Konzepte geographischer Stadtforschung


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2001

15 Pages, Note: 1,5


Extrait


INHALTSVERZEICHNISS

I. FORSCHUNGSRICHTUNGEN UND -SCHWERPUNKTE DER ALLGEMEINEN STADTGEOGRAPHIE IN IHRER ZEITLICHEN ENTWICKLUNG

1. MORPHOGENETISCHE STADTGEOGRAPHIE/STADTMORPHOLOGIE ODER GEOGRAPHISCHE STADTGESTALTFORSCHUNG

2. FUNKTIONALE STADTGEOGRAPHIE

3. ZENTRALITÄTS- UND STÄDTESYSTEMFORSCHUNG

4. KULTURGENETISCHE STADTGEOGRAPHIE

6. QUANTITATIVE (UND THEORETISCHE) STADTGEOGRAPHIE

7. VERHALTENSORIENTIERTE STADTGEOGRAPHIE

8. ANGEWANDTE STADTGEOGRAPHIE

9. „NEW URBAN STUDIES“
9.1. Die „ Top-Down “ -Perspektive 11
9.1.1. Der „World City“-Ansatz (Friedmann)
9.1.2. Der „Capitalist City“-Ansatz (Smith und Feagin)
9.1.3. Der „Global City“-Ansatz (King)
9.2. Die „ Bottom-Up “ -Perspektive 12
9.2.1. Ansätze zum sozio-kulturellen Kontext (Agnew et al.)
9.2.2 Ansätze zur urbanen Subsistenzproduktion (Evers et al.; Korff; Semsek)
9.2.3. Ansätze zu sozialen Netzwerken (Smith und Tardanico)

II. SCHLUSSWORT

III. BIBLIOGRAPHIE:

IV. BILDNACHWEIS:

I. Forschungsrichtungen und -schwerpunkte der Allgemeinen Stadtgeographie in ihrer zeitlichen Entwicklung

Mit der raschen Zunahme des nicht-agrarischen Anteils der Weltbevölkerung und ihrer Verstädterung hat sich die Stadtgeographie von der umfassenderen Siedlungsgeographie allmählich gelöst. Besonders durch die zunehmende Verstädterung und die daraus entstehende Wohnungsnot, sah man sich zusehends gezwungen, sich mit der Stadt als solche zu beschäftigen. So entstand die allgemeine Stadtgeographie, die heute von einer Reihe von Hauptforschungsrichtungen bestimmt wird, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts, dabei vor allem in den letzten fünf Jahrzehnten, herausgebildet haben (siehe Abb.1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Die zeitliche Abfolge der Hauptforschungsrichtungen der allgemeinen Stadtgeographie

1. Morphogenetische Stadtgeographie/Stadtmorphologie oder Geographische Stadtgestaltforschung

Die morphogenetische Stadtgeographie beschäftigt sich mit der Stadtgestalt. Diese ist durch den Menschen bewirkt, indem er ein Stück Natur mit einem Straßennetz, Bauflächen und Freiflächen überlagert hat.

Die Grundrisselemente und Aufrisselemente einer Stadt spiegeln die Stadtgestalt besonders deutlich wider. So steht in der morphogenetischen Stadtgeographie die Frage nach den Grund-und Aufrisselementen, sowie die Genese der einzelnen Formenelmente als Forschungsschwerpunkt im Vordergrund des Interesses. Hauptelemente der Stadtgestalt sind die Grundrissele mente und die Aufrisselemente. Hier soll zur Verdeutlichung näher auf die Grundrisselemente eingegangen werden.

Die beiden Extremformen der Grundrisselemente sind der Schachbrettgrundriss und der Sackgassengrundriss. Die weiteste Verbreitung fand der Schachbrettgrundriss in Lateinamerika. So erhielten einige Hafenstädte wie Santo Domingo nachträglich eine Grundrissregulierung. Für Mexiko-Stadt und Cuzco dürften ihre indianischen Vorhänger entscheidend gewesen sein. Durch seine Regelmäßigkeit hat das Schachbrett einige sehr praktische Vorzüge. Es ist nicht nur sehr schnell vermessen, sondern zeichnet sich auch noch durch Überschaubarkeit aus, was z.B. für Verteidigungszwecke nützlich erscheint. Ebenso kommt es dem Gleichheitsprinzip bei der Grundstücksaufteilung entgegen, indem sehr leicht gleich große Parzellen absteckbar sind. Der Schachbrettgrundriss ermöglicht unbegrenzte Stadterweiterungen durch bloße Verlängerung der gestehenden Straßen und ist zudem ohne weiteren Aufwand auf Neugründungen von Städten übertragbar.

Im Gegensatz dazu steht der Sackgassengrundriss der orientalischen Städte (siehe Abb.2). Er ist gekennzeichnet durch ein baumartig verzweigtes System von Sackgassen, Knickgassen und überwölbten Tunnelgassen. Die Sackgassen bieten den jeweils angrenzenden Wohnhäusern Schutz und sichern eine eigene Privatsphäre, da eine fremde Person innerhalb einer von meist ein und derselben Sippe bewohnten Sackgasse sofort auffällt.1 In der Realität treten zahlreiche Grundrissformen zwischen den Extremen des absolut regelmäßigen, rechteckigen bis quadratischen Gitternetzes und einem völlig unorganisiert anmutenden Gassengewirr auf.

Ende der zwanziger Jahre schlug in Deutschland das Pendel in eine andere Forschungsrichtung um, und es erschienen nur noch selten Arbeiten zur Stadtgestalt.

Allerdings hat die Stadtgestalt heute für die Stadtgeographie u.a. mit dem Gedanken der Denkmalpflege eine gewisse Bedeutung zurückerlangt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2: Straßengrundriss einer traditionell orientalischen Stadt

2. Funktionale Stadtgeographie

Die zweite bedeutende Phase der Stadtgeographie war die funktionale Phase.

Das Wesen der Stadt in ihren Funktionen wird interessant, die Stadt als „wirtschaftliche Erscheinung“ zählt. Die Analyse funktionaler Raumeinheiten innerhalb der Städte und deren zeitliche Veränderung wurden zum Forschungsschwerpunkt.

Einige Felder der funktionalen Stadtgeographie sollen hier aufgezählt werden:
- Methodik der Abgrenzung und inneren Differenzierung von Innenstädten sowie speziell von verschiedenrangigen Geschäfts-, Nebenzentren etc.;
- Analysen der Ausstattung und des Funktionswandels einzelner Hauptgeschäftsstraßen;
- Vergleich großstädtischer Zentren und deren differenzierte funktionale Ausstattungen;
- Analyse neuer Einkaufszentren oder (anderer) großflächiger Einzelhandelseinrichtungen;
- Geographische Bürostandortforschung.

Bei der inneren Differenzierung der Stadt geht es zunächst um die Nutzungsstruktur, d.h. die räumliche Anordnung von Flächennutzungsarten. Dabei kann grundsätzlich zwischen der Wohnfunktion und gewerblicher Nutzung im weitesten Sinne unterschieden werden. So kann man eine Stadt in verschiedene Viertel, wie z.B. die City, Industriegebiet, Banken-, Regierungs-, Diplomaten-, Zeitungsviertel etc., Mischgebiete, wie z.B. Bahnhofsviertel oder Cityrandviertel und in Wohngebiete aufteilen.

3. Zentralitäts- und Städtesystemforschung

Christaller, der Wegbereiter der Zentralitätsforschung, entwickelt 1933 seine „Theorie der zentralen Orte“. Die ausschlaggebende Frage seiner Forschung ist folgende: Wie ist es möglich, die Bewohner einer Gegend möglichst optimal mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen?

Die Stadt hat Mittelpunktfunktion. In ihr werden Güter und Dienstleistungen zentral und über den Eigenbedarf ihrer Bewohner hinaus angeboten. Dieser, im Vergleich zum Umland relative Bedeutungsüberschuss verleiht der Stadt einen gewissen Ze ntralitätsgrad. Die zentralen Orte sind hierarchisch abgestuft, da mit wachsender Entfernung und damit auch wachsenden Transportkosten die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen unterschiedlich stark abnimmt. Christaller unterscheidet zwischen Ober-, Mittel- und Unterzentren. Die beste Versorgung wird erreicht, wenn die zentralen Orte gleich weit voneinander entfernt sind. Dies ist durch eine Anordnung von Städten mit einem jeweils ähnlichen oder gleichen Zentralitätsgrad am besten gewährleistet, wenn sie sich an den Eckpunkten einer „Bienenwabenform“ befinden. So ergibt sich auf jeder Stufe der Hierarchie die symmetrische Anordnung des Hexagons (siehe Abb.3).2

In seiner Theorie setzt Christaller einen unbegrenzten, ebenen und homogenen Raum voraus, in dem überall gleiche Nachfrage und gleiches Angebot in allen Gütern und Dienstleistungen herrscht. Alle Konsumenten minimieren ihren Aufwand, indem sie jeweils den nächstliegenden zentralen Ort aufsuchen.

In der Realität gibt es derartige Bedingungen nicht. Und eben hier liegt einer der Hauptkritikpunkte an Christallers Theorie.

Ballungsräume wie zum Beispiel das Ruhrgebiet zeigen deutlich, dass Städte so gut wie immer ungleich verteilt sind und nicht in das hexagonale Grundmuster passen. Ebenfalls wird den niederrangigen Zentren in der Realität wesentlich mehr Bedeutung entzogen, als es in Christallers Überlegungen der Fall ist. Dies geschieht u.a. dadurch, dass der Konsument meistens verschiedene Besorgungen miteinander koppelt. So wird ein Bewohner des Ortes Emmendingens, wenn er nach Freiburg fährt, um sich z.B. eine Hose zu kaufen, eventuell auch noch Zahnpasta und Niveacreme kaufen, obwohl er diese Produkte auch in Emmendingen bekommen könnte.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der einzelne Konsument in einem polyzentrischen Raum gerne verschiedene Angebote derselben Art nutzt und sich nicht immer danach richtet, welches am wenigsten weit weg ist.

Ebenfalls ist oft die Attraktivität verschiedener Orte dafür ausschlaggebend in welchem man ein Angebot wahrnimmt und nicht die Distanz. So besuchen viele Bewohner Tübingens lieber das Theater in Stuttgart, als das eigene Stadttheater.

Christallers Modell wurde von einer Vielzahl von Autoren diskutiert und weiterentwickelt, nicht zuletzt wegen der großen Anza hl unterschiedlicher Kritikpunkte.3 So hat die zentralörtliche Theorie in großem Umfang Anwendung in der Raumordnungspolitik und Regionalplanung gefunden.

Das früheste Beispiel ist die 1941 veröffentlichte Siedlungskonzeption für die von Deutschen während des Dritten Reiches besetzten Ostgebiete, an der Christaller selbst mitgewirkt hat. Aus der herkömmlichen Zentralitätsforschung erwuchs in der Nachkriegszeit die auf die Gesamtheit der Städte einer begrenzten Region und deren Interrelationen und besonders Interaktionen, d.h. Austauschbeziehungen wie Kontrollfunktionen, Informationsaustausch, Kapitaltransfer etc., gerichtete Städtesystemforschung.

Ein Städtesystem bezeichnet also die Gesamtheit der Städte eines Raumes, wobei im Gegensatz zu dem Stadt-Umland-Verhältnis die größere Bedeutung den Beziehungen zwischen den Städten zukommt.4

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb3: Das System der zentralen Orte nach Christaller

4. Kulturgenetische Stadtgeographie

Dem kulturgenetische Konzept liegt die Auffassung zugrunde, dass die gegebenen Voraussetzungen und Ausgangspositionen für Urbanisierungsprozesse in jedem Kulturraum andere sind und sich auf das jeweilige Stadtbild spezifisch auswirken. So wirkt die jeweilige Kultur in Form kosmologischer, religiöser, ökonomischer, politischer und planerischer Vorstellungen prägend auf die Städte als auch auf deren jeweilige Einflußbereiche. Die kulturgenetische Stadtgeographie zielt auf jene Eigenschaften ab, die den Städten eines Teilraumes der Erde gemeinsam sind.5

Häufig wurden Modellvorstellungen kulturgenetischer Stadttypen entwickelt, so z.B. von der US- amerikanischen, der westeuropäischen, der ostmitteleuropäischen sowie sowjetischen, der orientalischen, der südafrikanischen und der lateinamerikanischen Stadt etc.6 Im folgenden soll beispielhaft für die kulturgenetische Herangehensweise kurz die vorindustrielle orientalische Stadt vorgestellt werden (vgl. Abb.4).

Der Kulturkreis der orientalischen Stadt reicht von der marokkanischen Atlantikküste im Westen über den gesamten nordafrikanischen Kontinent (Magrebh) mit Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten bis zur Ostküste der arabischen Halbinsel am Indischen Ozean und sogar bis Pakistan im Osten, und erstreckt sich im Norden bis zum Schwarzen Meer mit den Staaten Türkei, Irak, Iran, Syrien, Libanon und Jordanien. Die Religion der Islam und ihr tiefgreifender Einfluss auf Gesellschaft und Kultur über 1300 Jahre hinweg ist ein Hauptmerkmal des orientalischen Kulturkreises. Allerdings stammen alle hauptsächlichen Elemente der orientalischen Stadt aus vororientalischer Zeit und sind somit altorientalisch.7

Das wohl auffälligste Merkmal der orientalischen Stadt ist der irreguläre Straßengrundriss (siehe Abb.2). Die Innenhofwohnhäuser sind in der Regel zu Quartieren gruppiert, die sehr oft jeweils von Angehörigen einer bestimmten ethnischen Gruppe oder einer religiösen Sekte oder Minorität bewohnt werden. Andere Quartiere sind manchmal vorwiegend einem bestimmten Berufsstand oder einer Berufsart vorbehalten.

Typische Einrichtungen der orientalischen Stadt sind der permanente zentrale Markt (Basar oder Suk), mit seiner Funktion als Finanz- und Kommunikationsplatz, die nach Mekka ausgerichteten Moscheen, religiöse Heiligtümer, die öffentlichen Bäder, die Stadtmauer und die Zitadelle als Schutz vor Feinden und die kleinen Märkte in den einzelnen Quartieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.4: Idealschema der funktionalen

Struktur einer islamisch-orientalischen Stadt

5. Sozialgeographische Stadtforschung

In den 70er und 80er Jahren tauchen immer mehr stadtgeographische Arbeiten auf, deren Inhalt mit Schlagworten wie Ungleichheit, Lebensqualität, Wahrnehmung des Stadtraums charakterisiert werden kann. Es fand eine „Akzentverschiebung“ in der Relation Raum - Gesellschaft zugunsten der letzteren statt.

Die sozialgeographische Stadtforschung befasst sich mit der innerstädtischen Mobilität und deren Beziehungen zur räumlichen Verteilung sowie zum Bedürfnis- und Lebenszyklus bestimmter Sozialgruppen. Als Forschungsobjekt steht die Stadtbevölkerung im Vordergrund. Bei den schon oben aufgeführten Schlagwörtern sind die herausstechendsten sicherlich die intraurbane Disparität und städtische Lebensqualität. Hierbei geht es um die Frage nach Wohnungswünschen und den städtischen Immobilienmarkt, nach Investitionsträgern in ihrem wechselhaften Verhältnis von privaten Investoren und kommunalen und staatlichen Interessen, um die lokal unterschiedliche Zugänglichkeit zu Versorgungseinrichtungen, um Bedarf und Angebot an altersspezifischen Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Jugendfreizeitzentren, Seniorenheimen aber auch um Unsicherheit, Kriminalität, Armut, Familienzerrüttung und Diskriminierung.

Weiter analysiert sie die Formen städtischen Lebens, Urbanisierung als sozialgeographischer Prozess. Von besonderer Bedeutung sind Untersuchungen zur sozialräumlichen Gliederung einzelner Städte. Eine solche sozialräumliche Gliederung verdeutlicht z.B. Abb.5, die die Metropolitan Area von Chicago nach den Wohnorten der Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht und der Schwarzen Bevölkerung unterteilt.

Bei derartigen Untersuchungen ist die Erforschung von Disparitäten auf die Ausdifferenzierung städtischer Teilräume gerichtet.

In diesem Zusammenhang steht der Begriff Segregation, der die lokale Konzentration bestimmter Bevölkerungssegmente bezeichnet. Nach FRIEDRICHS (1977) beinhaltet der Begriff erstens das Ausmaß der ungleichen Verteilung von Personen über die städtischen Teilräume, zweitens den Anteil der Bevölkerung in einem städtischen Teilraum an der Gesamtbevölkerung des Stadtgebietes (Konzentration) und drittens die räumliche Distanz zwischen Personen in einem Teilraum. Die Suche nach der Lebensqualität betrifft eher die Gesamtstadt im Vergleich zu anderen Städten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.5: Die sozialräumliche Differenzierung der Metropolitan Area von Chicago

6. Quantitative (und theoretische) Stadtgeographie

Mit dem Einzug der EDV-Systeme in die Wissenschaft nutzte auch die Stadtgeographie die neuen Möglichkeiten der Forschung und die quantitative Stadtgeographie entsteht. Schnell ist sie auch aus allen anderen stadtgeographischen Forschungsrichtungen nicht mehr wegzudenken.

So ist die quantitative Stadtgeographie auf die Anwendung geostatischer Methoden, die EDVRealisierung und die Überprüfung bestehender Teiltheorien und Modelle zur Stadtentwicklung etc. ausgerichtet. Sie ist stark theoretisch orientiert. Vor allem die Anwendung multivarianter Klassifizierungstechniken ( Faktorenanalyse, Clusteranalyse etc.) zur komplexen funktionalen Städtetypisierung, zur sozialräumlichen Gliederung von Städten oder zur räumlichen Differenzierung von Haushaltstypen sowie von Wohngebietstypen in Wohnungsbestand und -struktur ist von Bedeutung.

7. Verhaltensorientierte Stadtgeographie

Der Grundgedanke der verhaltensorientierten Stadtgeographie ist, dass die Stadt durch ihre Einwohner „lebt“, die Menschen einer Stadt also dieselbe ausmachen. Eine Stadt ist so, wie sie von ihren Bewohnern und den Menschen, die mit ihr in Kontakt geraten, gesehen wird.

Demnach beschäftigt sich die verhaltensorientierte Stadtgeographie mit den verhaltensgesteuerten Aktivitäten, dabei insbesondere mit der (Raum-) Wahrnehmung städtischer Strukturen und Probleme durch Individuen, soziale Gruppen, Schichten etc., sowie deren Auswirkungen auf das raumrelevante Verhalten.

Bei Untersuchungen muss bedacht werden, dass das Alter, Bildungsniveau, soziale und berufliche Stellung und kulturelle Einbindung die geistige Vorstellung, die die einzelne Person von ihrer Stadt oder einem Stadtteil besitzt stark bestimmen. Ebenfalls kommt es im Verlauf des Lebens eines einzelnen Menschen zu kognitiver Dissonanz zwischen den in der Jugend angelegten, eher emotionalen Grundmustern für die Umweltwahrnehmung und den im fortgeschrittenem Alter eher gegenwarts- und zukunftsorientierten, mehr rationalen Grundmustern.8

Die Stadtbewohner selbst sind auch Träger der innerstädtischen räumlichen Dynamik.

Die Gesamtheit aller Standorte, mit denen ein Individuum/eine Gruppe in unmittelbarem räumlichen Kontakt steht, bildet dem „Aktionsraum“. Für den sukzessiven Aufbau des jeweiligen Aktionsraumes wie auch das konkrete Verhalten darin spielen außer dem objektiven Stadtraum selbst vor allem dessen Wahrnehmungsraum und Mental map eine zentrale Rolle, die wieder von den oben genannten Lebensumständen des betreffenden Individuums abhängen. Je nach Häufigkeit und Intensität der Kontakte zu den einzelnen Standorten des Aktionsraumes kommt diesen ebenso wie den Wegen zu und zwischen ihnen ein je unterschiedlicher Rang zu. Entsprechend wird das jeweilige aktionsräumliche Verhaltensmuster außer durch eine räumliche, auch durch eine intensitätsgestufte Struktur charakterisiert (siehe Abb.6).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.6: Innerstädtisches aktionsräumliches Strukturmuster

8. Angewandte Stadtgeographie

Die angewandte Stadtgeographie befasst sich mit der Analyse stadträumlicher Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt des Planungs- und Anwendungsbezuges. Es ist schwierig, sie als alleinstehende Forschungsrichtung der Stadtgeographie zu sehe n, da jede bisher vorgestellte Forschungsrichtung planungs- und anwendungsbezogen ist. So kann man sagen, dass die angewandte Stadtgeographie ihren Platz in jeder der stadtgeographischen Hauptforschungsrichtungen hat, jedoch ihre eigenen Methoden entwickelt hat, um ausgearbeitete Pläne in die Tat umzusetzen. Dazu gehört es z.B., praxisbezogene Fragen zu formulieren, Anwendungszusammenhang und Datenstruktur zu untersuchen, die Realisierbarkeit von Plänen zu prüfen und auch Problemlösungsprozesse für zukünftige Gestaltungskonzepte zu verbessern. Auch dürfen die geographischen Aspekte einer Stadt, bezogen auf Kultur, Ethik, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Technik und Natur nicht ausser Acht gelassen werden.9

9. „New Urban Studies“

Die „New Urban Studies“ der 80er Jahre beinhalten konzeptionell neue Herangehensweisen für eine problemorientierte geographische Stadtforschung.

Nicht mehr der Raum steht im Vordergrund, sondern die Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung und deren räumliche Auswirkung. Solche Probleme sind z.B. Massenarbeitslosigkeit, soziale Verelendung und Hunger, die Zunahme direkter Gewalt und steigende Umweltbelastungen.

Die zwei wesentlichen Aspekte der „New Urban Studies“ sind zum einen die gesellschaftlichen Probleme , die aus den Urbanisierungsprozessen hervorgehen und im Zusammenhang mit globalen ökonomischen, politischen und sozio-kulturellen Entwicklungen analysiert werden, zum anderen werden die historischen Bedingungen problemhafter Urbanisierungsprozesse herausgestellt und die Forschung wird so um die zeitliche Dimension erweitert.

9.1. Die „Top-Down“-Perspektive

Die „Top-Down“-Ansätze analysieren die einzelnen Metropolen im Zusammenhang mit der Form und dem Ausmaß ihrer Integration in die Weltökonomie. Unter den Bedingungen der „neuen internationalen Arbeitsteilung“ sind die wichtigsten Integrationsprozesse die globale ökonomische Restrukturierung, die Verstärkung des internationalen Wettbewerbs und die wachsende globale Konkurrenz. Diese Prozesse transformieren die räumliche n und gesellschaftlichen Strukturen einzelner Städte, was sich u.a. in einer funktionalen Spezialisierung und sozioökonomischen Polarisierung derselben ausdrückt. Die multinationalen Konzerne, internationalen Banken und Entwicklungsagenturen sowie die nationalen Regierungen gelten als Akteure der Transformationen.

Daraus folgt, dass die Richtung der Transformationen als von der globalen Ebene ausgehend verstanden wird, wobei lokale urbane Probleme in erster Linie als Reaktion auf global- ökonomische und national-politische Veränderungen bewertet werden.

9.1.1. Der „ World City “ -Ansatz (Friedmann)

Der „World City“- Ansatz geht davon aus, dass über die Welt verteilt ein Netz aus „World Cities“ als Folge der „neuen internationalen Arbeitsteilung“ entstanden is t. Diese „World Cities“ sind die Sammelpunkte des globalen Kapitals.

Jeder neue strukturelle Wandel innerhalb einer Stadt wird ebenso von der Form und Ausmaß ihrer Integration in die Weltökonomie bestimmt, wie von der Funktionen, die sie innerhalb der „neuen internationalen Arbeitsteilung“ übernimmt.

Die einzelnen „World Cities“ bilden ein hierarchisch organisiertes „World-City-System“.Der Rang der einzelnen „World-City“ wird durch ihre Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt und als finanzielles Zentrum, aber auch durch ihre Bevölkerungsgröße, die Anzahl der Hauptniederlassungen multinationaler Konzerne und internationaler Institutionen und durch den Anteil der verarbeitenden Industrie an der Stadtökonomie bestimmt.

9.1.2. Der„Capitalist City“-Ansatz (Smith und Feagin)

Die Grundannahmen des „Capitalist City“-Ansatzes zur Analyse von Stadtentwicklung und gesellschaftlichen Problemen sind, dass die Analyse transnationaler Beziehungen, der Rolle multinationaler Firmen, der Prozesse wirtschaftlicher Restrukturierung zum Verständnis städtischer Entwicklungen unbedingt nötig ist.

Weiter geht der „Capitalist City“-Ansatz davon aus, dass Restrukturierung globaler, nationaler und lokaler Ökonomien an staatliche Aktionen und Vermittlung gekoppelt ist sowie ökonomische und staatliche Restrukturierung mit dem Wandel lokaler Gemeinschaften und einzelner Haushalte verknüpft sind und so zu innerstädtischen räumlichen Transformationsprozessen führen.

Auch gelten lokale Gemeinschaften und einzelne Haushalte als konstituierende Elemente der städtischen Transformation Die treibende Kraft der ökonomischen Restrukturierung auf globaler Ebene ist der Wandel im internationalen Wettbewerb. Die Hauptakteure sind die internationalen Banken und die multinationalen Konzerne, die ein weltweites Netzwerk von Produktion, Austausch und Dienstleistungen in einem hierarchisch organisierten Städtesystem errichten. Durch die wachsende Konkurrenz um Standorte und Märkte kommt es zur funktionalen Spezialisierung der Metropolen und eine spezialisierte ökonomische Infrastruktur entsteht.

9.1.3. Der„Global City“-Ansatz (King)

Der „Global City“-Ansatz stimmt in seinen Grundannahmen mit den oben aufgeführten Ansätzen überein, ergänzt jedoch, dass neben der Globalisierung des Kapitals und der Finanzen auch eine Globalisierung des Staates, der Politik und der Kultur stattfindet. Besonders die Regierungen der „Dritten Welt“ sind von der Globalisierung des Staates berührt, da sie immer stärker auf Investitionen und auf Vergabe von Krediten durch internatio nale Organisationen wie IMF und Weltbank angewiesen sind.10

9.2. Die „Bottom-Up“-Perspektive

Die „Bottom-Up“-Ansätze setzen auf der lokalen Stadtebene an und heben die Bedeutung des „sozialen Handelns“ hervor.

Die „Konditionierung“ der lokalen Stadtebene wird durch die nationale und globale Handlungsebene thematisiert.

Inhaltlich können zwei Untersuchungsrichtungen unterschieden werden, nämlich die sozio- kulturelle und die politisch-ökonomische. So gilt unter den Bedingungen des weltweiten „sozialen Wandels“ in sozio-kultureller Hinsicht das Interesse insbesondere der Alltagspraxis lokaler Gemeinschaften. In politisch-ökonomischer Hinsicht liegt der Untersuchungsfokus auf der Überlebensökonomie städtischer Armutsgruppen.

9.2.1. Ansätze zum sozio-kulturellen Kontext (Agnew et al.)

Die zentrale Frage der Ansätze zum sozio- kulturellen Kontext ist folgende: Inwieweit sind die Ursachen und die Ausprägungen von Urbanisierung unmittelbare Folge „menschlichen Handelns?“

Um diese Frage zu beantworten, ist die Untersuchung des „ kulturelle Kontext “ sozialen Handelns notwendig, da soziale Strukturen innerhalb eines kulturellen Kontextes sowohl Ausgangspunkt und Initiator menschlichen Handelns, als auch dessen Wirkungsfeld sind.

In dem gleichen Maße, wie Städte von Menschen produziert und transformiert werden, bestimmen die Städte wiederum den Kontext, der Kulturen und Gesellschaften produziert und transformiert.

9.2.2 Ansätze zur urbanen Subsistenzproduktion (Evers et al.; Korff; Semsek)

Der Hauptforschungsschwerpunkt liegt bei der Stadtökonomie der Dritten Welt.

Um z.B. die marktökonomische Durchdringung von Stadtökonomien in der Dritten Welt zu analysieren, wird an der Graswurzelebene der städtischen Armen angesetzt und auf Haushaltsebene die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Produktionssektoren untersucht. Es wird besonders die Rolle der städtischen Subsistenzproduktion von Nahrungsmitteln, Kleidung und Wohnraum in ihrer Verflechtung mit der Weltökonomie herausgearbeitet und ihr Beitrag zur Reproduktion von Arbeitskraft bestimmt.

9.2.3. Ansätze zu sozialen Netzwerken (Smith und Tardanico)

Bei den Ansätzen zu sozialen Netzwerken stellt die Alltagspraxis städtischer Haushalte das Glied zur theoretischen Synthese von lokaler, nationaler und globaler Ebene dar. Diese orientiert sich vor allen an drei Faktoren. Zum einen an der Generierung von Einkommen, zum anderen an der kulturellen Reproduktion und schließlich auch an der kulturellen Sozialisation.

Der Grundgedanke der hier vorgestellten Theorie ist, dass soziale Netzwerke die einzelnen Haushalte mit den lokalen Gemeinschaften verknüpfen. In diesem Zusammenhang entsteht die zentrale Frage: Wie und in welchem Grad beeinflusst das Zusammenspiel von Haushalt, Arbeitsplatz und Nachbarschaft politisches Interesse und politisches Handeln?

II. Schlusswort

Bei der Darstellung der einzelnen Hauptforschungsrichtungen im Verlauf dieser Arbeit könnte schnell der Eindruck entstehen, dass sich die Forschungsrichtungen gegenseitig abgelöst haben.

Daher soll hier am Schluss betont werden, dass das nicht der Fall ist, denn die Forschungsrichtungen bestehen nach ihrer Etablierung jeweils fort und überlagern sich gegenseitig.

Daraus ergibt sich, dass sich die verschiedenen Forschungsrichtungen in einzelnen Arbeiten in der Regel nicht in jeweils analytischer Reinheit, sondern eher in je bestimmter Kombination realisiert werden.11

So manifestiert sich eine kontinuierliche Zunahme der inneren Differenziertheit und damit Komplexität der stadtgeographischen Forschung.

III. Bibliographie:

Ehlers, E. 1993. Die Stadt des Islamischen Orients. In: Geographische Rundschau 14, H.1, S.32-39.

Ehlers, E. et al. 1990. Der Islamische Orient. Band 1. Köln (Verlag Moritz Diesterweg GmbH u. G.), S. 196-251.

Gertel, J. 1993. „New Urban Studies“. Konzeptionelle Beiträge für eine problemorientierte geographische Stadtforschung. In: Geographische Zeitschrift 81, S 98-110. Heineberg, H. 1988. Stadtgeographie. Entwicklung und Forschungsschwerpunkte. In: Geographische Rundschau 40, H.11, S. 6-12.

Hofmeister, B. 1994. Stadtgeographie. Braunschweig (Westermann; Das Geographische Seminar).

Köck, H. (Hrsg.) 1992. Städte und Städtesysteme. Köln (Aulis Verlag Deubner und Co KG). Leser H. 1997.Wörterbuch allgemeine Geographie. München, Braunschweig (Deutscher Taschenbuch Verlag; Westermann Schulbuchverlag).

IV. Bildnachweis:

Abb. 2, 3, 5, 6

Köck, H. (Hrsg.) 1992. Städte und Städtesysteme. Köln (Aulis Verlag Deubner und Co KG), S. 162, 179, 356, 46.

Abb.4

Ehlers, E. 1993. Die Stadt des Islamischen Orients. In: Geographische Rundschau 45,H. 1, S.36.

[...]


1 Zur Genese der Grundrisselemente siehe Hofmeister, H. 1994. Stadtgeographie. Braunschweig (Westermann; Das Geographische Seminar), S.125-131.

2 Genaueres zu Christallers Theorie in Köck, K. (Hrsg.) 1992. Städte und Städtesysteme. Köln (Aulis Verlag Deubner und Co KG), S. 67-75.

3 vgl. Hofmeister, B. 1994. Stadtgeographie. Braunschweig (Westermann; Das Geographische Seminar), S.77-84.

4 Zu Entwicklungen und Merkmalen von Städtesystemen siehe Hofmeister, B. 1994 Stadtgeographie. Braunschweig (Westermann; Das Geographische Seminar), S.106.

5 Es handelt sich hier um eine Betrachtungsweise, die zwischen der Mikroebene der idiographischen Betrachtung und der Makroebene der normothetischen Betrachtung steht, wobei bei der ersten Betrachtungsweise die Stadt als Individuum, einmalig in ihrer geschichtlichen Entwicklung und damit abgesetzt gegen alle anderen Städte auf der Erde gesehen wird und bei der zweiten Betrachtungsweise die Stadt als globales Phänomen, d.h. eine weltweit verbreitete Art der menschlichen Ansiedlung mit gewissen, ihnen allen gemeinsamen Eigenschaften erscheint; (vgl. Hofmeister, B. 1994. Stadtgeographie. Braunschweig (Westermann; Das Geographische Seminar, S. 216).

6 Die hier aufgezählten Beispielen werden ausführlich dargestellt in: Köck, H. (Hrsg.) 1992. Städte und Städtesysteme. Köln (Aulis Verlag Deubner und Co KG), S.136-185.

7 vgl. Köck, H. (Hrsg.) 1992. Städte und Städtesysteme. Köln (Aulis Verlag Deubner und Co KG), S.161.

8 vgl. Hofmeister, B. 1994. Stadtgeographie. Braunschweig (Westermann; Das Geographische Seminar), S.210.

9 vgl. Heineberg, H. 1988. Stadtgeographie. Entwicklung und Forschungsschwerpunkte. In: Geographische Rundschau 40, H.11, S.11.

10 vgl. Gertel, J. 1993. „New Urban Studies“. Konzeptionelle Beiträge für eine problemorientierte geographische Stadtforschung. In: Geographische Rundschau 40, H11, S. 101,102.

11 vgl. Heineberg, H. 1988. Stadtgeographie. Entwicklung und Forschungsschwerpunkte. In: Geographische Rundschau 40, S.7.

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Résumé des informations

Titre
Konzepte geographischer Stadtforschung
Université
University of Freiburg
Cours
Proseminar Stadtgeographie
Note
1,5
Auteur
Année
2001
Pages
15
N° de catalogue
V102177
ISBN (ebook)
9783640005666
Taille d'un fichier
779 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Arbeit liefert einen guten Überblick über die unterschiedlichen Forschungsrichtungen in ihrer zeitlichen Abfolge.
Mots clés
Konzepte, Stadtforschung, Proseminar, Stadtgeographie
Citation du texte
Swantje Blasius (Auteur), 2001, Konzepte geographischer Stadtforschung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102177

Commentaires

  • invité le 30/4/2002

    Vielen Dank.

    wow-kurz gesagt wunderbar :D sher tolle arbeit-RESPEKT :D

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