Die Schaffung einer kollektiven Identität durch Bordering und Othering. Am Beispiel der Leitkulturdebatte in Deutschland


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

17 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Bordering und Othering als politisch-soziale Handlungsstrategie

3. Leitkultur als Ausdruck konstruierter kollektiver Identitat
3.1 Der Leitkulturbegriff in der deutschen Offentlichkeit
3.2 Leitkultur als politisch-soziale Form des Bordering und Othering
3.2 Uberwindung der Grenzen zur Integrationsforderung

4. Schlussbemerkung

Literatur

1. Einleitung

„Uber Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im
Innersten zusammenhalt, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet. “

( Thomas de Maiziere 30.04.2017)

„Wir sind nicht Burka“ hieB der Gastbeitrag des ehemaligen Innenministers Thomas de Maiziere, der im April im Zuge der Bundestagswahl 2017 in der Bild am Sonntag erschien (Maiziere 30.04.2017). Im April 2017, im Zuge des Wahlkampfes zur Bundestagswahl im September 2017, veroffentlichte die Bild am Sonntag einen Gastbeitrag des damaligen Innenministers Thomas de Maiziere mit dem Titel „Wir sind nicht Burka“ (Maizere 30.04.2017). Vorgestellt wurden zehn Thesen zu einer deutschen Leitkultur, auf die sich alle Deutschen einigen konnten, die ihrerseits zu einem Gemeinschaftsgefuhl durch eine kulturelle Identitat beitragen wurden. Dementsprechend sei die Ubernahme dieser Aspekte auch von Menschen zu erwarten, die dauerhaft in Deutschland leben wollten. Im Zuge der „Fluchtlingskriese“ stieB der Gastbeitrag auf breite Zustimmung, insbesondere bei Kritikern der deutschen Integrationspolitik. Das vermeintliche Scheitern dieser und store und gefahrde den inneren Frieden Deutschlands. Diskutiert wurde der Gastbeitrag aber auch auf Seiten der Leitkulturgegner, die de Maizieres Thesen als essentialistisch und nicht existent beschrieben. Die Inhaltliche und anthropogene Bedeutung von Kultur ist Gegenstand vieler Forschungsbereiche und damit nur schwer zu konkretisieren oder, wie von de Maiziere suggeriert, mit wenigen Thesen zu definieren. Problematisch ist, dass der Wortteil „Leit-“ Deutschen und Zugewanderten sprachlich einen ungleichen Wert beimisst, da er eine Hierarchisierung impliziert und somit Ausdruck eines Wunsches nach Abgrenzung ist, der der deutschen Multikulturalitat widerspricht. Solche Aus- und Abgrenzungstendenzen sind Teil politischer Strategien, die sowohl auf geopolitischer Makroebene als auch innerhalb einzelner Akteure einer Gesellschaft (Mikroebene) stattfinden konnen. Ein breites Spektrum der Wissenschaft betrachtet den Begriff Leitkultur als essentialistisch, wobei eine Konstruktion von einem „innen und auBen“ oder „wir und die anderen“ Bestandteil dieser Vorstellung ist. Eine Leitkultur diene der scheinbaren Schaffung einer kollektiven Identitat, die ebenfalls ein essentialistisches Konzept darstellt, da sie sich auf vornehmlich kulturelle Elemente, wie Wert- und Wissensbestande, symbolische Systeme, Sprache und Ausdrucksformen sowie auf eine gemeinsame Herkunft und Geschichte bezieht. Selbst- und Fremdzuschreibungen sind die Folge (Sterbling 2015, S. 582). Wer sich die Thesen de Maizieres genauer anschaut, wird feststellen, dass genau jene essentialistischen Ansatze ausformuliert wurden.

Wie eine kollektive Identitat durch Bordering und Othering im politischen und gesellschaftlichen Kontext geschaffen wird, soll anhand der Leitkulturdebatte in Deutschland der zentrale Untersuchungsschwerpunkt dieser Ausarbeitung sein. Zunachst erfolgt eine Begriffsbeschreibung sowie eine Auseinandersetzung mit den politischen Strategien des Bordering und Othering und deren Subsumierung von globaler oder staatlicher Dimension auf gesellschaftliche Ebene. AnschlieBend wird die Diskussion um den Leitkulturbegriff naher thematisiert und versucht zu analysieren, inwiefern die Leitkultur eine kollektive Identitat erschafft. Dabei werden ebenso mogliche Folgen einer Etablierung der von de Maiziere behaupteten Leitkultur auf unterschiedliche Akteure, vornehmlich Migrant*innen, diskutiert, wie auch semantische und funktionelle Probleme der Leitkultur an sich. AbschlieBend erfolgt eine Zusammenfassung moglicher Integrationsstrategien, die mit einer Uberwindung bzw. mit einer Koexistenz von Grenzen einhergehen. Am Schluss dieser Arbeit wird ein Ausblick auf mogliche weiterfuhrende Fragestellungen zum Thema Leitkultur, kulturelle Identitat sowie Integration stehen, denn das Themenfeld, bietet in Zeiten zunehmender Migrationsbewegungen ein breites Spektrum lohnenswerter Fragestellungen.

2. Bordering und Othering als politisch-soziale Handlungsstrategie

„Die Grenzen wandeln sich, sie wirken nicht mehr so hermetisch, sie konnen nicht mehr vollstandig geschlossen werden. Aber die Grenze zwischen Innen und AuBen bleibt bestehen, sogar in Europa, wie wir sehen“, sagte Udo di Fabio (ehemaliger Bundesverfassungsrichter) in einem Interview bei Deutschlandfunk als Antwort auf die Frage nach einer grenzenlosen Welt (Di Fabio 26.04.2016). Eine grenzenlose Welt wird von Globalisierungsanhangern gerne als Ausgangspunkt okonomischer Vorteile und gesellschaftlichen Fortschritts kommuniziert. Dass es diese Welt ohne Grenzen nicht geben kann, wird durch die Border Studies belegt. Demnach sind Grenzen auf allen Ebenen, seien es politische, gesellschaftliche, okonomische, soziale, juristische uvm., vorhanden. Sie konnen real existieren (etwa durch Mauern oder Grenzzaune) oder konstruiert sein (bspw. In Form von Nationen, Ethnien, Staatsburgerschaften usw.)(Perkins et al. 2014). Ursprunglich stand Bordering im Fokus geopolitischer Strategien, wohingegen es heute auch auf Mikroebene, etwa im Alltag, Anwendung findet (van Houtum 2005). In dieser Arbeit soll der Fokus nicht auf Bordering als geopolitische Strategie, sondern auf der Tatigkeit tagtaglicher Grenzziehungen von politischen Eliten sowie Zivilpersonen liegen. Paasi (1999) fasst dabei in seinem Artikel zusammen, dass Grenzziehungen heute neben geostrategischem Kalkul verstarkt auch im politischen und gesellschaftlichen Kontext geschehen. David Newman von der Ben-Gurion-Universitat Negev betont passend zu Paasis Aussage, dass es sich bei Bordering als Prozess und den daraus resultierenden Grenzen nicht mehr nur um geographische Trennungen im klassischen Verstandnis handelt, sondern um abgegrenzte Raume sozialer Kommunikation. Da der Begriff des Bordering eine klare politische Konnotation aufweist, bezeichnet Paasi (1999) diesen Prozess, sofern er auf gesellschaftlicher Ebene stattfindet, als Boundary Drawing. Auch Maike Didero (2014) beschaftigt sich in ihrer Untersuchung mit dem Boundary Drawing im Zuge der Fluchtlingsbewegung seit 2012, worauf im Verlauf der Arbeit noch einmal genauer Bezug genommen wird. Bordering als politisches Instrument ist zumeist mit der Konstruktion neuer soziokultureller Grenzen verknupft und geht somit in die alltagliche Praxis uber (Yuval-Davis et al. 2017, S. 2).

Wenn vom Bordering die Rede ist, darf auch das Othering nicht auBer Acht gelassen werden. Othering ist dabei der Prozess, bei dem sich eine Gruppe als solche definiert und in diesem Zuge auch eigene Merkmale benennt, die sie von anderen Gruppen unterscheidet(van Houtum und van Naerssen 2001). Zentral ist dabei die Konstruktion eines Gefuhls von „Wir“ und den „Anderen“, was letztlich zu einer Abgrenzung, also dem Bordering fuhrt. Folglich sind beide Elemente wechselseitig miteinander verbunden. In diesem Zusammenhang werden auch raumliche und zumeist kollektive Identitaten erschaffen oder verfestigt. Jenes Denken in Kategorien wie „wir und die anderen“ oder „innerhalb einer Gruppe und auBerhalb einer Gruppe“ uvm. ist Ausdruck eines Wunsches nach Gruppenzugehorigkeit und Identitat (Newman 2006, 175f.).

In Bezug auf das Schaffen einer kollektiven Identitat fand Westle folgendes heraus: „Die Definition, wer dazugehort, zieht zwangslaufig die Definition nach sich, wer nicht dazugehort. Dabei scheint es so, dass je offener die Auliengrenzen sind, desto geringer der soziale Zusammenhalt im Inneren, und je starker die Binnensolidaritat, desto verschlossener sind die Grenzen nach aulien" (Westle 2013, S. 276).

Eine Leitkultur, wie sie haufig von konservativen politischen Vertretern gefordert wird, scheint folglich die logische Reaktion auf die Verunsicherung vieler Menschen durch offene Grenzen und Migrationsstrome zu sein. Immerhin ist die Migrationsfrage im politisch-gesellschaftlichen Diskurs seit 2012 ein stetiges Streitthema und scheint den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schwachen. Ist eine Leitkultur demnach ein Versuch eine imaginare kulturelle Grenze zu schaffen, um ein neues „Auien" zu definieren und die Binnensolidaritat zu starken? Oder anders: Soll eine scheinbar geschlossene Gesellschaft, welche durch eine starke Binnensolidaritat gepragt ist, sichere Grenzen in einer immer grenzenloseren, globalisierten Welt konstruieren? Lassen nicht einige Thesen der Leitkultur vermuten, dass ein individuelles Bewusstsein eines Nationalstolzes ein Verbundenheitsgefuhl mit dem eigenen Staat erschaffen soll? Immerhin betont Westle, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen Nationalstolz und nationaler Identitat und Auslanderfeindlichkeit gibt, egal ob die hierzu befragten Probanden politisch-extreme Tendenzen verfolgten oder nicht (Westle 2013, S. 294). Um jene Fragen deutlicher beantworten zu konnen, ist es wichtig, hin den wissenschaftlichen Diskurs zur Leitkultur einzusteigen.

3. Leitkultur als Ausdruck konstruierter kollektiver Identitat

3.1 Der Leitkulturbegriff in der deutschen Offentlichkeit

Seitdem der Begriff der Leitkultur vor nunmehr fast 30 Jahren in den offentlichen Fokus geruckt ist, hat er viele wissenschaftliche und politische Fragen aufgeworfen und eine breite Debatte ausgelost. Im Zuge der Migrationsstrome vom afrikanischen Kontinent sowie aus dem nahostlichen Raum etablierte Bassam Tibi (1996) eine europaische Leitkultur, wobei der Begriff in den darauffolgenden Jahren neue nationale Auslegungen erfuhr. Seither gab es nur geringfugige semantische Begriffsanderungen und Neudeutungen. Eine erfolgreiche Integration von Minderheiten und migrierten Menschen in eine Gesellschaft ist noch immer eine der zentralen Fragen des wissenschaftlichen und politischen Diskurses. Einige Erkenntnisse und Anderungen bezuglich einer Leitkultur ergeben sich bei genauerer Betrachtung der offentlich-politischen Diskussion in Deutschland. Eine inhaltlich strukturelle Neuorientierung erfuhr der Begriff, der von Bassam Tibi einst idealisiert und abstrakt durch Begrifflichkeiten wie Demokratie, Aufklarung, Pluralismus, Menschenrechte, Sakularisierung und Toleranz definiert wurde, zu Beginn der Jahrtausendwende durch konservative Bewegungen und Parteien. Dies wird besonders in der Zielformulierung des Begriffs der Leitkultur erkennbar. Fur Tibi sollte der Leitkulturbegriff als Grundlage zur Identitatsbildung dienen, da eine erfolgreiche Integration nicht durch vorgeschrieben Gesetze (z.B. das Grundgesetz der BRD) oder Vorschriften (Beherrschung der deutschen Sprache, Ubernahme des christlichen Glaubens u.v.m.), sondern nur uber eine starke eigene Identitat erfolgen konne. Ist eine Leitkultur vielleicht der Versuch, die Grenzen der eigenen Identitat zu erweitern und somit integrativ zu wirken? Kontrar zu Tibi sehen konservative Politiker in einer deutschen Leitkultur eine Anleitung bzw. einen Verhaltenskodex, der die Assimilation der Neuhinzugekommen an die hiesige Kultur zum Ergebnis haben soll. Anders als die Starkung der eigenen Identitat wird die kollektive Identitat hervorgehoben, die per se nicht schlechter oder besser als andere ist, jedoch laut Bassam Tibi weniger integrationsgeeignet erscheint. An dieser Stelle ist ein Bedeutungswandel des Leitkulturbegriffes festzustellen, den sich unterschiedliche politische Akteure zunutze machen.

Politisierung des Begriffs

Uber den geschichtlichen Wandel und die damit verbundene Diskussion in der deutschen Medien- und Politiklandschaft schrieb Reinhard Meier-Walser (2017), der insbesondere die Instrumentalisierung des Begriffs „Leitkultur“ durch konservative Parteien (hier: AfD, hauptsachlich aber: CDU und CSU) beschreibt. Was unter dem Begriff Leitkultur zu verstehen ist und welche Werte damit verknupft sind, wurde hauptsachlich durch die Definitionen eben jener Parteien bestimmt. Die deutsche Sprache, die Pflege deutscher Kulturguter und Sitten, FleiB und Punktlichkeit sind nur einige angebliche Inhalte einer solchen deutschen Leitkultur. Einigkeit unter den Parteien und Experten der Integrationspolitik herrscht jedoch in der Frage, dass es etwas geben musse, woran sich orientiert werden konne und woran festzumachen sei, was die Gesellschaft „innerlich zusammenhalt“ und so zur Integration beitruge. Als Adressaten sind im aktuellen Diskurs Gefluchtete, aber auch andere Personen mit Migrationshintergrund angedacht. Was mit diesem „etwas“ genau gemeint ist, dafur gibt es nur selten Erklarungen. Kritiker lehnen den Begriff der Leitkultur vehement ab, da er, wie auch Sabine Achour (2017) schrieb, eine Hierarchisierung durch den Wortzusatz „Leit-„ impliziere. Sie verfolgt hier einen philosophischen Ansatz, der die Ablehnung des Wortes mit der Semantik seiner einzelnen Bestandteile begrundet. Die Hierarchisierung widersprache den Inhalten des deutschen Grundgesetzes, wonach jeder vor diesem gleich sei. Die Leitkulturbefurworter wurden hier mit zweierlei MaB messen und von Minderheiten eine Unterwerfung unter eine andere Gruppe, in diesem Falle die der „Deutschen“, einfordern. Die deutsche Mehrheit werde hoher bewertet und mit einem Fuhrungsvorrecht gegenuber der migrierten Minderheit ausgestattet, was dem Gleichheitsgedanken des Grundgesetzes nicht entsprache. Entgegen den pluralistischen Idealen unserer Gesellschaft wurden auf diese Weise klare Grenzen („Wir“ und die „Anderen“ im Sinne des Bordering und Othering[I] ) zwischen Gesellschaftsgruppen geschaffen. Die Ursache dieser Grenzziehung lage darin, dass das Bestehen einer Leitkultur das kollektive Verstandnis so verandere, dass andere Bevolkerungsgruppen unterbewusst ausgeschlossen oder herabgestuft wurden. In Deutschland wird dies derzeit durch viele Akteur*innen bei muslimischen Zugewanderten und Mitburger*innen mit Migrationshintergrund ausgeubt, da diese nicht die christliche, deutsche und/oder „abendlandische“ Tradition teilen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik als „typisch deutsch“ und damit als Gutekriterium von Leitkultur zu deklarieren, ist fur Achour nicht haltbar, weil inhaltlich vergleichbare Grundgesetze oder Verfassungen in vielen anderen Staaten der Welt, vor allem westlich-demokratischen Staaten, ublich sind und damit nicht als Alleinstellungsmerkmal herangezogen werden konnen. Derartige Typisierungen seien, wie Harendt beschreibt, Verknupfungen zwischen Raum und Wesen von Personen. So wurden soziale Merkmale und Verhaltensweisen nicht durch den individuellen Charakter beschrieben, sondern anhand raumlicher Merkmale und Herkunftsorte. Es folgt eine sprachliche Diskriminierung durch die Konstruktion regionaltypischer Eigenschaften (Harendt 2019, 251 ff.). Migrant*innen muslimischer Staaten des Nahen Ostens werden laut dieser Theorie aufgrund ihrer raumlichen Identitat mit Stereotypen belegt, wonach sie einer Studie der Bertelsmann-Stiftung (2015) sowie einer Forschung Heiner Bielefledts (2008) als laut, faul, patriarchalisch, frauenfeindlich oder allgemein bedrohlich stigmatisiert wurden. Solche Typisierungen gibt es auch in der Selbstzuschreibung von Eigenschaften, die deutsche Staatsburger*innen mit „typisch deutschen“ Eigenschaften von Migrant*innen unterscheidet. Armin Pfahl-Traughber (2017) halt fest, dass es das „typisch Deutsche“ aufgrund der zunehmenden Vielfalt in allen Bereichen des Lebens in der deutschen Gesellschaft, Jurgen Nowak (Nowak 2006a, S. 13) spricht hier von einer „hybriden Kultur“ (zusammengesetzte Kultur mit vielen Einflussen), nicht geben kann. Mit den Forderungen nach einer deutschen Leitkultur wurden oftmals nur Klischees, Vorurteile und Selbstbeschreibungen verbreitet, die nicht selten rassistisch oder nationalistisch motiviert seien. Seiner Ansicht nach sollte es statt einer offiziellen Leitkultur hochstens eine politische geben, die das Bekenntnis zur Verfassung, zum Rechtsstaat und zur politischen Teilhabe zum Inhalt hatte.

Alle bisherigen Versuche, den Kulturbegriff inhaltlich zu definieren, sind Konstruktionen, wobei dahinterstehende komplexe Strukturen und Prozesse vernachlassigt und mit diesem einen Wort zusammengefasst werden (Schiffauer 2011b). Hinter dieser Ansicht steht das fruher in der Geographie haufig verwendete Containerraumkonzept, bei dem eine Vernachlassigung von Wirkungszusammenhangen erfolgt. Ahnlich wie bei dem Begriff der Kultur ist auch der der Leitkultur ein konstruierter Sammelbegriff. Historische gewachsene Normen und Werte, Sitten und die Sprache eines Landes werden mit dem Ziel dazugezahlt, die Assimilation von Minderheitsgesellschaften in die Mehrheitsgesellschaft zu befordern, wobei gesamtgesellschaftliche Zusammenhange vernachlassigt oder nicht hinterfragt werden (Nowak, 2006). Eine homogene Gesellschaft mit einer vereinheitlichten Kultur zu schaffen kann nicht der intrinsischen Motivation einer Gesellschaft entsprechen, sondern muss daher

politischen Interessen zugeordnet werden. Nicht zu leugnen sei jedoch, dass jede Gemeinschaft eine eigene, wenn auch undefinierbare Gemeinsamkeit habe, etwas, was den GroBteil der Menschen einer bestimmten Gruppe von Menschen miteinander verbinde. Die Definition dessen sei jedoch schwierig bis unmoglich, da Verbindungen und Verhaltensweisen untereinander meist im Unterbewusstsein entstehen und zusatzlich das Ergebnis eines langen Prozesses seien (Schiffauer 2011a). Wird versucht diese Inhalte mit Normen und Werten zu definieren, so kann es vorkommen, dass auch Menschen der eigenen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Thomas Meyer (2017) ist ebenfalls Unterstutzer der These Schiffauers. Eine vorgeschriebene Kultur ist ein Hindernis im Integrationsprozess. Einer Leitkultur kommt eine „hervorragende Bedeutung in der ,Konstruktion‘ neuer sozialer Ordnungen sowie in der Bereitstellung kollektiver Identifikationsangebote“ (Sterbling 2015, S. 582) zu. Dieses Identifikationsangebot kommt wohl aber eher der Mehrheitsgesellschaft zu gute. Heiner Keupp schreibt dazu, dass sich diese gerne in „vorgegebene Identitatsgehause, [etwa eine Leitkultur]“ (2009, S. 6) einnisten. Ferner formuliert er, dass insbesondere „Verlust, Unubersichtlichkeit, Orientierungslosigkeit und Diffusitat“ (S.6) dazu fuhren, dass dieses Identitatsgehause vehement aufrechtzuerhalten versucht wird. Darin liegt die hohe Zustimmung zu einer Leitkultur sowie die Grundlage fur die hartnackige Diskussion um den Begriff selbst begrundet. Jenes Identitatsgehause droht durch die scheibar„ungeordnete“ Migration, wie sie haufig von populistischen Parteien bezeichnet wird, zu zerbrechen. Eine Leitkultur soll hier eine neue Orientierung schaffen.

3.2 Leitkultur als politisch-soziale Form des Bordering und Othering

Dieses Identitatskonstrukt schafft Grenzen nach innen und auBen, wobei Bordering und Othering als Phanomen, insbesondere im Zuge der Fluchtbewegungen aus Nahost, sichtbar werden.

Othering ist ein Prozess, bei dem Gruppen oder einzelne Personen aufgrund ihrer Angste, egal ob diese real existent sind oder nicht, vor anderen Gruppen eine imaginare Mauer aufbauen, um sich vor vermeintlichen Bedrohungen zu schutzen. Derartige Angste werden nicht selten von politischen Akteuren genutzt, um die eigene Einflusssphare zu starken. Ist die Leitkultur, die in ihrem Wesen ein Kriterienkatalog fur die Zugehorigkeit darstellt, also eine Form kodifizierten Borderings und Otherings? Wahrend eine wie von de Maiziere vorgeschlagene Leitkultur der deutschen Bevolkerung, wie auch immer diese definiert wird, suggeriert, dass das bestehende friedliche Zusammenleben auf einen Wertekanon basiert, werden dabei all jene exkludiert, die sich mit diesen nicht identifizieren konnen oder wollen. Interessanterweise scheint es in der Realitat jedoch so zu sein, dass ein/e Migrant/in, der/die sich voll und ganz mit den Inhalten der Leitkultur identifiziert und diese „befolgt“, dennoch nicht

[...]


[I] Siehe Kapitel 2.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Schaffung einer kollektiven Identität durch Bordering und Othering. Am Beispiel der Leitkulturdebatte in Deutschland
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Geografie)
Veranstaltung
Raumbezogene Identitäten
Note
1,3
Jahr
2019
Seiten
17
Katalognummer
V1034853
ISBN (eBook)
9783346442215
ISBN (Buch)
9783346442222
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bordern, Othering, Borderstudies, Leitkultur, kollektive Identität, Raumbezogene Identität, Wir und die Anderen, Boundary Drawing, Identitätsbildung
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Die Schaffung einer kollektiven Identität durch Bordering und Othering. Am Beispiel der Leitkulturdebatte in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1034853

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