Ethnische und sprachliche Wurzeln Elias Canettis


Seminar Paper, 2001

12 Pages


Excerpt


Sepharden - sephardisches Judentum

Das Jahr 1492 bedeutet nicht nur die Entdeckung der neuen Welt durch Columbus, und damit für viele Historiker den Anfang der Neuzeit, sondern es ist auch das Jahr, in dem im gerade vereinigten spanischen Königreich eine große Vertreibung, wenn man so will, die erste große Vertreibung der Neuzeit, veranlaßt wird.

„...Wir haben angeordnet, daß alle Juden und Jüdinnen, unabhängig welchen Alters..., unsere Königreiche und Besitztümer verlassen...“1

Diese drastische Auslegung des Begriffes „Reconquista“, fanatischer Katholizismus also, hat zur Folge, daß ungefähr 300000 Juden Spanien verlassen müssen. Eine ungeheure Anzahl von Menschen, wenn man damalige Bevölkerungsverhältnisse des Landes im Auge hat. 1498 werden sie auch aus Portugal vertrieben. Denjenigen, die konvertierten, um im Land bleiben zu können, erging es schon bald sehr übel:

„ Nicht sehr viel später wurden auch die Maranen, d.h. die Juden, die zum Christentum übergetreten waren, Opfer der anhaltenden Massenverfolgung durch die Inquisition.“2

Es geht damit eine Ära kultureller Blüte zu Ende, die sich in den ehemaligen Kalifaten auf spanischem Boden abspielte, die ohne die Juden so nicht zu stande gekommen wäre. Diese Blüte äußerte sich in Übersetzungen griechischer Klassiker, in der islamischen Ornamentik, der Musik und auch in der Architektur. Unter der islamischen Herrschaft konnten sich Juden wirtschaftlich, kulturell und religiös frei bewegen, es war ein von Toleranz geprägtes Miteinander, fast schon unvorstellbar für einen heutigen Leser, der das heutige Verhältnis von Juden und Muslime eher von erbitterter Feindschaft her kennt.

Aus den oben genannten Gründen ist es daher nicht verwunderlich, wenn der osmanische Sultan Bayazid II. 1492 erklärt:

„... Wie ist es möglich, den spanischen König Ferdinand als einen klugen Herrscher zu bezeichnen, nachdem er sein Land ruiniert ( durch die Verjagung der Juden - Anm.d.A.) und unseres bereichert...“3

Circa 80000 Juden werden in verschieden starken Wellen aus Spanien im osmanischen Reich aufgenommen, man verspricht sich von ihnen wirtschaftliche Belebung und administrative Tätigkeiten im noch jungen Reich.

„ Viele dieser Juden wurden in der Türkei gut aufgenommen. Der türkische Sultan fand nützliche Untertanen in ihnen. Sie hatten allerhand Fertigkeiten; es gab Ärzte unter ihnen, Financiers, Handwerker, die besondere Dinge beherrschten. Sie wurden gut behandelt, und sie verbreiteten sich über das ganze damalige türkische Reich...“4 Das osmanische „Milet“-System, das die Behandlung andersgläubiger im Reich ordnete und strukturierte, erkannte das Judentum an, und legte ihre selbständige Existenz gesetzlich fest. Jahrhunderte lang wird das Wirken dieser Juden in Europa ignoriert, Herder spricht von der „ersten Renaissance“ Europas, dem Wirken der Mauren und Juden im 8-10ten Jahrhundert, welche die Intellektuellen Europas schlichtweg ignoriert hätten.

Im heutigen Israel wird der Begriff ‚Sepharde‘, aus dem hebräischen ‚sefarat‘= Spanien, im allgemeinen benutzt, um einen Juden aus Südosteuropa, Nordafrika oder Asien zu bezeichnen. Die andere Gruppe der Juden sind die ‚Aschkenasen‘, aus dem hebräischen ‚aschkenas‘= Deutschland, hiermit meint man Juden aus Mittel- und Westeuropa und aus Nordamerika. Diese Grenzziehung erinnert stark an die Canettis: „ Die übrige Welt hieß dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa, Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte.“5 Soziologisch betrachtet ist das Verhältnis dieser beiden Gruppen mit ihren verschiedenartigen Mentalitäten sehr interessant, wenn man einmal die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten Israels beobachtet, divergieren die eher orthodoxen Sepharden oft mit den eher säkular eingestellten Aschkenasen.

Schließlich spielen die Sepharden noch in der Musik eine bedeutende Rolle, vor allem ihr Material an folkloristischer Musik ist unglaublich reichhaltig und verhältnismäßig bekannt.

Familiengeschichte Canettis

Die Ahnen Canettis hießen Canete, aus der gleichnamigen Stadt Canete, die zwischen Cuenca und Valencia liegt. 1492, kurz nach Bekanntgabe des Ediktes, fliehen sie aus Spanien und siedeln sich in Adrianopel, dem heutigen Edirne, an. Im 19.Jahrhundert italienisiert ein Vorfahr den Namen, aus Canete wird Canetti. Für diesen Namenswechsel sprechen wohl wirtschaftliche Beweggründe, aufgrund des Einflusses italienischer Kaufleute im osmanischen Reich.6

In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wandern Abraham und Moiss Canetti nach Rustschuk aus. 1869 finden sie Erwähnung im Konstantinopeler „Journal Israelite“, beide gehören einer Deputation an, welche Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn bei einer Durchreise nach Konstantinopel in Rustschuk empfängt. Abraham Canetti wird kurz darauf zum österreichischen Konsul in Rustschuk ernannt, erste Beziehungen zur Donaumonarchie werden geknüpft.7

Historisch ergiebiger ist die Familiengeschichte der Mutter, Mathilde Canettis, da ihre Familienwurzeln, Rosanes und Ardittis, sich schon früh im öffentlichen Leben Bulgariens, bzw. der Provinz Bulgariens, bemerkbar machten. Abraham ben Israel Rosanes, war ein bedeutender jüdischer Aufklärer und Historiker, er gründete auch die erste weltliche jüdische Schule in Bulgarien, 1869 in Rustschuk. Ardittis waren eine „... der ältesten und wohlhabendsten Spaniolen-Familien in Bulgarien.“8

Bekannt ist auch das Engagement der Familien für die ‚nationale Sache‘ Bulgariens9, also ihrer Loslösung von den Türken, die ja auch 1878 auf den Berliner Kongreß unter massiven Druck Rußlands zu stande kommt.

Interessant ist auch noch die Tatsache, daß das Geburtshaus Canettis, sein Elternhaus, im heutigen Russe, der neue Name Rustschuks, noch steht. Das Haus in der Gurkostraße 33 (jetzt:13) sowie das großväterliche und das der Tante Sophia Eljakim, alle einstöckig und mit gemeinsamen Hof, sind bis heute erhalten geblieben.10

Sprachliche Wurzeln Canettis

Das Deutsche / vor allem aber das Deutsch Österreichs

Zu allererst stellt sich für einen Betrachter die Frage, wieso ein in Bulgarien geborener spaniolisch-jüdischer Schriftsteller ausgerechnet in deutscher Sprache seine Romane und Dramen verfaßt, und zwar ausschließlich. Das „Liebesgespräch“ der Eltern, die Qual des Lernens durch die Mutter in der Schweiz sind hier sicherlich die ausschlaggebenden Faktoren. Doch zuerst muß festgehalten werden, daß der kleine Elias in einem multilingualem Umfeld groß geworden ist, in dem mindestens Zweisprachigkeit, in seiner Rustschuker Kindheit spanisch und bulgarisch, der Regelfall ist.

„Es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Außer den Bulgaren, die oft vom Lande kamen, gab es noch viele Türken, die ein eigenes Viertel bewohnten, und an dieses angrenzend lag das Viertel der Spaniolen, das unsere. Es gab Griechen, Albanesen, Armenier, Zigeuner. Vom gegenüberliegenden Ufer der Donau kamen Rumänen Es gab, vereinzelt, auch Russen.“11 Ein idealer Nährboden also für einen Kosmopoliten, der in vielen Sprachen bewandert und zu Hause ist, wie im Falle Canettis.

Das überhaupt der Klang der deutschen Sprache an das Ohr des kleinen Elias dringt, freilich noch ohne sie zu verstehen, hat mit dem bereits angedeuteten „Liebesgespräch“ der Eltern zu tun. Beide, Jaques und Mathilde Canetti, haben sich in Wien kennengelernt. Diese Faszination für das Theater, für die Dramen, die am Burgtheater aufgeführt wurden, das anschließende Gespräch darüber brachte sie zusammen. Vor allem der Vater ist dem Theater ‚verfallen‘: „ Musik und Theater bedeuteten ihm mehr als Lektüre.“12 und „ Während seiner Schulzeit in Wien war er ein leidenschaftlicher Besucher des Burgtheaters gewesen, und Schauspieler zu werden, war sein größter Wunsch.“13.

Dasselbe gilt auch für die Mutter, wenn sie mit ihrem Mann deutsch spricht, dann ist das die Sprache „...ihrer glücklichen Schulzeit in Wien.“14. Canetti verbindet das Deutsche mit der Liebe der Eltern zueinander. Der Titel für das Kapitel in „Die gerettete Zunge“, indem das Deutsche erstmals erwähnt wird, heißt „Die Zaubersprache“, hier wird noch einmal deutlich, welchen Eindruck diese Sprache auf den kleinen Jungen macht, wie „Zauberformeln“ versucht er es im stillen Zorn nachzusagen. Das Wort ‚Wien‘ kommt ihm hier aus dem Munde der Mutter wie eine geheimnisvolle Preisgabe vor.15

In der literarischen Öffentlichkeit ist Elias Canetti untrennbar mit Österreich, speziell mit Wien verbunden, kein Schriftsteller streitet darüber, ob er ein ‚österreichischer Schriftsteller‘ ist, es ist selbstverständlich. Erich Fried, ein bekannter österreichischer Lyriker, bemerkt 1962 dazu folgendes:

„ In Österreich, das er 1938 verließ, ist Canetti der weiteren Öffentlichkeit kaum bekannt. Mit Ausnahme der Wenigen , die die Lektüre der „ Blendung “ auch nach Jahrzehnten nicht vergessen haben, wissen hier fast nur Schriftsteller und andere schöpferische Menschen, um was es sich handelt, wenn dieser Name fällt. Das ist um so erstaunlicher, weil die Substanz von Canettis Werk so sehr die Wiens ist. In die Reihe der großen Satiriker Wiens, dies sich durch die Namen Abraham a Santa Clara, Johann Nestroy und Karl Kraus abstecken läßt, gehört als zeitlich letzter Elias Canetti.“16

Herbert Zand bringt es noch drastischer auf den Punkt: „ In ihm ist österreichische Erfahrung lebendig, er kann uns besser als andere Mitdenken.“17

Das alles wirkt um so erstaunlicher, wenn man sich einmal der Lernbedingungen gegenwärtig wird, die Elias Canetti zu durchleiden hatte. Aufgrund der Einsamkeit der Mutter, der geistigen Einsamkeit seit dem Wegfall der deutschen Gespräche mit ihrem Mann, zwingt sie ihn in fast schon nötigender Weise, das Deutsche zu erlernen. Sie braucht jemanden, mit dem sie sich in deutsch über Dramen und Literatur unterhalten kann, jemanden, der ihre Isolation beendet. Es ist ihr hierbei völlig gleichgültig, ob ihm diese Überforderung Schaden zufügt, im Gegenteil, sie packt den kleinen Jungen auch noch zum Ansporn an seinen Stolz, nennt ihn bei ihr unbefriedigend erscheinenden Lernerfolgen einen „Idioten“, was er nicht hinnehmen kann.18

Resümee dieses qualvollen Prozesses ist dann tatsächlich das Erlernen der Sprache in kürzester Zeit und , damit einhergehend, eine gewisse Gleichberechtigung gegenüber der Mutter. „ Der angstvolle Lernprozeß hat zum freudigen Mit-dem-anderen-sprechen-Können geführt.“19

Auch wenn die Mutter zuvor in ihrem „ pädagogischen Terror “ Elias damit anzuspornen versuchte, ihm den doch auch deutsch gesprochenen Vater vorzuhalten, was nicht geklappt hatte, verbindet Canetti seinen Vater nochmals mit Österreich und hier speziell, mit der deutschen Schrift: „ Über den Einfluß Österreichs auf uns schon in dieser frühen Rustschuker Zeit wäre viel zu sagen der Vater las täglich die ‚ Neue Freie Presse ‘, es war eine großer Augenblick, wenn er sie langsam auseinanderfaltete , auch die Mutter fragte ihn dann nichts, nicht einmal auf deutsch.“20

Canetti folgt hier gleichsam der Wertschätzung des Deutschen in der Familie, diese für ihn hochgeschätzte Sprache wird quasi tradiert von beiden Elternteilen übernommen, von der Mutter unter Druck erlernt, um ihr zu genügen, von dem Vater im Wissen, wie sehr er das Deutsche liebte. Selbst zu einer Art Statement zu seinem Verhältnis zur deutschen Sprache gefragt, gab er 1944 folgende Antwort: „ Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin. Was von dem auf jede Weise verherrten Land übrig bleibt, will ich als Jude in mir behalten. Auch ihr Schicksal ist meines; aber ich bringe noch ein allgemein menschliches Erbteil mit. Ich will ihrer Sprache zurückgeben, was ich ihr schulde. Ich will dazu beitragen, daß man ihnen für etwas Dank hat.“21

Dieses Zitat wirkt aus heutiger Sicht befremdlich vor dem Hintergrund der Historie. Gerade 1944, das Jahr, in dem Millionen Europäer jüdischen Glaubens in Deutschland und deutsch besetzten Gebieten ermordet werden, legt ein Schriftsteller seine ‚Schuld‘ vor der deutschen Sprache dar, mit der Begründung, Jude zu sein. Sicherlich ist hiermit aber etwas anderes gemeint, und zwar die Schuld gegenüber der Mutter, die es geschafft hat, aus ihm einen bedeutenden deutschsprachigen Dichter zu machen, trotz aller Entfremdungen und Widrigkeiten. Denn die Liebe zur Sprache und Mutter sind eins, „ sinnlos und unbegreiflich “ das spätere Dasein Canettis ohne diese Liebe.22

Scheizerisch

Bewunderung für diese Variante des deutschen zeigt der kleine Elias in seiner schweizer Schulzeit. Die „kräftige“ und „starke“ Sprache seiner Kameraden beeindruckt ihn, gleichsam ihre „Friedlichkeit“23. Anders als in Wien ist ihre Sprache nicht militärisch durchdrungen, die Kinder interessieren sich hier nicht für Zinnsoldaten, wie Canettis Freund Max Schiebl in Wien. Er muß hier keine Lieder über Kaiser und Krieg singen. Zuerst hört Elias den Sätzen seiner Mitschüler nur zu, weil er sie noch nicht mit seinem Wienerisch „befremden“ möchte, er will genauso „kräftig“ und „unverziert“ reden wie sie, und lernt es auch bald. Widerstand gegen diesen Dialekt gibt es von der Mutter, sie sieht das „reine“ Deutsch ihres Sohnes gefährdet, gegen die ‚Sprache des Burgtheaters‘ hat das schweizerische in ihren Augen keinen Wert. Mit Spott versucht sie, ihm das auszutreiben, sie vergleicht Elias Aussprache mit der von dem Fräulein Vogler, über die zu Hause gelächelt wird. Doch hält er an der Sprache fest, verheimlicht ihr sein Weiterkommen darin. Diese ‚Heimlichtuerei‘, das Erlernen des Zürichdeutschen, ist „ die erste Unabhängigkeit von ihr“, der Mutter. Canetti schreibt sogar, sich deswegen „ als Mann zu fühlen“.24

Was für einen leicht übersehbaren, aber dennoch gewaltigen Einfluß dieser Dialekt auf Canetti gehabt hat, läßt sich am besten dieser Äußerung entnehmen: „ Erst durch den Schweizer Dialekt bin ich ganz zum Deutschen bekehrt worden.“25 Von besonderem Interesse ist für den kleinen Elias ein Satz, den er bei einem Ausflug in einem schweizerischen Tal, dem Lötschental, gehört hat: „ Chuom, Buobilu!“. Er ist sofort fasziniert von dem Klangreichtum dieses ‚urigen‘ Dialekts, „ was waren das für Vokale!“26. Neben seinem ausgeprägtem Sprachinteresse ist es auch die Urtümlichkeit der Menschen in diesem Tal, die ihn beschäftigt, ihre Eigenständigkeit aus ihrer Isolation heraus. „ Es gibt, zum Glück, Erfahrungen, die ihre Kraft aus ihrer Einmaligkeit und Isoliertheit beziehen.“27 Canetti zieht aus diesem einen Satz, so wie er schreibt, wichtige Erfahrungen. Einmal hält er es für seine Entdeckung, das „Chuom, Buobilu“ so viel Klangähnlichkeit mit dem Althochdeutschen hat, was seinen Enthusiasmus für ihm sympathische Worte nährt; dann verdankt er ihm auch „ das Gefühl der Vertrautheit mit Lebenszuständen altertümlicher Art.“28

Hier ist es auch wichtig zu erwähnen, daß Canetti nachher trotz der Faszination des Lötschentals nie wieder dorthin fand. Die Grund hierfür ist derselbe, warum er nie wieder nach Rustschuk zurückkehren wollte: „ Ich habe mich gehütet, das Bild, das ich von ihm bewahre, anzutasten.“29

Diese ‚erste Erfahrung‘ ist also, wenn sie faszinierend genug ist, so unantastbar, daß weitere Erlebnisse in der Richtung diese Eindrücke zunichte machen würde. So weiß Canetti selbstverständlich auch, daß viele Talbewohner sich außerhalb ihr Brot verdingen mußten, läßt diese Tatsache bei der Erinnerung außen vor, damit sie für ihn ‚altertümlich‘ und damit besonders bleibt.

Englisch

Eine weitere sehr wichtige Sprache für Elias Canetti ist das Englische. Sie ist die Sprache seiner ‚Gesinnung‘, einer Gesinnung gegen den Krieg, also für den Frieden. Erlernt werden mußte sie aufgrund des Umzugs der Familie Canetti von Rustschuk weg nach Manchester, Elias konnte es sich nicht aussuchen. Was aber nicht heißen soll, daß Englisch unter Protest erlernt werden mußte, im Gegenteil. Die Liebe des Vaters für England, seine Menschen und die Kultur geht gleichsam mit der Liebe des Jungen zum Vater in den Jungen über. Der Vater, ein Pazifist, kann sich nicht vorstellen, daß ein Volk wie die Engländer Krieg haben möchte, er ist von einer grundehrlichen Mentalität der Engländer überzeugt.30 Diese ausgesprochene Anglophilie des Vaters ist dem Jungen immer deutlich: „ Ich merkte, daß er seine englischen Sätze anders sagte als das Deutsch, Er sprach sie langsam aus, wie etwas sehr Schönes,... . Zu uns Kindern sprach er nun immer englisch.“31

Auch die große Leselust wird vom Vater in englischer Sprache in Elias verpflanzt. Dem kleinen wißbegierigen Jungen wird englische Kinderlektüre geschenkt, eine Reihe, die sogenannte Klassiker der Weltliteratur wie Dante, Wilhelm Tell, Shakespeare als auch Märchen speziell für Kinder bereitet. Über den Wert dieser Lektüre für Elias Canetti darf nicht gezweifelt werden, wenn er selber behauptet: „ Es wäre leicht zu sagen, daß fast alles, woraus ich später bestand, in diesen Büchern enthalten war, die ich dem Vater zuliebe im siebenten Jahr meines Lebens las. Von den Figuren, die mich später nie mehr losließen, fehlte nur Odysseus.“32

Doch das Englische ist noch mehr bei Canetti, wie oben schon angedeutet, ist es die Sprache der Gesinnung, einer freiheitlichen Gesinnung. Zwei Dinge mußten geschehen, um diese Gesinnung zu festigen, einmal der Vorfall bei Kriegsausbruch mit der feindlichen Menschenmasse, dann der Untergang der Titanic.

Am 1. August 1914 befindet sich die Familie in Wien, genauer, zu einem erholsamen Tag im Kurpark. Der dortige Kapellmeister verkündet die Kriegserklärungen, läßt die Kaiserhymne, dann „Heil dir im Siegerkranz“ spielen. Da das letzere Lied die selbe Melodie des „God save the King/Queen“ hat, singt der kleine Elias mit „..., ob...aus alter Gewohnheit, vielleicht...auch aus Trotz, “33

Die Menschenmenge im Wiener Kurpark ist daraufhin so erbost, daß sie anfängt, die Kinder zu traktieren, nur das beherzte Eingreifen der Mutter rettet sie vor dem Schlimmsten. Folge hieraus für den Jungen ist, daß er „ ...während des ganzen Krieges, bis 1916 in Wien und dann in Zürich englisch gesinnt blieb Ich...blieb um so eifriger bei meinen englischen Lektüren.“34

Der Ursprung dieser Gesinnung sieht Canetti selbst, in der allgemeinen Trauer von 1912, in den Tagen der Bekanntgabe des Unterganges der Titanic. Die Trauer und die Fassungslosigkeit der englischen Bevölkerung ergreifen den Kleinen, ohne daß er richtig die Tragweite des Ganzen fassen kann. „ Ich glaube, die englische Gesinnung, die mich durch den ersten Weltkrieg trug, ist in der Trauer und Erregung dieser Tage entstanden.“35

Spanisch

Spanisch ist die Sprache seiner Kindheit, seiner starken kindlichen Eindrücke, der ersten Lebensjahre in Rustschuk. Seltsamerweise ist diese Sprache im Gedächtnis des ‚alten‘ Elias Canetti so gut wie verschwunden, „ Nur besonders dramatische Vorgänge, Mord und Totschlag sozusagen und die ärgsten Schrecken, sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben, aber diese sehr genau und unzerstörbar.“36

Auch der Stolz der sephardischen Juden auf ihre spanische Herkunft, das Hochhalten und Bewahren ihrer altertümlichen Form des Spanischen, färbt auf den kleinen Jungen ab: „ Die ersten Kinderlieder, die ich hörte, waren spanisch, ich hörte alte spanische ‚Romances‘, was aber am kräftigsten war und für ein Kind unwiderstehlich, war eine spanische Gesinnung. Mit naiver Überheblichkeit sah man auf andere Juden herab,...“37

Bulgarisch

Diese Sprache nimmt unter allen ‚erlebten‘ Sprachen Canettis den geringsten Stellenwert ein, sie bleibt nicht haften, es gibt eine „ ...geheimnisvolle Übertragung...“38 Er lernt es von den bulgarischen Bauernmädchen, die ihm Gruselgeschichten und alte Balkanmärchen erzählen, da er nie auf einer bulgarischen Schule war und das Land mit sechs Jahren verließ, vergaß er diese Sprache bald.

Canetti selbst erklärte in einem Interview mit einer bulgarischen Journalistin, ob er eigentlich ein bulgarischer Schriftsteller sei, folgendes: „ Ich bin allerdings kein Österreicher. Meine Eltern sind spaniolische Juden, geboren bin ich Rustschuk, Bulgarien. Ich habe in vielen Ländern Europas gelebt, nun lebe ich in London und Zürich, halte mich jedoch für einen österreichischen Schriftsteller, denn die Figuren meiner Werke sind meistens Wiener und sogar der Wiener Dialekt überwiegt in meinen Theaterstücken.“39

Literaturangabe

Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979.

Barnouw, Dagmar: Elias Canetti zur Einführung. Junius, Hamburg, 1996.

Konstantinov, Wenzeslav: Elias Canetti - ein österreichischer Schriftsteller? Verwandlungen zwischen Rustschuk und Wien. Aus: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr. 3. S.15 -21.

Panova, Sneschka: Die Juden zwischen Toleranz und Völkerrecht im osmanischen Reich. Peter Lang, Frankfurt am Main, 1997.

[...]


1 31.03.1492, Grenada, aus dem von den katholischen Königen Isabella und Ferdinand II. unterschriebenen Edikt.

2 Panova, Sneschka: Die Juden zwischen Toleranz und Völkerrecht im osmanischen Reich. Peter Lang, Frankfurt am Main, 1997. S. 41.

3 Ebd., S. 1.

4 Canetti, Elias: Die gespaltene Zukunft. München, 1972. S.10-11.

5 Ebd. : Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979. S.11.

6 Ebd. : Die gespaltene Zukunft. Aufsätze und Gespräche. Reihe Hanser, München, 1972. S. 104-131.

7 Konstantinov, Wenzeslav: Elias Canetti - ein österreichischer Schriftsteller? In: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.3/1996. S. 15.21.

8 Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979. S. 37.

9 Israel, Salvator: Zur Familie und zu den Verwandtschaften von Elias Canetti (bulg.). In: Ewrejski westi, 24.12.1981, Nr.24. S.3.

10 Doikow, Wassil: Welches ist das Geburtshaus Canettis? (bulg.). In: Otetschestwen front, 13.05.1982, Nr.11354. S.4.

11 Die gerettete Zunge, a.a.O., S.10.

12 Ebd., S.56.

13 Ebd., S.55.

14 Ebd., S.33.

15 Ebd., S.34.

16 Fried, Erich: Das Werk Elias Canettis. In: Elias Canetti, Welt im Kopf. Graz 1962. S. 7-8.

17 Zand, Herbert: Stimmen unsere Maßstäbe noch? Versuch über Elias Canetti. In: Literatur und Kritik, 1968, H.21. S. 37.

18 Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979. S. 86-87.

19 Barnouw, Dagmar: Elias Canetti zur Einführung. Junius, Hamburg, 1996. S. 85.

20 Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979. S. 37.

21 Barnouw, Dagmar: Elias Canetti zur Einführung. Junius, Hamburg, 1996. S.83.

22 Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979. S. 103.

23 Ebd.: Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973 -1985. Frankfurt am Main, 1994. S. 44 - 47.

24 Vgl.: Ebd.: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979. S. 170 - 171.

25 Ebd.: Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973- 1985. Frankfurt am Main, 1994. S. 44 - 47.

26 Ebd.: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer, Frankfurt am Main, 1979. S. 310.

27 Ebd., S. 311.

28 Ebd., S. 311.

29 Ebd., S. 311.

30 Vgl.: Ebd., S. 45.

31 Ebd., S. 53.

32 Ebd., S. 53.

33 Ebd., S.113.

34 Ebd., S.113.

35 Ebd., S.63.

36 Ebd., S.17.

37 Ebd., S.11.

38 Ebd., S.17.

39 Konstantinov, Wenzeslav: Elias Canetti - ein österreichischer Schriftsteller? Verwandlungen zwischen Rustschuk und Wien. Aus: Jura Soyfer. Int. Zeitschrift f. Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.3. S. 15 -21.

Excerpt out of 12 pages

Details

Title
Ethnische und sprachliche Wurzeln Elias Canettis
College
University of Duisburg-Essen
Course
Autobiographisches Schreiben
Author
Year
2001
Pages
12
Catalog Number
V103753
ISBN (eBook)
9783640021307
ISBN (Book)
9783640161515
File size
377 KB
Language
German
Keywords
Ethnische, Wurzeln, Elias, Canettis, Autobiographisches, Schreiben
Quote paper
Turan Gizbili (Author), 2001, Ethnische und sprachliche Wurzeln Elias Canettis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103753

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