Der Aufsatz beleuchtet die gegenwärtige Krise im System "Pharmazie", analysiert die Ursprünge und weist mögliche Optionen zur Optimierung und Veränderung auf.
Die Wirkung und Begründung dieser Pharmaka erfolgt zunächst nur durch die Ärzte, die deshalb in antiker Zeit auch pharmazeutisch arbeiteten. Das Berufsbild des Pharmazeuten - und das war es damals noch ohne die heute inhärente Wissenschaft, entwickelte sich weiter aus der alchemistischen Zeit, nach-antiken Zeit, zum Hüter der Qualität und Reinheit
der vom Arzt gewünschten Pharmaka beispielsweise Arzneidrogen. Diese medizinische Pharmazie wurde erst in der Neuzeit teilweise abgelöst durch die Entdeckung der Wirkstoffe und der damit verbundenen Wirkstoff-Pharmazie. Hier gewinnt das Bild der historisch-plakativen Pharmazie seine Normativität, mit der wir uns heute auseinandersetzen müssen und die sich bis heute
fortsetzt und in den vorhanden gesetzlichen Regularien ihre Widerspiegelung findet.
Dekonstruktion und Konstruktion des Pharmazeutischen
Dipl.Biol. Apotheker Rainer Heide, LB Evangelische Hochschule Dresden, Berlin
Nicht erst seit der Insolvenz des Apothekenrechenzentrums AvP und der nicht vorhandenen gesamtgesellschaftlichen Rezeption dieses Ereignisses und vor allem der fehlenden öffentlichen und gesellschaftlichen sowie politischen Reaktion auf dieses Thema ist das Selbstverständnis der Apotheker: Innen wieder einmal stark ins Wanken geraten. Offensichtlich ist diese Situation wieder einmal ein Moment, um innezuhalten und einige Fragen aufzuwerfen:
Was macht eigentlich das Selbstverständnis und Interesse der Pharmazie als Wissenschaft aber auch als Grundlage eines alten Berufsstandes aus?
Was ist Pharmazie?
Welchen Weg in der Gesellschaft wird die Pharmazie einschlagen?
Die Pharmazie kommt aus einer medizinischen Tradition, die die Herstellung von Pharmaka als obskure, außeralltägliche Mittel1 beinhaltete, also Präparaten, deren Wirkung zur entsprechenden historischen Zeit ausschließlich durch die Kommunikation und Anwendung des Arztes aufgrund seines sozialen Standes und Wissens begründet war.
Die Folge dieser historischen Pharmazie finden wir durchaus bis in unsere heutige Zeit z.B. in Präparaten der Alternativ-Medizin, die ihre Wirkkraft überwiegend nicht analytisch-naturwissenschaftlich begründen, sondern ausschließlich sozial-kommunikativ.
Die Wirkung und Begründung dieser Pharmaka erfolgt zunächst nur durch die Ärzte, die deshalb in antiker Zeit auch pharmazeutisch arbeiteten. Das Berufsbild des Pharmazeuten - und das war es damals noch ohne die heute inhärente Wissenschaftlichkeit-, entwickelte sich weiter aus der alchimistischen Zeit, nach-antiken Zeit, zum Hüter der Qualität und Reinheit der vom Arzt gewünschten Pharmaka beispielsweise Arzneidrogen. Diese medizinische Pharmazie wurde erst in der Neuzeit teilweise abgelöst durch die Entdeckung der Wirkstoffe und der damit verbundenen Wirkstoff-Pharmazie.
Hier gewinnt das Bild der historisch-plakativen Pharmazie seine Normativität, mit der wir uns heute auseinandersetzen müssen und die sich bis heute fortsetzt und in den vorhanden gesetzlichen Regularien ihre Widerspiegelung findet.
Später entstand der naturwissenschaftliche Aspekt der Pharmazie, der dort seinen Platz neben anderen Naturwissenschaften suchen und finden musste – dort ist dies besonders die Chemie, Biologie und in neuerer Zeit der Biochemie. Wissenschaftlichkeit meint hier „die einen umgrenzten Gegenstandsbereich systematisch nach ihm angemessenen Methoden erforscht, ordnet und die Fülle der so gewonnenen Erkenntnisse auf umfassende Grundsätze zurückzuführen und aus ihnen zu erklären sucht.“2 Dieser Grundsatz wurde zum verpflichtenden Handlungsvorsatz für Wissenschaftler: Innen.
Als Pharmazeut: Innen sitzen wir also zwischen den Stühlen der Wissenschaftlichkeit, die einerseits die naturwissenschaftlich-rationale Seite umfasst, die aber durch Chemie, Biologie und Biochemie ebenso für sich beansprucht wird und die wir in der Regel im Bereich der verschreibungspflichtigen Medikamente finden.
Auf der anderen Seite steht, wie bei der Medizin auch die eher geisteswissenschaftliche Seite der Wirkungskonzeption auf den Patienten mit hermeneutischer und phänomenologischer Betrachtungsweise - die medizinische Pharmazie, die ihre Begründung beispielsweise entweder durch die Ärzte in Form der fakultativen, empfehlenden, grünen Rezepte erhalten oder der Präparate, die wir im Sinne unserer Kenntnis medizinischer Zusammenhänge dem Patienten für die Selbst-MEDIKATION empfehlen.
Es gibt neben diesen zwei Betrachtungen noch weitere.
Eine zusätzliche Beurteilung und Zuschreibung zu anderen Aspekten der Apothekerrolle darüber, weist auf die schon besprochene gesetzliche und historische Normativität der Pharmazie hin - eine weitere auf die gesundheitspolitischen, normativen Implikationen des Berufes und eine dritte auf die mikroökonomisch-merkantilen Seiten.
Seit der Regulierung durch Arzneibücher, die es schon seit der antiken Zeit gibt und den sozialrechtlichen Vorschriften der Neuzeit, beispielsweise in Sozialgesetzbüchern, die aber auch schon seit der Kaiserzeit in Deutschland benutzt werden, steht der Berufsstand auch als Kaufmann und administrativ-stellvertretend Handelnder in der Öffentlichkeit.
Selbst Krankenhaus-Apotheker agieren zunehmend nicht mehr nur fachlich motiviert, sondern müssen ebenso wie die niedergelassenen Kollegen wirtschaftliche und kaufmännische Regularien bei der Auswahl ihres ständig vorrätig zu haltenden Arzneimittelbestandes bedenken. Die Tücken des kaufmännischen Handelns waren in der vorantiken und antiken Zeit auch ein Grund für die Entstehung des Berufes „Apotheker“, der den Problemen des kaufmännischen Handelns mit einer administrativ-regulativen Verhaltensweise entgegenstehen sollte. Auch heute noch ist diese kaufmännische Handlungsseite des Apothekers mit zum größten Problem der Außendarstellung und Wahrnehmung geworden.
„Dabei geraten die öffentlichen [Anm. Verf.] Apotheker als Berufsvertreter zunehmend in eine double-bind Situation zwischen Anforderungen an gesundheitsorientierte sowie betriebswirtschaftliche Effizienz.“3 Durch die AvP Insolvenz wird uns als Apotheker: Innen nun wieder genau diese Seite des kaufmännischen Verlustes vor Augen geführt, der aus einem scheinbar hochregulativen Umfeld heraus geschieht, das genau nun diese uns beeinflussenden Regularien auf die Probe und zur Diskussion stellt.
Das Studium Pharmazie begründet nicht nur eine wissenschaftliche Bildung, sondern es begründet auch eine sehr konkrete Berufsausübung.
Pharmazie IST damit auch eine Berufsausbildung, die nicht Wissenschaftlichkeit per se impliziert, wie es bei den klassischen Naturwissenschaften der Fall ist, auch wenn die Wissenschaftlichkeit das Primat in der akademischen Ausbildung hat. Deshalb muss die Pharmazie sich immer wieder dieser Wissenschaftlichkeit, die sie natürlich heutzutage auch bestätigen kann, ebenso wie die Medizin, immer wieder neu versichern. Jedoch wird die akademische Ausbildung der dann folgenden Beruflichkeit der meisten Pharmazeut: Innen nicht gerecht, die zum größten Teil in der öffentlichen Apotheke Ihre Beschäftigung finden. Die Berufstätigkeit als öffentliche Apotheker: Innen betrifft ca. 2/3 der approbierten Pharmazeut: Innen. Im Rahmen dieser Berufsausübung ist das naturwissenschaftliche Handeln marginal. Andere Felder der Berufsausübung treten stärker hervor – administrative, regulative, logistische, merkantile, kommunikative usw. Im Vergleich mit dem Beruf des Arztes impliziert die ärztliche Tätigkeit des/r niedergelassenen Allgemeinmediziner: In beispielsweise zwingend eine wesentlich größere Wissenschaftlichkeit für das ärztliche Handeln als es beim täglich-routinierten Handeln des öffentlichen Pharmazeut: In der Fall ist.
Diese vielen grundsätzlichen Herausforderungen sind nun zu großen, unsere Selbstwahrnehmung als Pharmazeuten, bestimmenden Fragen geworden. Die Ausbildung an den Universitäten folgt den neuen Anforderungen nur mühselig, nicht weil die Universitäten dies nicht immer wollen, der Aspekt der Beruflichkeit steht im akademischen System der Universitäten nicht im Zentrum der Wahrnehmung und Ausbildung. Im Gegenteil wird berufliche Kompetenz oft aus der akademischen Warte gering bewertet, da der Praktiker den geheimen Strukturen des akademischen Betriebes nicht mehr folgen kann, selbst wenn er es wollte. Die klassischen Fortbildungsszenarien zeigen dies oft sehr deutlich, da i.d.R. aus einem akademisch-theoretischen Kontext heraus referiert wird oder die Referenten, selbst wenn sie Praktiker sind, versuchen, diesen akademischen Anspruch zu erzeugen. Zusätzlich gibt es staatlicherseits einen starren-administrativen Rahmen, der durch das historische Bild der Apothekerrolle geprägt wurde und den aktuellen Entwicklungen nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt und nicht die nötige Handlungsfreiheit zur Verfügung stellen kann. Auch der offene und kritikaffine Diskurs der Administration mit den Berufspraktikern wird nicht nur bei den Pharmazeuten dringlich vermisst.
Die einheitlich historisch geprägte Apothekerrolle fragmentiert und dekonstruiert sich in diverse Apothekerrollen, die zunehmend disparat wirken, da die Funktion und Aufgaben der einzelnen Apothekerrollen durch ihre Spezialisierung sich nicht mehr zu dem einen Rollen-Bild verbinden lassen. Wir sehen die Apothekerrolle als DIE uns vertraute Apothekerrolle meist im Kontext der öffentlichen Apotheke, wo diese Rolle zunehmend durch die kaufmännischen und logistisch-administrativen Aufgaben geprägt und beeinflusst wird.
DIE tradierte und als Bild vertraute Apothekerrolle des beratenden und herstellenden Apothekers verschwindet hinter den neuen Aufgaben und wird von den meisten Berufskolleg: Innen nicht nur vermisst, sondern im Sinne einer tradiert-korporativen, tribalen und geheimen Beruflichkeit ersehnt. Auch das Patriarchale unserer Apothekerrolle im Sinne einer Machtausübung gegenüber anderen sozial Handelnden wird genossen und eine Diskussion über eine neue soziale Rolle des/r Pharmazeut: Innen erfolgte und erfolgt bisher nicht.
Mit dem Aufkommen der industriellen Arzneimittel bekommt der Arzneimittelmarkt eine Gewöhnlichkeit, die der Präsentation des klassischen Arzneimittels als Fertigarzneimittel in einer industriell angebotenen Verpackung geschuldet ist und die Differenz zu Nahrungsergänzungsmitteln oder Medizinprodukten in gleicher für den Laien ununterscheidbaren Aufmachung auflöst. Somit muss nun immer wieder die Diskussion um die Besonderheit des Arzneimittelmarktes im Unterschied zu anderen gewöhnlichen Handelsprodukten betont werden, obwohl eben genau diese Gewöhnlichkeit nun zunehmend deutlich wird. Die Rolle, Aufgabe und Funktion der Pharmazeut: Innen in diesem Spiel wird immer schwächer, da nun nur noch administrative, logistische und beratende Aufgaben zu leisten sind. Das Obskure der Pharmaka in der Vergangenheit, das noch der Erklärung, sprich Kommunikation des/r Pharmazeut: In bedurfte, verschwand und damit war diese Art der begründenden, aber auch alleinstellenden Kommunikation hinfällig. Die neue Art der Kommunikation ist für den/die Patient: In banaler, volatiler, da er wichtige Informationen ja auch anderen Quellen –Beipackzettel, Internet, etc.- in fast gleicher Güte entnehmen kann.
Die Kommunikation in der Apotheke benötigt eine neue, ethisch-soziale Facette, die im akademischen Lehrbetrieb nicht unterrichtet wird, da die Bedeutung bisher nicht erkannt wurde.
Bei der Betrachtung aktueller Beschreibungen von Apothekerstellen finden wir fast ausschließlich Aufgaben aus dem nichtwissenschaftlich-historisch begründeten sowie administrativ-merkantilen Handlungsbereich der Pharmazeut: Innen und erzeugen durch die stetig wachsende, dekonstruierende Differenz zwischen Studieninhalten und den praktischen Berufserfordernissen eine wachsende professionelle Unvollkommenheit, die sich in zunehmender Berufsmüdigkeit äußert.
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1 Anna Henkel, Soziologie des Pharmazeutischen (Baden-Baden: Nomos Verlag, 2011).
2 A Regenbogen and U. (Hrsg) Meyer, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1998).
3 Anna Henkel, Soziologie des Pharmazeutischen (Baden-Baden: Nomos Verlag, 2011).
- Arbeit zitieren
- Rainer Heide (Autor:in), 2020, Dekonstruktion und Konstruktion der Pharmazie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1022912
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