Funktion und Klassifikation von Körperstrafen in der mittelalterlichen Märendichtung

"hilf, daz ich den lîp behalde"


Hausarbeit, 2019

19 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Das Märe im zeit- und ideengeschichtlichen Kontext des Mittelalters.

2. Anwendung von Körperstrafen in der mittelalterlichen Märendichtung
2.1 Untersuchungsgegenstand und methodisches Vorgehen
2.2 Die Körperstrafe als Strafe für den Verstoß gegen Geschlechternormen
2.2.1 Textanalyse und Interpretation des Märes Der begrabene Ehemann
2.2.2 Textanalyse und Interpretation des Märes Die böse Adelheid
2.3 Die Körperstrafe als Strafe für den Verstoß gegen Standesnormen- Textanalyse und Interpretation des Märes Ritter Beringer
2.4 Die Körperstrafe als Strafe für Ehebruch –Textanalyse und Interpretation des Märes Der kluge Knecht
2.5 Die Körperstrafe als Opfer – Textanalyse und Interpretation des Märes Die treue Gattin

3. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Das Märe im zeit- und ideengeschichtlichen Kontext des Mittelalters

Unter dem Begriff Mittelalter wird sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch der Philologie der Zeitraum zwischen 500 und 1500 nach Christi verstanden. Die stark agrarisch geprägte Gesellschaft dieses Zeitalters war nach den Prinzipien der Feudalgesellschaft organisiert. Daraus ergibt sich die Ordnung der sogenannten Lehenspyramide: die Abhängigkeit der Lehensnehmer von ihren Lehensgebern. Als wichtigstes Element der mittelalterlichen Gesellschaft galt die triuwe – sowohl innerhalb des Lehensverhältnisses als auch in der Ehe. Damit geht deren Bedeutung weit über unseren heutigen Treuebegriff hinaus.

Es handelte sich um eine patriarchale Gesellschaft, in der der Mann das Ideal eines starken zielstrebigen Versorgers zu erfüllen hatte. Die Frau hingegen blieb passiv und führte den Haushalt. Dem negativen Frauenbild dieser Zeit lag der Eva-Archetyp der Verführerin zugrunde, die für die Verbannung aus dem Paradies verantwortlich war.

Die mittelalterliche Gesellschaft war sowohl nach weltlichen als auch nach kirchlichen Rechtsquellen ausgerichtet. Zu den weltlichen Rechtsquellen zählten neben den Edikten des Kaisers die Beschlüsse der Reichstage. Auf Landesebene galt zudem das Recht der jeweiligen Fürsten und Könige. Kirchliche Rechts-quellen waren neben dem Papst und den Konzilen die Vorgaben aus der Bibel, hier vorrangig die Zehn Gebote. Auch die Informationshoheit dieses Zeitalters lag aufseiten der Kirche. Die Klöster waren die Zentren der Schriftlichkeit, der Kirche fiel auch die Kontrolle über das Schulwesen zu. Durch die kirchlichen Zensurbehörden behielt sie auch die Deutungshoheit über religiöse Fragen sowie die öffentliche Meinung. Eine Möglichkeit, den Zensoren zu entgehen, war die Erzählung von Fabeln, Schwänken und Mären. Diese stehen in der Tradition der mündlichen Überlieferung des Mittelalters, da Schriftlichkeit noch nicht weit verbreitet war. Als Begründer der Gattung der Märendichtung im deutschsprachigen Raum gilt ein Dichter, der unter dem Pseudonym Der Stricker bekannt ist. Sein Werk lässt sich auf das späte 13. Jahrhundert datieren (vgl. Fischer: Studien, S. 145). Nach der Definition von Hanns Fischer handelt es sich bei einem Märe um:

„eine in paarweise gereimten Viertaktern versifizierte, selbstständige und eigenzweckliche Erzählung mittleren ( [das heißt] durch die Verszahlen 150 bis 2000 ungefähr umgrenzten) Umfangs, deren Gegenstand fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichen Aspekten betrachtete, mit ausschließlich (oder vorwiegend) menschlichem Personal vorgestellte Vorgänge sind.1

Ziel dieser Arbeit ist es, den Einsatz des narrativen Mittels der Körperstrafe in der mittelalterlichen Mären-dichtung näher zu untersuchen und eine Klassifizierung ihrer Anwendung vorzunehmen. Wie häufig und zu welchem Zweck wird das Stilmittel verwendet? Welche Erzählfunktionen erfüllen diese Strafen innerhalb der Mären und welche Wirkung auf das Publikum soll durch sie erzielt werden? Ist das Motiv der Körperstrafe in dem jeweiligen Märe konstituierend für die Erzählung? Oder kann es weggelassen beziehungsweise durch eine andere Form der Sanktionierung ersetzt werden, ohne die Grundaussage des Märes zu verlieren?

2. Anwendung von Körperstrafen in der mittelalterlichen Märendichtung

2.1 Untersuchungsgegenstand und methodisches Vorgehen

Um eine Aussage über die Häufigkeit der Verwendung des Motivs der Körperstrafe treffen zu können, wurden zunächst 15 Mären näher betrachtet: Der begrabene Ehemann 2, Der kluge Knecht 3, Das heisse Eisen 4, Die drei Wünsche 5, Der arme und der reiche König 6, Das Schneekind 7, Die treue Gattin 8, Der Schlegel 9, Die halbe Birne,10 Die böse Adelheid 11, Ritter Beringer 12, Die Buhlschaft auf dem Baume 13, Herzmäre 14, Der Sperber 15 sowie Das Häslein 16 (siehe Anlage 1). Die Auswahl der betrachteten Mären erfolgte stichprobenartig innerhalb des Sammelbandes Novellistik des Mittelalters, der 38 Werke der mittelalterlichen Kleinepik umfasst.

Als Ergebnis der ersten Betrachtung lässt sich festhalten, dass in 10 der 15 untersuchten Texte eine Körper-strafe zum Einsatz kommt.

Im Hinblick auf ihre narrative Funktion lassen sich die angewendeten Körperstrafen dabei in vier Kategorien unterteilen:

- Die Körperstrafe als Strafe für den Verstoß gegen Geschlechternormen,
- Die Körperstrafe als Strafe für den Verstoß gegen Standesnormen,
- Die Körperstrafe als Strafe für einen Ehebruch
- sowie Die Körperstrafe als Opfer.

Um diese Klassifizierung validieren zu können, wurden ausgewählte Mären aus der jeweiligen Kategorie einer näheren Textanalyse unterzogen und interpretiert. Bei der Behandlung der Mären wird dabei zwischen äußeren und inneren Merkmalen unterschieden.

Die Untersuchung der äußeren Merkmale umfasst Angaben über den Autor, den Ort und die Zeit der Entstehung sowie die Überlieferungsgeschichte. Die Untersuchung der inneren Merkmale erfolgt sowohl auf der Figurenebene als auch auf der Handlungsebene. Auf der Figurenebene wird die Figurenkonstellation in den Blick genommen und eine knappe Darstellung der Figurenmerkmale gegeben. Für die Analyse der Handlungsebene werden zuerst Ort und Zeit der Handlung untersucht. Daraufhin werden in gebotener Kürze die relevanten Handlungsstränge dargestellt, die zur Anwendung der Körperstrafe führen. Bei der Untersuchung des erzählerischen Mittels der Körperstrafe wird in der Folge besonderes Augenmerk auf die Intention der Anwendung der Körperstrafe sowie deren Relevanz für die Erzählung gelegt.

2.2 Die Körperstrafe als Strafe für den Verstoß gegen Geschlechternormen

2.2.1 Textanalyse und Interpretation des Märes Der begrabene Ehemann

Als Autor des Märes Der begrabene Ehemann gilt Der Stricker, welcher als fahrender Berufsdichter zwischen 1220 und 1250 in Österreich tätig war. Da eine verlässliche chronologische Gliederung der Werke des Strickers bisher nicht gelungen ist, lässt sich das untersuchte Märe nur allgemein dieser Schaffensperiode zuordnen.17 Das Märe ist in drei großen Sammelhandschriften überliefert.18

Im Kern des untersuchten Strickermäres lässt sich die Figurenkonstellation dummer Mann und verschlagene, listige Frau feststellen. Die Ehefrau entspricht damit dem Figurentypus des in der mittelalterlichen Literatur häufig anzutreffenden, durchaus als misogyn zu bezeichnenden übel wîp.19 Hinzu tritt die Figur des lüsternen Pfarrers (vgl. Der begrabene Ehemann, V 134-137). Dazu lässt sich festhalten, dass während der gesamten Erzählung keine Figurenentwicklung stattfindet. Alle Protagonist*innen folgen konsequent dem von ihnen eingeschlagenen Weg und bleiben – wie für diese Gattung üblich – schemenhaft, während die Motivation für ihre Handlungen weitestgehend im Dunkeln bleibt. Zudem erhalten die handelnden Figuren keine Namen.

Der Einstieg in die Erzählung erfolgt in medias res, ein Promythion liegt nicht vor (vgl. ebd., V 1). Auf eine zeitliche Einordnung der Handlung findet sich kein Hinweis im Text. Auch wird der Ort nur als nicht näher definierte stat (ebd., V 134) angegeben.

Der Ehemann räumt aufgrund übertriebener Hingabe und Gutgläubigkeit – du bist mir liep als der lîp (ebd., V 2) – die von der göttlichen ordo vorgesehene Vormachtsstellung innerhalb der Ehe. Eine Anlehnung an Stilelemente des Minnesangs wird hier deutlich, die Übertretung der Genregrenzen dient jedoch als überzeichnete Parodie: Die Protagonist*innen gehören nicht dem adligen Stand an, weshalb sie sich auch nicht in einem Moment der Minnewerbung befinden können.

Die Ehefrau übernimmt im Verlauf der Handlung zunehmend die Kontrolle und die Deutungshoheit – sowohl innerhalb der Ehe als auch über das Wohl und die Wahrnehmung des Ehemanns. Dies wird bereits ersichtlich anhand der ersten beiden Prüfungen, mit denen die Frau die Grenzen der Passivität ihres Ehemanns auszutesten versucht und sukzessive verschiebt. Zuerst versucht sie seine Treue auf die Probe zu stellen, indem sie ihm am Mittag einredet, es sei Zeit für das Abendessen und für das Zubettgehen: geselle, ez ist naht. / ich hân uns ze ezzen gemaht. / wir suln ezzen und slâfen gân. (Der begrabene Ehemann, V 53-55) An dieser Stelle behält er jedoch noch seine Integrität und wehrt den Versuch seiner Frau vorerst ab, über seine Wahrnehmung zu gebieten. Dies ändert sich aber bereits bei der zweiten Prüfung, als ihn seine Frau auffordert, in das eiskalte Badewasser zu steigen und ihm eingibt, es wäre warm: dô begunde si im aber sagen / ein gelogen mære umbe daz, / si dûhte an disem mære, / daz si sîn meister wære; / des wart sie stolz unde balt. / si mahte ein volbat (daz was kalt) / und sprach: »ginc in, ez ist warm.« (ebd., V 110-117) Der Ehemann ist bereits so gefügig und von der Angst getrieben, sie zu verlieren, dass er ihren Anweisungen Folge leistet: nu war er des moutes sô arm, / daz er da wider niht ensprach, / wan er sich aber des versach, / daz er ir hulde verlür (ebd., V 117-121). Indem er in das eiskalte Bad steigt und erstmals ihre alternative Version der Realität akzeptiert, erlaubt er ihr den Eingriff in die Sphäre seines ureigensten Interesses – nicht nur seiner Wahrnehmung, sondern auch seiner körperlichen Unversehrtheit: swie sêre in in dem bade vrür, / er sprach doch: »es ist warm genuoc.« / wan er das sô wol vertruoc, / des wart ir herze vröuden vol (ebd., V 122-125). Diese erste direkte Körperstrafe wird ausgelöst durch die Passivität, die Unterwürfigkeit sowie die Verlustangst des Ehemannes. Diese Strafe demonstriert, dass die Ehefrau auch nicht davor zurückschreckt, ihm direktes körperliches Leid zuzufügen. Durch die Klimax der Prüfungen wird an dieser Stelle bereits der letztendlichen Katastrophe – dem Begraben des Ehemannes – der Boden bereitet.

Als der Ehemann im weiteren Handlungsverlauf keine Anzeichen von Gegenwehr mehr zeigt, beginnt die Frau eine Affäre mit dem Priester, da sie von ihrem Ehemann keine regulierenden Eingriffe oder Strafen mehr erwartet (vgl. ebd., V 133-137). Hierbei handelt es sich um einen mehrfachen Normverstoß: Durch den Ehe-bruch verstößt die Ehefrau sowohl gegen das gesellschaftliche Gebot der triuwe gegenüber ihrem Ehemann, als auch unter religiösen Gesichtspunkten gegen das Sakrament der Ehe. Der Priester verstößt damit sowohl gegen das Zölibat, welches bis heute ein prägendes Merkmal des Priesteramtes innerhalb der katholischen Kirche ist, als auch gegen das Zehnte Gebot („ Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat. “). Der Ehemann beobachtet zwar den Priester beim Verlassen der Scheune, in der er sich mit der Ehefrau vergnügt hat und stellt sie zur Rede: »daz ist missetân, / daz du dem pfaffen so heimlich bist« (ebd., V 140f.). Sie bestreitet die Affäre jedoch und droht erneut mit der Trennung: »du liugest, wizze Krist! / daz ich dir sô holt bin, / daz müet aber dînen sin. / ez wart nie wip, geloube mir, / ir manne holder denne ich dir. / wil du des gelouben niht und sprichest du dâ wider iht, / ich tuon dir solhen zorn schîn, / daz wir gescheiden iemer sîn. / swaz ich gespriche und begân, / wil du daz niht vür guot hân / daz solt du balde sagen mir, / sô wil ich mich scheiden von dir.« (ebd., V 142-154) Daraufhin lenkt der Ehemann ein und beugt sich zum zweiten Mal dem Willen und der ihm aufgezwungenen Sichtweise seiner Frau: »ez ist alles guot, / swaz dîn reiner lîp getout. / dîniu wort diu sint elliu wâr. / und soldestu leben tûsent jâr, / ich gezîhe dich niemer nihtes mê« (Der begrabene Ehemann, V 155-159).

Das Verhältnis der Frau und des Priesters intensiviert sich so weit, dass der Ehemann ihnen im Weg steht und sie den Entschluss fasst, ihn zu beseitigen: Dô wart ez sô geschaffen, / daz si den selben pfaffen / sô sêre minnen began, / daz ir erleidete der rehte man (ebd., V 167-170). Als er eines Tages von der Feldarbeit zurückkehrt, redet sie ihm ein, dass er todkrank sei und sich auf das Sterbebett legen solle: »dâ bistu garwe / tôt an dîner varwe. / dir wil des tôdes smerze / iezuo gân an dîn herze; / dâne ist leider nicht wider. / ginc an dîn bette und lege dich nider. / wê mir, du wil sterben! / lâ mich dirn pfaffen erwerben, / daz er dir die sêle bewar.« (ebd., V 177-185) Er folgt ihren Anweisungen, woraufhin sie den Priester kommen lässt, um dem Mann die Beichte abzunehmen (vgl. ebd., V 186f.). Der Priester verabreicht ihm die Sterbesakramente, der Ehemann wird auf die Bahre gelegt und in der Nacht wird die Totenwache abgehalten (vgl. ebd, V 195-210). Am nächsten Tag tritt die Trauergemeinde zusammen und trägt den Ehemann zum Friedhof. Er hält er es immer noch für eine Prüfung seiner Frau, selbst als er in das Grab hinabgelassen wird: dar nâch truoc man in ze grabe. / sie quâmen sîn beide gerne abe / daz wîp und ouch der pfaffe. / dannoch wânde der affe, / si versuohte in aber alsô / und wolde der nâch in machen vrô. / daz wolde er vil gewis hân. / sô lange hâte er den wân, / unz man in in daz grap huop / und in vil balde begruop. / dô ez im an die rehten nôt gie, / dô rief er ane alle die, / die umbe daz grap wâren. / er begunde sô gebâren, / als den dâ twinget der tôt. (ebd., V 217-231) Die Tat wäre in dieser Konstellation nicht möglich ohne einen weiteren Normverstoß des Priesters, der sein Kirchenamt zu seinem Vorteil missbraucht. Dieses befähigt ihn, die Handlung der Beerdigung vorzunehmen, ohne dass es jemand aus der Gemeinde hinterfragen würde. Ebenso missbraucht er die damit verbundene Deutungshoheit in Glaubensfragen, um der anwesenden Trauergemeinde zu versichern, die verzweifelten Schreie des begrabenen Ehemanns seien Ausdruck einer Besessenheit durch den Teufel: der pfaffe in allen gebôt, / daz si den segen vür sich tæten / und got vil tiure bæten, / daz er den tîvel dâ vertribe, / daz er iht lenger belibe / bî dem armen lîchnâmen. / »daz werde wâr. âmen«, / sprach dô man unde wîp. / alsô verlôs er sînen lîp. / swaz er gerief und geschrei, / sô sprâchen doch disiu zwei, / diu dâ westen diu mære, / daz ez der tîvel wære, / liezen in niht ûzgraben. (ebd., V 232-245) Weiterhin verstößt der Priester an dieser Stelle gegen das Fünfte Gebot („ Du sollst nicht töten! “) sowie das Achte Gebot („ Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten! “). Die Zehn Gebote stellen eine wichtige Rechtsquelle und ein Fundament der mittelalterlichen Kirchen-, Gesellschafts- und Rechtsordnung dar. Sie haben deshalb für den Priester als kirchlichen Würdenträger eine noch verbindlichere Wirkung und machen die Normverstöße in der Folge noch erheblicher als im Hinblick auf die Ehefrau, die ebenfalls gegen das Fünfte, Sechste sowie Achte Gebot verstoßen hat.

Die Drastik des Todes durch Begraben stellt die ultimative und für die Zuhörer*innen schockierende Strafe für die Schwäche des Ehemanns dar. Strickers Märe wirkt normstabilisierend, da sie dem mittelalterlichen Publikum auf drastische Weise die Konsequenzen des Verlassens der göttlichen Ordnung vor Augen führen soll. Sie dient daher als Mahnung, diese einzuhalten.20 Der Mann begibt sich in sein eigenes Unglück, indem er der Ehefrau die Macht innerhalb der Ehe überlässt. Der weitere Handlungsverlauf bis hin zur Katastrophe ergibt sich aus dem Machtvakuum, das der Ehemann hinterlässt und das von der Ehefrau – wenn auch grotesk überzeichnet – ausgenutzt wird. Diese Einordnung bekräftigt auch Der Stricker selbst in seinem kurzen Epimythion: Den schaden mouse er des haben, / daz er satzte ein tumbez wîp / ze meister über sînen lîp (ebd., V 246-248).

Die Körperstrafe des Todes durch Begraben ist konstituierend für dieses Märe. Die gesamte Konstellation – dabei vorrangig die Funktion der Figur des Priesters – ist auf diesen Moment ausgerichtet, was auch unschwer am Titel abzulesen ist. Daher kann das Märe weder ohne die Körperstrafe erzählt werden, noch kann diese Strafe beliebig durch eine andere ersetzt werden, ohne den Sinn der Erzählung zu verlieren.

2.2.2 Textanalyse und Interpretation des Märes Die böse Adelheid

Der Autor des Märes Die böse Adelheid ist nicht bekannt.21 Aufgrund des Lokalkolorits lässt sich jedoch die Region Augsburg als Enstehungsort annehmen (vgl. Grubmüller: Einzelkommentar zu „Die böse Adelheid“, in: Novellistik des Mittelalters, S. 1102). Bei der einzigen Handschrift, in der dieser Text überliefert wurde, handelt es sich um einen Teil einer Sammelhandschrift aus Nordschwaben, die weitere Texte aus dem 14. Jahrhundert beinhaltet. Deshalb ist diese Epoche auch als Entstehungszeitraum anzunehmen (vgl. ebd.).

Als zentrale Figurenkonstellation lässt sich ein Ehepaar feststellen (vgl. Böse Adelheid, V 1-3). Auffällig ist an dieser Stelle, dass beide Figuren benannt werden. Bereits im Promythion (vgl. ebd., V 1-10) wird der Ehemann als der guot Markhart (ebd., V 7) eingeführt, während seine Frau als diu übel Adelheit (ebd., V 9) vorgestellt wird. Hier ist eine deutliche Sympathielenkung zugunsten des Ehemannes erkennbar, welche während des gesamten Märes durchgehalten wird. Der Ehemann erscheint als geduldig, überlegt und klug.

Die Ehefrau hingegen wird im Verlauf der Erzählung mit weiteren negativen Merkmalen belegt. Ihre Boshaftigkeit wird dabei bereits im Promythion unterstrichen – an der Stelle: sie swuor bî irem libe, / daz si nimmer wolt werden guot (ebd., V 4f.). Weiterhin wird sie als störrisch und nicht folgsam dargestellt: die ungetruiwen Adelheit (ebd., V 160). An zwei Stellen beschreibt sie Markhart auch selbst als widerspæne (ebd., V 152 sowie V 170) – also ‚widerspenstig‘. Sogar unreiner haz (ebd., V 142) wird ihr durch den Erzähler attestiert. Als dritte Figur im Stück, der eine Sprechrolle zukommt, erscheint nach dem Verschwinden Adelheids ein Edelmann, der jedoch nur als ein berittener her (ebd., V 161) eingeführt wird, anonym bleibt und auch nicht näher beschrieben wird.

[...]


1 Fischer, Hanns: Studien zur deutschen Märendichtung, Tübingen 1983, S. 62f.

2 Der Stricker: Der begrabene Ehemann. Nach dem Text von Fischer/Jonata. In: Novellistik des Mittelalters; herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch; Bd. 47). Tübingen ³2017, S. 30-43. Im Folgenden: Novellistik des Mittelalters.

3 Der Stricker: Der kluge Knecht. Nach dem Text von Fischer/Jonata. In: Novellistik des Mittelalters, S. 10-29.

4 Der Stricker: Das heisse Eisen. Nach dem Text von Fischer/Jonata. In: Novellistik des Mittelalters, S. 44-55.

5 Der Stricker: Die drei Wünsche. Nach dem Text von Fischer/Jonata. In: Novellistik des Mittelalters, S. 56-69.

6 Der Stricker: Der arme und der reiche König. Nach dem Text von Fischer/Jonata. In: Novellistik des Mittelalters, S. 70-81.

7 Anonym: Das Schneekind. Nach dem Text von Klaus Grubmüller. In: Novellistik des Mittelalters, S. 82-93.

8 Herrand von Wildonie: Die treue Gattin. Nach dem Text von Hanns Fischer. In: Novellistik des Mittelalters, S. 96-111.

9 Rüdiger der Hünkhover: Der Schlegel. Nach dem Text von Ludwig Pfannmüller. In: Novellistik des Mittelalters, S. 112-177.

10 Konrad von Würzburg (zugeschrieben): Die halbe Birne. Nach dem Text von Klaus Grubmüller. In: Novellistik des Mittelalters, S. 178-207.

11 Anonym: Die böse Adelheid. Nach dem Text von Grubmüller / Niewöhner. In: Novellistik des Mittelalters, S. 208-219.

12 Anonym: Ritter Beringer. Nach dem Text von Karl Schorbach. In: Novellistik des Mittelalters, S.220-243.

13 Anonym: Die Buhlschaft auf dem Baume. Nach dem Text von Hanns Fischer. In: Novellistik des Mittelalters, S. 244-259.

14 Konrad von Würzburg: Herzmäre. Nach dem Text von Edward Schröder. In: Novellistik des Mittelalters, S. 262-295.

15 Anonym: Der Sperber. Nach dem Text von Heinrich Niewöhner. In: Novellistik des Mittelalters, S. 568-589.

16 Anonym: Das Häslein. Nach dem Text von Helmut de Boor. In: Novellistik des Mittelalters, S. 590-617.

17 Vgl. Grubmüller, Klaus: Einzelkommentar zu „Der Stricker: Der kluge Knecht“. In: Novellistik des Mittelalters, S. 1019f.

18 Vgl. Grubmüller, Klaus: Einzelkommentar zu „Der Stricker: Der begrabene Ehemann“. In: Novellistik des Mittelalters, S. 1030.

19 Vgl. Kochskämper, Birgit: Die germanistische Mediävistik und das Geschlechterverhältnis: Forschungen und Perspektiven. In: Honemann, Volker / Tomasek, Thomas (Hg.): Germanistische Mediävistik (= Münsteraner Einführungen: Germanistik, Bd. 4), Münster 2000, S. 332.

20 Vgl. Bein, Thomas: Germanistische Mediävistik. Eine Einführung, Berlin 2005, S. 53.

21 Vgl. Grubmüller, Klaus: Einzelkommentar zu „Die böse Adelheid“. In: Novellistik des Mittelalters, S. 1102.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Funktion und Klassifikation von Körperstrafen in der mittelalterlichen Märendichtung
Untertitel
"hilf, daz ich den lîp behalde"
Hochschule
Universität Regensburg  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Seminar „Geschlechter- und Standesnormen in der Kleinepik“
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
19
Katalognummer
V1031129
ISBN (eBook)
9783346434050
ISBN (Buch)
9783346434067
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutsche Philologie, Germanistik, Literatur, Literaturwissenschaft, Ältere Deutsche Literatur, Mediävistik, Märe, Mären, Märendichtung, Kleinepik, Epik, Der Stricker, Herrand von Wildonie, Konrad von Würzburg, Körperstrafe, Körperstrafen, Geschlecht, Geschlechternormen, Standesnormen, Mittelalter, Textanalyse
Arbeit zitieren
Falk Kurt Bräcklein (Autor:in), 2019, Funktion und Klassifikation von Körperstrafen in der mittelalterlichen Märendichtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1031129

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Funktion und Klassifikation von Körperstrafen in der mittelalterlichen Märendichtung



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden