Case-Management in der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung


Mémoire (de fin d'études), 2002

89 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1 EINLEITUNG

2 MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG
2.1 Der Terminus „Behinderung“
2.2 Geistige Störung
2.3 Das Phänomen Geistige Behinderung
2.3.1 Der medizinische Aspekt
2.3.2 Der psychologische Aspekt
2.3.3 Der pädagogische Aspekt

3 BEDÜRFNISSE ALS ANTRIEB ZUR SELBSTAKTUALISIERUNG
3.1 Grundlagen einer Motivationstheorie
3.2 Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse
3.3 Befriedigung der sozialen Bedürfnisse
3.4 Erschwernisse/Barrieren, die in der Behinderung liegen
3.5 Erschwernisse/Barrieren, die im sozialen Umfeld liegen
3.6 Fazit

4 CASE MANAGEMENT IN DER SOZIALEN ARBEIT
4.1 Der Terminus „Case Management“
4.2 Historische Entwicklung des Case Managements
4.3 Das „deutsche Modell“
4.4 Das Konzept des Case Managements
4.4.1 Case Management als Organisations- oder Systemkonzept
4.4.2 Case Management als Handlungsprozess
4.5 Rolle des Case Managers
4.6 Zusammenfassung

5 HANDLUNGSMAXIMEN FÜR SOZIALE ARBEIT
5.1 Das humanistische Menschenbild
5.2 Lebensweltorientierung
5.3 Das Normalisierungsprinzip
5.4 Der systemtheoretische Ansatz
5.5 Fazit

6 CASE MANAGEMENT UND GEISTIGE BEHINDERUNG
6.1 Einleitung
6.2 Organisatorische und Kontaktaufnahme
6.3 Assessment und geistige Behinderung
6.4 Planung und geistige Behinderung
6.5 Intervention und geistige Behinderung
6.6 Anwaltliches Handeln des Coaches
6.7 Monitoring und geistige Behinderung
6.7.1 Praktische Möglichkeiten der Kontrolle
6.7.2 Entscheidungsschwierigkeiten als Folge sozialer Abhängigkeit
6.8 Evaluation und geistige Behinderung
6.9 Der Ablösungsprozess
6.10 Re-Assessment

7 RESÜMEE UND AUSBLICK
7.1 Resümee
7.2 Ausblick

1 EINLEITUNG

In Deutschland waren 1995 insgesamt 9,1 Millionen Menschen im Gesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts als behindert genannt, davon fielen 8,9 % unter die Kategorie

„geistig behindert“. Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung macht dies einen kleinen Teil der Gesellschaft aus. Minderheiten werden im Alltag häufig übersehen und treten nur bei besonderer Betroffenheit in unser Blickfeld. Der Lebensraum von Menschen mit geistiger Behinderung ist die Familie, aber auch ein Heim oder eine Wohngruppe. Zuweilen wird unterstellt, dass sie sich in der Obhut von Familie und/oder Fachpersonal gemäß ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln können. Ist dies wirklich so?

Vielfach fehlt diesem Personenkreis die Möglichkeit, ihr Leben nach eigenen Wünschen selbstständig zu gestalten, ihre Bedürfnisse zu erkennen und umzusetzen, kurz: ein Leben wie jeder andere auch zu führen.

Durch eine gezielte Unterstützung können diese Menschen ermutigt werden, das Gefühl von Selbstverwirklichung und Gestaltung ihres eigenen Lebens zu erfahren. Dies ist besonders in Situationen, in denen sich ihr Lebenslauf verändert, von großer Bedeutung.

Ausgehend von der lexikalischen Definition und semantischen Bedeutung von Behinderung in Kapitel 2 wird in dieser Arbeit eine Annäherung an das Thema über den Begriff der Behinderung geschaffen: Je nach wissenschaftlicher Disziplin wird das Phänomen der Behinderung unterschiedlich aufgefasst. Im Zusammenhang mit der genannten Themenstellung in dieser Arbeit ist besonders der pädagogische Aspekt relevant. Es soll untersucht werden, ob Menschen mit geistiger Behinderung andere Bedürfnisse haben als Menschen ohne Behinderung. Unter pädagogischem Aspekt (Feuser) ist entscheidend, dass Menschen mit geistiger Behinderung durch spezielle Förderung die Chance bekommen, ihre eigenen Bedürfnisse so zu befriedigen, wie es Menschen ohne Behinderung möglich ist.

So wird im dritten Kapitel auf die Voraussetzungen und die Schwierigkeiten der Bedürfnisbefriedigung bei dem genannten Personenkreis eingegangen. Es soll gezeigt werden, dass zwar die Bedürfnisse universal sind, jedoch Barrieren und Erschwernisse bei Menschen mit geistiger Behinderung in der Befriedigung derselben bestehen.

Das vierte Kapitel dieser Arbeit setzt sich mit der Methode des Case Management in der sozialen Arbeit auseinander. Die Methode wird definiert und beschrieben. Das im angloamerikanischen Raum universell anwendbare Modell des Case Managements muss auf deutsche Bedingungen und Strukturen übertragen werden. Ein Merkmal ist die Steuerung sowohl auf der Handlungs- wie auch auf der Systemebene.

Um diese Methode als Konzept sozialer Arbeit in Deutschland anzuwenden, sind bei der Zielgruppe von Menschen mit geistiger Behinderung wichtige Handlungsmaximen obligat, um eine zielgruppengerechte Unterstützung zu garantieren. Diese Handlungsmaximen werden im fünften Kapitel erarbeitet. Hierbei wird auf eine besondere Hervorhebung des Begriffes der Selbstbestimmung verzichtet, diese Handlungsmaxime wird als verpflichtend vorausgesetzt.

Die Modifikation der Methode des Case Managements als Konzept sozialer Arbeit bei Menschen mit geistiger Behinderung ist Inhalt des sechsten Kapitels. Auf der Grundlage der vorausgegangenen Kapitel soll untersucht werden, wie diese Modifikation gelingen kann, um ein optimales Ziel der Unterstützung zu erreichen. Besonders hervorgehoben werden soll die Erkenntnis, dass die praktische Arbeit Entwicklungsprozessen unterliegt, die sowohl vom Nutzer wie auch vom Coach ein hohes Maß an ständiger Neuorientierung fordert.

Neben einem Resümee werden im letzten Kapitel spezielle Fragestellungen aufgeworfen, die sich erst aus dieser Arbeit entwickelt haben, die gleichzeitig den Erfolg der praktischen Arbeit entscheidend beeinflussen. Als Stichwort sollen hier die Qualifikation der Mitarbeiter, die Bedeutung eines sozialen Netzwerkes sowie die Nachhaltigkeit genannt werden. Ohne eine Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen kann ein Ausblick sicherlich nicht gelingen.

Durchgehend wird abweichend vom Titel dieser Arbeit von Menschen mit Behinderung gesprochen, um einer Ontologisierung entgegenzuwirken. Außerdem wird zur Bezeichnung einer Personengruppe die männliche Form verwendet (Nutzer, Coach).

Damit sind jeweils beide Geschlechter gemeint. Begriffe aus dem angloamerikanischen Raum sind im Original übernommen. Die Begriffe Coach und Case Manager sowie Klient und Nutzer werden synonym verwendet.

2 MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG

„Durch die Festschreibung des Begriffs ‘behindert’ haben wir uns darauf eingelassen, dass es in unserem Bewusstsein bei der Trennung zwischen ‘Behinderten’ und ‘Nicht-Behinderten’ bleiben soll.“

(Haeberlin 1998, 94).

2.1 Der Terminus „Behinderung“

Bereits die Definition von Behinderung der Brockhaus-Enzyklopädie lässt erkennen, wie umfangreich der Begriff „Behinderung“ gefasst werden kann. Die Ursachen, Erscheinungsformen wie auch die Folgen können sehr vielseitig sein. Nach der allgemeinen Definition der Brockhaus-Enzyklopädie ist Behinderung eine „körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung, die irreversibel oder von langer Dauer und so ausgeprägt ist, dass sie körperliche, psychische oder soziale Folgen hat“ (Brockhaus- Enzyklopädie). Diese umfassende Definition akzentuiert die Einteilung der Beeinträchtigungen, die Dauer und die Folgen von Behinderung. Die vielseitigen Dimensionen von Behinderung werden allerdings erst bei der Betrachtung weiterer Definitionsansätze verständlich.

Eine Definition, die globale Gültigkeit erlangt, lässt sich nicht entwickeln, da jede Kultur nach eignen Maßstäben individuelle Schwerpunkte legt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führte 1980 ein dreistufiges Konzept für den Umgang mit dem Begriff Behinderung ein, das laufend weiterentwickelt wurde und wird (vgl. Hensle/Vernooij 2000, 14).

- impairment (Schädigung)
- disability (Beeinträchtigung)
- handicap (Behinderung)

Wenn man die drei Begriffe aufgreift, wird man die drei Ebenen verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen grob zuordnen können.

- „impairment“ als medizinische Annäherung bezieht sich auf Mängel oder Abnormitäten der anatomischen, psychischen oder physiologischen Funktionen und Strukturen.
- „disability“ als psychologische Annäherung legt eine Funktionsbeeinträchtigung oder den Funktionsmangel aufgrund von Schädigungen, die typische Alltagssituationen behindern oder unumgänglich machen, zugrunde. Wichtiges Vergleichskriterium ist ein nicht geschädigtes Individuum des gleichen Alters, Geschlechts und gleichem kulturellen Hintergrund.
- „handicap“ als soziologische bzw. sozialpolitische Annäherung meint die Nachteile einer Person auf der sozialen Ebene, die aufgrund der Behinderung durch die Gesellschaft erfahren wird.

In Deutschland wird der Begriff „Behinderung“ von verschiedenen wissenschaftlichen Theorien beleuchtet und dementsprechend konkretisiert. Bleidick beschreibt, dass Personen als behindert gelten, welche „infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert wird“ (Bleidick 1981, 9). Ursächlich muss demnach eine solche Schädigung vorliegen, aus der die Teilnahme am allgemeinen Leben erschwert wird. Diese Schädigung ist diagnostizierbar bzw. mit instrumentellen Mitteln nachweisbar.

Oft ist es allerdings schwer eine Schädigung nachzuweisen. So lässt sich eine Lernbehinderung zwar als Behinderung beschreiben, dennoch muss nicht unbedingt eine medizinisch diagnostizierbare Schädigung erkennbar sein. Dieser sonderpädagogische Ansatz Bleidick’s setzt in seinem Begriff von Behinderung die Schädigung, den Mangel oder den Defekt des Menschen als primäre Ursache in den Fokus des Betrachters. Auch der Zusatz, dass Beeinträchtigungen folgenreich sind, „die der Behinderte im sozialen Feld erfährt und die seine Eingliederung in das öffentliche Leben [...] erschweren“ (Bleidick 1981, 10), entkräftet diese Ontologisierung des behindert seins nicht.

Der Aspekt des behindert werdens wird durch Jantzen ausdrücklich genannt. "Behinderung kann als nicht naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt werden zu gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten. Indem festgestellt wird, dass ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägung diesen Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich. Sie existiert als sozialer Gegensatz erst von diesem Augenblick an“ (Jantzen 1987, 18). Es ist bei diesem ökologischem Ansatz nicht die Beeinträchtigung, die den Menschen zum „Mensch mit Behinderung“ macht, sondern die Erfahrung, die im Umgang mit den anderen „Normalen“ gemacht wird. Der Mensch mit Behinderung kann die Ansprüche nicht erfüllen, die von der Gesellschaft erwartet werden.

Wenn die Definition von Jantzen auch schon im Gegensatz zu Bleidick den Gedanken aufgreift, der Behindertenbegriff entstehe durch Feststellung, dass jemand nicht die Leistung vollbringen könne, die erwartet wird, so ergänzt die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates den pädagogischen Aspekt der Förderung in Ihrer Idee. Demnach gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen als behindert, „die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung. Behinderungen können ihren Ausgang nehmen von Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens, der Sprache, der Stütz- und Bewegungsfunktionen, der Intelligenz, der Emotionalität, des äußeren Erscheinungsbildes sowie von bestimmten chronischen Krankheiten“ (Deutscher Bildungsrat 1974, 13).

Der juristische Aspekt bildet den Rechtsrahmen für jegliches Tun und Lassen, das in Verbindung mit Menschen mit Behinderung steht. In der Bundesrepublik Deutschland sind die entscheidenden Merkmale und Kriterien für Behinderungen und besondere

Regelungen für Menschen mit Behinderung u. a. in folgenden Gesetzen und Verordnungen festgelegt (vgl. BMA1 2002):

- Grundgesetz (GG)
- Sozialgesetzbücher (SGB I, III, V, VI, VII, VIII, IX, X)
- Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze (BGG)
- Bundessozialhilfegesetz (BSHG)
- Eingliederungshilfe-Verordnung (Einglh-VO)
- Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz)
- Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte
- Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GsiG)
- Verordnung über die Kraftfahrzeughilfe zur beruflichen Rehabilitation (KfzHV)
- Wahlordnung Schwerbehindertenverordnung (SchwbVWO)
- Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV)
- Werkstättenverordnung (WVO)
- Werkstätten-Mitwirkungsverordnung
- Schwerbehindertenausweisverordnung
- Nahverkehrszügeverordnung

Im BSHG2 ist im § 124 Abs. 4, Satz 1-4 ist Behinderung festgeschrieben als “eine nicht nur vorübergehende erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit, die auf dem Fehlen oder auf Funktionsstörungen von Gliedmaßen oder auf andere Ursachen beruht. Weiterhin liegen Behinderungen bei einer nicht nur vorübergehenden erheblichen Beeinträchtigung der Seh-, Hör- und Sprachfähigkeiten und bei einer erheblichen Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Kräfte vor“. Ein wichtiger neuer Aspekt bei dieser Definition ist der zeitliche Aspekt. Es wird nicht nur das Vorhandensein einer Schädigung determiniert, sondern die Dauer dieser Schädigung ist entscheidend für die Berechtigung, von Behinderung sprechen zu dürfen. Während im BSHG noch von einer „nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung“ gesprochen wird, ist im Schwerbehindertengesetz in § 3 Abs. 1 ein fester Zeitraum von 6 Monaten genannt.

„Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten. Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich."

Jede Definition, aus welchem wissenschaftlichen Grundverständnis sie auch kommt, spiegelt die verschiedenen Schwer- und Ansatzpunkte wieder, wie sie auch in den multiplen Wissenschafts-Theorien beheimatet sind. Es kann keine Definition geben, die sämtliche nur denkbaren Ideen verbindet, die als Summe des Ganzen steht. Die facettenreiche Erscheinungsweise und die vielfältigen Ursachen wie „Behinderung“ erlebt und gelebt wird, geben den Anstoß, nicht mehr nur von dem Begriff Behinderung zu sprechen, sondern von dem Phänomen Behinderung.

Um die Zielgruppe dieser Diplomarbeit einzugrenzen, ist es mir, bevor ich auf das Phänomen geistige Behinderung eingehe, wichtig, eine Abgrenzung von geistiger Behinderung zur geistigen Störung vorzunehmen.

2.2 Geistige Störung

Bach bezeichnet eine Störung in Abgrenzung zur Behinderung als „partielle, weniger schwere und/oder behebbare bzw. in absehbarer Zeit vorübergehende Beeinträchtigung“ (Bach 1979, 3). Diese Störungen lassen sich in fast allen Fällen diagnostizieren und

genau benennen. So werden in der klinischen Psychologie die psychischen Störungen im ICD-103 wie auch im DSM-IV4 der American Psychiatric Association (APA) weitgehend übereinstimmend festgelegt. Störungen äußern sich in der Regel nur in bestimmten Teilbereichen, Behinderungen hingegen betreffen mehrheitlich verschiedene Bereiche des Organismus. Diese Unterscheidung wird am Beispiel zwischen Trisomie 21 und der Minimalen Cerebralen Dysfunktion (MCD) deutlich.

Das Down-Syndrom tritt nach außen als erstes durch die auffällige Kopf- und Gesichtsbildung auf. Diese nach dem britischen Arzt Langdon-Down 1866 erstmalig beschrieben Krankheit ist gekennzeichnet durch die „mongolische Augenstellung (deswegen auch umgangssprachlich als „Mongolismus“ bekannt)“ sowie häufig weitere äußere Kennzeichen (plattes Gesicht, breite Nase, grobe und gefurchte Zunge) und innere Fehlbildungen (Herzfehler, Magen-Darm-Anomalien). Erst auf den zweiten Blick wird die mehr oder weniger gravierende Form geistiger Behinderung deutlich. Trotz der organischen Auffälligkeiten wird das Down-Syndrom dem Formenkreis der geistigen Behinderung zugeordnet.

Im Gegensatz zur geistigen Behinderung stellt eine „Störung“ nur eine Minderentwicklung einzelner Entwicklungsbereiche dar.. Das MCD-Syndrom setzt sich aus einer Reihe anlagebedingter oder durch Störfaktoren in ihrer Funktion beeinträchtigende informationsverarbeitende Strukturen zusammen, dessen primären Folgen z. B. Konzentrationsschwäche, einzelne Störungen der zentralen Kontrolle motorischer Abläufe sind. Daraus resultierende sekundäre Symptome sind dann z. B. eine hohe Ablenkbarkeit oder Hyperaktivität, die wie die Störung selbst reversibel sind (vgl. Pflüger 1993, 189f).

2.3 Das Phänomen Geistige Behinderung

So vielschichtig die Definitionen von Behinderung sind, so facettenreich sind die Erscheinungsbilder der geistigen Behinderung. Der Begriff der geistigen Behinderung ist unscharf. „Er umschreibt weder exakt die Besonderheiten der geistig Behinderten, noch grenzt er eindeutig gegenüber anderen Behinderungsformen ab“ (Fengler/Jansen, 1994, 131). Wichtig ist auch hier zu erwähnen, dass ein Großteil der Menschen mit geistiger Behinderung mehrfachbehindert sind.

2.3.1 Der medizinische Aspekt

Die wahrscheinlich älteste Annährung ist der Versuch der Medizin, geistige Behinderung einzuordnen. Nach Speck bestimmt die „Ätiologie, insbesondere die organisch-genetischen Bedingungsfaktoren“ das Ausmaß der Behinderung. Als häufigste Ursachen für eine geistige Behinderung gelten (Speck 1984, 36):

- Chromosomenanomalien und Genmutationen
- Fehlbildungs-Retardierungssyndrome
- Embryoapathien (Virusinfektionen, Stoffwechselerkrankungen)
- Pränatale, Perinatale und postnatale Schädigungen wie Sauerstoffmangel, Hirnblutungen

Ein Problem stellt bei dieser Definition die nicht immer diagnostizierbare Ursache der geistigen Behinderung dar. So fällt auch eine Lernbehinderung in die Kategorie „geistig behindert“, obwohl keine Schädigung neurologischer Strukturen nachweisbar ist.

2.3.2 Der psychologische Aspekt

Die Psychologie legt eine Intelligenzminderung zur Kategorisierung der geistigen Behinderung zugrunde. Diese Intelligenzminderung kann psychodiagnostisch durch verschiedene Tests nachgewiesen werden. Aus sozialmedizinischer Sicht soll dann die Bezeichnung geistige Behinderung verwendet werden, wenn die IQ-Abweichung durchschnittlich unter 70 liegt (vgl. Hensle 1979, 109). So unterscheidet die

„Association of Mental Deficiency“ (AAMD – 1959) fünf Stufen, die jeweils eine Standardabweichung (d. h. 15 Punkte) der Intelligenzverteilung umfassen (vgl. Hensle/Vernooij 2000, 131f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Testgruppen mit Ergebnissen von über 55 Punkten werden dabei den Lernbehinderten zugeordnet und nicht den Menschen mit geistiger Behinderung. Aufgrund empirischer Untersuchungen mit dem Standfort-Binet-Test kam die AAMD (wurde später zum AAMR) 1992 zu der bis heute gebräuchlichen Einteilung geistiger Behinderung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei der Annahme der Definition geistiger Behinderung als Intelligenzminderung, kann man einen Bezug zur allgemeinen Definition des Begriffes „Intelligenz“ herstellen.

Nach Groffmann ist „Intelligenz die Fähigkeit des Individuums, anschaulich oder abstrakt in sprachlichen numerischen und raum-zeitlichen Beziehungen zu denken; sie ermöglicht erfolgreiche Bewältigung vieler komplexer und mit Hilfe jeweils besonderer

Fähigkeitsgruppen auch ganz spezifischer Situationen und Aufgaben“ (vgl. Erlemeier 1994, 53). Ergänzt man die Definition von Groffmann um die Aussage von Wechsler,

„Intelligenz ist die zusammengesetzte oder globale Fähigkeit des Individuums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinanderzusetzen“ (vgl. Erlemeier 1994, 53), so ist daraus zu schließen, dass geistige Behinderung nicht nur Auswirkungen auf kognitiver Ebene hat, sondern verschiedene Bereiche der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns betrifft.

Ein weiterer wichtiger psychologischer Aspekt ist die Feststellbarkeit einer Entwicklungsverzögerung, die nach Bach „insofern und solange gilt, als ihr (der Personen) Lernverhalten nicht nur vorübergehend wesentlich hinter der am Lebensalter orientierten Erwartung liegt und durch ein Vorherrschen des anschauenden- vollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten [...] zurückbleibt“ (Bach 1979, 3).

Alle genannten Aspekte, ob medizinisch, psychodiagnostisch oder entwicklungspsychologisch beurteilt und bewertet, stellen die IQ-Retardierung in den Vordergrund. Der Mensch wird etikettiert als „behindert“. Es besteht die Gefahr, dass aus dieser Etikettierung eine dauerhafte Festschreibung resultiert. Dem steht der pädagogische Aspekt entgegen.

2.3.3 Der pädagogische Aspekt

Der deutsche Bildungsrat hat mit seiner Definition und zugleich Forderung zum Phänomen „geistige Behinderung“ den Wandel in der Haltung zur geistigen Behinderung mitgefördert. „Als geistig behindert gilt, wer infolge einer organisch- genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit der kognitiven Beeinträchtigung gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und motorischen Entwicklung einher. Eine „untere Grenze“ sollte weder durch Angabe von IQ-Werten noch durch Aussprechen einer Bildungsunfähigkeit festgelegt werden, da grundsätzlich bei allen Menschen Bildungsfähigkeit angenommen werden muss“ (Deutscher Bildungsrat 1974, 13). Wenn auch der Bildungsrat eine Beeinträchtigung in der Gesamtentwicklung annimmt, so wird gleichzeitig die Bildungsfähigkeit eines jeden Menschen

vorausgesetzt. Diese Annahme schafft die Voraussetzung, den Menschen mit Behinderung in seiner Entwicklung zu fördern. Diese Förderung wird nicht nur als möglich angesehen, sondern auch als notwendig postuliert.

Bach bezeichnet diese Fähigkeit als Bildbarkeit, die er in diesem Zusammenhang mit Erziehbarkeit gleichsetzt. Es ist „also von außerordentlicher Bedeutung, die Erziehbarkeit des geistig behinderten Menschen aufzuspüren, freizulegen und selbst die winzigsten Ansätze durch unermüdliches Engagement hervorzulocken“ (Bach 1984, 7).

Die Erfordernis, dass diese Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung lebenslang notwendig ist, wird durch Feuser schon in seiner Definition von geistiger Behinderung impliziert. „Als geistigbehindert gilt, wer [...] derart beeinträchtigt ist, dass er angesichts der vorliegenden Lernfähigkeit zur Befriedigung seines besonderen Erziehungs- und Bildungsbedarfes voraussichtlich lebenslanger spezieller pädagogischer und sozialer Hilfe bedarf“ (Feuser 1981, 123 f.). An anderer Stelle ergänzt Feuser hierzu, dass Erziehung „die Ausbildung des Bedürfnisses des Menschen nach dem Menschen und auf dieser Basis die Strukturierung der Tätigkeit des Menschen mit dem Ziel größter Realitätskontrolle“ und „Bildung das Gesamt der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen eines Menschen im Sinne seiner aktiven Selbstorganisation“ meint (Feuser 1995, 140). Bei dieser Ergänzung wird deutlich, dass für Feuser die Erziehung und Bildung Mittel sind, um das Ziel der Autonomie zu erreichen.

Diese Definition Feusers spiegelt genau das wieder, was den pädagogischen Anspruch (und den Anspruch des Case Managements, auf das ich später noch zu sprechen komme) ausmacht. Auf der einen Seite steht das Kriterium, das die Hilfe nötig macht, auf der anderen Seite definiert er den pädagogisch optimistischen Anspruch an den Helfer, um nicht ein Defizit auszugleichen, sondern das persönliche Wohlbefinden des Hilfesuchenden zu fördern. Folgende Ansprüche stellt Feuser dabei in den Mittelpunkt:

- Nicht die Gesellschaft determiniert Behinderung und legt einen Hilferahmen fest, sondern ausschließlich der Betroffene bestimmt, in welchem Rahmen er Hilfe benötigt. Ausschlaggebend ist hierbei die Hilfe zur Befriedigung des persönlichen Erziehungs- und Bildungsbedarfs. Diese Hilfe soll „speziell pädagogischen und sozialen“ Anforderungen entsprechen.
- Der Erziehungs- und Bildungsbedarf ist „ein besonderer“. Er liegt über dem Bedarf eines Menschen ohne Behinderung.

Aus diesen Hauptaussagen von Feuser ergeben sich Fragen, deren Beantwortung Feusers Forderungen stärken und begründen.

- Hat ein Mensch mit geistiger Behinderung andere Bedürfnisse als ein Mensch ohne Behinderung?
- Was weist den Erziehungs- und Bildungsbedarf als einen Besonderen auf?

Diese Fragen lassen sich auf Grundlage eines humanistischen Menschenbildes beantworten (vgl. Kapitel 5.1).

3 BEDÜRFNISSE ALS ANTRIEB ZUR SELBSTAKTUALISIERUNG

„Nur wenn ich die Bedürfnisse meiner Mitmenschen kenne, kann ich sie motivieren.“

(Vera F. Birkenbihl)

3.1 Grundlagen einer Motivationstheorie

Menschliche Bedürfnisse stellen einen Grundtatbestand des Mensch-Seins (ganz gleich, ob behindert oder nicht) dar. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich überprüfen, ob Menschen mit geistiger Behinderung andere Bedürfnisse haben als Menschen ohne Behinderung.

Unabhängig davon, in welchem Kontext ein Bedürfnis entsteht, es entwickelt sich immer daraus ein Motiv, es zu befriedigen. Maslow trifft eine grundlegende Unterscheidung zwischen „Defizit-Motivation“ und „Wachstums-Motivation“. Damit differenziert er zwischen Bedürfnissen, deren Nichtbefriedigung physische und psychische Störungen zur Folge hat und Motiven, die (weil biologisch zum Lebenserhalt nicht notwendig und daher relativ überflüssig) „lediglich“ zur Bereicherung der Persönlichkeit, zur optimalen Selbstverwirklichung des Menschen beitragen. Ein weiterer Aspekt der Unterscheidung nach Maslow ist die Unterscheidung nach primären Bedürfnissen sekundären Bedürfnisse. Die primären Bedürfnisse sind die meist angeborenen biologisch-körperlichen Bedürfnisse wie Hunger oder Durst. Unter den sekundären Bedürfnissen werden die geistigen und kulturellen Bedürfnisse zusammengefasst.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Physiologische Bedürfnisse

Bei den physiologischen Bedürfnissen steht das reine biologische Überleben im Vordergrund. Ein Mensch braucht u. a. Essen, Trinken, Wärme, Schlaf und auch Sexualität. Um dies sicherzustellen, muss er seine Umgebung entsprechend einrichten, indem er sich Unterkünfte schafft und für seinen Unterhalt sorgt.

Sicherheitsbedürfnis

Auf dieser Ebene geht es, wie das Wort Sicherheit schon sagt, um den Schutz vor negativen Einflüssen. Weiterhin benötigt der Mensch Ordnung und geregelte Verhältnisse, auf die er sich verlassen kann.

Zugehörigkeitsbedürfnis

Maslow spricht auf dieser Ebene von „Belonging needs“, also um den Platz in der Gemeinschaft, den der Mensch sucht. Darüber hinaus geht es auf andere Weise um

„love needs“, das sind nach Maslow gefühlsbetonte Kontakte mit anderen Menschen.

Geltungsbedürfnis

Die fremde wie auch eigene Wertschätzung ist das Bedürfnis einer jeden Person. „Ego needs“ bezeichnet den Status bzw. das positive Feedback, die eigene Wertschätzung nennt Maslow „self-esteem needs“.

Selbstverwirklichungsbedürfnis

Auf der fünften und letzten Stufe strebt der Mensch nach der Selbstverwirklichung. Dies wird als Ziel aller psychologisch-humanistischen Ansätze gesehen. Dieses Bedürfnis der Selbstverwirklichung - auch mit „Selbstaktualisierung“ („self- actualization“ bei Maslow) gleichzusetzen - bezieht Maslow „auf das menschliche Verlangen nach Selbsterfüllung, also auf die Tendenz, das zu aktualisieren, was man an Möglichkeiten besitzt. Diese Neigung kann als das Verlangen formuliert werden, immer mehr zu dem zu werden, was man idiosynkratisch ist, alles zu werden, was zu werden man fähig ist“ (Maslow 1984, 74).

Eine universale Sichtweise des Mensch seins und Mensch werdens wird durch Rogers vertreten. Jedes Individuum existiert demnach in einer ständig sich ändernden Welt der Erfahrungen, deren Mittelpunkt es ist. Der Organismus hat eine grundlegende Tendenz, den Erfahrungen machenden Organismus zu aktualisieren, zu erhalten und zu erhöhen. (vgl. Alterhoff 1994, 41f.). Wenn Rogers in seiner Persönlichkeitstheorie von Organismus spricht, meint er hier immer die Rohform des Mensch seins, die auf Entwicklung drängt. Eine Unterscheidung von behindert und nicht behindert ist damit irrelevant. Es ist also davon auszugehen, dass es generell unter diesem Aspekt keine Unterschiede gibt in den Bedürfnissen aller Menschen.

Dennoch lässt Maslows Aussage, dass eine Selbstaktualisierung nur in dem Rahmen möglich ist, wie ein jeder dazu fähig ist, vermuten, dass Menschen mit geistiger Behinderung Erschwernisse in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse haben und deswegen auf eine besondere Förderung angewiesen sind. Zur Unterscheidung der Bedürfnisse nehme ich eine grobe Unterscheidung zwischen

- physiologischen Bedürfnissen (als Teil der Mangelbedürfnisse) und
- sozialen Bedürfnissen (als Teil der Wachstumsbedürfnisse)

vor. Es ist allerdings dazu zu sagen, dass sich diese Einteilung nicht deckt mit Maslows Einteilung in Mangelbedürfnisse und Wachstumsbedürfnisse, da zu den Mangelbedürfnissen und den physiologischen Bedürfnissen die Bedürfnisse nach Sicherheit, Liebe, Zugehörigkeit und Achtung hinzugezogen werden müssen (vgl. Gröschke 1999, 153).

3.2 Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse

Die biologischen Grundbedürfnisse, also Essen, Trinken etc. sind Bedürfnisse, die das Überleben der Menschheit sichern. Sie stehen an unterster Stelle der Bedürfnishierarchie nach Maslow, es gilt, sie zuerst zu stillen. Menschen mit geistiger Behinderung leben in der Regel in der Familie, in Heimen oder sonstigen Einrichtungen der Behindertenhilfe. In diesen Einrichtungen ist in jedem Falle die hauswirtschaftliche Versorgung gesichert. Menschen, die trotz ihrer Behinderung selbstständig wohnen (z. B. in betreuten Wohneinrichtungen) sind selbst in der Lage, sich zu versorgen, andernfalls ist der Staat in der Pflicht, für die Sicherung der Grundbedürfnisse zu sorgen.

Bei einem kurzen Abriss durch die Geschichte der Behindertenpädagogik ist festzustellen, dass (bis auf die Zeit des Nationalsozialismus) die hauswirtschaftliche Versorgung der Menschen mit Behinderung immer sichergestellt wurde. Ein Unterschied war die Einstellung, wie Menschen mit Behinderung angesehen wurden. So berichtet Mattner, dass „betroffene Menschen [mit Behinderung im Mittelalter] in Gefängnisse, Narr- oder Tollhäuser, in „Narrentürme“ geworfen wurden. [...] Die Menschen wurden wie Tiere in käfigartigen Verschlägen angekettet, durch Gitter versorgte man sie mit Nahrung und entfernte das verschmutzte Stroh mit Harken von außen“ (Mattner 2001, 17). Selbst bei größter Separation und Abwertung der Menschen mit geistiger Behinderung wurde im Mittelalter lediglich dafür gesorgt, dass diese Menschen nicht starben5.

Richtet man den Fokus auf die Gegenwart (mit Ausnahme des Nationalsozialismus), so wird analog zu der Veränderung in der Haltung gegenüber von Menschen mit Behinderung auch eine Veränderung im Leitbild der professionellen Arbeit mit

Menschen mit Behinderung deutlich. Hohmeier erörtert drei verschiedene Arbeitsansätze, die sich mit der Zeit entwickelt haben (vgl. Hohmeier 1988, 1ff.).

- Der kustodiale Ansatz, entstanden im 19. Jahrhundert mit der Einrichtung von Großanstalten, wobei der Schwerpunkt der Arbeit die Aufsicht und Pflege war.
- Der rehabilitativ-sonderpädagogische Ansatz, der nach Hohmeier noch heute vorherrscht. Handlungskategorien sind Betreuung, Förderung und Training.
- Der adressaten- und gemeinwesenorientierte Ansatz soll als das „anstehende dritte Paradigma“ verstanden werden. Hier steht der Grundgedanke einer vollendeten Normalisierung im Vordergrund. Handlungsleitlinien sind Begleitung, Beratung und Normalisierung.

Diese Entwicklung zeigt, wie sich aus der reinen Versorgung der Menschen der Förderungsgedanke entwickelt hat. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Nahrung bejaht sich damit fast von selbst.

Die Frage nach der sexuellen Bedürfnisbefriedigung lässt sich nur schwer beantworten. Voraussetzung zur Beantwortung ist eine Definition von Sexualität. Beschränkt man den Begriff der Sexualität auf den reinen Intimverkehr zur Fortpflanzung unter Menschen, so wird jeder zustimmen, dass diese Bedürfnisbefriedigung bei Menschen mit Behinderung wie ein Tabu-Thema angesehen wird und – anders als in Ländern wie den Niederlanden – selten offen angesprochen wird. Sexualität ist allerdings mehr als nur der rein geschlechtliche Kontakt . Schon die Erfahrung und das Spüren des eigenen wie auch fremden Körpers kann unter den Begriff Sexualität gefasst werden. Lässt man eine so weite Deutung des Begriffes zu, so kann in diesem Zusammenhang auch der Befriedigung von sexuellen Bedürfnissen des Menschen mit Behinderung als möglich zugestimmt werden.

In der Annahme, dass Menschen mit Behinderung ihre biologischen Grundbedürfnisse befriedigen können, werde ich im Folgenden die Möglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung der sozialen Bedürfnisse überprüfen.

3.3 Befriedigung der sozialen Bedürfnisse

Fröhlich stellt fest, dass ein Mensch mit Behinderung einer doppelten Gefährdung ausgesetzt ist: „Einmal ist es das Handicap mit seinen vielfältigen Störmöglichkeiten auf die [...] Entwicklung, zum anderen ist es die Mitwelt mit ihren veränderten Reaktionen [...]“ ( Fröhlich 1994, 244). Es ist demnach mit Erschwernissen im Sinne von Barrieren zu rechnen, die

- genuin in der Behinderung liegen, und/oder
- die aus der Interaktion mit dem sozialen Umfeld entstehen, um die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen.

3.4 Erschwernisse/Barrieren, die in der Behinderung liegen

Durch die intellektuelle Entwicklung von Menschen mit Behinderung sind diese im verstärktem Maße auf Unterstützung zur Bewältigung des Lebensalltags angewiesen. Es gibt eine Vielzahl von Merkmalen, die in direktem wie auch indirektem Zusammenhang mit geistiger Behinderung stehen. So beschreiben Theunissen/Plaute (1995, 30ff) Auffälligkeiten in Bereichen

- des Sozialverhaltens,
- im psychischen Bereich,
- im Arbeits- und Leistungsbereich,
- Auffälligkeiten gegenüber Sachobjekten,
- im somatisch-physischen Bereich
- wie auch autoaggressiven Verhalten.

Diese nach außen hin erkennbaren Auswirkungen begünstigen Verhaltensweisen wie Rückzug aus der Öffentlichkeit, autistische Züge und autoaggressives Verhalten. Oft findet ein Rückzug in die Familie statt oder in ein anderes Umfeld, wo sich der Mensch sicher und geborgen fühlt. Dies hat zur Folge, dass ein Verlust an soziokulturellen Bezügen, an Außenkontakten, an gesellschaftlicher Partizipation unabdingbar sind (vgl. Theunissen/Plaute 1995, 58). Weiterhin sind zu wenig Lebensanreize da, die, bezogen auf das humanistische Menschenbild, eine Entwicklung zum Selbst und damit das Ziel der Autonomie erschweren. So braucht ein Mensch mit geistiger Behinderung in vielen

Fällen eine längere Zeit, um aus Wahrnehmungsreizen einen Handlungsplan zu entwickeln und diesen auszuführen. Hierzu ein Praxisbeispiel:

Tom, ein erwachsener Mann mit Trisomie 21, will mit dem Bus von A nach B fahren. Der Bus kommt, Tom überlegt, ob das der richtige Bus ist, mit dem er fahren muss. Ehe er sich entschieden hat, dass er in diesen Bus einsteigen muss, ist die Tür schon wieder verschlossen und der Bus ist abgefahren.

Mit diesen oder ähnlichen Situationen werden Menschen mit geistiger Behinderung immer wieder konfrontiert. Sie haben aufgrund ihrer Behinderung Schwierigkeiten, mit dem stetig wachsenden Tempo und der Menge der Reize mitzuhalten. Es kommt immer wieder zu Negativ-Erfahrungen im Erleben des eigenen Handelns. Diese ständigen Negativ-Erfahrungen und die ausbleibenden positiven Erlebnisse fördern die Entwicklung eines negativen Selbstwertgefühls und stellen damit eine Barriere für ein positives Selbstbild dar.

Ein weiteres direkt in der Behinderung liegendes Problem ist die Abhängigkeit von anderen Menschen. Besonders auffällig ist dies spürbar bei zusätzlich zur geistigen Behinderung noch vorhandenen körperlichen Schwierigkeiten. Zur Verdeutlichung stelle ich einen Mann namens Jürgen vor.

Jürgen habe ich während meiner Arbeit als Schwimmausbilder von Kindern mit Behinderungen verschiedener Art kennengelernt. Jürgen ist mehrfach behindert, d. h. es ist nicht nur seine allgemeine Entwicklungsverzögerung, sondern grundlegend eine motorische Beeinträchtigung beider Arme, die seine Selbstständigkeit erschwert. Jürgen muss das Essen gereicht werden, er benötigt Hilfe bei sämtlichen Tätigkeiten, die im Alltag anfallen. Auch wenn er persönlich immer einen sehr zufriedenen Eindruck macht, so wird er sein Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen bleiben.

Speck weist bei dieser extrem sozietären Abhängigkeit von anderen Menschen auf die Gefährdung der Identitätsentwicklung hin (vgl. Speck 1984, 115). Eine nicht vollständig entwickelte Identität kann zu Verhaltensauffälligkeiten führen, die sich wiederum im Umgang mit dem sozialen Umfeld bemerkbar macht. Alle genannten Erschwernisse bei der eigenen Bedürfnisbefriedigung beziehen sich auf das Erleben der Person mit

[...]


1 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

2 Bundessozialhilfegesetz

3 International Classification of Diseases von 1993

4 Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen von 1996

5 Der Hinweis auf dieses nach meinem Ermessen unmenschliche Verhalten stellt keine Rechtfertigung der Bedürfnisbefriedigung biologischer Bedürfnisse dar, sondern soll verdeutlichen, dass schon vor vielen Jahren die Menschen mit Behinderung soweit als „menschlich“ angesehen wurden, dass sie (im Gegensatz zum Nationalsozialismus) zumindest als „lebenswert“ erachtet wurden.

Fin de l'extrait de 89 pages

Résumé des informations

Titre
Case-Management in der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung
Université
University of Applied Sciences Münster  (Fachbereich Sozialwesen)
Note
1,3
Auteur
Année
2002
Pages
89
N° de catalogue
V10350
ISBN (ebook)
9783638167994
Taille d'un fichier
921 KB
Langue
allemand
Mots clés
Case Management, Behinderung, geistig behindert, Assessment
Citation du texte
Christian König (Auteur), 2002, Case-Management in der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10350

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