Akrasia. Über den Begriff der Willensschwäche bei Platon


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

13 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Protagoras

3 Sokrates Handlungstheorie
3.1 Von guten und schlechten Handlungen
3.2 Sokrates Interpretation der „Lustüberwältigung“

4 Sokrates und der Hedonismus: Ist Lust gleich das Gute?

5 Sokrates Handlungstheorie heute

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In Platons Protagoras wird diskutiert, ob sämtliche menschlichen Handlungen vom Guten geleitet sind. Sokrates vertritt in dem Dialog die These, dass niemand aus Absicht etwas Schlechtes tut; eine solche Handlung resultiere immer aus einem Mangel an Wissen und deshalb könne es nur irregeleitete Absichten geben, niemals aber bewusstes schlechtes Verhalten.

In einer heutigen Zeit, die sich längst von einem linearen Fortschritt der Menschheitsgeschichte und des Guten in Hegelscher Manier verabschiedet hat, wirkt dieser Gedanke zunächst etwas befremdlich. Wörter wie „Gutmensch“ gelten längst als Beleidigung und die Psychologie hat uns vor Jahrzehnten schon gelehrt, dass Verhalten nicht auf Vernunftprinzipien, sondern auf unbewussten und emotionalen Entschlüssen beruht – selbst Aristoteles hatte schon nur einige Jahre nach Platons Text einige kritische Worte darüber verloren. Milliardenschwere Werbebudgets die Egoismen fördern und lehren, sich Vorteile vor anderen zu verschaffen, gehören ebenfalls längst zum Alltag; vom Guten als oberstes, allumfassendes Prinzip weit und breit keine Spur.

Aus dieser Perspektive ist es umso nötiger sich mit dem Platonischen Begriff des Guten und des Willens etwas näher auseinanderzusetzen. Um Sokrates Handlungstheorie besser nachvollziehen zu können, wird zunächst in wenigen Sätzen der Inhalt des Dialogs und dessen wesentliche Argumente widergegeben. Im Anschluss soll Sokrates Handlungstheorie noch einmal auf ihre Stichhaltigkeit überprüft und ins Licht der heutigen Zeit gerückt werden.

2 Protagoras

In Platons fiktionalem Dialog beschließt Sokrates, den Sophisten Protagoras für eine Unterredung aufzusuchen, der nach Athen eingekehrt ist, um dort seine Dienste als Lehrmeister anzubieten. Die Konfrontation findet vor einer versammelten Gruppe statt, unter denen Kallias als Protagoras Gastgeber, Prodikos und Hippias, Alkibiades, Hippokrates und Kritias genannt werden. Hippokrates beschließt sich gegen Bezahlung in den Dienst von Protagoras zu stellen, um dessen Lehrangebot wahrnehmen zu können. Doch als er Sokrates davon erzählt, ist er davon alles andere als begeistert; was für den Entschluss sorgt, ihn für ein Streitgespräch aufzusuchen, um Hippokrates von seiner Idee abzubringen (Platon, 2004, Protagoras; 313a).

Um den Kontext des Dialoges etwas besser zu verstehen, macht es Sinn, sich in ein paar Sätzen mit Platons Voreinnahmen über die Sophistik auseinanderzusetzen. Denn nach Platon ist Ziel der Erkenntnis ein Selbstzweck und eine Annäherung an einen sittlich besseren Zustand (Raeder, 1939). Die Sophisten hingegen waren eine Art Rhetoriklehrer, die für ihre Ansicht bekannt waren, dass Wahrheit sich, – überspitzt formuliert –, aus gesellschaftlichem Konsens und einem hohen Maß an Übereinstimmung zusammensetzt. Also ein subjektives Moment enthält und für diese Vorstellung auch noch Geld für ihre Lehre einfordern. In dieser Hinsicht galten die Sophisten einigen als negative Denker, die auf die „wahre Erkenntnis“ verzichten und damit den sittlichen Zustand der Polis, wie den der Wissenschaft selbst, mit einem verderblichen Einfluss überziehen (Raeder, 1939). Ob dieses Bild den Sophisten tatsächlich gerecht wird, soll hier nicht weiter behandelt werden, sondern lediglich als Ausgangssituation des Dialoges gelten.

Von den Themen werden zunächst die Möglichkeit diskutiert, ob man politischen Erfolg durch sophistischen Unterricht erlernen kann (Platon, 2004, Protagoras; 319a) und später gehen die beiden Protagonisten dazu über, über die verschiedenen Tugenden und deren Qualitäten und Lehrbarkeit zu sprechen (Platon, 2004, Protagoras; 320c). Vor dem Hintergrund eines guten Lebens, kommen die beiden auf das Gebiet der Lustethik zu sprechen und verlagern das Gespräch auf die Frage, ob der Mensch dazu in der Lage ist wissentlich und damit vorsätzlich eine „schlechte“ Handlung zu begehen (Platon, 2004, Protagoras; 358c). Auch wenn die meisten vermutlich intuitiv widersprechen würden, vertritt Sokrates die Ansicht, dass der Mensch nicht dazu in der Lage ist. Auf genau dieser Argumentation von Sokrates möchte sich die vorliegende Arbeit konzentrieren, um den ethischen Aspekt in Platons Lehre etwas genauer herauszupräparieren, bei der der Begriff der Willensschwäche eine zentrale Funktion einnimmt. Eine Herausforderung, die bei der Rezeption von antiken Texten und hochgradig voraussetzungsvollen Begriffen immer entsteht, ist die Tatsache, dass es keine einheitliche Vorstellung von Willen, Lust oder dem Gutem gibt. Heinrichs (2017) mahnt davor, dass unterschiedliche griechische Ausdrücke je nach Autor und Kontext auch unterschiedlich übersetzt werden1. Bis heute sind Wörter wie Wille und Lust alles andere als eindeutig und es besteht immer die Gefahr, die eigene Vorstellung in den historischen Wandel zu lesen (Heinrichs, 2017).

3 Sokrates Handlungstheorie

Um es gleich vorweg zu nehmen, die vorliegende Arbeit interpretiert den Text dahingehend, dass nach Platon/Sokrates menschliche Handlungen immer vom Streben nach dem Guten geleitet sind (Roeske, 2004), verwerfliche Handlungen sind dementsprechend immer auf einen Mangel an Wissen und nicht auf einen Mangel an Willen zurückzuführen. In der heutigen Zeit, in der der Konsens stark von der Psychologie und Biologie geprägt ist, brauch es dafür starke Argumente (Heinrichs, 2017); genau diese sollen in diesem Kapitel aufgeführt werden.

3.1 Von guten und schlechten Handlungen

Die Argumentation beginnt zunächst mit der Prämisse, dass es einige Menschen gibt, die gut leben und andere die schlecht leben. Sokrates fragt Protagoras danach, ob er ihm zustimme, ob ein gequältes und gepeinigtes Leben mit einem schlechten; und ein vergnügtes Leben mit einem guten gleichzusetzen sind. Protagoras verneint dies und die beiden machen eine weitere Unterscheidung auf: „…es [gibt] einiges unter dem Angenehmen, was nicht gut, und wiederum unter dem Unangenehmen einiges, was nicht böse ist, anderes, was so ist und drittens noch anderes, was keins von beiden ist, weder gut noch böse (Platon, 2004, Protagoras, S. 191; 351d).“

Das Angenehme und Peinliche ist also nicht mit dem Guten und Schlechten gleichzusetzen. Als Begründung liefert Protagoras das Argument der Lustbewältigung, nachdem die Menschen gelegentlich bewusst (beziehungsweise aus Emotionalen Gründen) gegen das handeln, was sie in ihrer Erkenntnis als das Gute bezeichnen würden. Als Beispiel nennt Protagoras: „daß ihr oft von Speise und Trank und „Wollust“ als dem Angenehmen bezwungen, wiewohl ihr wißt, daß es schlecht ist, es dennoch tut (Platon, 2004, Protagoras, S. 195; 352c)“. Doch sowohl Protagoras wie Sokrates sind sich darin einig, dass es in Wahrheit nicht der Zustand ist, von der Lust überwältigt zu werden.

Zunächst folgt das Argument, dass diese Tätigkeiten nur als schlecht betrachtet werden, weil sie die Lust nur für den Augenblick gewähren, in diesem also gut sind und langfristig nur schlecht sind, weil sie zu Krankheit und Mangel führen. Würden die negativen langfristigen Konsequenzen nicht existieren, würden die meisten Menschen diese lustbringenden Aktivitäten als gut bezeichnen und die Konsequenzen als böse.

Der Dialog thematisiert recht eindeutig, dass die Protagonisten nicht an so etwas wie „Willensschwäche“ glauben: „denn erstlich ist es überhaupt nicht leicht zu zeigen, was das eigentlich sei, was ihr nennt „von der Lust überwunden zu werden“, und dann beruht gerade hierauf der ganze Beweis“ (Platon, 2004, Protagoras, S.199; 354e). Doch was ist dann der Grund für ein Handeln, gegen die eigenen Empfindungen was das Gute sein soll?

3.2 Sokrates Interpretation der „Lustüberwältigung“

Entgegengesetzt der konventionellen Ansicht, dass der Mensch zugleich über die rationale Einsicht seiner Handlungen verfügt, aber gleichzeitig auch von seiner Lust und Affekten überwältigt, sich dagegen entscheidet das Sinnvolle oder Richtige zu tun. Um seine These zu beweisen, dass es so etwas wie Lustüberwältigung nicht gibt, folgen einige weitere Argumente.

Wie auch die meisten gegenwärtigen wissenschaftlichen Verhaltenstheorien, geht Sokrates davon aus, dass der Mensch Lust mehren und Leid vermeiden möchte. Doch bei kurzfristigem Lustgewinn auf Kosten von langfristigem Wohlbefinden (wie zum Beispiel Alkohol oder Drogen) gerät dieses Konzept ins Ungleichgewicht, da unter dem Strich das Leid langfristig überwiegt. Die meisten würden annehmen, dass bei der Lustüberwältigung, der langfristig schädliche Genuss das Problem ist. Doch Sokrates interpretiert die Situation dahingehend, dass er die langfristigen schlechten Folgen von den kurzfristig positiven Entkoppelt. So ist er dazu in der Lage, folgende Aussage zu treffen, die darauf hinausläuft, der Mensch werde vom Guten überwältigt, nicht von einem langfristig schädlichen Genuss, bei dem er lediglich nicht die Gelegenheit hatte eine korrekte Abwägung zu treffen:

„Das ist doch wahrhaftig eine lächerliche Sache … daß ein Mensch das Böse, indem er erkennt, daß es böse ist, und da er es nicht tun muß, dennoch tut, weil er vom Guten überwunden ist … Nun laß uns für dieselben Dinge wieder jene Namen zurückrufen, das Angenehme und Unangenehme, und laß uns sagen: Der Mensch tut, vorher sagten wir das Böse, nun aber wollen wir sagen, das Unangenehme, erkennend, daß es angenehm ist, überwunden aber von dem Angenehmen (Platon, 2004, Protagoras, S. 201; 355d ff)

Umgekehrt versuchen Protagoras und Sokrates auch zu zeigen, dass unlustbringende Aktivitäten für die meisten Menschen auch positive Folgen haben können und auch als gut bezeichnet werden würden. Somit finden das Gute und das Angenehme wieder zusammen. Als Beispiele dienen hier diätetische Maßnahmen und Leibesübungen. In einem Beispiel verdeutlicht er seine Definition des Verhältnisses zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen:

„…wie ein des Abwägens Kundiger lege das Angenehme zusammen und das Unangenehme zusammen, und auf der Waage das Entfernte und das Nahe abschätzend sage dann, welches das Größere ist. Denn wenn du Angenehmes gegen Angenehmes wägst, mußt du, immer das Mehrere und Größere nehmen, wenn Unangenehmes gegen Unangenehmes, das Kleinere und Geringere; wenn aber Angenehmes gegen Unangenehmes, mußt du, wenn das Unangenehme vom Angenehmen übertroffen wird, es sei nun das Nähere von Entfernterem oder das Entferntere von Näherem, die Handlung verrichten, darin sich dieses Verhältnis findet; wird aber in einer das Angenehme vom Unangenehmen übertroffen, die mußt du nicht verrichten (Platon, Protagoras, S. 203; 356b)... Da sich nun aber gezeigt hat, daß das Heil unseres Lebens auf der richtigen Auswahl von Lust und Unlust beruht, der mehreren oder wenigeren, größeren oder kleineren sowohl nahen als fernen, zeigt sich zuerst nicht auch diese als ein Messen, da sie Überschuß, Untermaß und Gleichheit gegenseitig zu untersuchen hat? Und wenn sie ein Messen ist, so ist sie notwendig eine Kunst und Erkenntnis (Platon, 2004, Protagoras, S.205 357a ff.)?“

Da es sich also nach Sokrates nicht um bewusste Entscheidungen wider besseres Wissen, für einen schnellen Lustgewinn auf Kosten von langfristig überwiegenden Konsequenzen handelt, benötigt er ein Argument. Das Argument liegt in der Ursache der Entscheidung; die gängige Meinung ist, von der Lust überwältigt zu werden und im Affekt oder Trieb, so von der Handlung eingenommen zu sein, dass man sich bewusst für die langfristigen negativen Konsequenzen entscheidet. Sokrates widerspricht aber bereits an dieser Stelle. Nach seiner Begründung, ist eben kein umfangreiches Wissen in dieser Situation gegeben. Man entscheidet sich ohne es besser zu wissen, für den kurzfristigen Lustgewinn, den man nämlich ohne sich der langfristigen negativen Konsequenzen wirklich bewusst zu sein, als das Gute ansieht. Der Entscheidungsträger irrt in dem Moment also einfach darin, was er für das Gute erachtet und handelt ihm nicht zuwider.

Dem Entsprechend kann Sokrates seine These, dass es keine Lustüberwältigung gäbe und dass der Mensch von Natur aus nach dem Guten strebt weiter aufrechterhalten, ohne in einen Widerspruch zu gelangen. Denn man kann sich ja nur bewusst für das Schlechte entscheiden, wenn man das Wissen zur Verfügung hat, dass es auch tatsächlich das Schlechte ist. Und an dieser Stelle tritt die Messkunst ins Spiel, die dabei helfen kann, die richtige Auswahl zwischen Lust und Unlust zu treffen. Damit steht die Erkenntnis weiterhin über der Lust als Entscheidungsinstrument: „…es gäbe nichts Stärkeres als die Erkenntnis, und wo sie nur wäre, herrschte sie auch überall über die Lust und alles andere, ihr aber behaupten wolltet, die Lust herrsche oftmals auch über den erkennenden Menschen, wir aber euch dies nicht zugeben wollten, damals fragtet ihr uns: O Protagoras und Sokrates, wenn dieser zustand das nicht ist, daß man von der Lust überwunden wird, so sagt uns doch, was er denn ist und wie ihr ihn erklärt. Wenn wir euch nun damals gleich gesagt hätten, er wäre eben Unverstand, so würdet ihr uns ausgelacht haben (Platon, 2004, Protagoras, S. 207, 357d).“

Wenn man es etwas vereinfacht formuliert, kann man Sokrates Argumentation auf folgendes Schema herunterbrechen:

P1 Menschen Handlungen können in Gute und Schlechte geteilt werden.

P2 Das Abwägen dieser Handlungen beruht auf Erkenntnis und Wissen (Messkunst).

P3 Der Mensch strebt von Natur aus nach dem Guten.

P4 Das Begehen einer schlechten Handlung beruht auf einem Mangel an Wissen.

P5 Der Mensch meidet das Unangenehme und sucht das Angenehme

P6 Unangenehme Handlungen schaden dem Menschen während angenehme ihm nützen

K1 Es kann keine Handlungen mit schlechten Absichten geben.

K2 Richtiges Handeln impliziert das richtige Wissen (Erkenntnis) und nützt dem Handelnden (Lust).

K3 Falsches Handeln impliziert einen Mangel an Wissen (Erkenntnis) und schadet dem Handelnden (Unlust).

[...]


1 Vgl. boulesis, thellein, haireisthai, prohairesis und eph´hemin (Heinrichs, 2017) .

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Akrasia. Über den Begriff der Willensschwäche bei Platon
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
2,0
Jahr
2021
Seiten
13
Katalognummer
V1027487
ISBN (eBook)
9783346431165
ISBN (Buch)
9783346431158
Sprache
Deutsch
Schlagworte
akrasia, über, begriff, willensschwäche, platon
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Akrasia. Über den Begriff der Willensschwäche bei Platon, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1027487

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