Gedächtnis und Verschwörung in "La forma de las ruinas" (2015). Eine Analyse


Tesis de Máster, 2021

67 Páginas


Extracto


Inhalt

1 ¿RECHAZAR LA EXPLICACIÓN MÁS SIMPLE POR LA MÁS FANTÁSTICA?

2 GATTUNGSFRAGE: SCHWIERIGKEIT EINER EINDEUTIGEN TYPOLOGISIERUNG
2.1 Das Zwitterwesen der Autofiktion
2.2 Eine Problematisierung der Historiographie: die historiographische Metafiktion
2.3 Die Exofiktion - die Fiktionalisierung realer Figuren

3 VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN, -IDEOLOGIEN ODER -GESCHICHTEN?
3.1 Definition und Charakteristika
3.2 Typologien
3.3 Ursachen und Funktionen: Verschwörungstheorien als Sinnstiftung und Traumaverarbeitung .
3.4 Narrative Funktionsweisen und der Mensch als homo narrans

4 GEDÄCHTNIS UND VERSCHWÖRUNG IN LA FORMA DE LAS RUINAS
4.1 Gesamtkomposition und Handlungsstruktur
4.2 La forma de las ruinas: Im Drehkreuz der Gattungen
4.3 „romper la camisa fuerza de la versión oficial"
4.4 Eine fesselnde Geschichte: Anzola als Held
4.5 Erzählen, um zu verstehen: Gemeinsamkeiten zwischen Exofiktion und Verschwörungstheorie? .
4.6 Das Aushalten der Ambiguitäten

5 FAZIT UND AUSBLICK

6 BIBLIOGRAFIE
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

Abstracts

Este trabajo explora con La forma de las ruinas (2015) de Juan Gabriel Vásquez el significado de las teorías de la conspiración en el contexto de una política colombiana de la memoria unilateral. Para el análisis, se utilizan diferentes géneros para la investigación tipológica de los mismos, así como los modos de funcionamiento de las teorías de la conspiración. La dialogicidad de la novela entre la teoría de la conspiración y la historiografía oficial permite un examen crítico y productivo del pasado. Se demuestra la simplicidad de caer en las narrativas conspirativas, pero igualmente las refleja críticamente con elementos de la metaficción. A través de diversas formas de ambigüedad, se niega una fijación clara del significado y se demuestra así tanto la complejidad como la indeterminación de la historia de la violencia reciente en Colombia. Además, la novela debe entenderse como un alegato a favor de la tolerancia, porque no se desacredita ninguna de las dos visiones representadas en el diálogo, sino que se hace posible su coexistencia.

This thesis examines Juan Gabriel Vásquez's novel, La forma de las ruinas (2015) [The Shape of the Ruins], to explore the significance of conspiracy theories in the context of a one-sided Colombian politics of memory. In my analysis, I will take into account different genres for the genre-typological investigation as well as the modes of operation of conspiracy theories. The novel's dialogicity between conspiracy theory and official historiography allows for a critical and productive examination of the past. The simplicity of falling for conspiratorial narratives is demonstrated, but critically re­flected via metafiction. Through various forms of ambiguity, the novel denies a clear fixation of meaning and thus demonstrates the complexity as well as the indetermina­tion of Colombia's recent history of violence. Furthermore, the novel can be under­stood as a plea for tolerance, because neither of the two views represented in the dialogue is discredited, but rather their coexistence becomes possible.

1 ¿Rechazar la explicación más simple por la más FANTÁSTICA?

Bioy: He notado que hoy la gente busca las causas sociales de los hechos políticos; éste es un proceder intelectual y bastante raro; no creo que siempre se empleara; antes la gente explicaría esos hechos por los individuos: los individuos son ricos como mundos, imprevisibles, admiten el azar. La explicación por los individuos me parece más próxima a la verdad.

Borges: Las causas sociales son abstracciones; desde luego los individuos también lo son, pero en menor grado.

Bioy: Es curioso cómo toda la gente puede adoptar una explicación un poco fantástica, emplearla con naturalidad, rechazar la explicación más simple.1

Wie Bioy Casares in diesem Gespräch mit Borges feststellt, scheinen Menschen be­reit zu sein, für bestimmte Ereignisse bestimmte Erklärungen zu bevorzugen, nämlich die, die eben nicht die einfachsten sind. Stattdessen scheint die etwas fantastischere Variante die attraktivere zu sein. Aber warum ist das so? Beruht dies auf einer Faszi­nation für Spekulatives, Fantastisches, Geheimnisvolles oder Besonderes? Oder be­dienen solche Erklärungen vielleicht bestimmte menschliche Bedingungen, die für das Verständnis oder die Verarbeitung von bedeutenden, revolutionären gesellschaft­lichen Ereignissen notwendig sind und vielleicht gerade deshalb, wie Bioy Casares anmerkt, näher an der „Wahrheit" zu sein scheinen?

Dieses Phänomen der Abweichung von der einfachsten oder besser gesagt der offensichtlichsten Erklärung ist mit einem Blick auf dramatische historische Ereignisse keinesfalls ein Einzelfall: Mit den Attentaten auf JFK, Franz Ferdinand vor dem Ersten Weltkrieg, dem Anschlag des Elften September oder dem Tod Lady Dianas sind nur wenige von ihnen genannt. Die Attraktivität dieser von der offiziellen Version abwei­chenden Erklärungen spiegelt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, in den Erfolgs­zahlen des dokumentarisch gestalteten Internetfilms Loose Change zu den Ereignissen des Elften September wider. So wurde der Film, bis 2006, laut FAZ be­reits 10 Millionen Mal über Google aufgerufen und die zugehörige gleichnamige Web­seite um die 20.000-mal täglich besucht.2 Wie im Artikel angedeutet steht der Film für das Bedürfnis einer weitergehenden Erklärung für das so revolutionäre Ereignis.3 Ver­schwörungstheorien scheinen also genau dort wirksam zu werden, wo eine offiziell kommunizierte Erklärung für unzureichend empfunden wird. Schirin Fathi, Lehrende und Forschende der Islamwissenschaft, spricht davon, dass großem Unglück ent­sprechend große Ursachen vorausgehen müssen.4 Das Credo der Verschwörungs­theoretiker besagt somit, dass es keine Zufälle, Unfälle oder Unwahrscheinlichkeiten gibt, weshalb hinter großem Unglück immer ein Machtstreben und böse Absichten stecken müssen.5

Doch welche Rolle spielen diese einleitenden Einblicke im Kontext Kolumbiens und wie sieht hier der Nährboden für Verschwörungstheorien aus? Die Gewaltgeschichte Kolumbiens hat eine Vielzahl an kollektiven Traumata6 zu verbuchen. Die Frage nach Recht und staatlicher Ordnung ist hier als Grundkonflikt des 20. Jahrhunderts zu ver­zeichnen.7 Die Guerra de los Mil Días (1899-1902) und La Violencia sind als Höhe­punkte des Konflikts zwischen Konservativen und Liberalen zu verzeichnen.8 Nach der Beendigung der auf die Violencia folgende Militärdiktatur kommt es schließlich zu einer großen Koalition zwischen den Liberalen und den Konservativen bis zu den 1970er Jahren, was zwar die Wirtschaft verbessert, jedoch keine Veränderungen der sozialen Ungleichheiten herbeiführt.9 So entstehen aus den ungerechten Strukturen und der ungeklärten Landfrage neue Formen der Gewalt durch die Guerilla. Das Netz­werk der Gewalt besteht über Jahrzehnte hinweg aus der Regierung, den Paramili­tärs, Drogenkartellen, der Guerilla und den USA.10 In den 1980er Jahren verkündet der Drogenbaron, Pablo Escobar, dem Staat den Krieg durch Terror, wodurch die Gewalt zu einem angemessenen Mittel wird, um auf politische Herausforderungen zu reagieren.11 Durch die Verfassung von 1991 gibt es Hoffnung, dass die Guerilla in der Politik mitwirken darf und es so zu einer Einigung kommt, doch der Versuch schei­tert.12 Präsident Uribe (-2010) etabliert als Antwort auf die Gewaltsituation den Leit­satz „Todo vale", der im Sinne von „Der Zweck heiligt die Mittel" die Gewalt als politische Strategie kommuniziert.13 Die Logiken des Krieges haben bei der Bevölke­rung letztendlich zu Misstrauen, Schweigen und Isolierung geführt. Die Beschädigung grundlegender sozialer Werte wie Solidarität und Gegenseitigkeit führen bei vielen Opfern der Gewalt zu einem Verlust des Vertrauens in die Schutz- und Ordnungs­funktion des Staates.14 Der Mangel an Gerechtigkeit, die ungenügende Begleitung von Konfliktopfern, die fehlende Anerkennung des verursachten Leidens durch den Staat sowie die bei 90% liegende Straflosigkeit der Verbrechen führen unmittelbar zu Hass, Angst und dem Wunsch nach Vergeltung aufseiten der Bevölkerung.15

Mit einem Blick auf die Erinnerungs- und Geschichtspolitik Kolumbiens, werden die Bedingungen bzw. die Ursachen für Verschwörungstheorien sogar noch greifbarer und verständlicher. So kommunizieren die zum Großteil von den Eliten kontrollierten Medien nach der Violencia einen Diskurs der Versöhnung. Dabei wird der Parteikon­flikt als Ursache für die Gewalt und den Krieg ausgeblendet.7 Weder werden Gründe für die Gewalt kommuniziert, noch werden kriegstreibende Politiker für ihre Handlun­gen beim Namen genannt oder verantwortlich gemacht.8 Somit kann man die Politik des Frente Nacional insgesamt als Pakt des Vergessens beschreiben. Das Ausblei­ben einer kollektiven sowie institutionellen Erinnerungsarbeit führt dabei zu einer Aus­löschung der Violencia aus dem historischen Gedächtnis9, wodurch die Politiker sich aus der Verantwortung ziehen, Gründe oder Verantwortliche für die Eskalation der Gewalt anzugeben.10 Ferner führt die physische Vernichtung von Archivdokumenten zu einer verzerrten offiziellen Geschichtsschreibung, die unter anderem überwiegend von Mitgliedern der Eliten verfasst wird.11 Wichtig ist hierbei, dass durch das bewusste Vergessen und die dadurch auch bewusst vernachlässigte Geschichtsdidaktik, ein unkritisches und lückenhaftes Geschichtsbild zurückbleibt.12 Die Vergessenskultur führt letztlich zu einer Zersplitterung der Narrative.13 Die Stimmen gegen die offizielle Version existieren zwar, nur kriegen diese für die Elite unliebsamen Ideen durch sub­tile Mechanismen auf institutioneller Ebene kaum Publikum.14 Das Bedürfnis der Be­völkerung für das Erlittene einen Sinnzusammenhang zu haben, bleibt also weiterhin bestehen. Auch während des conflicto armado hat die Forderung nach historischer Wahrheit auf der politischen Agenda keinerlei Priorität.15 Die Konfliktzeiten führen letztlich herbei, dass kollektive Erzählungen zum einen als erzählerische Selbstbe­hauptung und zum anderen auch zur Schaffung von Feindbildern dienen. Dies hat eine reziproke Beeinflussung von Konflikt und Erzählung zur Folge, was die Gefahr birgt, dass solche Narrative auch zur Förderung der Interessen einzelner Gruppierun­gen führen. Beispielsweise hat sich so das Vorhaben der Guerillas von der Vertretung sozialer Interessen zu terroristischen Aktivitäten verändert.16 Im Gegensatz zu da­mals ist aktuell in Kolumbien ein boom de la memoria zu verzeichnen, der als Antwort auf die soziale Nachfrage des Landes zu verstehen ist, sich mit der Geschichte aus­einanderzusetzen, um die Ursprünge der Gewalt erfassen zu können.17 Der Boom hat u.a. den Día Nacional de la Memoria am 9. April oder die unter Juan Manuel Santos verabschiedete Ley de Víctimas y Restitución de Tierras hervorgebracht.18 In diesem Kontext forciert die Comisión de Memoria Histórica eine memoria integratora mit der Absicht alle Stimmen der Gewalt zu erfassen und ihr Nebeneinander, so widersprüch­lich sie sein mögen, zu ermöglichen und so eine dezentrale Sicht auf den Konflikt zu schaffen.19

Welche Rolle der zu untersuchende Roman von Juan Gabriel Vásquez, La forma de las ruinas (2015), in diesem Kontext spielt, soll das Ziel dieser Arbeit sein. Dieser handelt, um es kurz zu fassen, von einem Verschwörungstheoretiker namens Carlos Carballo, der den Erzähler, Juan Gabriel Vásquez, darum bittet ein Buch über seine Verschwörungstheorien zu schreiben, die einen Komplott der Konservativen hinter den Attentaten auf die liberalen Politiker Rafael Uribe Uribe (1914) und Jorge Eliécer Gaitán (1948) vermuten. Der Erzähler ist sich sicher diesen Roman niemals zu schrei­ben, realisiert das Projekt aber letztlich doch. Die zentrale Fragestellung richtet sich deshalb auf die Bedeutung und den Stellenwert, den die Verschwörungstheorien im Kontext der turbulenten Gewaltgeschichte Kolumbiens einnehmen können. In der nachfolgenden Arbeit soll schließlich gezeigt werden, wie es dem Roman gelingt zwei dichotome und statische Wirklichkeitskonzepte, die der offiziellen Geschichtsschrei­bung Kolumbiens und die der Verschwörungstheorie, so aufeinandertreffen zu las­sen, dass sich herausstellt, dass die Komplexität der gewaltvollen Vergangenheit Kolumbiens nicht eindeutig bestimmbar, sondern ambivalent ist. Dabei wird keine der im Dialog vertretenen Weltansichten diskreditiert, sondern vielmehr ein Plädoyer für Toleranz und Nachvollziehbarkeit geschaffen. Die Verschwörungstheorien an sich sind dabei in La forma de las ruinas in mehrfacher Weise funktional und thematisch relevant.

Der Roman weist im Großen und Ganzen drei implizit theoretische Bezüge auf: die Gattungstypologie, die Verschwörungstheorien und die Geschichtskonstruktion. Des­halb sollen im Theorieteil zunächst die infrage kommenden Genres, an die der Roman andockt, beleuchtet werden. Im Folgenden werden die Verschwörungstheorien vor­gestellt; was man unter ihnen versteht, wie sie funktionieren und welche Typen be­kannt sind. Der Fokus liegt hierbei eher darauf zu verstehen, was Verschwörungstheorien leisten können und welche Funktion sie im Hinblick auf kol­lektive Traumata und den Umgang mit vergangenen Ereignissen haben können. Im Anschluss finden die beiden Theoriekapitel Anwendung in der Werkanalyse, wobei im ersten Unterkapitel des Hauptteils eine gattungstypologische Untersuchung er­folgt. Das darauffolgende Kapitel 4.3 geht der Frage nach, inwiefern die Verschwö­rungstheorien im Kontext Kolumbiens symptomatisch für eine unzureichende Erinnerungspolitik sind und welche Funktionen oder welches Potenzial sie im Hinblick auf vergangene Ereignisse haben. Unter 4.4 soll gezeigt werden, wie auf figuraler aber auch auf rezeptionsästhetischer Ebene die Einfachheit an Verschwörungstheo­rien zu glauben vorgeführt, dann jedoch auch mit einer kritischen Reflexionsebene verknüpft wird. Unter 4.5 werden u.a. die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die Verschwörungstheorien und das Genre Exofiktion aufweisen, das auch unter 4.2 be­rücksichtigt wird, untersucht. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass sie beide er­zählen, um zu verstehen. Ferner soll im letzten Kapitel 4.6 nochmals auf die im Werk angelegten Ambiguitäten eingegangen werden, die dazu dienen der Leserin das Aus­halten von Ambiguitäten vorzuführen, indem eine eindeutige Sinnfixierung vermieden wird. Letztlich sollen die wichtigsten Ergebnisse in einem Fazit festgehalten werden. Da der Roman allerdings implizit noch einen dritten theoretischen Bezug herstellt, nämlich den der Geschichtskonstruktion, sollen die Ergebnisse der Arbeit am Ende des Fazits nochmals mit der kulturwissenschaftlichen Forschung zum kollektiven Ge- dächtnis20 in Verbindung gebracht werden. Die Literatur an sich zählt, laut Astrid Erll, als Gedächtnismedium21 par excellence und die Verschwörungstheorien im Roman können als Symptom für eine einseitige Erinnerungspolitik verstanden werden. Daher sollen die Ergebnisse abschließend nochmals auf ebendieser etwas abstrakteren Ebene betrachtet und bewertet werden.

2 Gattungsfrage: Schwierigkeit einer eindeutigen Typologi- SIERUNG

Da der Roman gattungstypologisch schwer bestimmbar ist, soll dieses Kapitel die jeweiligen Genre Autofiktion und historiographische Metafiktion präzisieren, um an­schließend eine Annäherung an das Genre Exofiktion vornehmen zu können, das mit beiden einen Nexus teilt. In diesem Zusammenhang soll genauer erarbeitet werden, welche Stellung die nueva novela histórica sowie die postkonstruktivistische metahis- toriographische Fiktion im gesamten Kapitel einnehmen kann.

2.1 Das Zwitterwesen der Autofiktion

Da das Genre Exofiktion an das Paradigma der Autofiktion anknüpft, muss diese zu­nächst genauer betrachtet werden. Hierbei soll der historische Ursprung der Biogra­phie außen vorgelassen werden, da dies den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde.

Der Autofiktionsbegriff geht auf Serge Doubrovsky zurück und problematisiert den klassischen Autobiographiebegriff. Grundlage hierfür ist nach Doubrovsky die Tatsa­che, dass eine durch Sprache vermittelte Realität nie außerhalb ihrer Vertextung zu­gänglich ist, sondern eben nur im spezifischen Diskurs gerade erst konstituiert wird.22 Wirklichkeit, so Doubrovsky, ist keine dem Text vorausgehende Größe, sondern ent­steht gerade erst im Zusammenspiel zwischen subjektiven, medialen und anderen Faktoren.23 Inmitten der traditionellen, kategorialen Konstellation von Fiktion und Au­tobiographie, wird nun in den letzten Jahrzehnten der Begriff der Autofiktion positio­niert, der zur Prämisse hat, dass jede Autobiographie unter Einsatz der Fiktion schreibt.24 Die Autofiktion erweist sich somit als ein Geflecht aus referenziellen und fiktionalen Diskursen.25 Da mit diesen Voraussetzungen allerdings jede Autobiogra­phie auch gleichzeitig autofiktional gelesen werden könnte, grenzt Doubrovsky die Autobiographie von der Autofiktion ab, indem er sagt, dass diese ausschließlich für Berühmtheiten vorgesehen ist, während sich in der Autofiktion jeder mit dem Aben­teuer der Sprache selbst fingieren könnte.26 An dieser Stelle sei anzumerken, dass er den Akt des Fingierens nicht im traditionellen Sinne versteht, sondern damit den Akt der sprachlichen Konstitution des Ichs meint.27 Er definiert sie deshalb „[...] als nicht ganz Autobiographien, nicht ganz Romane, gefangen im Drehkreuz, im Zwischen­raum der Gattungen, die gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographi­schen und den romanesken Pakt geschlossen haben."28 Die Metapher der Drehtür geht dabei auf Gérard Genette zurück und meint die daraus resultierende Unent- scheidbarkeit zwischen den Pakten.29 Lejeune formuliert diese Tatsache als ein An­gebot für die Leserin und übergibt dieser die Entscheidung, den Text entweder als Roman oder als Autobiographie zu lesen, wodurch ein essentialistisches Gattungs­verständnis für eine rezeptionsästhetische Entscheidung aufgegeben wird.30

Die Gleichzeitigkeit der beiden Pakte führt außerdem dazu, dass der Authentizi­tätsanspruch im traditionellen Sinne nicht erfüllt werden kann. Der Anspruch auf au­thentische Darstellung kann in der Autofiktion nicht mehr eingelöst werden, wodurch die Ehrlichkeit des Autors nur noch in der Offenlegung der Fiktion bewiesen werden kann. Der Geltungsanspruch von Wahrheit wird jedoch bei Doubrovsky negiert, da er davon ausgeht, dass Fiktion und Referenzialität keine Oppositionen mehr, sondern im Allgemeinen untrennbar voneinander zu denken sind.31 Ein Hauptcharakteristikum der Autofiktion ist deshalb die Notwendigkeit einer metafiktionalen Offenlegung der Unerfüllbarkeit von Authentizität. In diesem allgemeinen Spiel mit der literarischen Tradition, durch das ein neuer Textbegriff entstanden ist, kommt Doubrovsky zu dem Ergebnis, dass jeglicher Anspruch auf außertextuelle Kategorien, wie bspw. Ge­schichte oder Wahrheit, unerfüllt bleiben muss. Die biographische Selbstdarstellung scheitert somit grundsätzlich, wobei die Sprache ihr Deutungsmonopol der Wirklich­keit verliert.32

Des Weiteren formuliert Doubrovsky Aspekte, die für die Gattung charakteristisch sind und vor allem auch für die nachfolgende Analyse von Relevanz sein werden. Neben der, in der Gattung inbegriffenen Namensidentität zwischen Autor und Erzäh­ler, spricht Doubrovsky von einem exemplarischen Einstieg mit einem Ereignis aus der Gegenwart, das eine retrospektive Aufarbeitung der Vergangenheit impliziert.33 Der Text fungiert hierbei als biographische Projektion von Erinnerung und ist gleich­zeitig Schauplatz des Bewusstseins des Erzählers.34 Der Entstehung des Textes liegt ein Trauma zugrunde, wofür er zum Ort der Bewusstwerdung wird. In diesem Zusam­menhang zeigt der Text, dass jegliche Darstellung von Realität sich als unfassbar erweist, wodurch die Grenzbereiche des menschlichen Fassungsvermögens insze­niert und somit erfahrbar gemacht werden.35 Zudem liegen metatextuelle Elemente vor und der Schreibprozess an sich wird thematisiert.36

2.2 Eine Problematisierung der Historiographie: die historiographi- sche Metafiktion

Als Typ fünf der Gattung historischer Romane zeichnet sich die historiographische Metafiktion durch ein hohes Maß an fiktionaler Rückbezüglichkeit mit einer expliziten Erörterung historiographischer Fragen aus. Der Fokus verlagert sich weg von der rei­nen Geschichtsdarstellung hin zur Reflexion über die Rekonstruktion geschichtlicher Zusammenhänge. Sie weist im Allgemeinen auf geschichtstheoretische Probleme hin.37 Dabei dienen die Realitätsreferenzen nicht der Authentizität, sondern setzen sich in erster Linie mit der Repräsentation vergangener Wirklichkeit auseinander, wo­bei die Frage im Vordergrund steht, inwiefern Geschichtsschreibung und Fiktion Ge­meinsamkeiten und Unterschiede aufweisen. Somit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen geschichtlichen Inhalten und metafiktionaler Selbstreflexivität.38 Eine binäre Sortierung von Fiktion und dokumentarischem Material ist nicht mehr gegeben, wodurch die Grenze zwischen beiden oszilliert. Es erfolgt zudem eine Verlagerung auf den Aneignungsprozess bzw. die Reflexion der geschichtlichen Gegebenheiten, ihrer Konstruktion, Darstellung und Subjektivitätsabhängigkeit.39 Das Genre ist somit insgesamt dominant autoreferenziell, enthält metafiktionale Elemente, wobei nicht selten intertextuelle Bezüge zu literarischen und historischen Texten vorgenommen werden.40 Charakteristisch ist zudem ein hoher Grad an Fiktionalisierung von Raum, Zeit, Figuren und Handlung. Es ist dominant gegenwartsorientiert und zeichnet sich durch eine anachronische Ordnung aus, wodurch ein fragmentarischer und hetero­gener Wirklichkeitsgehalt entsteht.41 Insgesamt verneint es jedoch den Anspruch auf Referenzialität des Dargestellten.42

In ihrer Dissertationsschrift Zur Fiktionalisierung von Geschichtsschreibung in post­konstruktivistischer metahistoriographischerFiktion prüft Manja Kürschner den Status des von ihr vorgeschlagenen Genres des postkonstruktivistischen metahistoriogra- phischen Romans. Während die prototypische historiographische Metafiktion radikal­konstruktivistisch43 davon ausgeht, dass keine verlässlichen Aussagen über die Ge­schichte möglich sind und jeglicher Versuch bloße Konstruktion ist, ist Kürschners postkonstruktivistischer metahistoriographischer Roman von einer moderat-konstruk­tivistischen Perspektive geprägt.44 Das bedeutet, dass aufgrund verschiedener, bspw. machtpolitischer oder interessensgeleiteter, Kriterien zwischen besseren und schlechteren historischen Konstruktionen entschieden wird.45 Die postmoderne Skep­sis der Nichtdarstellbarkeit von Wirklichkeit ist, so Kürschner, schon längst im Be­wusstsein der Romanautoren angelangt, weshalb es nicht das Ziel ist, eine Aussage über die tatsächliche Vergangenheit zu treffen, sondern lediglich nach einer möglichst plausiblen Erklärung für die vergangene Lebenswirklichkeit zu suchen.46 Hierbei meint der Terminus „Lebenswirklichkeit“ eine durch subjektive bzw. intersubjektive Perspektive fassbare Wirklichkeit und grenzt sich somit von dem beobachtungs- und wahrnehmungsindifferenten Realen ab.47 Merkmale dieses Genres sind metafiktio- nale Kommentare, zuverlässige und unzuverlässig erzählte Passagen sowie die Of­fenlegung der Konstruktion des Romans.48 Zudem treten Charaktere der näheren Vergangenheit oder Gegenwart in Kontakt und Austausch mit der Vergangenheit, wodurch ein Oszillieren mehrerer Zeitebenen entsteht.49

Im lateinamerikanischen Kontext stößt man in diesem Zusammenhang auf die Be­griffe novela histórica und nueva novela histórica. Während die novela histórica „[...] aceptaba y prolongaba los verdades culturales del nacionalismo [...]”, kritisiert die nueva novela histórica, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrunderts auftaucht, die zuvor akzeptierte “[...] unicidad de la representación del pasado [...]”50. Speziell im kolumbianischen Kontext spricht man in Bezug auf die Vergangenheit von einer „me­moria selectiva de las élites"51. In diesem Zusammenhang merkt der Romanautor Germán Espinosa an, dass „[...] todos tenemos de qué vengarnos."52. Hierfür er­scheint die Literatur für ihn eine „[..] manera aceptable y aún noble de hacerlo."53 Die nueva novela histórica dient folglich vor allem dazu, sich von der offiziellen Ge­schichtsschreibung der Eliten zu emanzipieren.54 Den durch die selektive Erinnerung verlorenen oder in Vergessenheit geratenen Subjekten soll in der nueva novela his­tórica im Rahmen einer fiktionalisierten Vergangenheit eine Stimme gegeben werden. Moreno Blanco spricht in seinem Artikel davon, dass narrative Projektionen eben die­ser historischen Ereignisse der Leserin den Eindruck verschaffen, sie würden die na­tionale Vergangenheit von einer anderen Welt aus beschreiben und deutet somit die Existenz eines Parallelgedächtnisses neben der offiziellen Geschichtsschreibung in Kolumbien an.55 Im Allgemeinen ist die nueva novela histórica aber eine der historio- graphischen Metafiktion sehr ähnliche Form, der Borges als Inspirationsquelle vo­rausgeht.56 So zeichnet auch sie sich durch eine Verstümmelung der Geschichte durch Anachronie, Metafiktion und der Fiktionalisierung historischer Figuren aus. Wei­tere Merkmale sind Intertextualität, Dialogizität und eine zyklische Zeitstruktur.57 Die nueva novela histórica unterscheidet sich nur in einem Punkt signifikant von der his- toriographischen Metafiktion und zwar insofern, als keine ex-zentrischen Figuren im Fokus stehen, sondern bekannte Persönlichkeiten der Geschichte, wie bspw. Chris­toph Kolumbus. Zudem ist die Textform gekennzeichnet von der Toleranz zwischen den widersprüchlichen und konkurrierenden Versionen der Vergangenheit.58

2.3 Die Exofiktion - die Fiktionalisierung realer Figuren

„La ficción ha substituido a la realidad en el mundo en que vivimos y los mediocres personajes del mundo real no nos interesan. Los fabulardores, sí.”59 Dieses Zitat von Mario Vargas Llosa, das Javier Cercas’ Roman El impostor auf dem Klappentext be­gleitet, benennt einen Kernpunkt der Exofiktion, die eine durch die äußere Wirklichkeit inspirierte Fiktion ist. Nach Jahrzehnten der Autofiktion, steht diese in der Kritik eine exzessive Nabelschau zu betreiben. Von dieser befreit die Exofiktion, so Sandra Ke­gel in ihrem Artikel „Ausweitung der Kampfzone", die Autofiktion, indem nicht mehr der Autor als Erzähler und Protagonist, sondern die Schicksale anderer realer Perso­nen im Zentrum stehen.60 Dies bedeutet in der französischen Literatur eine Kehrt­wende und formt gleichzeitig den Ausdruck eines bestimmten, neuen Literaturgefühls.61 Auch Le Monde verpasst es nicht, die neue Rentrée litéraire zu präsentieren. Der Artikel „Le triomphe de l’exofiction" spricht davon, dass sich die Autoren an Schicksale von illustren Frauen und Männern annähern und diese erfor­schen. Auf der Grundlage einer Aussage von Alexandre Gefen weist der Artikel da­rauf hin, dass die Exofiktion die Notwendigkeit verkörpert, die Welt zu reparieren.62 Es ginge, so Gefen, vor allem darum, das Kollektiv neu zu weben und weniger um die Tragik der Geschichten, als darum, Literatur in einer Form von Nostalgie auf ein be­stimmtes Trauma zu platzieren.63

Im spanischen Kontext macht Fabian Soberon in seinem Artikel „El factor Fitz­gerald" darauf aufmerksam, dass die Exofiktion, die auf realen Umständen beruht, „[...] lleva el género de la autoficción a otro nivel."64 und deutet somit, ähnlich wie Sandra Kegel, eine Fortsetzung bzw. Erweiterung der Autofiktion an.65 Dies ist zum Teil berechtigt, da der Ich-Erzähler als Namensvetter des Autors auch in einigen Bei­spielen, wie der Romane Soldados de Salamina und El impostor von Javier Cercas, eine bedeutende Rolle spielt. Analog zum Terminus „Exofiktion" hat sich im spani­schen Kontext der Begriff transparencia literaria etabliert, der auf einen weiteren Ker­naspekt des Genres aufmerksam macht, nämlich auf den Recherche- und Entstehungsprozess der Romane. Jesús Ruiz Mantilla spricht in seinem Artikel „La hora de la transparencia literaria” von einer Einladung an die Leserin, am Entste­hungsprozess der Geschichte teilzunehmen. So wird deutlich, dass die Romane zwar auf Fakten beruhen aber gleichzeitig durch die Teilhabe am Entstehungsprozess auf ihren Konstruktionscharakter verweisen.66 Dies führt dazu, dass, gleich der Autofik­tion, sowohl der autobiographische als auch der romaneske Pakt zwischen Text und Leserin kombiniert werden. Die Leserin bleibt hierbei im Ungewissen, welcher der

Pakte gerade gilt. Dies lässt schließen, dass auch der Exofiktion kein essentialisti- sches Gattungsverständnis zugrunde liegt. Vielmehr ist auch hier von einer rezepti­onsästhetischen Entscheidung zu sprechen. Ignacio Vidal-Folch nimmt in seinem Artikel „Cuanto menos sepamos, mejor" Bezug auf genau diesen Aspekt der Exofik­tion, indem er das Phänomen mit Schrödingers Katze zu erläutern versucht. Das be­deutet konkret, dass, solange die Leserin nicht um die außerfiktionalen Umstände weiß, der Text faktisch und fiktiv zugleich ist, ein Nebeneinander bzw. eine Koexistenz der beiden vorschlägt und so zum Zeitpunkt des Nicht-Wissens zu einer Spekulation oder Idee wird.67

Genau auf diesen Aspekt der Vermutung oder des Verdachts deutet Cornelia Ruhe in ihrem Artikel „L’exofiction" hin, indem sie diesen als Berührungspunkt zwischen Fakt und Fiktion benennt.68 Im Vergleich zur historiographischen Metafiktion, bei der die Kritik der Historiographie im Vordergrund steht und die fiktionale Geschichte als solche markiert wird, weicht die Exofiktion, so Ruhe, von diesem Schema ab.69 Viel­mehr kritisiert die Exofiktion genau dieses bewusste Verwischen der Grenzen zwi­schen Fakt und Fiktion und stellt die These auf, dass die Exofiktion versucht über eine metafiktionale Kommentierung diese Grenze wiederherzustellen und die Schwierig­keit dieser Aufgabe auf diese Weise zu problematisieren.70

Dennoch scheint aber auch dieser Aspekt nicht für alle Texte pauschalisierbar zu sein. So kündigt Javier Cercas‘ gleichnamiger Erzähler in Soldados de Salamina an, es handle sich hierbei um „relatos reales"71, während er in El impostor zu verstehen gibt, dass „[...] lo primero que hay que hacer es desconfiar del narrador"72. Hierbei wird das Spiel mit der literarischen Konvention angekündigt und gleichermaßen eine unzuverlässige Erzählinstanz eingeführt.73 Cercas gehört hierbei zu denjenigen, die am offensten mit der unentwirrbaren Verschachtelung von Fakt und Fiktion umge­hen.74 Diese Eigenschaft birgt auf einer rezeptionsästhetischen Ebene ein großes Reflexionspotenzial, da die Leserin nie sicher sein kann, welcher der beiden, autobi- ographischer oder romanesker Pakt, gerade greift. Vielleicht fungieren die Texte ge­rade deshalb als Spiegel zur Gesellschaft, da gerade hier fiktional-konstruktive Ent­würfe, bspw. über Selbstdarstellung auf Social-Media-Kanälen, und die Realität in gleichem Maße unentwirrbar ineinandergreifen und so, wie von Vidal-Folch vorge­schlagen, koexistieren. Arnaud Sagnar nimmt in ihrem Artikel "Sous le squelette de l’exofiction“ zu diesem Punkt Stellung, indem sie vorschlägt, dass das Genre genau diese Nicht-Trennung zwischen dem Realen und dem Fiktiven ausmacht, denn es ginge vielmehr darum die Realität mithilfe der Fiktion zu ergänzen oder zu verändern, wie es bspw. durch die Virtual-Reality-Technologie der Fall ist.75

Trotz der genaueren Betrachtung der Funktionsweisen der Exofiktion, bleibt der Begriff insgesamt offen und unscharf. In diesem Zusammenhang schlägt Cornelia Ruhe vor, eher die Kontinuität zum Exemplum, als zur historiographischen Metafiktion herzustellen.76 Dabei dient ein Zitat Petrarcas, „Me quidem nihil est quod moveat quantum exempla clarorum hominum"77, zu Deutsch, „Nichts bewegt uns so sehr, wie das Beispiel großer Persönlichkeiten"78, zur Verdeutlichung des Attraktivitätspotenzi­als bedeutender Menschen, wie es der Exofiktion ebenfalls zugrunde liegt.79 Das Exemplum kombiniert ein Narrativ mit einem didaktischen Wert und einer ethisch­moralischen Reflexion. Gleichfalls macht es sich die Exofiktion zur Aufgabe morali­sche Reflexion durch ein bestimmtes Beispiel zu erneuern, wobei es darum geht, he- gemoniale Diskurse aufzugeben und sich stattdessen Persönlichkeiten, mitsamt ihren Ambiguitäten, anzunehmen.80 Das Exemplum als rhetorische Erzählform, dessen Grundlage anthropologischer Natur ist, setzt voraus, dass menschliche Erfahrungen im Allgemeinen mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als Unterschiede.81 In der Re­naissance erfährt das Exemplum, so Karlheinz Stierle, eine Krise, provoziert ein neues Geschichtsbewusstsein und leitet gleichzeitig eine neue moralische, histori­sche und anthropologische Hermeneutik ein.82 Im Zuge dessen verweist Cornelia Ruhe auf eine zeitgenössische Krise, der eine neue Beziehung zur Geschichte zu­grunde liegt, auf die die Exofiktion mit erneuerter moralischer Reflexion zu antworten versucht und bildet somit die Schwelle zu einer moralischen, historischen und anth­ropologischen Hermeneutik, die unsere heutige Zeit besonders benötigt.83

3 Verschwörungstheorien, -Ideologien oder -Geschichten?

In diesem Kapitel soll herausgearbeitet werden, was Verschwörungstheorien sind, wie sie narrativ arbeiten aber auch, welche sozialen Ursachen und Funktionen sie haben bzw. erfüllen können. Da konspiratorische Ideen aktuell eine Renaissance er­leben, was sich durch die strukturellen und argumentatorischen Parallelen zum Po­pulismus zeigt, thematisiert und problematisiert die aktuelle Forschung schwerpunktmäßig diese Entwicklungen, die auch von nicht unbedeutendem Maße durch das Internet beeinflusst werden und unweigerlich zur Fragmentierung der Öf­fentlichkeit führen. Auch wenn diese Punkte von wissenschaftlichem Interesse sind, sollen sie nur zu Beginn erwähnt werden. Da sie den Rahmen der Arbeit sprengen würden und für die spezifische Argumentation dieser Arbeit weniger relevant sein werden, soll sich der folgende Theorieteil lediglich mit den gesellschaftlichen aber auch soziopolitischen Ursachen für konspiratorische Neigungen auseinandersetzen, um dadurch auch im Hinblick auf das zu analysierende Werk die Funktion der Ver­schwörungstheorien in Bezug auf die Verarbeitung von kollektiven Traumata und die Vergegenwärtigung von Geschichte präzisieren zu können.

3.1 Definition und Charakteristika

In seinem Aufsatz „Kontrafaktische Kartierung“ definiert Karsten Wind Meyhoff die Verschwörung als eine Verabredung zwischen mindestens zwei Personen, die ge­meinsam eine kriminelle oder legale Tat mit illegalen Mitteln durchführen wollen.84 Folglich behaupten Verschwörungstheorien, so Michael Butter in seinem Werk Nichts ist wie es scheint85, dass im Geheimen operierende Gruppierungen aus niederen Be­weggründen versuchen Institutionen, das Land oder sogar die Welt zu kontrollieren. Da es sich allerdings weniger um Theorien im wissenschaftlichen Sinne handelt, be­vorzugt Butter den Begriff Verschwörungsideologie.86 Passend hierzu bezeichnet Wind Meyhoff Verschwörungstheorien auch als „state of mind“ bzw. eine bestimmte Art, die Welt zu erfahren und zu verstehen.87 Nicht zu verwechseln ist die Verschwö­rungsideologie mit den Fake News. Bei ihnen handelt es sich um eine absichtlich verbreitete Fehlinformation mit der Absicht jemanden zu diskreditieren, während Ver­schwörungsideologien genuin davon überzeugt sind, einem Komplott auf die Schliche gekommen zu sein. Natürlich greifen auch Fake News und Verschwörungstheorien ineinander. Allerdings behauptet nicht jede bewusst verbreitete Fehlinformation eine Verschwörungstheorie zu sein.88

Butter bezeichnet drei Eigenschaften als charakteristisch für Verschwörungstheo­rien. Erstens, nichts geschieht aus Zufall. Zweitens, nichts ist wie es scheint und drit­tens, alles ist miteinander verbunden.89 Der englische Historiker Geoffrey Cubitt macht das Wesen von Verschwörungstheorien anhand von Intentionalismus, Heim­lichkeit und dem Dualismus zwischen Gut und Böse aus.90 Dabei sind die Verschwö­rer immer die Bösen, die den Unschuldigen Schaden zufügen wollen.91

Richard Hofstadters Studie „Paranoid Style" ist den Ursachen menschlicher Nei­gung an Verschwörungstheorien zu glauben auf den Grund gegangen und zum Er­gebnis gekommen, dass der Glaube an die zur Diskussion stehenden Theorien eine Nähe zur klinischen Paranoia aufweist.92 Zudem seien vor allem gesellschaftliche Minderheiten und Randgruppen verschwörungstheoretischem Gedankengut zuge­neigt zu sein.93 Hofstadters Forschung ist aber insofern überholt, als der aktuelle Stand eine Pathologisierung der Verschwörungstheoretiker als klinisch paranoid für hochproblematisch hält. Empirische Studien haben gezeigt, dass die Hälfe der US- Amerikaner und auch ein nicht unwesentlicher Teil der Deutschen an Verschwörungs­theorien glauben. Zufall und Chaos ist für sie alle ein perfider Plan.94

[...]


1 Christine Rath: Schamhafte Geschichte: Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges, Bielefeld, transcript 2014, 83.

2 „Ein Internetfilm über 9/11 bricht alle Rekorde", in: FAZ: Zugang zum Volltext: https://www.faz.net/ak- tueN/feuilleton/kino/loose-change-ein-internetfilm-ueber-9-11-bricht-alle-rekorde-1351401.html (zu­ letzt besucht am 15.03.21).

3 cf. Ibid.

4 cf. Schirin Fathi: Komplotte, Ketzer und Konspirationen: Zur Logik des Verschwörungsdenkens - Bei­spiele aus dem Nahen Osten, Bielefeld, transcript Verlag 2015, 8.

5 cf. Ibid.

6 Der Terminus „Kollektives Trauma" meint eine sozialpsychologische Realität, die von einem trauma- tisierenden Großereignis herbeigeführt wird und durch Leiden geprägt ist. Weitere Informationen zum Oberbegriff „Kollektives Trauma", seiner Differenzierung sowie der Kritik seiner Verwendung bei Re­gine Scholz: Kultur und kollektive Traumata: eine gruppenanalytische Perspektive, München, Univ. Diss. 2009, 33ssq.

7 cf. Johannes Klein: Recordar para contarla. Testimonialliteratur, Konflikt und kollektive Erinnerung in Kolumbien. Dissertation, Universität Regensburg 2018, 62.

8 cf. Ibid., 63.

9 Unter dem „historischen Gedächtnis“ versteht man das Wissen der Masse bzw. die gängigen Vorstel­lungen der sozialen Vergangenheit (sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene). Ausführ­licheres zum Begriff bei Lorina Repina: Erinnerung an Diktatur und Krieg. Historisches Gedächtnis und kollektive Identität: Schwierigkeiten der Konzeptualisierung, Oldenbourg, De Gruyter 2015, 9.

10 cf. Klein: op. cit., 64 und cf. Sven Schuster: Die Violencia in Kolumbien. Verbotene Erinnerung? Der Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1948-2008, Stuttgart, Heinz 2009, 99.

11 cf. Klein: op. cit., 64.

12 cf. Ibid.

13 cf. Ibid.

14 cf. Ibid., 64ssq.

15 cf. Ibid., 66.

16 cf. Ibid., 70.

17 cf. Klein: op. cit., 73.

18 cf. Ibid.

19 cf. Ibid., 76.

20 Der Ausdruck „kollektives Gedächtnis“ geht auf Maurice Halbwachs zurück und meint den kollektiven Bezug sozialer Gruppen und Kulturgemeinschaften auf Vergangenes, was mittels Interaktion, Kom­munikation oder Medien passiert. Ausführlichere Informationen bei Erll 2017: 12.

21 cf. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart, Metzler 2017, 67.

22 cf. Claudia Gronemann: Postmoderne - postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französi­schen und maghrebinischen Literatur, Hildesheim/Zürich/NY, Olms 2002, 47.

23 cf. Ibid., 52.

24 cf. Martina Wagner-Egelhaaf: Auto(r)fiction. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld, Aisthesis Verlag 2013, 8.

25 cf. Gronemann: op. cit., 42.

26 cf. Wagner-Egelhaaf: op. cit., 9sq.

27 cf. Gronemann: op. cit., 48.

28 Serge Doubrovsky: „Nah am Text“, in: Kultur & Gespenster: Autofiktion 7 (2008), 123-133, 126.

29 cf. Wagner- Egelhaaf: op. cit., 10.

30 cf. Ibid. 11.

31 cf. Gronemann: op. cit., 46sq.

32 cf. Ibid., 64sq.

33 cf. Ibid., 47 und 57.

34 cf. Ibid., 43.

35 cf. Gronemann: op. cit., 44 und 52.

36 cf. Ibid. 46.

37 cf. Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Trier, Wiss. Verlag Trier 1994, 282.

38 cf. Ibid.

39 cf. Ibid., 283sq.

40 cf. Ibid., 291.

41 cf. Ibid.

42 cf. Manja Kürschner: Zur Fiktionalisierung von Geschichtsschreibung in postkonstruktivistischer me- tahistoriographischer Fiktion, Trier, WVT 2015, 13.

43 Der Terminus „Radikaler Konstruktivismus“ geht davon aus, dass Wissen und Erkenntnis ausnahms­los konstruiert sind. Ausführlicheres hierzu in: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze, Personen, Grundbegriffe, Ansgar Nünning (Hrsg.), Stuttgart/Weimar, Metzler 2013, Eintrag: „Kon­struktivismus, radikaler“.

44 cf. Kürschner: op. cit.: 35.

45 cf. Ibid.

46 cf. Ibid., 32.

47 cf. Ibid.

48 cf. Ibid., 36.

49 cf. Ibid., 15 und 33.

50 cf. Juan Moreno Blanco: “Representación ficcional del Otro en el espacio/tiempo del pasado nacional. Novela histórica tradicional versus nueva novela histórica”, in: Eidos 24 (2016), 124-135, 126.

51 Moreno Blanco: op. cit., 130.

52 Germán Espinosa: "El ocioso trabajo de escribir”, in ders.: La liebre en la luna, Bogotá, Tercer Mundo Editores, 35.

53 Ibid.

54 cf. Moreno Blanco: op. cit., 130.

55 cf. Ibid.

56 cf. Rath: op. cit., 68.

57 cf. Ibid., 70.

58 cf. Ibid., 70sq.

59 Javier Cercas: El Impostor, Barcelona, Penguin Random House Grupo Editorial 2014, Klappentext.

60 cf. Sandra Kegel: “Ausweitung der Kampfzone", in: FAZ, Feuilleton (2017), 9.

61 cf. Ibid.

62 cf. Raphaëlle Leyris: „Le triomphe de l’exofiction", in: Le Monde, Livres (2017).

63 cf. Ibid.

64 cf. Fabian Soberon: "El factor Fitzgerald”, in: Perfil, Cultura (2016), Zugang zum Volltext: https://www.perfil.com/noticias/cultura/el-factor-fitzgerald.phtml (zuletzt aufgerufen am 06.04.21).

65 cf. Ibid.

66 cf. Jesús Ruiz Mantilla: "La hora de la transperencia literaria”, in: El País (2017), Zugang zum Volltext: https://elpais.com/cultura/2017/04/17/actualidad/1492427954_009776.html (zuletzt aufgerufen am 06.04.21).

67 cf. Ignacio Vidal-Folch: "Cuanto menos sepamos, mejor”, in: El mundo (2015), Zugang zum Volltext: https://www.elmundo.es/opinion/2015/10/24/562a6d8ee2704e790e8b462e.html (zuletzt aufgerufen am 06.04.21).

68 cf. Cornelia Ruhe: "L’’exofiction’ entre non-fictions, contrainte et exemplarité", in: Territoires de la non­fiction. Cartographie d’un genre émergent, Gefen, Alexandre (Hrsg.), Leiden/Boston, Brill/Rodopi 2020, 82-107, 97.

69 cf. Ibid.

70 cf. Ibid.

71 Javier Cercas: Soldados de Salamina, Barcelona, Tusquets 2001, 164.

72 Cercas: El impostor, loc. cit., 379.

73 cf. Ruhe: op. cit., 98.

74 cf. Ibid.

75 cf. Arnaud Sagnard: "Sous le squelette de l’exofiction“, in: NRF 622 (2017), 25-31, 29sq.

76 cf. Ruhe: op. cit., 100.

77 Petrarca zit. bei Ruhe: op. cit., 100.

78 Übersetzt durch L.K.

79 cf. Ruhe: op. cit., 100.

80 cf. Ibid., 101.

81 cf. Karl-Heinz Stierle: “Three Moments in the Crisis of Exemplarity: Boccaccio-Petrarch, Montaigne, and Cervantes”, in: Journal of the History of Ideas 59, 4 (1998), 581-595, 581.

82 cf. Ibid., 588sq.

83 cf. Ruhe: op. cit., 101sq.

84 cf. Karsten Wind Meyhoff: “Kontrafaktische Kartierungen. Verschwörungstheorie und der 11. Septem­ber”, in; 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Poppe, Sandra (Hrsg.), Bielefeld, transcript 2009, 61-79, 75.

85 cf. Michael Butter: “Nichts ist wie es scheint”: über Verschwörungstheorien, Berlin, Suhrkamp 2018, 21.

86 cf. Ibid., 21sq.

87 cf. Wind Meyhoff: op. cit., 77.

88 cf. Butter: op. cit., 13.

89 cf. Ibid., 22.

90 cf. Geoffrey Cubitt: The Jesuit myth: conspiracy theory and politics in nineteenth-century France, Ox­ford, Clarendon 1993, 2.

91 cf. Butter; op. cit., 23.

92 cf. Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, London, Cape 1966, 3.

93 cf. Ibid., 7.

94 cf. Butter: op. cit., 15sq.

Final del extracto de 67 páginas

Detalles

Título
Gedächtnis und Verschwörung in "La forma de las ruinas" (2015). Eine Analyse
Universidad
University of Mannheim
Autor
Año
2021
Páginas
67
No. de catálogo
V1036985
ISBN (Ebook)
9783346421340
ISBN (Libro)
9783346421357
Idioma
Alemán
Palabras clave
gedächtnis, verschwörung, eine, analyse
Citar trabajo
Laura Krezo (Autor), 2021, Gedächtnis und Verschwörung in "La forma de las ruinas" (2015). Eine Analyse, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1036985

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