Bismarck konstatiert in seiner Reichstagsrede vom 9.7.1879 zunächst, dass das Verhältnis der Liberalen zu ihm und seiner Politik seit etwa einem Jahr angespannt ist, durch merkliche Abkühlung ausgezeichnet ist und folglich Disparitäten zwischen beiden bestehen, was er insbesondere bei der sozial demokratischen Vorlage realisierte. Seiner Auffassung nach solle die Fraktion die Regierung unterstützen und könne sogar Einfluss auf sie nehmen, dürfe jedoch nicht die Regierung regieren, also in deren unmittelbare Angelegenheiten intervenieren. Bismarck legt der Fraktion eine gewisse Zurückhaltung auf, nicht er, sondern die Fraktion habe sich zuerst aggressiv verhalten.
Geschichtsklausur: Ära Bismarck
12/2 ( 2 Schulstd. )
Vorliegender Text:
Aus der Reichstagsrede Bismarcks vom 9.Juli 1879
(...)Seit einem Jahre, seit etwas länger als einem Jahre, habe ich in dem Wohlwollen, welches mir früher von liberaler Seite zugeteile wurde, eine merkliche Abkühlung gefunden. Sie gab sich kund durch eine fühlbare Zurückhaltung , durch Reserve, durch eine kühle Hoheit, die andeutete, ich müsse ihnen kommen. Ich hatte das Gefühl, dass sie von mir Dinge verlangen wollten, die ich nicht leisten konnte.
Eine Fraktion kann sehr wohl die Regierung unterstützen und dafür einen Einfluss auf sie gewinnen, aber wenn sie die Regierung gewinnen will, dann zwingt sie die Regierung auch ihrerseits dagegen zu regieren. (...) Ich habe mich, wenn auch nicht angegriffen, doch verlassen gefühlt, ich habe das noch mehr gefühlt bei der ersten sozialdemokratischen Vorlage, und ich habe damals gehofft, dass bei einer Aussonderung die disparaten Elemente, die in einer großen und nominell die Regierung unterstützenden Fraktion vereinigt waren, sich sondern würden. Es ist das nicht gelungen, und solange das nicht gelingt, werden Sie jede Regierung, namentlich aber die verbündeten Regierungen immer vorsichtig in Ihrer Anlehnung finden, und nicht so vertrauensvoll, als die früher der Fall gewesen ist. Die vielen Andeutungen in der Presse, als hätte ich mit irgendeiner Fraktion gebrochen oder wäre zuerst aggressiv verfahren, die treffen nach meinem inneren Bewusstsein nicht zu. (...)
Wenn ich nach 1871 (...) enger an die liberale Fraktion gedrängt wurde, als es für den Minister und für den Reichskanzler auf die Dauer vielleicht haltbar ist, wenigstens gerade soweit, wie es möglich war, so habe ich dadurch die Beziehungen zu den übrigen Kreisen des Reichs und der Bevölkerung doch unmöglivh für immer aufgeben können. Ich habe geglaubt, und habe das in der Sozialistendebatte noch entwickelt, wir würden vom rechten Flügel abgezählt in drei Bataillonen, vielleicht getrennt marschieren und vereint fechten können. Diese meine Vorausberechnung hat sich leider nicht bestätigt, und die Umstände, nicht mein Wille haben es so gedreht, dass die Herren, die mich früher häufig und nach ihrer Weise unterstützten, die Kämpfe nicht ausschloss-dass die mir gegenüber in ihrer Presse, in ihrer angesehensten und akkreditiertesten Presse in einen Zorn und in eine Sprachweise verfallen sind, die mich ja vollständig degoutieren und abwendig machen musste. Es haben ähnliche Vorfälle auch vor versammeltem Reichstage stattgefunden, dass durch einzelne hervorragende Mitglieder der Reichskanzler in einer Weise abgekanzelt worden ist, kann ich wohl sagen (Heiterkeit), öffentlich, wie es ein Mitglied einer befreundeten Fraktion wohl niemals ohne Missbilligung der Fraktion getan haben würde...
Quelle:
Berg, R. / Selbmann, R. : Grundkurs Deutsche Geschichte. Bd. 1. Hirschgraben-Verlag, Frankfurt 1986, S.251 f..(gekürzt).
Aufgabenstellung:
1) Welche Aufgaben misst Bismarck den Liberalen als politischer Partei zu?
2) Beurteilen Sie die Ernsthaftigkeit der von Bismarck vorgetragenen Argumente. Betrachten Sie dabei politische und gesellschaftliche Entwicklungen in dieser Zeit.
3) In welcher außenpolitischen Situation befand sich Deutschland infolge seiner europäischen Mittellage?
Add 1) Bismarck konstatiert in seiner Reichstagsrede vom 9.7.1879 zunächst, dass das Verhältnis der Liberalen zu ihm und seiner Politik seit etwa einem Jahr angespannt ist, durch merkliche Abkühlung ausgezeichnet ist und folglich Disparitäten zwischen beiden bestehen, was er insbesondere bei der sozial demokratischen Vorlage realisierte. Seiner Auffassung nach solle die Fraktion die Regierung unterstützen und könne sogar Einfluss auf sie nehmen, dürfe jedoch nicht die Regierung regieren, also in deren unmittelbare Angelegenheiten intervenieren. Bismarck legt der Fraktion eine gewisse Zurückhaltung auf, nicht er sondern die Fraktion habe sich zuerst aggressiv verhalten. Des Weiteren führt Bismarck an, dass er nach 1871 eing an die Liberalen gedrängt war, jedoch die Beziehung zu den übrigen Bevölkerungsgruppen des Reiches hätte aufrechterhalten müssen, als Gesamtkonzept sah er zu diesem Zeitpunkt „getrennt marschieren und vereint fechten“. Daraus impliziert, dass Bismarck eine Kohärenz zwischen unterschiedlichen Volksgruppen und Parteien herstellen wollte, in der die liberale Fraktion involviert ist. Es geht aus diesem Auszug der Rede Bismarcks hervor, dass der Dissens zwischen seiner Politik und der der Liberalen auch aus der vielleicht zu engen Bindung der beiden resultiert, Bismarck also das Gewicht seiner Politik in zu starkem Maße auf liberale Seite gelegt hat. Als anwiedernd bezeichnet Biosmarck die Art und Weise, mit der seine Politik von der liberalen Fraktion ausgehend in der Presse und sogar vor versammeltem Reichstag diskreditiert wird. Dies verweist auch auf Bismarcks Auffassung, dass sich die liberale Fraktion in gewissem Maße zurückhalten müsse, um den Dissens nicht weitergehend zu verschärfen und eine auf gegenseitigem Vertrauen basierende Zusammenarbeit wiederherstellen zu können, insofern die beiden Pole nicht schon zu weit voneinander auseinander gewichen sind. ( 15 Pkte.)
Add 2) Bismarcks Rede ist im Zusammenhang der innenpolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach der Reichsproklamation und der Reichsgründung im Jahre 1871 zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Problem, dass ein gesamtdeutscher Einheitsstaat errichtet werden musste unter der Vorherrschaft Preußens. Ebenso trat die Industrialisierung ein, die gesellschaftlichen, politischen und besonders sozialen Fragestellungen einen neuen Aspekt verlieh oder sie verschärfte. Hierbei ist das Aufkommen der sozialen Frage zu nennen, durch das Arbeiterbewegungen, Frauenvereinigungen und Bauernverbände mit liberalen Intentionen stärker zum Vorschein traten. Um diese Bevölkerungsgruppen an das Deutsche Kaiserreich zu binden un dum zu verhindern, dass sie sich um sozialer Unzufriedenheit Willen sozialistischen Bewegungen anschließen, ratifizierte Bismarck im Kontext des Kulturkampfes die Sozialistengesetze. Er wollte bestimmte Machtbereiche der Kirche auf staatliche Ebene übertragen, z.B. die von da an standesamtliche Eheschließung, die Kontrolle der Religionslehrer an Schulen sowie die Bestrafung gegen Missbrauch kirchlicher Ämter. Des weiteren instituierte Bismarck die Sozialversicherung, die als positive Errungenschaft zu sehen ist um das Volk an den Staat zu binden. Somit war klar, dass Bismarck auf der einen Seite am Obrigkeitsstaat festhielt, auf der anderen Seite die liberalen Bewegungen versuchte an den Staat zu binden, was er auch in seiner Rede mit Bezug auf die Anfangszeit des Kaiserreichs, konzedierte. Wenn man bedenkt, dass der Kulturkampf gegen Ende der 70er Jahre fehlschlug, Bismarck diese Politik aufgeben musste und das zu Beginn der 70er Jahre neu gegründete Zentrum, dass für kirchliche Belange eintrat, sich behaupten konnten, versteht man, dass Bismarck von einer zu engen Bindung an die liberale Fraktion ausgeht. Weiterhin kann man sagen, dass Bismarcks Konzept des gemeinsamen Fechtens sowie der Zurückhaltung der Fraktion bezüglich des Regierens nicht vollständig aufgegangen ist.
Hierbei muss man aber auch berücksichtigen, dass die politische Ausgangslage für das Deutsche Kaiserreich durchaus schwierig war und wahrscheinlich Fakten, wie die „Verpreußung“, die zum Anlehnen an die Politik Preußens sowie zu Bismarcks Festhalten am Obrigkeitsstaat und der Monarchie beigetragen haben, die Konfliktsituation mit den Liberalen schürten. ( 15 Pkte. )
Häufig gestellte Fragen
Was ist der Inhalt der Reichstagsrede Bismarcks vom 9. Juli 1879?
Die Rede thematisiert die angespannte Beziehung zwischen Bismarck und den Liberalen. Bismarck beschreibt eine Abkühlung des Verhältnisses und wirft den Liberalen vor, Dinge von ihm zu verlangen, die er nicht leisten könne. Er betont die Notwendigkeit einer unterstützenden, aber nicht regierenden Rolle der Fraktion und beklagt die Diskreditierung seiner Politik in der Presse und im Reichstag.
Welche Aufgaben misst Bismarck den Liberalen als politischer Partei zu?
Bismarck sieht die Rolle der Liberalen darin, die Regierung zu unterstützen und Einfluss auf sie zu nehmen, aber nicht selbst die Regierung zu führen oder in deren Angelegenheiten zu intervenieren. Er erwartet eine gewisse Zurückhaltung und gegenseitiges Vertrauen für eine funktionierende Zusammenarbeit.
Wie beurteilt man die Ernsthaftigkeit der von Bismarck vorgetragenen Argumente im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit?
Bismarcks Argumente sind im Zusammenhang mit der Reichsgründung 1871, der Industrialisierung und der sozialen Frage zu sehen. Er versuchte, einen gesamtdeutschen Einheitsstaat zu errichten und liberale Bewegungen an den Staat zu binden. Seine Politik war geprägt vom Festhalten am Obrigkeitsstaat und dem Versuch, soziale Unzufriedenheit durch Sozialgesetze und Sozialversicherung zu verhindern. Die Rede kann als Versuch interpretiert werden, die entstandenen Spannungen mit den Liberalen zu erklären und zu rechtfertigen.
In welcher außenpolitischen Situation befand sich Deutschland infolge seiner europäischen Mittellage?
Deutschland befand sich in einer "halb-hegemonialen Stellung" in Europa, umringt von Flügelmächten. Bismarck strebte nach einem gesamteuropäischen Gleichgewicht und versuchte, Deutschland vor Abhängigkeit zu bewahren. Er isolierte Frankreich aufgrund des Deutsch-Französischen Krieges und versuchte, Russland als Partner zu gewinnen. Er sicherte sich durch Bündnisse wie den Dreibund und den Rückversicherungsvertrag ab, um ein europäisches Sicherheitssystem zu erhalten.
Was waren die Hauptherausforderungen nach der Reichsgründung und wie versuchte Bismarck, diese zu bewältigen?
Nach der Reichsgründung bestand die Herausforderung darin, einen gesamtdeutschen Einheitsstaat zu errichten und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen an das Deutsche Kaiserreich zu binden. Die Industrialisierung und die soziale Frage führten zu neuen gesellschaftlichen Spannungen. Bismarck versuchte, diese Herausforderungen durch den Kulturkampf, die Sozialistengesetze und die Einführung der Sozialversicherung zu bewältigen. Sein Ziel war es, den Obrigkeitsstaat zu erhalten und gleichzeitig liberale und soziale Bewegungen an den Staat zu binden.
- Citation du texte
- Timm Seng (Auteur), 2000, Aus der Reichstagsrede Bismarcks vom 9.Juli 1879, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102724