Separatistische Bestrebungen und Europäische Menschenrechtskonvention

Die Verurteilung der katalanischen Separatisten durch das Spanische Oberste Gericht im Lichte der EMRK (Urteil 459/2019) vom 14. Oktober 2019


Hausarbeit (Hauptseminar), 2020

41 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung: Separatistische Bestrebungen in Katalonien 1

B. Europaische Menschenrechtskonvention 7
I. Die Freiheit der MeinungsauBerung 8
II. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit 9
III. Einschrankungen der Artikel 10 und 11 der EMRK 10
a. Art.10 11
b. Art.11 12

C. Rechtssprechung des EGMR in Bezug auf Art. 10 und 11 15
I. EGMR-Urteil uber das Parteiverbot der kurdischen DTP 15
II. Fall von Stankov und der UMO Ilinden gegen Bulgarien 17

D. Der Unabhangigkeitsprozess in Katalonien und die juristischen Folgen 21
I. Hintergrunde des Unabhangigkeitsprozesses im „HeiBen Herbst“ 2017 21
II. EGMR-Urteil (75147/17) vom 28.05.2019 22
III. Urteil des Spanischen Obersten Gerichts vom 14. Oktober 2019 23
IV. Stellungnahme zum Urteil 29
E. Fazit 35

Literaturverzeichnis

Bernecker, Walther L., Zwischen „Nation“ und „Nationalitat“: Das Baskenland und Katalonien, Aus Politik und Zeitgeschichte 36 37 (2010): 14-20.

Bianchin, Roberto, 'solo la Padania deve entrare in Europa', abgerufen von: https:// ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/1996/09/01/solo-la-padania-deve- entrare-in.html, (zuletzt am 8. Marz 2020).

Grabenwarter, Christoph/ Pabel, Katharina, Europaische Menschenrechtskonvention, 6. Auflage, Munchen 2012.

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Ehrke, Michael, Katalonien: Geld oder Identitat?, in: Internationale Politikanalyse. Friedrich-Ebert-Stiftung, Referat Westeuropa/Nordamerika, 2014 Berlin.

Herdegen, Matthias, Volkerrecht, 17. Auflage, Munchen 2018.

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Kimminich, Otto, Einfuhrung in das Volkerrecht, 6. Auflage, 1997 Tubingen.

MaaB, Gero, „Katalonien Von der Unabhangigkeitsillusion zur Zwangsverwaltung.“, in: Gehring, Kai et al. (Hrsg.), Am besten allein? Separatismus in Europa: Welche Krafte treiben die Unabhangigkeitsbewegungen an? Ifo Schnelldienst 70 23 (2017): 15-18.

Macher, Julia, Fur den inneren Frieden, abgerufen von: https://www.zeit.de/politik/ ausland/2019-02/manuel-marchena-spanien-prozess-unabhaengigkeit-katalonien/ komplettansicht, (zuletzt: 28. Februar 2020).

Meyer-Ladewig, Jens/ Nettesheim, Martin/ Raumer, Stefan von (Hrsg.), EMRK.

Europaische Menschenrechtskonvention, 4. Auflage, Baden-Baden 2017.

PreuB, Ulrich K., Kataloniens Kampf geht nicht um Freiheit, sondern um Identitat, abgerufen von: https://verfassungsblog.de/spanische-tragoedie/, (zuletzt: 5. Marz 2020).

Seixas, Xose M. Nunez, Die bewegte Nation: Der spanische Nationalgedanke 1808-2019. 2019 Hamburger.

Urban, Thomas, Richter urteilen ungewohnlich hart gegen Separatisten, abgerufen von: https://www.sueddeutsche.de/politik/katalonien-prozess-madrid-haftstrafen- separatisten-1.4640160 (zuletzt: 20. Februar 2020).

Zelik, Raul, Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart, 2018 Berlin.

Abkurzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einleitung: Separatistiscie Bestrebungen in Katalonien

Ab Mitte der 2000er Jahre hat sich der Katalonien-Konflikt zunehmend aufgeladen. Zwar reicht der innerspanische Konflikt zwischen politischem Zentrum und der peripheren Region Kata- lonien weit in die Geschichte Spaniens zuruck. Doch politische Zerwurfnisse, Wirtschaftskrise und eine aufgezwungene Austeri- tatspolitik haben den schwelenden Konflikt ab Mitte der 2000er erneut entfacht und der Unabhangigkeitsbewegung neuen Auf- schwung verliehen.1 Sprachen sich 2009 17 Prozent der Katala- nen fur eine Unabhangigkeit aus, waren es 2014 bereits 52 Pro- zent.2 3

Fur wachsenden Unmut in der katalanischen Offentlichkeit sorgte das Tauziehen um die Anderung des Autonomiestatuts von Katalonien. Nach leidenschaftlichen Debatten hatte das ka- talanische Parlament am 30. September 2005 mit einer Mehrheit von fast 90 Prozent einen Entwurf eines neuen Autonomiesta- tuts, in dessen Verfassungstext Katalonien als Nation deklariert wurde, verabschiedet.3 Eine Anderung des Autonomiestatuts, das die grundlegende institutionelle Norm der jeweiligen Auto­nomen Gemeinschaft bildet und in Artikel 147 als ein integraler Bestandteil der Spanischen Verfassung anerkannt wird,4 benotigt sowohl die Zustimmung vom katalanischen Regionalparlament als auch vom spanischen Parlament; folglich wurde das Auto- nomiestatut nach langen Debatten und einer weitgehenden Uberarbeitung des Gesetzestextes schlieBlich auch vom Spani- schen Parlament mit den Stimmen der Regierungsparteien unter Zapatero und der spanischen Linken CIU 2006 angenommen.4 5

Die ursprungliche Formulierung des katalanischen Statutenent- wurfs „Katalonien ist eine Nation“ wurde in der Endfassung des vom Spanischen Parlaments verabschiedeten Gesetzes in fol- gende Formulierung modifiziert: „Katalonien als Nationalitat ubt seine Selbstregierung in der Form einer Autonomen Ge- meinschaft in Ubereinstimmung mit der Verfassung und mit dem vorliegenden Statut aus, das seine grundlegende Identitatsnorm darstellt“.6

Trotz der weitgehenden Anderungen des Vertragstextes, mit denen unter anderem Katalonien als Nationality und nicht als Nation bezeichnet wurde, reichte der konservative PP 2006 ge- gen das neu verabschiedete Autonomiestatut Kataloniens einen Normenkontrollantrag ein, woraufhin das Spanische Verfas- sungsgericht nach vier Jahren Uberprufung 2010 14 Artikel des bereits modifizierten Autonomiestatuts fur verfassungswidrig erklarte.7 Dieses Urteil sorgte in der katalanischen Offentlichkeit selbstredend fur Missmut und Unverstandnis.8 Die Wirtschafts- krise, unter der besonders die Region Katalonien litt, verstarkte den Unmut in der katalanischen Gesellschaft, wodurch die sepa- ratistische Unabhangigkeitsbewegung an Auftrieb gewann. 2010 demonstrierten 1,5 Millionen Menschen unter dem Motto „Wir sind eine Nation. Wir entscheiden“(Som una nacio. Nasaltres decidem)9 ; darin wurde die zunehmende Entfremdung der kata- lanischen Bevolkerung zu den spanischen Institutionen deutlich.

Nach der GroBdemonstration gegen das Urteil des Spanischen Verfassungsgerichtes verlagerte sich der Protest auf die StraBe. Mehrere gesellschaftliche Gruppierungen und Organisationen mobilisierten ab dem 11. September 2012 zum katalanischen Nationalfeiertag, Diada Nacional de Catalunya, jedes Jahr mehr als eine Millionen Menschen, womit sie den breiten gesell- schaftlichen Ruckhalt der Bewegung sowie deren politische Ambivalenz unter Beweis stellten.10 Der milieuubergreifende Charakter druckte sich darin aus, dass neben wohlhabenden Burgern sich auch Lateinamerikaner, neben Rentnerinnen und Rentnern sich auch Jugendliche und Studenten versammelten. Mit der Radikalisierung der Unabhangigkeitsforderung verschob sich der Diskurs eines ethnizistischen katalanischen Identitats- begriffs zu einem nicht-essenzialistischen Souveranitatsbegriff.11 Carles Puigdemont, der aufgrund einer Verkettung von Ereignis- sen, in denen Arturo Mas in Folge von Korruptionsvorwurfen zurucktreten musste, als Regierungschef neu gewahlt wurde,12 stellte in einem Spiegel-Interview klar, dass die katalanische Unabhangigkeitsbewegung nicht ethnizistischer Natur sei. Demnach sei der katalanische Nationalismus nicht ethnisch und Katalane sei jeder, der in Katalonien lebe und arbeite.13

Carles Puigdemont avancierte schlieBlich zur Schlusselfigur im katalanisch-spanischen Konflikt, der seinen Hohepunkt im „heiBen Herbst“14 in Folge der Abhaltung des illegalen Referen­dums am 1. Oktober 2017 fand. Dem illegalen Referendum war bereits am 9. November 2014 eine Volksbefragung ohne rechtli- che Bindung vorangegangen, die von der katalanischen Regio- nalregierung als ein Burgerbeteiligungsprozess bezeichnet wur- de; daran hatten sich 2,3 Millionen von den 5,5 Millionen Wahl- berechtigten beteiligt und zu 80 Prozent fur die Unabhangigkeit gestimmt.15 Im Herbst 2017 schlieBlich fuhrte Carles Puigde- mont trotz Verbots des Spanischen Verfassungsgerichts (Tribu­nal Constitucional) das Referendum durch.16 Die Regierung Pu- igdemonts hatte den Wahltermin nur wenige Wochen vor dem Referendum offentlich gemacht, um die Reaktionszeit Madrids zu verkurzen. Doch das Spanische Verfassungsgericht hatte in einem Eilverfahren schnell reagiert und das geplante Referen­dum im Vorhinein fur verfassungswidrig erklart.

Trotz eines massiven Aufgebots an Sicherheitskraften fuhrten die katalanischen Separatisten das Referendum durch. Obgleich die Polizeieinheiten der Polida Nacional und Guardia Civil hart durchgriffen und auf Ersuchen des Innenministeriums Wahlloka- le besetzten, Wahlurnen konfiszierten, ganze Server sperrten und die Wahlerinnen und Wahler mit physischer Gewalt daran hin- derten, in die Wahllokale zu gelangen, lag die Wahlbeteiligung bei 43%, von denen sich 90% fur eine Unabhangigkeit ausspra- chen.17 Das harte Durchgreifen der Polizeieinheiten, bei denen sich uber 1000 Demonstranten verletzten, stieB international auf Verwunderung und Irritation. Die verstorenden Bilder gingen um die Welt und wirkten als Katalysator im ohnehin schon auf- geheizten Konflikt. Journalisten sprachen angesichts der Poli- zeigewalt von einem „Way of no Return“.18 Die Regionalregie- rung scheute sich vorerst, die Republik Katalonien auszurufen und wendete sich an Brussel. Doch die EU-Kommission unter Jean-Claude-Juncker ging nicht darauf ein und belieB es als eine innere Angelegenheit Spaniens.19 Am 3. Oktober goB der Konig Felipe von Spanien in seiner umstrittenen Fernsehansprache, in der er nicht zur Versohnung aufrief, sondern den Katalanen mit weitreichenden Konsequenzen drohte, weiter Ol ins Feuer.

Am 10. Oktober wurde eine Erklarung von Puigdemont mit groBer Spannung erwartet, in der er das Referendum als „legales demokratisches Mandat“20 bezeichnete, aber die Unabhangig- keitserklarung zunachst aussetzte, um einen Dialog mit Madrid zu ermoglichen. Einen Tag darauf am 11. Oktober reichte Puig- demont mit seinen Mistreitern Klage beim EGMR gegen das Urteil des Spanischen Verfassungsgerichtes ein, auf die der EGMR zwei Jahre darauf mit einem eigenen Urteil reagierte.21 Nachdem sich der Druck auf Puigdemont erhohte, erklarte er am 27. Oktober schlieBlich mit 70 von 135 Stimmen des Regional- parlaments die Unabhangigkeit Kataloniens.22 Die Opposition, die sich gegen das Vorhaben ausgesprochen hatte, hatte aus Pro­test den Saal verlassen. Die Reaktion der Zentralregierung aus Madrid lieB nicht lange auf sich warten: Noch am selben Tag stimmte Spaniens Senat unter Berufung von Art. 155 der spani- schen Verfassung fur die Zwangsverwaltung Kataloniens. PP hatte sich bereits im Vorhinein mit dem PSOE abgesprochen. Infolgedessen verhangte die Madrider Zentralregierung die Zwangsverwaltung. Damit wurde die Regierung von Puigde- mont abgesetzt, das Parlament aufgelost und Neuwahlen fur den 21. Dezember ausgerufen. Zudem wurden fuhrende Kabinetts- mitglieder und Separatistenfuhrer per Haftbefehl gesucht, wor- aufhin sich Puigdemont mit einigen Ministern nach Brussel ab- setzte.

Der Oberste Gerichtshof in Spanien (Tribunal Supremo) verur- teilte am 14. Oktober 2019 zwolf Mitglieder der Separatistenre- gierung und politische Aktivisten zu langjahrigen Haftstrafen. Die Anklagepunkte des Gerichts waren: Aufruhr im Sinne einer tumultartigen Erhebung, Veruntreuung offentlicher Gelder und politischer Ungehorsam gegenuber dem Spanischen Verfas- sungsgericht. Von der Verurteilung wegen des Vorwurfs der Re­bellion, die mit Gefangnisstrafen bis zu 25 Jahre Haft geahndet wird, sahen die Richter ab.23 Die Verurteilten gingen in den Ver- antwortungsbereich der katalanischen Justiz uber, in deren Kompetenzbereich obliegt, ob Haftverschonung, Haftlockerung oder sogar vorzeitige Haftentlassung gewahrt wird.24 Katalani- sche Politiker auBerten in Folge des Prozesses den Vorwurf, dass das Oberste Spanische Gericht politisch geurteilt habe. So kommentierte Quim Tora, Nachfolger von Puigdemont und Pra- sident der Generalitat, die Gerichtsurteile mit folgenden Worten: „Wir lehnen diese Urteile als ungerecht und undemokratisch ab“.25 Dem emeritierten Professor Ulrich K. PreuB hatte der spanischen Haftbefehl gegen Puigdemont groBe Sorge bereitet, der nach seiner Meinung „auf einer rechtlich hochst zweifelhaf- ten, aber politisch von bestimmten Kraften erstrebten Gesetzes- auslegung“26 beruhen wurde. Auf der anderen Seite hatten der spanischen Tageszeitung El Pa^s zufolge 400 der 550 spanischen Volkerrechtsprofessoren eine Erklarung unterschrieben, dass das Referendum einer volkerrechtlichen Grundlage entbehrt habe.27 Demnach lasst sich sagen, dass der Katalonien-Konflikt und insbesondere das Urteil unterschiedlich aufgenommen wurde. Die Urteilsbegrundung naher zu beleuchten ist daher von groBer Relevanz.

Ziel dieser Seminararbeit ist es, die Urteile des Spanischen Obersten Gerichts aus einer volkerrechtlichen Perspektive im Lichte der Europaischen Menschenrechtskonvention - insbe- sondere der Menschenrechte der freien MeinungsauBerung so- wie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit - zu beurtei- len. Demnach werden im nachfolgenden Kapitel die Artikel 10 und 11 der Europaischen Menschenrechtskonvention durch- leuchtet und dabei Prazedenzfalle wie the case of Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden v. Bulgaria28 her- angezogen, um anhand von exemplarischen Urteilen, die zu- sammenfassend dargestellt werden, sich des aktuellen Stands der bisherigen Rechtssprechung des EGMR zu vergegenwartigen. Im Anschluss daran wird im Hauptteil der vorliegenden Semi- nararbeit das Urteil des Spanischen Obersten Gerichts (Urteil 459/2019) im Lichte dieser beiden Artikel untersucht. In der Stellungnahme zum Urteil wird die Urteilsbegrundung kritisch durchleuchtet, bevor im abschlieBenden Kapitel ein kurzes Fazit die Seminararbeit abrundet.

B. Europiiscie Menscienrecitskonvention

Die Europaische Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat am 3. Sep­tember 1953 in Kraft.29 Sie gilt als „Meilenstein in der Entwick­lung des regionalen Menschenrechtsschutzes“30 und tragt den offiziellen Titel „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“.31 In Artikel 1 sichern die Vertragsstaaten „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Ab- schnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu“.32 Damit schafft „die Konvention eine unmittelbare Garantie der Menschenrechte fur die in ihrem Geltungsbereich befindlichen Einzelpersonen ohne Rucksicht auf deren Staatsangehorigkeit“.33 Auf Grundlage der EMRK wurde der Europaische Gerichtshof fur Menschen- rechte (EGMR) in StraBburg von den Mitgliedsstaaten des Eu- roparats errichtet, um die Einhaltung der EMRK sicherzustel- len.34 Demnach steht jeder naturlichen oder juristischen Person, Personenvereinigung oder NGO der Rechtsweg offen und diese kann Klage beim EGMR einreichen, sofern der nationale Rechtsweg ausgeschopft wurde.34 35 Zudem konnen auch Mit- gliedsstaaten eine Klage einreichen. Damit weist die EMRK einzigartige Zuge auf.

Zwei Grundrechte aus dem Menschenrechtskatalog sind das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die in Artikel 10 und 11 der EMRK verankert sind.36

I. Die Freiheit der Meinungsaufierung

Die Interpretation und Anwendung des Artikels 10 der EMRK erfolgt in der Rechtssprechung des EGMR vor dem Hintergrund seiner demokratischen Grundanschauung. Demnach sind die Werte und Ideale einer demokratischen Gesellschaft von der EMRK zu schutzen.37 Pluralismus, Toleranz, Aufgeschlossenheit bzw. Weltoffenheit seien fur eine demokratische Gesellschaft dabei charakteristisch.38 Die Problemlosung solle ebenso ge- waltfrei und durch Dialog erfolgen; denn zum Wesen der Demokratie gehore Meinungsverschiedenheit dazu39 und das Herz- stuck der demokratischen Gesellschaft sei dabei die politische Debatte.40

In Artikel 10 der EMRK werden im Grunde alle Kommunika- tionsfreiheiten geschutzt. Darin lassen sich im engeren Sinn ne- ben „der Freiheit der MeinungsauBerung [...] die Informations- freiheit, die Freiheit der Kommunikation durch Massenmedien sowie Teile der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit“41 zusammen- fassen. Im weiteren Sinn umfasst sie „jede Form der Kommuni- kation im zwischenmenschlichen Bereich“.42

II. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 der EMRK gehort wie die Meinungsfreiheit zu den politischen Grundrechten und dient mit den Kommunikationsfreiheiten ins- besondere der Sicherung des Kommunikationsprozesses.43 Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit liegen eng beieinander.

Fur den EGMR ist die Versammlungsfreiheit fur das politische und gesellschaftliche Leben innerhalb des demokratischen Sys­tems von grundlegender Bedeutung; die Freiheit, sich friedlich zu versammeln, ist Ausdruck demokratischer Willensbildung und stellt fur den demokratischen Meinungsbildungsprozess eine Grundvoraussetzung dar. Sie wird vom EGMR als funda­mentales Recht in einer demokratischen Gesellschaft aner- kannt44, und zwar selbst dann, wenn Versammlungen im Einzel- fall gewaltsam sind oder sich gegen die Demokratie richten, so­lange sie nicht die Grundfesten der Demokratie untergraben.45 Zudem kommt es darauf an, ob die Veranstalter friedliche Ab- sichten haben; ist dies der Fall, genieBen die Veranstaltungen den Schutz der EMRK, selbst dann, wenn sich gewaltbereite Personen unter die Teilnehmer mischen; die Veranstalter und Teilnehmer genieBen demnach den Schutz von Art.11.46

Die Vereinigungsfreiheit hingegen garantiert das Recht, sich mit anderen Menschen zusammenzuschlieBen, um ein gemein- sames Ziel zu erreichen.47 Vereinigungen sind demnach insbe- sondere politische Parteien, Vereine oder Interessengruppen. Zudem sind ausdrucklich in Art. 11 die Gewerkschaften ge- schutzt, die in Absatz (1) genannt werden und die beruflichen Interessen der Mitglieder vertreten.48

III. Einschrankungen der Artikel 10 und 11 der EMRK

Zwar betrachtet der EGMR die Artikel 10 und 11 der EMRK als fundamentale demokratische Rechte, die einen besonders hohen Schutz genieBen. Doch konnen sie in bestimmten Fallen Einschrankungen unterliegen. Den Staaten kommt dabei ein ge- wisser, aber kein unbeschrankter Ermessensspielraum zu, in be- stimmten Fallen zu beurteilen, ob die Notwendigkeit einer Ein- schrankung der Meinungsfreiheit und der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft gegeben ist.49

a. Art. 10

Trotz des gewissen Beurteilungsspielraums, der den Staaten zugestanden wird, zu beurteilen, inwiefern ein Eingriff in Art. 10 in einer demokratischen Gesellschaft fur notwendig zu erachten ist, wendet der Gerichtshof insbesondere bei Volksvertretern und Oppositionspolitikern einen strikten MaBstab an.50 Besonders sorgfaltig pruft der EGMR Falle, die die Veroffentlichungen von Meinungen51 oder die Vertraulichkeit journalistischer Quellen betreffen.52 Eingriffe des Art. 10 sind lediglich dann zulassig, „wenn sie sich innerhalb der formellen und materiellen Schran- ken des Art. 10 bewegen“53 und analog zu den Garantien des Art. 11 dem Gesetzesvorbehalt seines zweiten Absatzes unter­liegen, namlich sofern die notwendigen Bedingungen in einer demokratischen Gesellschaft gegeben sind.54 Eingriffe in Art. 10 sind also nur in den Fallen mit der EMRK zu vereinbaren, bei denen die in Abs. 2 des Art. 10 aufgezahlten Ziele verfolgt wer- den und die daruber hinaus gesetzlich vorgesehen sind, einem legitimen Zweck dienen und verhaltnismaBig sind.55 Diese legi- timen Ziele sind gemaB Art. 10, Abs. 2 die nationale und offent- liche Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit, die Aufrechter- haltung der Ordnung, die Verbrechensverhutung, der Schutz der Gesundheit oder der Moral, der Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer sowie die Verhinderung der Verbreitung vertrau- licher Informationen und schlieBlich die Wahrung der Autoritat und der Unparteilichkeit der Rechtssprechung.56

Falls eines der genannten legitimen Ziele zutrifft, pruft der EGMR in einem letzten Schritt den Eingriff in die Meinungs- freiheit nach VerhaltnismaBigkeit. Dabei wird „das Grundrecht auf freie MeinungsauBerung in engen thematischen Zusammen- hang mit dem Leitbild der demokratischen Gesellschaft gestellt“.57 Der EGMR versucht dabei den ubergeordneten de- mokratischen Zusammenhang mit zu berucksichtigen und die Rechtssprechung im Sinne der Demokratieforderung zutraglich auszuuben. Einen Aspekt, den der EGMR mit in Betracht zieht, ist demnach der sogenannte „chilling effect“; namlich der ab- schreckende Effekt, den Sanktionen fur Personen fur spatere MeinungsauBerungen haben konnen. In diesem Fall werden sol- che Auswirkungen in der VerhaltnismaBigkeitsprufung beruck- sichtigt. Der EGMR versucht in der Regel diesen Effekt weitge- hend einzugrenzen. Insbesondere Journalisten, die Missstande aufdecken, oder Oppositionelle, die die Regierung kritisieren, genieBen dabei einen hohen Schutz, weil sie eine wesentliche Funktion in der demokratischen Gesellschaft einnehmen.58

[...]


1 Vgl. Ehrke, Katalonien: Geld oder Identitat?, S.1.

2 Vgl. Ebd.

3 Vgl. Bernecker, Zwischen "Nation" und "Nationalitat": das Baskenland und Katalonien, S.6.

4 Siehe: Spanische Verfassung, Artikel 147 Abs. 1, abgerufen von: https://www.boe.es/legislacion/documentos/ConstitucionA- LEMAN.pdf (zuletzt:20. Februar 2020).

5 Vgl. Seixas, Die bewegte Nation, S.174.

6 Bernecker, Zwischen "Nation" und "Nationalitat": das Baskenland und Ka- talonien, S.6.

7 Vgl. Zelik, Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart, S.174.

8 Vgl. Seixas, Die bewegte Nation, S.174.

9 Zelik, Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart, S.175.

10 Vgl. Zelik, Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart, S.177.

11 Vgl. Ebd., S.178.

12 Vgl. Ebd., S.188.

13 Vgl. Ebd., S.178.

14 Seixas, Die bewegte Nation, S.225.

15 Vgl. Zelik, Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart, S.182.

16 Vgl. Seixas, Die bewegte Nation, S.225.

17 Vgl. MaaB, Katalonien Von der Unabhangigkeitsillusion zur Zwangsver- waltung, in: Gehring, Kai et al. (Hrsg.), Am besten allein? Separatismus in Europa: Welche Krafte treiben die Unabhangigkeitsbewegungen an?, S.15.

18 Vgl. Zelik, Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart, S.197.

19 Vgl. Ebd., S. 198.

20 Zelik, Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart, S.198.

21 Der Europaische Gerichtshof fur Menschenrechte (EGMR) lehnte am 28. Mai 2019 die Beschwerde des katalanischen Separatistenfuhrers Carles Puig- demont ab.

22 Vgl. MaaB, Katalonien Von der Unabhangigkeitsillusion zur Zwangsver- waltung, in: Gehring, Kai et al. (Hrsg.), Am besten allein? Separatismus in Europa: Welche Krafte treiben die Unabhangigkeitsbewegungen an?, S.16.

23 Vgl. MaaB, Katalonien Von der Unabhangigkeitsillusion zur Zwangsver- waltung, in: Gehring, Kai et al. (Hrsg.), Am besten allein? Separatismus in Europa: Welche Krafte treiben die Unabhangigkeitsbewegungen an?, S.18.

24 Dugge, Barcelona. Urteil treibt Katalanen auf die StraBe, abgerufen von: https://www.tagesschau.de/ausland/katalanen-separatisten-urteile-103.html (zuletzt:20. Februar 2020).

25 Urban, Richter urteilen ungewohnlich hart gegen Separatisten, abgerufen von: https://www.sueddeutsche.de/politik/katalonien-prozess-madrid-haftstra- fen-separatisten-1.4640160 (zuletzt: 20. Februar 2020).

26 PreuB, Kataloniens Kampf geht nicht um Freiheit, sondern um Identitat, abgerufen von: https://verfassungsblog.de/spanische-tragoedie/, (zuletzt: 5. Marz 2020).

27 El Pais, 400 profesores de Derecho International desmontan los fundamen- tos del referendum catalan, abgerufen von: https://elpais.com/politica/ 2017/09/26/actualidad/1506424550_261561.html (zuletzt: 18. Februar 2020).

28 EGMR, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden v. Bul­garia, Urteil vom 02.10.2001, Nr. 29221/95 and Nr. 29225/95, Rn. 109.

29 Vgl. Kimminich, Einfuhrung in das Volkerrecht, S.354.

30 Herdegen, Volkerrecht, S.394.

31 Kimminich, Einfuhrung in das Volkerrecht, S.354.

32 EMRK Art.1

33 Kimminich, Einfuhrung in das Volkerrecht, S.354.

34 Vgl. Der Europaische Gerichtshof fur Menschenrechte, abgerufen von: https://www.coe.int/en/web/portal/gerichtshof-fur-menschenrechte (zuletzt: 21. Februar 2020).

35 Vgl. Grabenwarter/ Pawel, Europaische Menschenrechtskonvention, S.59.

36 EMRK Art.10, Art.11

37 Vgl. Meyer-Ladewig et al., EMRK. Europaische Menschenrechtskonventi- on, S.389 ff.

38 Vgl. Ebd., EGMR, Parti Populaire Democrate-Chretien/Moldawien, Urteil vom 14.02.2006, Nr. 28793/02, Rn.64.

39 Vgl. Ebd., EGMR, Centro Europa7s.r.l ua/Italien, Urteil vom 7. Juni 2012, Nr. 38433/09, Rn.129.

40 Vgl. Ebd., EGMR, Sik/Turkei, Urteil vom 8.07.2014, Nr. 53413/11, Rn.104.

41 Grabenwarter/ Pawel, Europaische Menschenrechtskonvention, S.381.

42 Ebd., S.382.

43 Vgl. ebd., S.432 ff.

44 Vgl. Ebd., S.433, EGMR, Sergey Kuznetsov ./. RUS, Urteil vom 23.10.2008, Nr. 10877/04, Rn.39.

45 Vgl. Ebd., EGMR Faber./.HUN, Urteil vom 24.07.2012, Nr. 40721/08, Rn.37; EGMR, Kudrevicius./.LIT, Urteil vom 26.22.2013, Nr. 37553/05, Rn.82.

46 Vgl. Meyer-Ladewig et al., EMRK. Europaische Menschenrechtskonventi- on, S.422.

47 Vgl. Ebd., S.423, EGMR, Republikanische Partei Russlands/ Russland. Zur Parteienfinanzierung, Urteil vom 12.04.2011, Nr. 12976/07, Rn.78; EGMR, Nationalistische Partei des Baskenlandes - Regionalorganisation Iparraldel/ Frankreich, Urteil vom 7.06.2007, Nr. 71251/01.

48 Vgl. Meyer-Ladewig et al., EMRK. Europaische Menschenrechtskonventi- on, S.423.

49 EGMR, Bspw. Affaire Barraco c. France, Urteil vom 05.03.2009, Nr. 31684/05, Rn.176.

50 Vgl. Meyer-Ladewig et al., EMRK. Europaische Menschenrechtskonventi- on, S.400.

51 Vgl. Ebd., EGMR, Ahmet Yildirim/ Turkei., Urteil vom 18.12.2012, Nr. 3111/10, Rn.47. Der EGMR verurteilte das Verbot der Veroffentlichung einer Zeitung als einen unverhaltnismaBigen Eingriff in die Pressefreiheit und Ver- stoB der EMRK und wertete den Eingriff als staatlich gelenkte Zensur.

52 Vgl. Ebd., EGMR, Ressiot/ Frankreich, Urteil vom 28.12.2012, Nr. 15054/07, Rn.102.

53 Grabenwarter/ Pawel, Europaische Menschenrechtskonvention, S.392.

54 Vgl. ebd.

55 Vgl. ebd.

56 Vgl. EMRK, Art. 10, Abs. 2.

57 Grabenwarter/ Pawel, Europaische Menschenrechtskonvention, S.396.

58 Vgl. ebd., S.436.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Separatistische Bestrebungen und Europäische Menschenrechtskonvention
Untertitel
Die Verurteilung der katalanischen Separatisten durch das Spanische Oberste Gericht im Lichte der EMRK (Urteil 459/2019) vom 14. Oktober 2019
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Veranstaltung
Völkerrecht - Quellen, Prinzipien, aktuelle Entwicklungen
Note
1,7
Autor
Jahr
2020
Seiten
41
Katalognummer
V1031975
ISBN (eBook)
9783346447685
ISBN (Buch)
9783346447692
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Völkerrecht, Katalonienkonflik, Katalonien, Unabhängigkeitsbestrebungen, katalanische Separatisten, Europäische Menschenrechtskonvention
Arbeit zitieren
Stefan Metz (Autor:in), 2020, Separatistische Bestrebungen und Europäische Menschenrechtskonvention, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1031975

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Titel: Separatistische Bestrebungen und Europäische Menschenrechtskonvention



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