Leseprobe
Inhalt
1 Einführung
2 Begriffserklärung
2.1 Das Empowerment-Konzept
2.2 Der aktivierende Wohlfahrtsstaat
3 Das Empowerment-Konzept im Rahmen der aktivierenden Gesundheitspolitik
4 Der minimale Sozialstaat
5 Die Rolle der Sozialen Arbeit in einem aktivierenden Sozialstaat und in der Gesundheitspolitik
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einführung
Durch Begriffe wie ,Partizipation‘, ,Ressourcenorientierung‘, ,Selbsthilfe‘ und ,Aktivierung‘ dominiert das Empowerment-Konzept seit den 1990er-Jahren den theoretischen Diskurs und die Praxis der Sozialen Arbeit. Das Konzept ist ein handlungsleitendes Plädoyer für einen aktivierenden Sozialstaat und eine aktivierende Sozialpolitik sowie für eine partizipa- tive, aktivierende Soziale Arbeit fernab von defizitorientierten Ansichten und der „Vorherrschaft der Experten, die zu einer Erosion alltagsweltlicher Fähigkeiten führt" (Galuske 2005, S. 269).
Aber gerade in der sozialpolitischen Diskussion sorgt Empowerment für mehrere Kontroversen und widersprüchliche Auslegungen seiner Prinzipien. Aufgrund seiner begrifflichen Unschärfe wird Empowerment vorgeworfen, dass es zur Usurpation des traditionellen Wohlfahrtsstaates beitrage, indem es der neoliberalen Politik eine theoretische Grundlage anbietet. Diese hat das Konzept in ihrer Agenda und als Argumentation für einen minimal schlanken Sozialstaat übernommen und die entsprechende Semantik für sich genutzt (vgl. Stark 2011, S. 217). Trotzdem wird Empowerment weiterhin sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sozialen Arbeit verbreitet genutzt und von mehreren Organisationen des Sozialbereichs in ihrem Leitbild integriert (vgl. OXFAM 2020). Fachkräfte werden ständig ermutigt, durch verschiedene Projekte und Vorträge in ihrer Praxis Empowerment-orientiert zu handeln (vgl. BKK 2018).
Soziale Arbeit steht mit dem Gesundheitswesen in starker Verbindung, was in all ihren Bereichen zum Ausdruck kommt - seien es ambulante, teilstationäre oder stationäre Einrichtungen. Sie wird hauptsächlich dann tätig, wenn die Menschen krankheitsbedingt ihr lebensweltliches Gleichgewicht verlieren oder zu verlieren drohen. Durch gezielte sozialar- beiterische gesundheitsfördernde, präventive oder rehabilitative Interventionen wird aktiv dagegen kämpft, solchen ungünstigen Zuständen vorzubeugen (vgl. Homfeldt 2012, S. 489). In diesem Zusammenhang stellt sich in Hinblick auf die Soziale Arbeit im Gesundheitswesen die Frage, welche Rolle das Empowerment in dem Spannungsfeld zwischen dem aktivierenden Wohlfahrtsstaat und dem minimalen Sozialstaat einnimmt. Im vorgegebenen Rahmen wird durch diese Arbeit das Ziel verfolgt, einen groben Überblick über die aktuelle gesundheitspolitische Debatte zu verschaffen und die darauffolgenden Implikationen für die Soziale Arbeit im Gesundheitswesen darzustellen sowie kritisch zu reflektieren.
2 Begriffserklärung
Zuerst müssen einige der Hauptbegriffe dieser Arbeit definiert und dargestellt werden, um Zusammenhänge zwischen ihnen analysieren und ein Gesamtbild der Problematik herzustellen und diese kritisch betrachten zu können.
2.1 Das Empowerment-Konzept
Empowerment ist ein Begriff, der seine Ursprünge in der Gemeinwesenarbeit längst überschritten hat, sowie heute fast inflationär außerhalb der Sozialen Arbeit benutzt wird und zum Mode-Konzept geworden ist (vgl. Enggruber o. J., S. 1). Abgeleitet von der Semantik des englischen Wortes ,empower‘ bedeutet das Wort, einen Menschen zu befähigen, ihn zu ermächtigen und seine Autonomie und Selbstständigkeit zu steigern, sodass dieser Mensch souverän und emanzipiert ein selbstbestimmtes Leben führen kann (vgl. Herriger 2014, S. 13). Diese rein terminologische Verortung wird allerdings in der Fachliteratur kontrovers diskutiert und führt zu widersprüchlichen Auslegungen in die Theoriebildung, der Methodik und der Praxis der Sozialen Arbeit (vgl. Galuske 2013, S. 8). An diesem Punkt starten die theoretischen Unstimmigkeiten über Empowerment, da es über keine klare, allgemein akzeptierte Definition verfügt, ihm eine systematische Einordnung fehlt und der Begriff somit viel Raum für „wiederstreitende Interpretationen und ideologische Rahmungen" (Herriger 2014, S. 13) erlaubt.
Ausschließlich aus dem Blickwinkel der Sozialen Arbeit betrachtet, beinhalten die theoretischen Auseinandersetzungen mit Empowerment und die Definitionsversuche grundsätzlich folgende Positionierungen: Zum einen gibt es die Autor_innen (vgl. Pankofer 2000, S. 13), die Empowerment sowohl als Haltung als auch als Handlungsweise für die Praxis verstehen und es somit für die Soziale Arbeit als von großer Relevanz sehen. Auf eine ähnliche Position situiert sich Stimmer (vgl. 2012, S. 154 ff.). Er sieht das Konzept sowohl als Arbeitsprinzip als auch als ein handlungsleitendes Konzept der Sozialen Arbeit, das aus den theoretischen Abwägungen abgeleitet und in der Praxis erprobt zu einem bedeutsamen Anbieter für die fallbezogenen Rahmenbedingungen geworden ist. Herringer (vgl. 2014, S. 13) auf der anderen Seite definiert Empowerment als „eine offene normative Form", „ein Begriffsregal, das mit unterschiedlichen Grundüberzeugungen, Werthaltungen und moralischen Positionen aufgefüllt werden kann" (ebd.). Galuske (vgl. 2013, S. 8) stuft Empowerment eher als eine stark konzeptionelle und normative Orientierung ein. Es könne aber weder als Methode noch als professionelles Werkzeug der Sozialen Arbeit betrachtet werden und habe deshalb zu vielen Kontroversen und Missverständnissen zwischen Fachleuten geführt. Folglich verzichtet Galuske auf eine Ausführung des Konzeptes in seinem jüngsten Buch über die Methoden der Sozialen Arbeit (ebd.).
Für die begriffliche Eingrenzung hilft allerdings die Betrachtung der Ziele und theoretischen Hintergründe von Empowerment, einem Punkt, in dem sich der Großteil der Autor_innen einigen konnte. Empowerment wird als Chance für die Betroffenen gesehen, sich von der defizitorientierten Ansicht zu entfernen sowie ihre Ressourcen in den Mittelpunkt zu stellen, um mehr Selbstbestimmung und Kontrolle über ihre eigene Lebensführung zu gewinnen (vgl. Galuske 2005, S. 270). Von der grundlegenden Annahme ausgegangen, dass die soziale und psychologische Anerkennung sowie Stärkung von Ressourcen die Aktivierung und vermehrte Partizipation der benachteiligten Menschen anregt, zielt Empowerment auf eine Umverteilung der Machtverhältnisse und darauf, die Verantwortung für ein würdiges Leben und individuell selbstbestimmte Lebensqualität an die Betroffenen zurückzugeben (vgl. Sohns 2009, S. 77).
Die Ziele des Empowerments lassen sich aus drei Hauptperspektiven auffassen: Erstens ist die Ressourcenorientierung zum Leitmotiv des Konzeptes geworden. Die Förderung und Enthüllung individueller, gruppenbezogener, gemeinschaftlicher und sozialpolitischer Ressourcen steigert die Selbsthilfekraft der Betroffenen und stellt sich als Grundlage alltäglicher Bewältigungsarbeit und für die Entwicklung lebenserhaltender oder -fördernder Zustände dar (ebd., S. 84). Die zweite Perspektive bezieht sich auf die Inklusion und Partizipation der Betroffenen. Diese Ziele werden nur erreicht, wenn die individuellen Ressourcen innerhalb des sozialen Kontexts verstärkt und wahrgenommen werden. Dies verlangt nach einer Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen in der Gemeinschaft und der Gesellschaft, geprägt von Werten wie Menschlichkeit und Solidarität, da sowohl das Individuum als auch die Gruppe und die Gemeinschaft als fördernde, aktiv mitwirkende Faktoren betrachtet werden müssen. Zudem ist die Vernetzung eine bedeutende Prämisse des Empowerments, da sie durch Bildung und Förderung von funktionstüchtigen Zusammenhängen und Gemeinschaften über die persönlichen Beziehungen hinaus den Weg zur Selbsthilfe eröffnet (vgl. Galuske 2005, S. 271 ff.).
Angesichts seiner Zielsetzung ergeben sich für das Empowerment-Konzept zwei sich bedingende Ebenen. Auf der einen Seite ist dies eine emanzipatorische Bürgerrechts- und Sozialbewegung, die in starker Verbindung zu seiner Entstehungsgeschichte steht. Hier wird das Problem der sozialen Benachteiligung und Ungleichheit in den Vordergrund des Diskurses gestellt und die Hauptdarsteller_innen sind die marginalisierten Gruppen, die sich von Exklusion und Hilflosigkeit befreien möchten und nach mehr Partizipation und Entscheidungsmacht verlangen. Empowerment wirkt in diesem Kontext auf einer politischen Ebene, auf der die vorhandenen Machtverhältnisse kritisch überprüft, die Machtpositionen analysiert und Veränderungen angestrebt werden (vgl. Sohns 2009, S. 78 ff.). Auf der anderen Seite, aber in enger Verbindung zu der ersten, steht die individuelle Ebene - sowohl die der
Betroffenen als auch die der professionellen Fachkräfte. Im Mittelpunkt der Kritik des Empowerments steht das von Defiziten geprägten Klientinnen- und Klientenbild als Anlass für die professionelle Hilfe, wodurch die Betroffenen einer passiven Rolle ausgesetzt und als Objekt der professionellen Hilfe dargestellt werden (vgl. Neuffer 2012, S. 26). Ihnen wird eine erlernte Hilflosigkeit als Folge wiederholter, vereinzelter Erfahrungen von Ohnmacht zugeschrieben, was zur Förderung ihrer Entmündigung durch exzessive Fürsorge führt (vgl. Galuske 2005, S. 269). In diesem Zusammenhang zielt Empowerment darauf, die ausgeprägte Helfenden-Ausbildung der Fachkräfte zu verändern, indem den Betroffenen eine aktive, partizipative Rolle in der Organisation und Gestaltung ihrer Lebenswelt auch in grenzwertigen Situationen und Lebenslagen zugetraut wird (vgl. Stimmer 2012, S. 156 ff.). Dafür bedarf es einer Steigerung der sozialen Anerkennung und der Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten, in denen die Betroffenen positive, entmutigende und ermächtigende Erfahrungen erleben können, was ihr Selbstbewusstsein, ihre Selbstbestimmung und ihre eigene Aktivität steigert (vgl. Sohns 2009, S. 76). Durch Selbstbemächtigungs- und selbst initiierte Prozesse bekommen die Betroffenen die Chance, ihre Alltagskompetenzen zu stärken und zu erweitern, sodass sie sich ein Stück von der Expertenschaft befreien können und selbst zu Fachleuten in eigener Sache werden (vgl. Herriger 2014, S. 14 ff.).
2.2 Der aktivierende Wohlfahrtsstaat
Die Begriffe der ,Aktivierung‘ und des aktivierenden Wohlfahrtsstaates‘ gewinnen seit einigen Jahren zunehmend an Bedeutung im sozialen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs und werden zum Leitbild eines Paradigmenwechsels in der Gestaltung von sozialstaatlichen Sicherungsmaßnahmen und -mechanismen. Sie sind Hauptmotive eines neuen Sozialstaatsmodelles und Ausdruck des Gleichgewichts zwischen Rechten und Pflichten der Bürgerinnen sowie des neuen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft (vgl. Stelzer-Orthofer 2008, S. 11). Das Modell des aktivierenden Wohlfahrtsstaates steht in starker Verbindung zum Empowerment - insbesondere mit seinem Anspruch der Stärkung von Selbsthilfekompetenzen und Selbstbestimmung. Im Vordergrund steht das Menschenbild ,Homo activus‘, das durch mehrere Merkmale charakterisiert wird. Zum einen werden die sozialen Probleme eines Individuums als Resultat von sozio-öko-politischen Zuständen verstanden - Umstände, für die die ganze Gesellschaft und der Staat die Verantwortung tragen. Zweitens wird erkannt, dass das Ziel seiner individuellen und sozialpolitischen Aktivierung die Steigerung seiner Anbindung an soziale Sicherheitsmechanismen und die Sozialintegration durch Angebote und Maßnahmen von Hilfe zur Selbsthilfe ist. Das Mittel dafür ist eine aktivierende Sozialpolitik, in deren Mittelpunkt die Rechte der Betroffenen gestellt werden, die Freiwilligkeit gewährleistet und die individuellen Chancen durch Empowerment- orientierte Maßnahmen steigert. Homo activus ist die engagierte Darsteller_in, bei der Solidarität und Partizipation maßgebliche Prinzipien sind (vgl. Stelzer-Orthofer 2008, S.18).
Zusammenfassend nimmt im aktivierenden Wohlfahrtsstaat die gesellschaftliche und staatliche Verantwortung eine zentrale Rolle ein, mit dem Ziel, die Teilhabechancen für alle Menschen zu ermöglichen. Aktivierte Bürgerinnen sind engagierte Teilnehmende dieser Politik und die Solidarität stellt ein bedeutsames Handlungsprinzip aller Involvierten dar. Die Steigerung der sozialen Partizipation und Integration der benachteiligten Menschen mithilfe von verbesserter sozialer Unterstützung wird als Ziel der aktivierenden Sozialpolitik und nicht als Pflichtaufgabe für die Betroffenen verstanden. Es handelt sich dabei um eine emanzi- patorische, Empowerment-orientierte Aktivierung, sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene (ebd.).
Hiermit wurde ein Idealtypus des aktivierenden Wohlfahrtsstaates als Ausdruck der oben dargestellten Empowerment-Ziele geliefert. Die vorhandene Situation in der Sozial- bzw. Gesundheitspolitik stellt sich allerdings anders als abgebildet dar, was auch zur Kritik gegen Empowerment geführt hat. Diese Aspekte werden ausführlich im nächsten Abschnitt betrachtet.
3 Das Empowerment-Konzept im Rahmen der aktivierenden Gesundheitspolitik
Die Gesundheitspolitik wird als „die Gesamtheit der organisierten Anstrengungen und Auseinandersetzungen im Hinblick auf bevölkerungs- bzw. gruppenbezogene Zielformulierung, Zielvorgaben und Maßnahmen zum Zwecke der Förderung, Erhaltung bzw. (Wieder-)Her- stellung von Gesundheit, der Linderung individueller und sozialer Folgen von Krankheit sowie zur Gestaltung und Steuerung der damit befaßten Institutionen und Berufsgruppen definiert.“ (Rosenbrock 1998, S. 100) Der Gegenstandsbereich der Gesundheitspolitik steht folglich in starker Verbindung zum politischen Handeln und Verhalten, die wiederum einen starken Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung und auf das normative Ziel - die Verbesserung der gesundheitlichen Lage - ausüben. Charakteristisch für die Gesundheitspolitik Deutschlands ist, dass sie nicht der staatlichen Hegemonie unterliegt, sondern, dass viele private Unternehmerinnen, soziale Bewegungen, Verbände etc. ihre Machtpositionen ausüben. Diese Heterogenität von Agierenden führt zu mehreren und nicht selten inkongruenten Interpretationen des Gesundheitsbegriffs als Ergebnis von unterschiedlichen Antworten auf die Grundfragen der Gesundheitspolitik, die den vier Phasen des Public Health Action Cycle zugeordnet werden können (ebd., S. 99 ff.).
- Assessmentphase, in der der Problembestand/die Gefährdung für die Gesundheit definiert, eingeschätzt bzw. priorisiert und die Zuständigkeit geklärt wird;
- Policy-Formulierung, indem die Strategien und die Instrumente ausgewählt und formuliert werden;
- Assurance, die Phase der Organisation, Umsetzung und Steuerung der Maßnahmen;
- Evaluation, die die Bestimmung und Messung von Ergebnissen beinhaltet (vgl. Rosen- brock 1998, S. 99 ff.).
Die Antworten auf die oben gestellten politischen Fragen stehen im engen Zusammenhang mit dem Wissensstand und dem politischen und gesellschaftlichen Verständnis über Gesundheit und Krankheit, aber auch mit den ökonomischen Bedingungen und der Zuständigkeitszuschreibung für die Lösung vorhandener Gesundheitsprobleme. Sie führen zu Entwurf und Definition der Policy (Normen, Gesetze, Vorschriften) im Bereich des Gesundheitswesens, wobei der Einfluss der Politics (der Prozess der Auseinandersetzung mit Interessen) eine bedeutende Rolle einnimmt und sowohl der Rahmen als auch die Regeln dieser Auseinandersetzung von der Polity (Rahmenbedingungen) beeinflusst werden (ebd. S. 104 ff.). Dieser Zustand trifft auch bei dem Verständnis und der unterschiedlichen Auslegung dessen, was Aktivierung im Sinne des Empowerments in der Gesundheitspolitik bedeuten soll, zu.
Im Zuge des 20. Jahrhunderts fand auch in Gesundheitswesen und -Politik das Empowerment vermehrte Aufmerksamkeit. Diesen Bereichen wird die ausgeprägt defizitorientierte Perspektive vorgeworfen, dass sie die Herrschaft der Expertenschaft unterstützen und die Passivität der Betroffenen fördern würden (vgl. Homfeldt 2012, S. 494 ff.). Das zugrunde liegende biomedizinische Modell definiert Gesundheit als das Freisein von Krankheiten - eine negativ defizitorientierte Definition, bei der die Ressourcen und das subjektive Befinden der Betroffenen in den Hintergrund gestellt und den sozialen und umfeldbezogenen Aspekten keine Beachtung geschenkt wird (vgl. Franke 2012, S. 38 ff.). Der menschliche Körper wird dabei als ein Mechanismus betrachtet und folglich werden kranke Menschen zu passiven Objekten des medizinischen Aktes reduziert, die keine Selbstverantwortung für ihre Gesundheit tragen (vgl. Homfeldt/Sting 2006, S. 70).
Eine neue Sichtweise wird durch die World-Health-Organization(WHO)-Definition von Gesundheit geliefert, bei der explizit eine Distanzierung von der defizitorientierten Ansicht vorgenommen und Gesundheit als flexibler und subjektiver Zustand des Wohlbefindens verstanden werden soll. In diesem Kontext werden weitere gesundheitspolitische Problemlagen thematisiert, unter anderem die Ressourcenförderung und Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung. Somit wird die Grundlage für das Konzept der Empowerment-ori- entierten Gesundheitsförderung geschaffen (vgl. Dollinger 2006, S. 174).
Die Ottawa-Charta vom 1986 liefert endgültig den konzeptuellen Rahmen der Gesundheitsförderung:
„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. [...] Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.“ (WHO 1986)
Durch die Ottawa-Charta wird folglich das Empowerment als führendes Konzept und als zentraler Ansatz der WHO-Vision und der Gesundheitsförderung postuliert. Auch wenn es als solches mit Namen nicht benannt wird, die Nähe zum Empowerment aus der obigen Definition ist unübersehbar (vgl. Brandes/Stark 2016, S. 1 ff.). Auf der einen Seite wird das individuelle Selbstbestimmungsrecht als eine bedeutende Voraussetzung für eine verstärkte Gesundheit benannt. Auf der anderen Seite werden die Sicherstellung und Entwicklung von Ressourcen aller Art als Grundbedingungen und Schutzfaktoren für die Gesundheit der Menschen und als Aufgabe für die Politik über das Gesundheitswesen hinaus verstanden (vgl. Dollinger 2006, S. 174).
Mittels der fünf Strategien der Ottawa-Charta werden folgende Handlungsebenen der Gesundheitsförderung definiert: der Wohlfahrtsstaat ist zur Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik aufgefordert, die Gesellschaft ist für die Beschaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten und für die Unterstützung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen zuständig, das Individuum ist zur Entwicklung seiner persönlichen Kompetenzen aufgefordert und alle diese Agierenden zusammen tragen die Verantwortung für die Gesundheitsförderung im gesamten Gesundheitswesen und in der gesamten Gesundheitspolitik, sodass gesundheitliche Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft abgebaut werden (ebd., S. 191 ff.).
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