Die Fremde in der Nähe: Fremderfahrung in Uwe Johnsons "Das dritte Buch über Achim"


Dossier / Travail, 2001

13 Pages, Note: 2+


Extrait


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Hauptteil: Die Fremde im Leben des Achim T
I. Die Kindheit
II. Die Jugend
III. Die Karriere als Radrennsportler
IV. Achim T. heute: Sein Weltbild und die Konfrontation mit Karsch

C. Schluß

D. Literaturverzeichnis

A. Einleitung

Die Personen sind erfunden. Die Ereignisse beziehen sich nicht auf ähnliche sondern auf die Grenze: den Unterschied: die Entfernung und den Versuch sie zu beschreiben. aus: Johnson, Uwe: Das dritte Buchüber Achim

„Der Name ‘Interkulturelle Germanistik’ bezeichnet eine Wissenschaft vom Deutschen und deutschsprachigen Ländern, die das Deutschstudium mit interkulturellen Lernen verknüpft und sich als Teil eines interkulturellen Dialogs versteht“1. Dies sind die einleitenden Worte Prof. Dr. Wierla- chers zur Frage der Definition des Faches Interkulturelle Germanistik. Gleichzeitig sind aber auch alle in diesem kurzen Auszug genannten charakteristischen Merkmale des Studiengangs Themen, die in Uwe Johnsons zweiten Roman „Das dritte Buch über Achim“ entscheidende Rollen spielen.

Der oben genannte „interkulturelle Dialog“ ist das Leitmotiv in Johnsons 1961 erschienenen Werk. Der westdeutsche Journalist Karsch reist in die DDR, um dort Interviews mit dem berühmten Radrennfahrer Achim T. zu führen, die er später für seine Biographie über diesen nutzen will. Doch das Gespräch, welches der Journalist sucht, findet nicht statt. Zu groß scheint bereits die Kluft, die sich zwischen ihm und dem im Osten Deutschlands aufgewachsenen Sportler aufgetan hat. Karschs Versuche und Methoden, das Leben dieses berühmten Mannes zu begreifen, funktionieren nicht in dieser Welt, die zwar nicht weit entfernt von der seinigen liegt, jedoch kulturell für ihn offensichtlich in einem anderen Universum zu liegen scheint. Das „interkulturelle Lernen“ (s.o.) voneinander ist in die- sem Fall also zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, da der Dialog nicht entstehen kann.

Uwe Johnson sagt über seinen Roman, daß er sich zur Niederschrift dessen entschlossen habe, weil er dachte, die Teilung Deutschlands sei in bestimmten Aspekten repräsentativ für die Teilung der Welt und „(...) die Konfrontation zweier Lebensweisen, zweier Kulturen [...] die Wahl verdeutli- chen könne, vor die wir gestellt sind“2 Sollte es die Wahl zwischen der kulturellen Entfremdung und der Annäherung an das Fremde mittels des Dialogs sein, so könnte man den Autor aus heutiger Sicht als einen frühen Vertreter der Ideale des Faches „Interkulturelle Germanistik“ sehen. Denn eines geht aus den vielen Interviews mit dem Autor hervor: der 1984 verstorbene Johnson würde sich mit Sicherheit für letztere Möglichkeit entscheiden.

Auf den nun folgenden Seiten soll daher erläutert werden, in welcher Form sich Johnson in seinem Roman kritisch mit dem Thema der Entfremdung in jeglicher Form auseinandersetzt. Hierzu soll zu- erst auf die Erlebnisse des Achim T. während des zweiten Weltkrieges und in der Zeit danach einge- gangen werden. Zum Schluß soll aufgezeigt werden, inwieweit sich der Sportler in den 15 Jahren der Nachkriegszeit von anderen Kulturen, Menschen und schlußendlich auch von sich selbst entfremdet hat.

Die in den folgenden Kapiteln in Klammern gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf die 1992 im Suhrkamp Verlag erschienene Ausgabe von„Das dritte Buchüber Achim“(s. Literaturver-zeichnis).

B. Hauptteil:

Die Fremde im Leben des Achim T.

Der Leser erfährt die Lebensgeschichte des jetzigen Radrennfahrers Achim durch die mit dem Journalisten Karsch im Jahre 1961 geführten Interviews. Die enthüllen aber Achims Vergangenheit oft nur fragmentarisch und stellen daher keineswegs einen kompletten Lebenslauf dar. Doch neben den Berichten, die sich um die ersten Erlebnisse mit Fahrrädern drehen, wird der Leser auch Zeuge von Ereignissen, die Achims Charakter aufzeigen und seine spätere geistige Entwicklung andeuten.

I. Die Kindheit

In den Jahren 1935-41 (im Alter von fünf bis elf Jahren) wächst Achim T. in einer „kleinen Stadt am Rande von Thüringen“ (S. 57) auf. Sein Vater ist ehemaliges Mitglied der sozialdemokratischen Partei und von daher dem Nationalsozialismus gegenüber selbstverständlich kritisch eingestellt. Doch er ist auch ein sehr schweigsamer Mann, der es selbst in der Familie nie wagt, seine Meinung laut auszusprechen und versucht daher nicht, Achims Eintritt in die Hitlerjugend zu verhindern oder zu- mindest zu verzögern. Am Tag des Einzugs in diese sucht sein Sohn seine Uniform, von der er glaubt, seine Eltern hätten sie ihm gekauft. Doch als er die noch nicht existente Uniform nicht finden kann (seine Eltern werden ihm diese erst am folgenden Tag auf sein Drängen hin kaufen) und darum nicht am Treffen teilnehmen kann, ist er betrübt. Er verläßt das Haus und kehrt später zurück mit der Be- gründung, sein Freund, mit dem er sich für das gemeinsame Erscheinen beim Einzug verabredet hätte, sei nicht zum vereinbarten Treffpunkt erschienen. Der Vater, wissend darüber, daß sein Sohn die sich vermeintlich in seinem Besitz befindende Uniform nicht hat, ist stolz. Er sieht die verzweifelte Ausrede Achims nur als Vorwand dafür, nicht Mitglied der Hitlerjugend werden zu wollen und bietet im großzügig an, jede Entschuldigung für seine Nichtteilnahme zu schreiben, die er wolle. Doch für seinen Sohn ist der Ausschluß aus einem Kollektiv eine ernüchternde Erfahrung (S. 73 ff.). Wie es später auch in seiner Rennfahrerkarriere der Fall sein wird, braucht der Junge auch hier eine Gemein- schaft, in die er sich eingliedern, und eine Obrigkeit, auf die er hören kann. Sein überdurchschnittli- ches Geltungsbedürfnis und die Wunsch nach der Akzeptanz anderer ist auch ein Thema weiterer Ereignisse in Achims Kindheit: sei es sein Absturz aus einer Baumkrone, da er zu hoch geklettert war (S. 59) oder die Tatsache, daß er angeberisch freihändig „einfährt in den geschotterten Weg der Siedlung an kopfschüttelnden Erwachsenen oder betroffenen Spielkameraden vorbei“ (S. 223). An- erkennung von außen ist ihm wichtiger als das Verständnis für seinen Vater, der seinen Sohn nur zu gerne einen anderen Weg einschlagen sehen würde und doch nichts dafür tut. Hier taucht zum ersten Mal im Roman das Problem der fehlenden oder mißglückten Kommunikation auf. Denn als der Va- ter Jahre später einmal seine Meinung kundtut, wird dieser von Achim nur noch mißachtet, da dem Jungen das Machtsystem wichtiger erscheint als gedankliche Freiheit. Ursache für die Kommunikati- onsprobleme und den daraus später resultierenden Entfremdung des Sohnes vom Vater ist die Tat- sache, daß in der Familie Achims Probleme nicht erörtert, sondern meist totgeschwiegen werden. Der Vater ist schweigsam und generell „nicht anzureden ohne daß er gefragt hatte“ (S. 69), die Mut- ter hingegen beredsam, doch eingeschüchtert durch ihren Mann.

Der Vater hat nicht viel gesagt. Sein Gesicht war unlesbar verschwiegen, er verständigte sich mit einzelnen, wie hervorgepreßten Worten, nur der Mund war bewegt; erschreckend war der Junge manchmal gefangen von einem grauen schmalen Augenblick, der sah aus wie einverstanden, der sah zu. [...] Wenn [der Mutter] wie beim Ultimatum an Polen unversehens die Rede herausfiel und sie mit dem Ton bescheidener Vernünftigkeit auseinandersetzte wie unzumutbar ein solches Betragen sei und wie wenig es gut gehen könne, schwieg der Vater abgewandten Gesichtes als habe er nichts gehört (S. 68 f.).

II. Die Jugend

1941 zieht Achim mit seinen Eltern in eine nicht genannte Großstadt in Sachsen (aufgrund der Beschreibung des Bahnhofes sind sich aber die meisten Literaturwissenschaftler darüber einig, daß es sich bei dieser um Leipzig handelt3 ). Daß Johnson hier wie in seinem gesamten Roman den Namen der Metropole verschweigt ist ein weiteres Anzeichen dafür, daß er den Vergleich zwischen Ostund Westdeutschland nur metaphorisch für allgemeine kulturelle Unterschiede in der ganzen Welt (s. Einleitung) sieht, weshalb die Nennung spezifischer Städtenamen unwichtig wäre.

Achim wird in seiner neuen Heimat noch mehr in das nationalsozialistische Kollektiv integriert. Von nun an besteht sein Alltag aus der Hitlerjugend, seinem Engagement in Jugendorganisationen und dem Klettern in den zerstörten Häusern der Großstadt. Da der Druck auf ihn nun größer ist, wird Achim schnell bewußt, wie wichtig ihm das Leben auf dem Land mit den dazugehörigen geordneten Verhältnissen war. Beim Blick von einer Brücke fragt sich der Junge, dem das Treiben in der Groß- stadt fremd erscheint: „Wie mochte das alles zusammenhängen?“ (S. 80). Der Leser erfährt bereits vor dem Umzug der Familie, daß es sich bei dieser Stadt um seinen Geburtsort handelt. Doch der inzwischen Jugendliche ist entsetzt ob des Eindrucks, den diese auf ihn macht. Seine Erinnerungen trügen ihn, die Stadt erscheint ihm nun „viel enger und wirrer als sein Erinnerung ihm vorausgesagt hatte“ (S. 79). Die Kategorisierung seiner Heimat, die er mit drei oder vier Jahren vornahm, greift beim jugendlichen Achim nicht mehr. Die merkwürdige Situation, sich von etwas eigentlich vertrau- tem entfremdet zu haben ist vergleichbar mit der Lage des Journalisten Karsch, der viele Jahre später eine Reise zum inzwischen berühmten Achim vornehmen wird und diesem dabei auf eine ähnlich schmerzhafte Weise bewußt werden muß, daß die Vorstellungen, die er sich vom Osten Deutsch- lands gemacht hat, falsch waren.

Doch auch die Eltern kommen mit der Fremde der Großstadt zumindest anfangs nichts zurecht. Die Mutter, einst sozial engagiert, scheint von nun an bis zu ihrem Tod keine bedeutende Rolle mehr für die weitere Handlung zu spielen. Es wird lediglich erwähnt, daß sie sich unsicher fühle und „vor den feiertäglichen Besuchen der neuen Kollegen [ihres Mannes] fahrig und überrötet am neuen Fri- siertisch [sitzt] und sich Puder und Creme und Farbe ins Gesicht tut“ (S. 81), wohl, um ihre Unsi- cherheit zu verbergen. Auch der Vater fühlt sich fremd, wird aber schon bald von seinen Kollegen akzeptiert, obwohl „er nicht studiert hatte“ (S. 130), was er häufig zu Ohren kriegt und sich daher stets außerhalb der neuen Arbeitsgemeinschaft stehen sieht. Und obgleich er die herrschende politi- sche Macht in vielen Punkten nicht versteht und früher generell ablehnte, arrangiert er sich nun mit dieser und profitiert von ihr.

Das Kriegsende verbringt Achim im Alter von nun 15 Jahren bei seinen Großeltern in einem thüringischen Bergdorf. Wieder ist der Jugendliche mit dem Problem konfrontiert, daß ihn schon in der Großstadt bedrückte: der Fremde. Doch diesmal ist es nicht der unvertraut erscheinende Ort, sondern die ideologische Fremde, die über ihn hereinbricht. Nachdem er sich, seiner Meinung nach, sehr gut in das politische Machtsystem eingegliedert hatte, muß er sich jetzt damit abfinden, daß seine Heimat nun den Nährboden für eine sozialistische Gesellschaft bilden soll.

„Achim fand zum dritten Mal keine Freunde, mit diesen fünfzehn Jahren war er unlenksam und hochfahrend gegen die lange Weile des Lebens im Dorf“ (S. 149). Es ist schließlich die Begegnung mit einem der das Dorf durchfahrenden russischen Soldaten, die Achim seine Isolation bewußt macht. Der Soldat stürzt von seinem Fahrrad, worauf ihm der Jugendliche zu Hilfe eilt. Sofort werden die beiden von einer großen Gruppe Dorfeinwohner und russischer Soldaten umkreist. Trotz sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten ist das folgende Gespräch, in dessen Verlauf der Russe Achim sein Fahrrad schenkt, das erste Beispiel für geglückte Kommunikation im Leben des Jugendlichen. Seine Lebenslust scheint wiedererweckt und die Langeweile verflogen.

[Der russische Soldat] schüttelte den Kopf. Er war gar nicht viel älter als Achim. Er sah wieder vergnügt aus. Njet: sagte er kopfschüttelnd. Denn er wollte auf diesem Ding nicht mehr fahren, nachdem es ihn hingeschmissen hatte, das tückische. Er wiederholte und sagte: Spassibo. Nu? Achim stand mit dem Rad allein auf der Straße und sah dem Wagen hinterher. Sie winkten alle. Er hatte Lust zu johlen und zu lachen, aber er war traurig. Er hatte vorher nicht gewußt wie allein er war. (S. 152)

Wie wichtig die interkulturelle Kommunikation für Johnson ist, zeigt sich daran, daß man dieses kurze Erlebnis Achims wahrscheinlich als das für ihn prägende Ereignis ansehen kann. Zwar hat ihm sein Vater schon zuvor ein Fahrrad geschenkt, doch erhält er diesmal dieses Gefährt als Konsequenz auf seine eigene Initiative. Achims erster mutiger Versuch zur Konversation wird mit der Schenkung eines Fahrrades belohnt und ist somit für sein späteres Leben als Radrennsportler richtungsweisend.

Sein zweites bedeutendes Erlebnis in dieser Zeit ist die Freundschaft mit einem 14-jährigen Mäd- chen. Diese stammt aus einer ostpreußischen Flüchtlingsfamilie und hat durch die anders erlebte Ver- gangenheit nicht viel, was sie in Gesprächen mit Achim teilen kann. Die Schilderung vom Tod seiner Mutter läßt sie unberührt, denn „auf dem Treck hatte sie viele tot und sterben sehen“ (S. 158). A- chim kann aus Scham nicht über seine Vergangenheit reden, interessiert sich aber auch nicht für seine Freundin und ihre alte Heimat und verbringt daher den Großteil seiner Zeit mit ihr in Gedanken an das erste Treffen mit dem Mädchen, daß auf einer Landstraße stattfand. „Er blieb anderthalb Jahre mit ihr zusammen und wartete immer auf die Wiederkehr des springenden Gefühls in den Schläfen“ (S. 157 f.), was aber nicht eintrifft. Hier ist wieder der Achim zu erkennen, dem die Akzeptanz von außen und die Eingliederung in ein System wichtiger erscheint als der Versuch, andere zu verstehen. Denn trotz fehlender Kommunikation und des nicht zurückkehrenden Gefühls der Liebe bleibt er lange Zeit mit dem Mädchen zusammen, was ihm den Respekt und die Anerkennung der Dorfbe- wohner sichert. Denn „nun hatte er eine Freundin. Wie alle in seinem Alter“ (S. 158).

III. Die Karriere im Radsport

Nach der Gründung der DDR holt ihn der Vater in die Großstadt zurück, wo Achim eine Stelle als Maurer annimmt. Immer noch geprägt von nationalsozialistischem Gedankengut tritt er nur wi- derwillig der FDJ bei, die ihm die Möglichkeit bietet, sich im Radsport zu beweisen. Schon bald dar- auf ist er allseits beachteter Mittelpunkt im lokalen Radsportverein. Plötzlich scheint auch das nur widerwillig von Achim akzeptierte sozialistische Denken kein Problem mehr für ihn darzustellen. Wichtiger als das Verstehen scheint für ihn wieder einmal die „Empfindung von Zugehörigkeit. Er wurde verlangt, er war nicht vergessen, man brauchte ihn, er war nicht allein“ (S. 176). Doch Achim steht wieder allein da. Die gescheiterte Beziehung zu dem Mädchen, das angespannte Verhältnis zum Vater und sein übersteigertes Geltungsbedürfnis lassen ihn in die Isolation abgleiten. Die in der Kind- heit fehlende Kommunikation macht sich nun immer wieder bemerkbar. Sei es im Umgang mit den anderen Sportlern seines Vereins, denen er arrogant gegenübertritt oder bei dem Treffen mit einem älteren Mechaniker, in dem der junge Mann offensichtlich die Figur seines Vaters wiederzuerkennen glaubt. Auch diesem gegenüber weiß Achim nichts zu entgegnen und gibt sich unterwürfig, als der Mechaniker ihn wegen seiner Ungeschicklichkeit beim Umgang mit seinem Fahrrades beschimpft.

Der Mann fuhr [Achim] an. Er hatte ein festes aber ungreifbares Gesicht. [...] Der Blick, der war gelassen als wäre er guten Willens, während zähes Geschimpfe niederging wie Regen: Das haben sie dir doch schon überall gesagt in der ganzen verdammten Stadt daß an der Stelle Zug und Druck zusammenkommen du Dussel steh doch nicht so beschissen da kannst du dir das nicht denken! Da schweißen! [...] Achim war da achtzehn. Er wehrte sich nicht. (S. 224)

Seiner Umwelt, die ihm mehr und mehr fremd erscheint, entflieht er durch Nichtbeachtung dieser und Ignoranz. Statt sich beispielsweise gegen das Verhalten des Mechanikers zu wehren, engagiert Achim diesen später für sich, da er sich nach der ersten Begegnung diesem unterlegen fühlt und daher nicht den Mut aufbringt, von da an noch zu einer anderen Fahrradwerkstatt zu gehen.

Der Radsportler verliert sich von nun an in einer Welt, die er für begreifbar hält. Seine Gedanken kreisen nun nur noch um den Sport, der fest definierte Regeln besitzt, die er sich zu eigen macht. Anders als die sich stetig verändernde Gesellschaft bietet Achim der Radsport ein Universum, in dem er sich auskennt. Zwar ist ihm auch diese Welt anfangs fremd, doch schon bald „ordnete das Fahr- rad das seitlich verbliebene Leben des Alltags zur Kulisse“ (S. 231). Die für das Radfahren wichtigen physikalischen Gesetze, die Berechnung des Luftwiderstandes, der richtige Einsatz von Bauch- und Brustatmung werden wichtiger für ihn als alles andere. Der Vater scheint in Vergessenheit zu geraten, die Stelle als Maurer wird gekündigt und der Kontakt zu den anderen Sportlern des Klubs auf das nötigste beschränkt. Es scheint Achim unbegreiflich zu sein, warum sich andere Menschen nicht hiermit beschäftigen wollen; denn das, was er im Sportunterricht lernte, „hatte er nie so gedacht und kam ihm vor wie Sicht aus großer Höhe, die die Einzelheiten zusammennimmt zu besser geplantem Zweck“ (S. 232). Konfrontiert mit dem sozialen Leben versagt er aber zwangsläufig. Das Abwenden von den Kameras (S. 241), die „zitternden Haarspitzen“ (S. 242) oder „das feige lächelnde“ Kopf- schütteln beim Schreiben seines ersten Autogramms (S. 244) weisen auf die Entfremdung Achims von der Gesellschaft hin. Seine unterbewußten Bedürfnisse wie zum Beispiel der Wunsch nach einer Beziehung und einer Familie werden daher nicht erfüllt.

Obwohl sich die anfangs beinahe fanatisch zu nennende Hingabe Achims an den Radsport bei Erscheinen des Journalisten Karsch etwas gelegt hat, ist es daher nur zu verständlich, daß es beim Aufeinandertreffen dieser beiden Charaktere Probleme geben würde. Doch nicht nur Achims Ego wird die Recherche des Journalisten erschweren, sondern auch seine Konfrontation mit dem anderenDeutschland in der Form des Journalisten Karsch.

IV. Achim T. heute: Sein Weltbild und die Konfrontation mit Karsch

Achim als den Prototyp eines DDR-Bürgers zu sehen wäre sicher falsch. Johnson läßt ihn immer wieder in seinen Berichten für den Journalisten Karsch mit teils unscheinbaren, beiläufigen Bemer- kungen andeuten, daß er das nun existierende politische System teils nur daher akzeptiert, da es ihm seine Sportlerkarriere und das daraus resultierende hohe Ansehen sichert. Dies bestätigen auch die Äußerungen von Karin, Achims jetziger und Karschs früherer Freundin. Trotzdem hat sich der Sportler natürlich auch im Laufe der Jahre bestimmte Verhaltensweisen eines ordentlichen DDRBürgers angeeignet. Einerseits die Regeln dieser Gesellschaft während seiner Mitgliedschaft bei der FDJ, andererseits die Fähigkeit, Dinge, denen er eigentlich ablehnend gegenübersteht, zu akzeptieren und sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren.

Karschs Ignoranz gegenüber dem Fremden ist hingegen zumindest äußerlich nicht sofort zu be- merken. Doch die Fassade eines weltoffenen Menschen beginnt sehr schnell zu bröckeln, als er sich mit der Mentalität Achims und dessen Heimat konfrontiert sieht. Offensichtlich war der Journalist nicht darauf vorbereitet, nur wenige hundert Kilometer vor seiner eigenen Haustür etwas anzutreffen, mit dem er nicht zurechtkommt. Die Fremde zeigt sich ihm nicht nur im Verhalten Achims und dem der Parteifunktionäre Fleisg und Ammann, sondern auch in Äußerlichkeiten wie beispielsweise dem Erscheinungsbild der Stadt.

Die golden und schwarz aufgemalte Zigarettensorte hatte man [in Westdeutschland] vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal kaufen können, die öffentlichen Gebäude regierte ein ande- res Gesetz, dessen Sprache nämlich ordnete das Bild der Straße und nicht das Gespräch der Leute, die da gingen oder hier aus den Häusern niederblickten in der kühlen ruhigen Luft des Abends auf Kissen gestützt und redend: die Sprache der staatlichen Zeitungen verstand Karsch nicht. (S. 23 f.)

Karsch fühlt sich getäuscht von der Erscheinung der Menschen in der DDR und ihrer Sprache. Oft beklagt er, daß sie ihm Zusammengehörigkeit nur vorgaukeln würden und doch in Wahrheit völlig unterschiedlich von der seiner Heimat seien. Dem Journalisten bereitet dies so viele Schwierigkeiten, daß er beinahe den eigentlichen Zweck seines Besuches aus den Augen zu verlieren scheint: die Verfassung einer Biographie über Achim T. Das von Seiten Karschs nicht vorhandene Verständnis für seine Heimat macht Achim sehr betroffen. Karin hingegen schlägt schon bald sehr direkte Töne gegenüber Karsch an, was ihr ob deren gemeinsamer Vergangenheit natürlich leichter fällt. Sie schickt ihn hinaus auf die Straße, damit er „das Leben lernt“ (S. 25).

Die Beziehung zwischen ihm und Achim beschränkt sich jedoch anfangs nur auf die Themen des Radsports und den Austausch von Höflichkeiten. Der Sportler nimmt Karsch zum Training mit und liefert ihm Antworten auf technische Fragen, worauf der Journalist sich artig bedankt und die Höflichkeit beweist, „für die ihn alle loben“ (S. 27).

Achim fühlt sich nach dem Zutrauen, daß er gegenüber Karsch gefunden hat, nun auch dazu ver- pflichtet, den Journalisten in die Regeln seines Staates einzuführen. Dies veranschaulicht der Autor Johnson anhand von einem gemeinsamen Ausflug mit dem Auto. Mißtrauen gegenüber den ihm fremden Vorschriften treibt Karsch dazu, sich streng an die Verkehrsregeln zu halten. Als Karin darauf bedauernd seufzt (das strenge Befolgen aller staatlichen Vorschriften ist ihr größter Kritikpunkt an ihrem Freund) und Achim dies hört, drängt er Karsch dazu, sich nicht hiervon beeinflussen zu lassen und weiterhin den sicheren Fahrstil zu praktizieren wie bisher. Hierbei verweist er ununterbrochen auf die guten Fahrleistungen der anderen Verkehrsteilnehmer.

[Achim] starrte voraus und nickte zuweilen. Von da an zog Karsch nach jeder Überholung auf die rechte Fahrbahn zurück und verwies auf die Unebenheit der äußeren Platten, als A- chim aufgeregt fragte. [...] Das ist ein guter Fahrer: sagte [Achim] etwa aus seiner harten Kehle, wenn ein Wagen mittlerer Leistung sie überholte und sofort wieder rechts einordnete; besonders schien ihm das unverzügliche und freiwillige Einschwenken zu gefallen: Der weiß genau, wieviel er kann, mutet sich nicht mehr zu. (S. 30)

Achims momentane Einstellung wird an diesem Textbeispiel sehr deutlich. Nachdem er feststellen mußte, daß sein enormes Geltungsbedürfnis und sein aggressiver Ehrgeiz in einem (zumindest nach außen hin) klassenlosen System nicht funktionieren konnten, hat er seine einst ablehnende Haltung gegenüber der Staatsform der DDR abgelegt. Sei es aus Überzeugung oder, was wahrscheinlicher ist, aus Karrieregründen. Eine Karriere, die ihm nicht möglich gewesen wäre, wenn er sich nicht an- gepaßt hätte. Aus welchen Gründen auch immer, hat Achim doch mit diesem Schritt sich endgültig von seinem Selbst entfremdet. Neben den äußeren Einflüssen wie dem Druck durch die Parteifunkti- onäre, ist die Entdeckung Karschs, daß Achim sich auf diese für den Journalisten unbegreifliche Wei- se gewandelt hat, der wahrscheinlich wichtigste Grund für das Scheitern der geplanten Biographie.

In einem der letzten Gespräche zwischen Karsch und Achim fragt der inzwischen um einige Erfah- rungen reicher zu glaubende Journalist den Sportler nach den Mißständen in der DDR. Achim rea- giert ungehalten auf die Frage, die Karsch in seiner Naivität gestellt hat. Wütend beschimpft er den Mann, der seiner Meinung nach das nur Produkt einer „klerikalfaschistischen Regierung“ (S. 284) ist:

- Es ist schwofel wie Sie von uns sprechen: sagte Achim.
- Ja von wem spreche ich denn? erkundigte Karsch sich.
- [...] Sie reden von jemand, zu dem ich Vertrauen habe, der mir ein Vorbild geworden ist! sagte Achim. - Das tut ein Gast nicht. Das ist nicht höflich!
- Ich rede doch nicht von Ihnen: suchte Karsch sich zu entlasten.
- Mich beleidigen Sie aber! schrie Achim.

(S. 287)

Die ideologische Kluft und Fremde zwischen den beiden Gesprächsteilnehmern offenbart sich hier endgültig: Der westdeutsche Journalist hält sich für weltoffen, handelt aber trotz eines wochenlangen Aufenthalts in der für ihn einst fremden Umgebung völlig unbedarft und spricht das aus, was er in den Augen seines Interviewpartners nicht darf. Achim hingegen schafft es nach dem jahrelangen Prozeß der Anpassung an das herrschende System nicht mehr, den Fragen Karschs mit Gelassenheit zu begegnen. Sein Weltbild scheint sich nur noch aus Regeln zusammenzusetzen. Daß dies der Fall ist, beweist der im Zorn fallengelassene Satz des Sportlers „Das tut ein Gast nicht“ (S. 287). Sowohl Achim als auch Karsch begreifen einzig und allein die Welt, in der sie selber leben. Doch ein jeder von ihnen ist in der unvertrauten Umgebung verloren. Man mag sich kaum ausmalen wollen, was passieren würde, wenn Achim T. einmal nach Westdeutschland reisen würde.

C. Schluß

Uwe Johnson, der „Dichter der beiden Deutschland“4, legte 16 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges ein Werk vor, daß durch die Augen eines Radrennfahrers sowohl Kritik am Nationalso- zialismus wie auch an der Staatsform der DDR übte. Denn in der Figur des Achim T. locken beide Regierungsformen die selben negativen Folgen hervor: Einerseits ist es der bedingungslose Wille zur Anpassung, der Wunsch, sich in ein Kollektiv einzugliedern und sich damit auch einer Machtform unterzuordnen. Andererseits ist es die Entfremdung von fremden Kulturen und damit von den dort lebenden Menschen.

Das Buch damit aber allein auf die Kritik an diesen Staatsformen zu beschränken wäre sicher falsch. Denn die Entfremdung Achims nimmt in Johnsons Roman noch viele andere Formen als nur die durch die politische Unterdrückung ausgelöste an. Die Fremde ist auch im Mikrokosmos der Familie unter deren Mitgliedern anzutreffen, welche sie durch die nicht stattfin- dende Kommunikation beschwören. Auch findet eine soziale Entfremdung statt, die sich in der Be- ziehung zwischen Achim und dem Mädchen aus Ostpreußen zeigt, welches er als Freundin behält und ihn dabei noch nicht einmal interessiert, wo Ostpreußen liegt. Die finale Form ist die der Selbst- entfremdung, die der Sportler durchlebt, als er feststellt, daß es ihm offensichtlich keine Probleme bereitet, sich einem herrschenden System unterzuordnen, auch wenn dieses nicht seine politische Meinung vertritt.

Achims Selbstentfremdung bedeutet damit letztendlich auch seine Selbstaufgabe.

D. Verwendete Literatur:

- Burkhard, Jürg: Uwe Johnsons Bild der DDR-Gesellschaft. Bonn: Bouvier Verlag, 1988.

- Johnson, Uwe: Das dritte Buchüber Achim. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1992.

- Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart: Verlag J.

B. Metzler, 1993.

- Wierlacher, Alois: „Deutsch als Fremdsprache (Interkulturelle Germanistik)“. Alois

Wierlacher (Hrsg.): Materialien zur Interkulturellen Germanistik, I, 2. Auflage. Bayreuth, 1996, S. 2-4.

[...]


1 Alois Wierlacher: „Deutsch als Fremdsprache (Interkulturelle Germanistik)“. Materialien zur InterkulturellenGermanistik, I, 1996, S. 2.

2 Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim. 1991, S. 2.

3 Jürg Burkhard: Uwe Johnsons Bild der DDR-Gesellschaft. 1988, S. 14.

4 Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 1993, S. 305.

Fin de l'extrait de 13 pages

Résumé des informations

Titre
Die Fremde in der Nähe: Fremderfahrung in Uwe Johnsons "Das dritte Buch über Achim"
Note
2+
Auteur
Année
2001
Pages
13
N° de catalogue
V102139
ISBN (ebook)
9783640005284
Taille d'un fichier
361 KB
Langue
allemand
Mots clés
Fremde, Nähe, Fremderfahrung, Johnsons, Buch, Achim
Citation du texte
Patrick Lohmeier (Auteur), 2001, Die Fremde in der Nähe: Fremderfahrung in Uwe Johnsons "Das dritte Buch über Achim", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102139

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