Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theorie: Entangled Inequalities & Global Care Chain
3 Methodik: Multi-Sited Ethnography
4 Entangled Inequalities in der Pflegekette zwischen Peru und Italien
4.1 Achsen der Ungleichheit – Intersektionalität
4.2 Die Rolle des Staates
4.3 Strategien der Akteure – Agency und Boundary Work
5 Resümee
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Soziale Ungleichheit und Abhängigkeit sind zwei Seiten derselben Medaille. Das zeigt sich vor allem entlang der transnationalen Pflegekette. Abhängigkeiten zwischen Individuen sind vielfältig und lassen sich auf diverse Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Regionen, sozialen Kategorisierungen und gesellschaftlichen Institutionen zurückführen. Soziale Ungleichheiten sind ebenso vielfältig und nicht nur relativ zu betrachten. Sie können intersektional wirken und sich intensivieren. Sie sind jedoch vor allem relational zu betrachten, das heißt als Produkt von ebendiesen Abhängigkeiten, so das Konzept der Entangled Inequalities (Skornia 2014: 19ff).
Im Rahmen ihrer Dissertation mit dem Titel „Entangled Inequalities in Transnational Care Chains – Practices Across the Borders of Peru and Italien“ untersucht Anna K. Skornia1 (2014) die interdependenten Ungleichheiten2 entlang der transnationalen Pflegekette zwischen Peru und Italien. Sie zeigt, wie sich Achsen der Ungleichheit – Class, Ethnicity, Gender, Place of Residence, Nationality und Migration Status – überschneiden und insbesondere, wie sie sich reproduzieren. Strukturelle Pfadabhängigkeit hinsichtlich der Kolonialgeschichte und des Entwicklungsgefälles zwischen Peru und Italien und verkrustete Traditionen bezüglich gesellschaftlicher Geschlechterrollenverteilung sind dabei wesentliche Reproduktionsfaktoren. Die Autorin legt ihren Fokus jedoch auf die Gegenwart und nimmt die Agency der beteiligten Akteure unter die Lupe sowie die staatliche Rolle in diesem Zusammenhang (ebd.: 16f).
Im Mittelpunkt der Analyse stehen peruanische Migrant innen, die in Italien vorwiegend in der häuslichen Altenpflege tätig sind, während sie zugleich auch für ihre zurückgebliebenen Kinder und/oder alten Eltern in Peru sorgen müssen – „long-distance mothering “ (Skornia 2014: 23). Damit sind wir im Bereich der Intimität, Emotionen und etischen Verpflichtungen (ebd.). Das ist die Besonderheit der Pflegearbeit, die sie für die Ungleichheitsforschung umso interessanter macht.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Ausarbeitung der Quintessenz der bereits genannten Monografie von Skornia. Nach der Darstellung der theoretischen Bausteine ihrer Analyse im Kapitel 2 wird auf ihre Forschungsmethodik eingegangen (Kapitel 3). Das Kapitel 4 bildet dann den Kern dieser Arbeit, indem versucht wird, eine in die Komplexität der interdependenten Ungleichheiten und deren Reproduktions-mechanismen einzubringen. Mit einem Fazit und Ausblick beschließt das Kapitel 5 die Arbeit.
2 Theorie: Entangled Inequalities & Global Care Chain
Das theoretische Fundament der Analyse bilden das Konzept der Global Care Chain (GCC) und der Entangled Inequalities (EI), die von der Autorin innovativ miteinander kombiniert werden. Methodologisch geht sie dabei mit Rückgriff auf Migrationsforschung zum einen transnationalistisch (zum Begriff vgl. Glick Schiller et al. 1995) vor, sodass sie anstatt von globaler von transnationaler Pflegekette spricht mit der Begründung, dass „physical separation does not equal an end to caregiving, but rather shifts the ways in which care is provided.“ (Skornia 2014: 23) Zum anderen ist sie in ihrer Konzeption relationalistisch (ebd.: 39), was jedoch unmittelbar mit der EI-Theorie zusammenhängt, die keine Momentaufnahmen miteinander vergleicht, sondern ungleichheitsrelevante soziale Prozesse in den Bick nimmt (ebd.: 40).
Die Theorie der GCC geht zurück auf Hochschild (2000), der am Beispiel der philippinischen Mutter, die im Ausland als Hausangestellten arbeiten, die Entstehung globaler Pflegeketten erforschte. Nicht die Migration arbeitswilliger Frauen aus ärmeren Ländern bildet den Ausgangspunkt der GCC, so Hochschild, sondern das Outsourcing häuslicher Arbeit in reicheren Ländern: GCCs „emerge as women in rich countries outsource part of their ‚domestic duties‘ by hiring migrant women from poorer countries.“ (Skornia 2014: 21) In diesem Zusammenhang ist in der Forschung von „new international division of reproductive labor“ (Parreñas 2001), „transnational families and caregiving at distance“ (Parreñas 2005a), “global emotional inequality” (Hochschild 2010: 26) und bei neomarxistischen Wissenschaftlern von “care surplus” im globalen Norden und “care drain” im globalen Süden (vgl. Wallerstein 1979) die Rede (Skornia 2014: 21f).
Das GCC-Konzept ist in der Forschung vor allem in vierlei Hinsicht kritisiert worden: Erstens werden MigrantInnen zunehmend einer gewissen Agency sowohl im Migrationsprozess als auch im Arbeitsbereich zuerkannt, sodass eine dichotome Aufteilung zwischen „GewinnerInnen“ und „VerliererInnen“zweitens abzuweisen gilt. Die GCC sei drittens nicht als einen „one-way transfer“ zu betrachten, demzufolge die MigrantInnen, ihre Familien sowie Communities und Länder nichts von der Migration profitieren würden (Skornia 2014: 23). Und viertens wird die Annahme kritisiert, dass „women careworkers (in this case, migrants) have a fixed amount of love, which, if given to employer, must be taken from one’s own family (Zimmerman et al. 2006: 18f).
Vor dem Hintergrund dieser Kritik integriert Skornia das EI-Konzept in ihre Analyse. Das EI-Konzept geht auf Costa (2013) zurück, der Ungleichheiten als Folge von gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Regionen und gesellschaftlichen Kategorisierungen versteht und wie folgt definiert: Ungleichheiten sind … “[…] asymmetries between positions of certain individuals or groups of individuals in a relationally (not spatially) determined context. This concerns economic positions (defined by income, access to resources and so on) as well as political and legal entitlements (rights, political power etc.).” (Costa 2013: 49)
Das EI-Konzept ermöglicht nämlich einerseits die Ungleichheiten in der Pflegekette in ihrer Transnationalität zu erfassen und andererseits die Agency von beteiligten Akteuren in Abhängigkeit von deren auf struktureller und staatlicher Ebene gegebenen Verhandlungsmacht zu analysieren. In den Mittelpunkt rückt damit der Prozess, in dem Ungleichheiten gegenwärtig reproduziert werden (Skornia 2014: 40). Drittens erlaubt es eine intersektionale Analyse von Achsen der Ungleichheit, die zudem mit den Abhängigkeitsstrukturellen auf verschiedenen Ebenen in Zusammenhang gebracht werden (ebd.: 39).
Die Pflegearbeit definiert Skornia mit Raghuram (2012: 157) als „the work of looking after the physical, psychological, and developmental needs of one or more people.” Sie umfasst die bezahlte sowie unbezahlte Hilfeleistung, die neben den Arbeitsaktivitäten im Sinne von „caring for someone“ auch Emotionsarbeit im Sinne von „caring about someone“ (z. B. Emotionen, Affekte und Liebe) einschließt. Daher weist sie im Vergleich zu anderen Beschäftigungsformen Besonderheiten auf, die sie für die Reproduktion sozialer Ungleichheiten als entscheidend hervorheben: Die Pflegearbeit (Pflege von Alten und Kindern) ist traditionell familiarisiert, feminisiert und deshalb gesellschaftlich moralisiert (Skornia 2014: 24ff).
3 Methodik: Multi-Sited Ethnography
Methodisch bedient sich die Autorin die Multi-Sited Ethnographic Research3 , die von Marcus (1995) und Falzon (2009) entwickelt wurde. Diese erlaubt nicht nur eine multilokale Feldarbeit, die verschiedene Lokalitäten im Herkunfts- und Residenzland und auch transnational das “in-betweenness” der migrantischen Situation umfasst, sondern auch, dass man biographisch und temporal MigrantInnen und Beziehungen zwischen Peru und Italien verfolgt. Das ist wichtig, weil “as mobile subjects, [migrant care workers] move between different localities and national spaces […] and are required to simultaneously respond to the care demands of their own kin as well as those demands of their employing families” (Skornia 2014: 56).
Multi-sited ist die Methodik aber auch in dem Sinne, dass nicht nur die Beziehungen von MigrantInnen zu ihren Familien in Peru und zu ihren Arbeitgeber-Haushalten in Italien im Fokus stehen. Vielmehr geht es auch um den Transfer von Pflegeleistungen wie Geld, Güter und Ideen in diesen asymmetrischen Beziehungen auf lokaler sowie transnationaler Ebene (ebd.: 58).
Die Daten erhob sie anhand narrativer, ethnographischer, semi-strukturierten und Experten-Interviews, teilweise kombiniert mit der teilnehmenden Beobachtung. Institutionelle Daten zur Migration und zum Arbeitsmarkt dienten außerdem zur Verdeutlichung des makrostrukturellen Rahmens. Insgesamt wurden 55 peruanische MigrantInnen, 42 italienische ArbeitgeberInnen, 74 zurückgebliebene Familien-mitglieder in Peru, 6 wiedervereinte Kinder von peruanischen Migrantinnen in Italien sowie 38 ExpertInnen interviewet. Feldnotiz und Forschungstagebuch dienten einer „dichten Beschreibung“ bei teilnehmenden Beobachtungen (ebd.: 58f).
4 Entangled Inequalities in der Pflegekette zwischen Peru und Italien
4.1 Achsen der Ungleichheit – Intersektionalität
Entlang der Pflegekette zwischen Peru und Italien sind vor allem neuen Achsen der Ungleichheit anzutreffen, die intersektional und infolge neuer Abhängigkeitsbeziehungen und Handlungsfähigkeiten der AkteurInnen neue Ungleichheiten hervorbringen. Das sind soziale Klasse, Gender, Ethnizität, Nationalität, Wohnort, Generation, Alter und Migrationsstatus (Skornia 2014: 246).
Die Ungleichheitsachsen beziehen sich entweder auf räumlich konstruierte Einheiten wie Nationalstaaten, die wirtschaftlich ungleich entwickelt sein können oder aber über ungleiche politische und ideologische Macht verfügen, oder auf soziale Kategorisierungen wie die gesellschaftlich unterschiedliche Rollenzuschreibung von Mann und Frau. Während ungleiche Beziehung entlang Gender, Generation und Alter auf alte Traditionen zurückgehen, weisen auch die ungleiche „Bewertung“ entlang der nationalen, ethnischen, residenziellen und migrantischen Zuschreibungen eine Geschichte wie zum Beispiel die koloniale Vergangenheit und langjährige wirtschaftliche Auseinanderentwicklung beider Länder auf, die pfadabhängig wirkmächtig aufrechterhalten (vgl. Skornia 2014: 161ff).
Entlang der transnationalen Pflegekette zwischen Peru und Italien sind vor allem drei Ungleichheitsbeziehungen von Bedeutung: Die Beziehung peruanischer Pflegekräfte zu pflegebedürftigen Senioren, zu ihren ArbeitgeberInnen in Milan – in der Regel sind sie die Töchter der Pflegebedürftigen – und zu ihren eigenen Familien (Eltern und Kinder) in Peru. Im Prinzip lassen sich hier alle neun Achsen der Ungleichheit kreuzen: Peru ist wirtschaftlich, vor allem jedoch politisch in der internationalen Machtkonstellation schlechter positioniert als Italien, demzufolge Menschen mit peruanischer Staatsangehörigkeit weniger Freiheiten und Privilegien haben als italienische StaatsbürgerInnen. Das wirtschaftliche Gefälle veranlasst zur Migration, die eine ungleiche Positionierung von MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen in Italien zur Folge hat, und die italienische Visa- und Aufenthaltsbestimmungen machen die peruanischen MigrantInnen zusätzlich von ihren ArbeitgeberInnen abhängig und somit anfällig für (Selbst-)Ausbeutung (Skornia 2014: 33).
Hinzu kommt die historisch entstandene – wenn auch latente – Diskriminierung peruanischer Herkunft, sodass die italienische ArbeitgeberInnen sich bei peruanischen MigrantInnen mehr erlauben als es bei italienischen Pflegekräften der Fall wäre. Die Pflegearbeit ist außerdem traditionell gegendert, sodass die Frau als Mutter oder Tochter die Hauptlast trägt. Das gilt auch für die Italienerinnen und Italienern. Traditionell sind auch Generation und Alter ungleichheitsrelevant, was deutlich im Bereich der Altenpflege zutage tritt, egal ob es sich um die Pflege eigener Eltern oder um die Pflege als Beruf handelt. Aufgrund der ungleichen Position zwischen Peru und Italien, aber auch zwischen Stadt und Land auf lokaler Ebene wirkt auch der Wohnort ungleichheitsrelevant: Indem peruanische MigrantInnen in Italien wohnen, sind sie gegenüber ihren Familien und Verwandten in Peru wirtschaftlich, aber auch vom Ansehen her bessergestellt, demzufolge die traditionellen Machtverhältnisse innerhalb der Familie infrage gestellt werden, was jedoch auch die Entstehung neuer Ungleichheiten zur Folge hat (vgl. Skornia 2014: 246ff).
Darüber hinaus gibt es neue Ungleichheiten hinsichtlich der Pflegeressourcen (Liebe, Emotionen, Fürsorge, Erziehung etc.), die im Zuge der transnationalen Pflegearbeitsteilung entstehen. Zurückgelassene Kinder und Eltern in Peru sind bezüglich der Pflegeressourcen zugunsten der italienischen Eltern und Kinder im Nachteil (Skornia 2014: 201ff). Zugleich sind italienische Mütter und Töchter zulasten der transnationalen Mütter aus Peru im Vorteil, weil sie durch das Outsourcing der Pflegearbeit mehr Freiheit und Zeit zur Selbstverwirklichung gewinnen (ebd.: 124f).
Das sind die Ungleichheitskonstellationen, die aufgrund der Transnationalisierung der Pflegearbeit entstehen können. In den nächsten beiden Abschnitten geht es um die Agency des Staates und der beteiligten AkteurInnen bei der (Re)Produktion sozialer Ungleichheiten.
4.2 Die Rolle des Staates
Pflegearbeit ist nicht nur feminisiert, sondern auch familiarisiert. Dadurch gibt es eine zweifache Ungleichheitsverteilung von Pflegearbeit: zum einen zwischen Mann und Frau und zum anderen zwischen Staat und Familie, indem die Zuständigkeit und Verantwortung der Pflegearbeit der Familie zugeschrieben werden. Die Altenpflegepolitik des italienischen Staates mit ihrer unzureichenden Bereitstellung von öffentlichen Pflegedienstleistungen und geringen Altersrente, die meistens für private Seniorenheime nicht ausreichen, ist systematisch darauf ausgerichtet, dass italienische Familien sich nur unterbezahlte MigrantInnen als häusliche Pflegekraft leisten können, und trägt aktiv zur Transnationalisierung der Pflegearbeit bei (Skornia 2014: 119)
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1 Nach dem Studium von „European Studies“ (B.A.) und „Global Studies Programme“ (M.A.) promovierte Anna K. Skornia 2010 an der Freien Universität zu Berlin im Fach Soziologie. Die hier zugrundeliegende Monografie ist ihre Dissertation. Anna Skornia ist Mitglied des International Research Network on Interdependent Inequalities in Latin America (desiguALdades.net).
2 Meines Erachtens ist das keine gute deutsche Übersetzung von Entangled Inequalities, obwohl die Autorin auch den Begriff „interdependent Inequalities“ als Synonym verwendet (Skornia 2014: 22, Fußnote). Denn das impliziert, dass Ungleichheiten voneinander abhängig sind, während das Konzept der Entangled Inequalities die Wechselwirkungen zwischen Ungleichheit und Abhängigkeit im Sinne hat.
3 Auf Deutsch könnte man sie eventl. mit „multilokaler Ethnografie“ übersetzen.