Verstoßen Hartz-IV-Sanktionen gegen die Menschenwürde? Eine Darstellung

Leistungsminderungen durch Pflichtverletzungen bei über 25-Jährigen laut Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 05. November 2019


Hausarbeit, 2020

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das Urteil im Überblick
2.1 Zusammenfassung der §§ 31, 31a und 31b SGB
2.2 Zusammenfassung des Urteils des Ersten Senats vom 05. November

3. Ausgewählte Thesen der Urteilsbegründung
3.1 These zur staatlichen Bevormundung
3.2 These zum legitimen Ziel
3.3 These zum wichtigen Grund

4. Fazit

5. Quellen
5.1 Printquellen
5.2 Internetquellen

6. Anhang: §§ 31, 31a, 31b SGB

1. Einleitung

„Jeder, der irgend imstande ist, sollte zur Arbeit angehalten werden, und selbst unter den Kränklichen sollte genau nachgeforscht werden. Es dürften sich dann für die Mehrzahl der Lahmen und Blinden und für viele, die zu schwerer Arbeit untauglich sind, Beschäftigungen finden, solange ihre Gesundheit und ihre Kräfte noch ausreichen.“1,

schrieb 1714 der Satiriker Bernard Mandeville in The Fable of the Bees. In seiner bitterbösen Zuspitzung erinnert es dennoch an die moderne Haltung des aktivierenden Staates2 mehr als dreihundert Jahre später. Bis zum Beweis des Gegenteils wird Leistungsberechtigten grundsätzlich die Arbeitsfähigkeit unterstellt. Wer nicht aktiv und nach Einschätzung der Behörden in zumutbarem Maße an der Beseitigung seiner oder ihrer Hilfebedürftigkeit mitwirke (in der Regel durch Suche und Aufnahme einer Erwerbsarbeit), hat mit Kürzungen seiner oder ihrer Sozialleistungen zu rechnen. Da jedoch eine, wenn auch vorübergehende, Kürzung einer existenzsichernden Sozialleistung mit der im Grundgesetz verankerten Würde des Menschen kollidiert, musste sich schließlich das Bundesverfassungsgericht diesem Problem widmen.

Am 05. November 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht über die Hartz-IV-Sanktionen, konkreter über den Paragraphen zu den Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen (§ 31a SGB II) in Verbindung mit den Paragraphen zu Pflichtverletzungen und dem Beginn und der Dauer der Minderung (§§ 31, 31b SGB II) und erklärte sie für teilweise verfassungswidrig. Doch das 59 Seite lange Urteil kann nur eine Momentaufnahme davon bieten, wie die Judikative aktuell die Gewichtung der im Konflikt liegenden Normen setzt. Der gesellschaftliche Diskurs geht trotzdem weiter, das zeigen die kontroversen Reaktionen. Mehrere Organisationen und Parteien befürworten weiterhin eine vollständige Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen bzw. die Überarbeitung der Regelungen.3 An den eingeholten Meinungen verschiedener ExpertInnen für das Gericht zeigte sich, dass die Meinungen auch unter Fachleuten gespalten sind: Staatsnahe Institutionen befürworteten die Sanktionen deutlich häufiger als NGOs.4 Da Hartz-IV-Sanktionen hauptsächlich Arbeitslose treffen, ist das Thema durchaus für den sozialen Frieden relevant. Menschen am untersten Ende der sozialen Schichtung werden Existenzängsten zum Zwecke der ‚Aktivierung‘ ausgesetzt, obwohl der Staat doch grundsätzlich allen Menschen eine gesicherte Existenz in Würde gewährleisten sollte. Die Minderung existenzsichernder Leistungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten stehe laut Bundesverfassungsgericht in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis zur Existenzsicherungspflicht des Staates5 – trotzdem wird dieses Spannungsverhältnis auch durch das Urteil nicht aufgelöst, allenfalls gelockert.

Diese Hausarbeit fragt danach, ob Hartz-IV-Sanktionen gegen die Menschenwürde verstoßen, die doch verfassungsmäßig vom deutschen Staat garantiert wird. Zur Bearbeitung dieser Frage, die nur partiell und nicht vollständig erfolgen kann, wird sich mit Thesen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt. Sind zeitlich begrenzte Sanktionen bis 30 Prozent nicht immer noch eine unzumutbare Härte für Menschen, die von Armut bedroht bzw. betroffen sind? Aufgrund der differenzierten gesetzlichen Regelungen zu Hartz-IV-Sanktionen bezieht sich diese Arbeit wie auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls nur auf über 25-jährige Leistungsberechtigte nach SGB II und nur auf die Leistungsminderungen nach den §§ 31, 31a, 31b SGB II. Während einige Schlussfolgerungen durchaus auf andere Leistungsberechtigte von Sozialleistungen bzw. auf andere Sanktionsregelungen zutreffen können, müsste das dennoch im Einzelnen betrachtet werden.

Zunächst werden die relevanten Paragraphen sowie der Inhalt des Urteils kurz zusammengefasst als Grundlage für die nachfolgende Diskussion. Der Hauptteil formuliert und hinterfragt einige ausgewählte Thesen aus der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts. In einem Fazit wird die Auswertung erfolgen, ob oder inwieweit Hartz-IV-Sanktionen auf Grundlage dieses Einblicks gegen die Menschenwürde verstoßen.

2. Das Urteil im Überblick

Dieses Kapitel legt den Grundstein zum Verständnis des nachfolgenden Kapitels, in dem Thesen aus dem Gerichtsurteil vom 05. November 2019 kritisch beleuchtet werden. Zuerst erfolgt eine kurze Zusammenfassung der relevanten Paragraphen über Sanktionen im Fall der Verletzung von Mitwirkungspflichten. Danach wird das Urteil, das die Verfassungsmäßigkeit dieser drei Paragraphen prüfte, ebenfalls kurz zusammengefasst.

2.1 Zusammenfassung der §§ 31, 31a und 31b SGB II

Das zweite Sozialgesetzbuch, SGB II, behandelt die Grundsicherung für Arbeitssuchende, welche auch Arbeitslosengeld II oder umgangssprachlich Hartz IV genannt wird. Die im Unterkapitel 5 behandelten Sanktionen umfassen die §§ 31, 31a, 31b, und 32 und werden demzufolge umgangssprachlich Hartz-IV-Sanktionen genannt. Die drei 31-er Paragraphen regeln die Sanktionen gegen Leistungsberechtige bei Pflichtverletzungen.6

Da der § 32 Meldeversäumnisse nicht Bestandteil des Urteils vom 05. November 2019 ist, wird er hier nicht weiter ausgeführt. Es sei aber darauf hingewiesen, dass er ebenfalls eine Form der Sanktionen gegen Leistungsberechtigte regelt.

§ 31 Pflichtverletzungen

Dieser Paragraph erläutert, wann Pflichtverletzungen bei den Leistungsberechtigten vorliegen bzw. anzunehmen sind. Er ist in zwei Absätze unterteilt.

Im ersten Absatz sind „Mitwirkungspflichten zur Rückkehr in Erwerbsarbeit normiert“7. Kurzgefasst verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Mitwirkungspflichten, wenn sie sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Pflichten zu erfüllen, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Beschäftigungsgelegenheit oder Maßnahme zur Eingliederung aufzunehmen, fortzuführen oder wenn sie deren Zustandekommen verhindern oder Anlass zum Abbruch geben.8 Allerdings müssen sie über die Rechtsfolgen schriftlich belehrt worden sein oder Kenntnis darüber besitzen.9 Die Mitwirkungspflicht gilt nicht als verletzt, wenn ein wichtiger Grund für das Verhalten dargelegt und nachgewiesen werden kann.10

Im zweiten Absatz sind weitere Verhaltenspflichten normiert, die jedoch für diese Arbeit nicht relevant sind.

§ 31a Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen

Dieser Paragraph behandelt die Rechtsfolgen, also Sanktionen des Arbeitslosengeldes II, die bei den oben aufgeführten Pflichtverletzungen nach § 31 verhängt werden. Er ist in die folgenden vier Absätze gegliedert.

Im ersten Absatz wird die Höhe der Leistungsminderung in drei Stufen erfasst: Bei einer Pflichtverletzung mindert sich das Arbeitslosengeld II erwerbsfähiger Leistungsberechtigter

- in der ersten Stufe um 30 Prozent des Regelbedarfs,
- in der zweiten Stufe, bei der zweiten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres, um 60 Prozent des Regelbedarfs und
- in der dritten Stufe, also bei jeder weiteren Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres, entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig.11

Der zweite Absatz betrifft unter 25-Jährige und ist für diese Arbeit nicht relevant. Es ist aber anzunehmen, dass sich die Sanktionierungsregelungen für diese Zielgruppe durch die Signalwirkung des Urteils vom 05. November 2019 ebenfalls ändern werden.12

Im dritten Absatz werden ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen auf Antrag normiert. Bei sanktionierten Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern sind diese vom Träger zu erbringen, während sie für alle übrigen Betroffenen und erst bei über 30-prozentigen Sanktionen nur Kann-Bestimmungen sind. Außerdem sollen bei Sanktionen um mindestens 60 Prozent Direktzahlungen für Unterkunft und Heizung an Empfangsberechtigte erfolgen.13

Der vierte Absatz zu nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist durch den Bezug auf § 31 Abs. 2 Nummer 1 und 2 auch nicht relevant für diese Arbeit.

§ 31b Beginn und Dauer der Minderung

Dieser Paragraph regelt den Beginn und die Dauer von Leistungsminderungen. Er besteht aus zwei Absätzen.

Der erste Absatz besagt, dass die Leistungsminderung zu Beginn des Kalendermonats eintritt, der auf den die Pflichtverletzung feststellenden Verwaltungsakt folgt. Die Dauer beträgt drei Monate. Die Feststellung der Minderung kann nur innerhalb von sechs Monaten nach der Pflichtverletzung erfolgen.14 Weitere Bestimmungen dieses Absatzes (Satz 2 und 3) sind für die Arbeit nicht relevant, weil sie nichterwerbsfähige und unter 25-jährige Leistungsberechtigte betreffen.

Der zweite Absatz schließt während der Leistungsminderung einen Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII aus.15

2.2 Zusammenfassung des Urteils des Ersten Senats vom 05. November 2019

Das Bundesverfassungsgericht entschied am 05. November 2019 unter der Mitwirkung von acht RichterInnen im Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung von Sanktionen im Sozialrecht über im Wesentlichen drei Punkte: ob die Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen16

- mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip laut Grundgesetz und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums,
- mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und
- mit dem Grundrecht auf Berufsfreiheit vereinbar sind.17

Gemäß Urteil wurde für Recht erkannt, dass die Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen in drei Fällen mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip laut Grundgesetz unvereinbar sind:

- soweit eine Sanktion die Höhe von 30 Prozent übersteigt,
- soweit eine Sanktion zwingend zu verhängen ist, auch bei außergewöhnlichen Härten und
- soweit für alle Sanktionen ungeachtet der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht oder der Bereitschaft dazu eine starre Dauer von drei Monaten gilt.18

Weiterhin wurden Übergangsregelungen19 bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber verfügt, die in den o.g. Punkten Abhilfe schaffen, deren Erläuterung an dieser Stelle aber zu weit führen würde.

Es ist festzuhalten, dass trotz einer deutlichen Einschränkung der bisherigen Sanktionierungspraxis durch das Urteil, grundsätzlich Leistungsminderungen nicht als unvereinbar mit dem Grundgesetz gelten. Da diese Arbeit sich genau dieser Frage stellen möchte, ob oder inwieweit Hartz-IV-Sanktionen gegen die im Grundgesetz garantierte Menschenwürde verstoßen, wird sich das nächste Kapitel der Urteilsbegründung widmen.

[...]


1 Mandeville (1980): Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile, S. 231.

2 Der Paradigmenwechsel in Deutschland vom fürsorgenden zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat vollzog sich Ende der 90er Jahre unter dem Slogan „Fördern und Fordern“. Dazu und zum Anstieg von Zwang und sozialer Kontrolle im deutschen, aktivierenden Wohlfahrtsstaat vgl. Dingeldey (2006): Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung, S. 7, 9 und Hering/Münchmeier (2014): Geschichte der Sozialen Arbeit, S. 249.

3 Vgl. Deutscher Caritas Verband e.V. (2018): Sanktionen und Soziale Teilhabe bei Hartz IV und Grundsicherung, o. S. Darin werden die Stellungnahmen der Partien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen behandelt.

4 Vgl. BVerfG (2019): 1 BvL 7/16, Rn. 88 - 97.

5 Vgl. a.a.O., Rn. 132.

6 Im Anhang dieser Arbeit sind diese Paragraphen in ihrer vollständigen aktuellen Fassung zu finden.

7 BVerfG (2019): 1 BvL 7/16, Rn. 18.

8 Vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

9 Vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

10 Vgl. § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Auf diesen Punkt wird im Hauptteil noch näher eingegangen.

11 Vgl. § 31a Abs. 1 SGB II. Die sog. Totalsanktion kann außerdem auf eine 60 %-Kürzung reduziert werden, wenn der oder die erwerbsfähige Leistungsberechtigte sich nachträglich bereit erklärt, seinen bzw. ihren Pflichten nachzukommen. Vgl. ebd.

12 Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele hatte nach dem Urteil bekannt gegeben, auch die Sanktionen für unter 25-Jährige auszusetzen. S. ZEIT ONLINE (2019): Arbeitsagentur setzt Hartz-Sanktionen auch für Jüngere aus, o. S.

13 Vgl. § 31a Abs. 3 SGB II. Die Formulierung „mindestens“ 60 Prozent ist etwas irreführend, tatsächlich entfällt bei der dritten Stufe, der Totalsanktion, auch die Zahlung für Unterkunft und Heizung. Jedoch kann durch eine Kombination mit anderen Sanktionen, wie nach § 32, eine höhere Minderung als 60 Prozent auftreten, ohne dass der oder die Leistungsberechtigte vollständig sanktioniert wurde.

14 Vgl. § 31b Abs. 1 Satz 1 u. Satz 4 SGB II.

15 Vgl. § 31b Abs. 2 SGB II.

16 Konkreter: „§ 31a in Verbindung mit §§ 31 und 31b des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 850, 2094), gültig ab 1. April 2011“, s. BVerfG (2019): 1 BvL 7/16, o. Rn., zur besseren Lesbarkeit von der Verfasserin gekürzt.

17 Vgl. BVerfG (2019): 1 BvL 7/16, o. Rn.

18 Ebd.

19 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Verstoßen Hartz-IV-Sanktionen gegen die Menschenwürde? Eine Darstellung
Untertitel
Leistungsminderungen durch Pflichtverletzungen bei über 25-Jährigen laut Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 05. November 2019
Hochschule
Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Göttingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
19
Katalognummer
V1036017
ISBN (eBook)
9783346450272
ISBN (Buch)
9783346450289
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Menschenrechte, Menschenwürde, Grundgesetz, Sozialleistungen, SGB, Arbeitslosigkeit, Aufstocker
Arbeit zitieren
Luise Weinhold (Autor:in), 2020, Verstoßen Hartz-IV-Sanktionen gegen die Menschenwürde? Eine Darstellung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1036017

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