tragischen Künstlerschicksal zu exemplifizieren.

1949 besucht Thomas Mann zum ersten Male wieder Deutschland; er kehrte 1952 endgültig nach Europa zurück und erhält in der Schweiz eine Niederlassungsbewilligung. 1953 erscheint seine Novelle "Die Betrogene", 1954 die "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", eine humoristische Parodie des Bildungsromanes, der unvollendet bleibt. Am 12. August 1955 stirbt Thomas Mann in Konstantinopel.

Mario und der Zauberer

Entstehung und Rezeption

Die Erzählung erschien 1930; die Zeit ihrer Entstehung bildet wie Eugen Imhof es formuliert "eine Schwelle zu einem politisch und kulturell besonders verhängnisvollen Abschnitt der europäischen Geschichte". Mario und der Zauberer beruht auf einem autobiographischen Erlebnis, das Thomas Mann mit seiner Familie 1926 in Forte dei Marmi hatte.

Nicht nur der Auftritt des Hypnotiseurs sondern auch die Berührungen mit dem mittlerweile totalitär gewordenen italienischen Faschismus wurden real erlebt.

"An kleinen Widerwärtigkeiten hat es auch nicht gefehlt, die mit dem derzeitig unerfreulichen überspannten und fremdenfeindlichen nationalen Gemütszustand zusammenhingen ..."

"Er ist der kaltblütige, kaltherzige, gewissenlose, brutale, raffinierte Verführer der Nation, ein Scharlatan mit absolut gemeinen, aber unweigerlich bannenden Methoden, deren Zweck der scheußliche Mißbrauch einer persönlichen Macht ist."

Thomas Mann hat sich jedoch dagegen verwehrt, daß der Leser "Mario und der Zauberer" durchweg als politische Allegorese interpretiert wird, er wollte vielmehr das "Ethisch-Symbolische" als das das Politische betont sehen:

"Was Mario und der Zauberer betrifft, so sehe ich nicht gern, wenn man diese Erzählung als eine politische Satire betrachtet. Man weist ihr damit eine Sphäre an , in der sie allenfalls mit einem kleinen Teil ihres Wesens beheimatet ist. Ich will nicht leugnen, daß kleine politische Glanzlichter und Anspielungen aktueller Art darin angebracht sind, aber das Politische ist ein weiter Begriff, der ohne scharfe Grenze ins Problem und Gebiet des Ethischen übergeht "

Inhalt

Der Autor ist mit seiner Familie in einem kleinen, nicht so touristischen Ort, Namens Torre. Sie sind Mitte August mit ihren Kindern in die Ferien gefahren, um der Flut der Hauptsaison aus dem Wege zu gehen. Im Grand Hotel gibt es ein Missverständnis, denn man möchte sie nicht auf der Veranda dinieren lasse, weil man sie für fremde hält. Des weiteren möchte sie der Hoteldirektor umsiedeln, weil sich eine adelige Dame vor dem abklingendem Keuchhusten der Kinder gefürchtet und beschwert hatte. Die Familie verlässt das Hotel freiwillig und siedelt in die Pension Eleonora um. Das Wetter ist wunderschön, heiss, wolkenloser Himmel, doch der Autor findet, dass ihm diese Herrschaft der Sonne und die glühende Leere des Himmels zur Last fallen und ihm zu schaffen machen. Die ganze Familie fühlt sich nicht so recht wohl, denn der Zwischenfall mit dem Keuchhusten der Kinder, hatte doch Spuren hinterlassen. Ein Junge namens Fuggièro stört den Autor besonders, denn dieser hatte ein riesiges Aufsehen erregt und wurde mit einer Barre vom Strand getragen, obwohl er nur vom einem Krebs gezwickt worden war. Am Strand kommt es unweigerlich zu einem Konflikt. Die Tochter des Autors wäscht ihr Badetrikot im Wasser und ist für kurze Zeit unvermeidlich nackt am Strand, was gegen die öffentliche, herrschende Moral verstösst und ein Aufruhr nach sich zieht. Ein Mann empört sich und scheltet den Autor persönlich für diese Nachlässigkeit und unverzeilichen Sittenverstoss, doch der Autor verzichtet auf Widerspruch und entschuldigt sich für das Vorkommnis, was jedoch nichts nützte und nicht verhindern konnte, dass die Behörden ins Spiel gebracht wurden. Der Autor muss eine Busse zahlen und bereut im Nachhinein, nicht an Ort und Stelle abgereist zu sein.

Sie haben sich entschlossen zu bleiben, weil sie sich dem aussetzten wollen und dachten, sie könnten etwas dabei lernen. Der Mann, der sie gescheltet hatte, war abgereist und auch viele anderer Gäste waren heimgekehrt, denn die Nachsaison hatte eingesetzt. Das Wetter schlägt um und es ist bedeckt, kühler und von Zeit zu Zeit regnet es. Cavaliere Cipolla ist das nächste Übel.

Der Sohn des Erzählers möchte den Zauberkünstler unbedingt sehen und so kommt es, dass sie in die Vorführung des Cavaliere Cipolla gehen. Die Kinder kommunizieren mit dem einfachen Fischervolk auf den Stehplätzen und unter diesem Volk ist auch Mario, den sie kennen, da er in einem Café serviert. Die Vorstellung verzögert sich ein wenig, sehr zur Beunruhigung des Autors. Dann endlich der Auftritt des Künstlers, der nicht mehr jung ist und in klassischer Zaubererkluft mit Zylinder und weissem Schal sich dem Publikum präsentiert. Ein hübscher Junge meldet sich im Publikum und der Zauberer benutzt den frechen Jungen, der die Darstellung des Zauberer unterbrochen hatte, für eine Demonstration. Der Zauberer schaut den Jungen streng an, knallt mit der Peitsche und der Junge streckt seine Zunge heraus, obwohl er beteuert hatte, dies nicht tun zu wollen. Cipolla behauptet, dass er es gewesen sei, der den Junge dazu brachte, die Zunge herauszustrecken. Daraufhin erzählt der Zauberer von seinen wichtigen Kontakte und prahlt damit, dass er fast ausschliesslich gute Abende und Vorstellungen mache, um dann darauf hinzuweisen, dass er aufgrund eines körperlichen Defektes nicht dem Vaterlande dienen kann.

Der Zauberer fährt mit einem arithmetischen Trick fort, wobei er immer wieder Leute vom Volk, keine Vornehmen, auf die Bühne holt, um ihm zu helfen und um sie anzustacheln. Als zwei von ihnen sagen, dass sie nicht schreiben können, empört sich der Künstler daran und schickt sie an ihre Plätze zurück. Daraufhin meldet sich der Junge wieder zu Wort, der diese Beleidigung seines Volkes nicht auf sich sitzen lassen wollte. Der Blick des Zauberers bringt den Jungen jedoch zur Kapitulation und er krümmt sich, weil er glaubt, Schmerzen im Bauch zu haben.

Dem Autor fällt auf, dass die Augen des Zauberers doch sehr merkwürdig sind und eine Dame bemerkt, dass der Zauberer, zu seinen zahlreichen Zigaretten, viel trinke. Der Arithmetiktrick wird fortgesetzt mit einem, der Familie bekannten, Helfer, der diktierte Zahlen des Zauberers, die dieser vom Publikum holte, aufschrieb. Die Zahlen werden zusammengezählt, doch die Summe steht schon an der Tafel, unter einem Blatt, das der Zauberer lüftet, geschrieben. Er hatte sie im Voraus niedergeschrieben, was ihm grossen Respekt bringt.

Der Erzähler ist wenig beeindruckt und macht sich Sorgen darüber, wie er den Kindern beibringen könnte, dass sie nun, des Schlafes wegen, gehen mussten. Ein Zuschauer gesteht, dass der Zauberer gewisse Macht habe, denn als dieser vor ihm gestanden sei und mit der Peitsche hantierte, sei ihm seine Zahl entfallen, um eine andere zu nennen, die dann vorne auf der Tafel des Zauberers erschien. Der Erzähler erzählt von einer gewissen Abneigung im Publikum, welche der Zauberer mit seiner Peitsche und der allgemeinen Höflichkeit im Zaum halten konnte.

Der Zauberer geht von den Zahlentricks zu den Kartenwundern über. Der Zauberer verkündet, dass je entschlossener jemand ist, eine eigene Karte zu ziehen, umso sicherer wird er die ziehen, die der Zauberer sich wünscht. („Denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stösst ins Leere.“) Jetzt bemerkt auch der Autor, dass der Zauberer viel trinkt. Der Zauberer erläutert, dass die Fähigkeit zu seinem Werkzeug zu werden, die Kehrseite dazu sei, zu wollen und zu befehlen. Des weiteren beeindruck der Zauberer die Leute, indem er hellseherische oder telepatische Fähigkeiten unter Beweis stellt. Er sagt, dass die Wirtin der Familie, eine berühmte Künstlerin in der Familie gahabt habe, was diese nur bestätigen kann.

Es ist nun eine Pause angesagt, doch der Autor nutzt diese nicht, um zu gehen, obwohl er zuvor die Kinder ins Bett bringen wollte. Eine Erklärung dafür hat er jedoch nicht. Auf Wunsch der Kinder, die während der Vorstellung eingeschlafen waren, bleibt die ganze Familie doch noch. Der Autor entschuldigt sich für diese Nachlässigkeit, auf den Wunsch der Kinder zu bleiben. Er Vergleicht es mit der Situation in ganz Torre. Sie hatten auch entschieden nach dem Zwischenfall am Strand zu gehen, doch wie hier hielt sie etwas, die Faszination am Merkwürdigen hatte sie erfasst.

Nach der Pause geht es mit unverschleierten hypnotischen Darbietungen weiter. Der Erzähler sagt, dass dieser Mann der stärkste Hypnotiseur sei, den er je gesehen habe. Zudem erklärt er, dass der Zauberer den Alkohol braucht, um seiner inneren Dämonie einzuheizen und die Peitsche, um Respekt einzuflössen und die Kontrolle zu behalten. Der Autor ist besorgt, dass der Zauberer die Leute zu etwas bewegen konnte, das sie gar nicht wollten und dass deren Widerstreben nichts halft. Die Gastgeberin der Familie (Sofronia Angiolieri) schwebt dem Zauberer nach einem seiner Peitschenknaller sogar hinterher. Ein weiterer Ausdruck der Herrschaft des Künslters ist der Punkt, wo er das Publikum zum Tanzen bringt, wobei diese Tanzorgie vom Jüngling eingeleitet wird, der am Anfang solchen Widerstand geleistet hatte, doch gescheitert war und nun als Musterbeispiel der Entseelung und Willenlosigkeit dient. Einem ganz hartnäckigen Fall muss der Zauberer viel Aufmerksamkeit schenken, doch schliesslich tanzt auch dieser.

Der Autor versucht nochmals zu erklären, wieso er immernoch der Vorstellung beiwohnt und die Kinder nicht nach Hause gebracht hatte. Er sagt, dass sie von der Nachtstunde ergriffen waren.

Dann wird Mario vom Zauberer aufgefordert mitzumachen und dessen Name wissen möchte. Um Marios Vertrauen zu gewinnen, sagt der Zauberer, dass Mario doch Kummer habe, Liebeskummer. Mario verneint dies jedoch heftig, doch der Zauberer schafft es schlussendlich, dass Mario ihn für seine geliebte Silvestra hält, sogar der Aufforderung zum Kuss nachkommt. Dann erwacht er ab dem Peitschenknall. Mario erschiesst daraufhin den Zauberer. Der Autor verlässt den Saal und erzählt, dass es ein befreiendes Ende war.

Zum Aufbau der Novelle

Bei der Gliederung von Mario und der Zauberer nach Schauplätzen ergibt sich eine grobe Zweiteilung der Novelle; den ersten Teil bildet die Handlung vor dem Auftritt des Hypnotiseurs; sie spielt an mehreren Orten ( am Strand, im Hotel, im Urlaubsort Torre di Venere ) und kontrastiert deutlich mit dem zweiten Teil, der im dunklen Kino spielt, wo Cipolla seine Soirée abhält. Inhaltlich baut der erste Teil Spannung auf und bereitet atmosphärisch den Auftritt des Hypnotiseurs vor; hier klingen bereits viele Motive an, die dann im zweiten Teil konkretisiert werden ( Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Faschismus).

Der erste Akt stellt die Handlung vor dem Auftritt Cipollas dar; er bildet gleichsam eine "Art Exposition", die durch zwei Höhepunkte gegliedert ist. Den ersten Höhepunkt bildet der Eklat im Hotel; hier verwehrt die Hotelleitung den deutschen Gästen die Benutzung der Veranda mit der Begründung, dieser Ort sei für Stammkundschaft reserviert, was für eine erste Verstimmung der Gastfamilie sorgt. Das "Sittendelikt" der kleinen Tochter, die am Strand mit nacktem Oberkörper ihre Badebekleidung reinigt, und der daraus folgende Zusammenstoß mit der italienischen Bürokratie, repräsentieren laut Sautermeister den zweiten Höhepunkt der Exposition, der gegenüber dem ersten eine Steigerung darstellt. Der Erzähler ist darüber dermaßen verärgert, daß die Familie mit einem vorzeitigen Abbruch des Urlaubes spekuliert.

Der zweite Akt beginnt mit dem Auftritt Cipollas; Sautermeister bezeichnet die allererste hypnotische Demonstration, in der ein Dorfbursche von Cipolla gezwungen wird, seine Zunge herauszustrecken, als "Vorgeplänkel". Auch dieser Akt hat zwei Höhepunkte: Den ersten Höhepunkt bildet Cipollas Demonstration der Willensentziehung während der Kartenkunststü eine Karte ziehen will, wird durch Cipollas kalkulierte, bewußt verwirrende Reflexionen um seine Entscheidungsfähigkeit gebracht:

"Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtete, stößt ins Leere. Sie sind frei, zu ziehen oder nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden sie richtig ziehen, - desto sicherer, je eigensinniger sie zu handeln versuchen."

Mit der Demonstration der Einfühlungsfähigkeit des Hypnotiseurs ist gemäß Sautermeister der zweite Höhepunkt erreicht. Cipolla sucht nun Gegenstände, die vom Publikum verborgen worden sind. "Die Rollen schienen vertauscht, der Strom ging in umgekehrte Richtung." Der Hypnotiseur vollzieht den "in der Luft liegenden Gemeinschaftswillen" und begründet hierauf eine "Analogie zu dem politischen Verhältnis zwischen Führer und Volk":

"Befehl und Gehorsam, sie bilden nur ein Prinzip, eine unauflösliche Einheit; wer zu gehorchen wisse, der wisse auch zu befehlen, und ebenso umgekehrt; der eine Gedanke sei in den anderen einbegriffen, wie Volk und Führer ineinander einbegriffen seien..."

Der dritte Akt setzt ein mit einer Reihe von Experimenten, die auf eine Demonstration der "Willensentziehung und -aufnötigung" abzielen. ( Ein junger Mann wird in Tiefschlaf versetzt / einer älteren Dame wird eine Indienreise suggeriert.) Auch dieser Akt enthält gemäß Sautermeister zwei Höhepunkte; der erste ist erreicht, als Signora Angiolieri Cipolla gegen den einkalkulierten Widerstand ihres Ehegatte folgt, der zweite, stärkere Höhepunkt ist mit dem Sieg Cipollas über den resistenten Römer erreicht, der sich weigert zu tanzen und dem der Hypnotiseur suggeriert, daß zu gehorchen ein höherer Wert ist als Freiheit:

"Wer wird sich so quälen? Nennst du es Freiheit - diese Vergewaltigung deiner selbst? Una ballatina! Es reißt dir ja in allen Gliedern. Wie gut wird es sein, ihnen endlich den Willen zu lassen!"

Mit diesem zweiten Höhepunkt des "dritten Aktes" ist Cipolla auf dem Gipfel seines "Triumphes" angelangt, der Widerstand des Publikums ist einer allgemeinen Euphorie gewichen. Alle vorhergegangenen Experimente waren sich steigernde Stufen, an deren Ende das Tanzexperiment steht.

Der vierte Akt beginnt mit dem Auftritt Marios und dem sich anschließenden "Frage- und Antwortspiel" zwischen Mario und Cipolla und hat gemäß Sautermeister wie alle vorigen Akte zwei Höhepunkte. Dieses Zwiegespräch zwischen Mario und Cipolla entpuppt sich im nachhinein als ein tödlicher Fehler Cipollas; es leitet gleichsam die Katastrophe ein. Sautermeister spekuliert über Motive, die Cipolla veranlassen, auf dem Höhepunkt seines Triumphes nicht innezuhalten sondern noch einen Schritt darüber hinaus zu gehen:

"Läßt er (Cipolla) sich zu einer letzten Hypnose verführen, weil der Triumph über die Masse eine eigene unstillbare Dynamik hat, die gewisse Zurückhaltung Marios ihn reizt? Oder vermutet er in der primitiven Schwermut des Kellnerburschen einen Unglücklichen, heimlich leidenden, Wahlverwandten? Der Erzähler drängt solche Fragen dem Leser auf, versagt sich je jedoch eine eindeutige Erklärung."

Der erste Höhepunkt ist erreicht, als Mario den Hypnotiseur hingebungsvoll küßt in dem Glauben, es sei Silvesrta:

"Die Ersatzlust, die sich der Gaukler verschafft, bildet den ersten Höhepunkt des Aktes."

Sautermeister sieht in dieser Szene nochmals eine qualitative Steigerung gegenüber den vorherigen Experimenten, da es Cipolla gelingt, einen Mensch zur öffentlichen Zurschaustellung seiner innersten Wünsche und Sehnsüchte zu bringenund ihn dadurch aufs äußerste zu entwürdigen:

"Diese Demütigung zum Zwecke der Selbstbefriedigung stellt die äußerste Kehrseite der angemaßten Würde Cipollas dar."

Die Tötung Cipollas schließlich bildet den zweiten und zugleich letzten Höhepunkt der Novelle, wobei Mario dem Saalpublikum "nicht als Befreier sondern als Exekutor seines Führers erscheint." Der Tod der Hypnotiseurs wird mit Bestürzung aufgenommen und Mario wird wie ein terroristischer Verbrecher behandelt:

"Der Tumult war grenzenlos. Damen verbargen in Zuckungen das Gesicht an der Brust ihrer Begleiter. Man warf sich im Gedränge auf Mario, um ihn zu entwaffnen "

Die Erzählhaltung

Die Erzählhaltung von Mario und der Zauberer stellt verglichen mit anderen Werken Thomas Manns eine Besonderheit dar: Im Gegensatz zu vielen früheren Erzählungen fehlt in Mario und der Zauberer die für Thomas Mann typische ironische Erzähldistanz. An vielen Stellen werden mißliche Ereignisse emotional kommentiert und somit bewertet:

"Der Schrei galt einem abscheulichen Jungen mit ekelerregender Sonnenbrandwunde zwischen den Schultern, der Widerspenstigkeit, Unart und Bosheit das Äußerste zum besten gab Mit einem Worte, ein Greuel."

"Sofronia! rief Herr Angiolieri schon hier ... , und mit Recht begann er zu rufen, denn jedermann sah, daß Gefahr im Verzuge war: seiner Gattin Antlitz blieb unverwandt gegen den verfluchten Cavaliere gerichtet."

"Ja, das war ein Ende, ... ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch, - ich kann nicht umhin, es so zu empfinden! "Thomas Manns subjektive, unironische Erzählhaltung dient dazu, das Vertrauen des Lesers zu gewinnen, . In der Erzählhaltung drückt sich ein klarer Wille zur moralisch-politischen Einflußnahme auf den Leser aus."

Darüber hinaus hat Thomas Mann in "Mario und der Zauberer" der Erzählerfigur viele persönliche, autobiographische Züge gegeben, wodurch er eine Annäherung von Autor und Erzähler bewirkt. Spelsberg sieht in diesem Verfahren ebenfalls einen Versuch, moralisierend auf den Leser einzuwirken, dadurch, daß der Leser im Erzähler den prominenten Autor Thomas Mann vorbildhaft wiedererkennt.

Stilistische Besonderheiten

Neben dem für Thomas Mann charakteristischen hypotaktischen Satzbau zeigt der Autor in "Mario und der Zauberer großes Einfühlungsvermögen in die Idiomatik der italienischen Sprache. Viele italienische Wendungen werden als Einsprengsel unübersetzt in den deutschen Kontext gestreut; sie haben die Aufgabe, mediterranes Kolorit zu schaffen und etwas von der fremdländischen Atmosphäre einzufangen.(z.B. "Forzatore, Illusionista, Prestigiatore"/"ha sciolto lo scilinguagnolo" / "Mario, una cioccilata e biscotti!" ) Die Einfühlungfähigkeit in die italienische Sprache geht sogar so weit, daß Thomas Mann italienische Idiomatik wortgetreu ins Deutsche übersetzt: Wenn z.B. Cipolla im Gespräch mit Mario die Fügung "sag ein bißchen" verwendet, so steht dahinter das italienische Idiom "dimmi un po´"; ebenso ist das Adjektiv "stakkiert" eine Wortschöpfung des Autors, die sich an das italienische Adjektiv "stakkato" ="gelöst" anlehnt. Das Wort "Capannen" ist von italienisch "capanne" abgeleitet; Thomas Mann verwendet es als Bezeichnung für Badehütten. Auch der fiktive Name des Badeortes Torre di Venere geht auf die erotische Bedeutung von italienisch Venere = Venus zurück. Laut Karl Pörnbacher beinhaltet der Name Venere eine Anspielung auf die vom italienischen Faschismus favorisierte Antike:

Italien wurde gerne als unvollständig christianisiertes Land angesehen, in dem durch Erwachen der antiken Göttin Venus verbotene Leidenschaften hervorbrechen Zugleich wird mit dem Hinweis auf die Wiedererweckung der Antike auf ein wichtiges Ziel des Faschismus angespielt."

Excerpt out of 7 pages

Details

Title
Mann, Thomas - Mario und der Zauberer - Inhalt und Deutung
Author
Year
2001
Pages
7
Catalog Number
V102091
ISBN (eBook)
9783640004812
File size
340 KB
Language
German
Keywords
Biographie Thomas Mann, Inhalt Mario und Analyse und Interpretation
Quote paper
Christina Heinrich (Author), 2001, Mann, Thomas - Mario und der Zauberer - Inhalt und Deutung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102091

Comments

  • guest on 1/31/2002

    Mann, Thomas - Mario und der Zauberer - Inhalt und Deutung Autor: Christina Heinrich.

    Die Anwendung der neuen Rechtschreibung ist leider völlig missglückt. Überall, wo ein

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Title: Mann, Thomas - Mario und der Zauberer - Inhalt und Deutung



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