Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen" und seine Schluss- und Schlüsselszene. Analyse der Sinnesebenen


Term Paper, 2019

21 Pages


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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die Schlussszene - ein innerer Konflikt?

Die allegorische Lesart

Zirkusgedanken - Charaktere oder Typen?

Fruhlings Erwachen - (k)eine Kindertragodie?
Die Tragik des Stuckes
Das Stuck und der Autor
Der humoristische Aspekt des Dramas

Fruhlings Erwachen - ein Faust-Drama mit Kindem?

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Das Drama Fruhlings Erwachen wurde 1891 in Zurich veroffentlicht. Bis zur Erstauf- fuhrung des Stuckes verging allerdings uber ein Jahrzehnt. Erst am 20. November 1906 wurde es unter der Regie von Max Reinhard von den Berliner Kammerspielen uraufge- fuhrt.1 Diese Urauffuhrung des Dramas verschaffte seinem Autor Frank Wedekind den Durchbruch zu einem der meistgespielten Dramatiker der Vorkriegszeit.2 Fur die auf diese Auffuhrung folgende Spielzeit 1907/1908 sind mindestens 211 Inszenierungen mit 2542 Vorstellungen nachweisbar.3

In Fruhlings Erwachen werden die Konflikte von Jugendlichen in der Pubertat themati- siert. Offenkundig ist v.a. die Kritik am Gymnasium und der Erziehung - weder Lehrer noch Eltern bringen den Kindem Verstandnis entgegen. Die Kinder stoben sich in die- sem schwierigen Lebensabschnitt, in welchem sie ohnehin schon Konflikte mit sich selbst und untereinander ausfechten, auch noch an der erwachsenen Gesellschaft. Wenn das Drama allerdings nur Erziehungs- und Gesellschaftskritik an den diesbezuglich vor- herrschenden Zustanden im ausgehenden 19. Jahrhundert uben wurde - es hatte heute jegliche Aktualitat verloren. Man tut dem Drama allerdings unrecht, wenn man es ledig- lich auf diese Sinnebene reduziert. Es setzt sich vielmehr aus multiplen Sinnebenen zu- sammen, „die sich gegenseitig durchdringen, uberlagem und zusammen ein hochkom- pliziertes Gebilde ergeben.“4 Das Drama thematisiert existenzielle Fragen, die zeitlos sind. Auberdem stellt es eine Literaturparodie dar, welche Kritik an der damals herr- schenden Stromung des Naturalismus ubt. Von diesem hob es sich z.B. durch die Tech- nik der Montage und Collage ab, durch welche die Architektur des geschlossenen Dra­mas aufgebrochen wurde. Am signifikantesten ist allerdings der Verlust der Realitats- gewissheit. Die Naturalisten hatten sich der „Verwissenschaftlichung der Kunst“ ver- schrieben und legten einen groben Wert auf eine detaillierte Beschreibung der Wirklich- keit. Wedekind stellte dieser Sichtweise seinen Konstruktivismus entgegen, welcher eng mit einem allegorischen Ausdruck verbunden ist. Am deutlichsten wird der allegorische Charakter der Stuckes in den Schlussszene auf dem Friedhof. Wenn der Text dem Leser vorher bereits einige Male den Wink mit dem Zaunpfahl gegeben hat, so taucht der ver- mummte Herr nun auf dem Friedhof auf und schmeiBt dem Leser den ganzen Zaun ent- gegen. Die folgende Arbeit soil aufzeigen, wie dies geschieht und welche Stellen des Dramas nach der Lekture der Schlussszene noch einmal uberdacht werden sollten. Es soil herausgearbeitet werden, welche Lesart dem Leser die meisten Sinnebenen des Dra­mas erschlieBt und somit den groBten Gewinn einbringt. Zentral hierfur ist die Figur des vermummten Herrn, die auf vielerlei Weise interpretiert wurde. Die verschiedenen In- terpretationsarten dieser Figur gehen mit den unterschiedlichen Lesarten des Stuckes einher, weshalb sie von enormer Wichtigkeit fur diese Arbeit ist.

Die Schlussszene - ein innerer Konflikt?

Nach dem Lesen der Schlussszene von Fruhlings Erwachen muss der Rezipient eine Entscheidung fallen. Bisher lieB sich die Dramenhandlung als real mogliches Gesche- hen betrachten; sie unterlag einer - zumindest textimmanente - Logik. Entscheidet sich der Leser fur die realistische Lesart, stellen die Vorgange auf dem Friedhof in einer hel- len Novembemacht eine Herausforderung dar. Das Drama bricht mit der Poetik der Wahrscheinlichkeit, indem der tote Moritz Stiefel und der vermummte Herr auf dem Friedhof auftauchen. Auch wenn sich bereits die Szenen 11,7 und 111,1 stilistisch vom Rest des Dramas unterschieden - insbesondere 111,1 mit seinem satirischen Charakter und den grotesken Uberzeichnungen - so konnten sie sich gewissermaBen dennoch als realistisch behaupten. Das Erscheinen des toten Moritz Stiefel und des vermummten Herrn auf dem Friedhof ist hingegen femab von aller Realitat. Die Szene mutet phantas- tisch und tendenziell grotesk an; sie ist naturalistisch nicht greifbar. Wedekind war ein Gegner der Verwissenschaftlichung von Kunst, die von den Anhangern des Naturalis- mus betrieben wird.

Wenn der Rezipient sich dafur entscheidet, die Handlung auf dem Friedhof dennoch als reales Geschehen zu betrachten, bietet es sich an, in der Szene die Representation eines inneren Konflikts zu sehen, der sich in Melchiors Kopf abspielt. Somit ware der Dialog auf dem Friedhof das mehrstimmige Produkt eines Einzelnen - Melchiors - der aus di­versen Ich-Anteilen besteht. Diese Ich-Anteile werden in diesem Interpretationsansatz durch Moritz und den vermummten Herrn reprasentiert.

Dieser Interpretation folgte bereits die Inszenierung 1907 in Hamburg. Dass es sich bei der Szene um eine Auseinandersetzung in der Gedankenwelt handelt, wurde verdeut- licht, indem ein Wolkenschleier vor die Buhne gesenkt wurde.5

Der tote Moritz Stiefel versucht seinen besten Freund Melchior, der zuvor einen auberst tragischen Monolog gehalten hat, von einem Selbstmord und der Erhabenheit der Toten zu uberzeugen. Immer wieder fordert er Melchior dazu auf, ihm die Hand zu reichen. Zuletzt sagt er:, ,Du brauchst mir nur den kleinen Finger zu reichen!“. Diese Aussage ist auf das Sprichwort, ,Wenn man dem Teufel den kleinen Finger gibt, so nimmt er die ganze Hand“ zuruckzufuhren. Der Handschlag ist in diesem Fall als Mittel zum Ab- schlieben eines Vertrages zu betrachten. Melchior wurde mit dem Handschlag seinen Tod besiegeln.

Gerade als Melchior im Begriff ist, Moritz Angebot anzunehmen, taucht der vermumm- te Herr auf und allein sein Auftreten genugt, um Moritz' Argumentation als Luge zu ent- larven; Moritz enttamt sie selbst als solche. Dies geschieht anhand der Wortkulisse, die Moritz in seiner Uberzeugungsrede entwirft. Durch eine Wortkulisse wird der Raum uber die Buhnengrenze hinaus erweitert und das Publikum muss diesen imaginativ nachvollziehen.6 Moritz konstruiert den Tod als etwas erhabenes, indem er das Toten- reich „oben“ verortet.

,,Wir sitzen auf Kirchturmen, aufhohen Dachgiebeln“

,,Uber Volksversammlungen schweben wir hin“

,,Wir stehen hoch, hoch uber dem Irdischen“

,,Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch uber dir”

Nach einigen Auberungen seitens von dem vermummten Herrn, denen sowohl eine ex­pressive als auch eine appellative Funktion zukommt - er artikuliert seine Abneigung gegenuber Moritz unverhullt und fordert ihn wiederholt auf zu verschwinden - erfahrt dieser imaginare Raum eine Umdeutung. Moritz geht nach dem Erscheinen des ver­mummten Herrn umgehend in die Defensive und bittet ihn instandig darum, ihn nicht fortzuschicken, denn, ,Es ist unten so schaurig.“ Durch diese Aussage wird die zuvor entworfene Wortkulisse als Luge enttarnt und es wird deutlich, dass das Gegenteil von dem zuvor gesagten der Fall ist.

Da Moritz umgehend klein nachgibt und dem vermummten Herrn beipflichtet ihm, ,in nichts entgegen sein“ [78,25f.] zu wollen, kommt es gar nicht zum Redeagon der inne- ren Stimmen „Engelchen und Teufelchen“. Moritz' Uberzeugungsrede endet mit dem Auftritt des vermummten Herrn, er konnte seinen Standpunkt lediglich unter vier Augen mit Melchior vertreten. In Gegenwart des vermummten Herrn wagt er es nicht mehr, Melchior weiterhin davon zu uberzeugen, mit ihm in das Reich des Todes hinabzustei- gen; oder - der von ihm entworfenen Wortkulisse folgend - hinaufzusteigen. Dieser Aspekt spricht wiederum gegen einen inneren Disput Melchiors. Der vermummte Herr ist Moritz meilenweit uberlegen und auch die Redeanteile sind zu Moritz' Ungunsten verteilt.

Offenbar hat der vermummte Herr den vorherigen Dialog zwischen Moritz und Melchi­or mit angehort, denn er antwortet auf Moritz' Bitte, dem Gesprach weiterhin beiwoh- nen zu durfen, weil es unten so „schaurig“ sei: „Warum prahlen Sie dann mit Erhaben- heit?!“. AuBerdem bezeichnet er Moritz als „Hirngespinst“ - also als Produkt von Mel­chiors fehlgeleiteten Einbildungskraft, hervorgerufen durch seine miserable Lage. Der tote Moritz Stiefel lasst sich in einer real moglichen Lesart also durchaus als Halluzina- tion betrachten, hervorgerufen durch Melchiors Zustand - er ist hungrig und hochst- wahrscheinlich unterkuhlt. Wie aber steht es um den vermummten Herrn? Ein schlag- kraftiges Argument gegen die Annahme, er sei ebenfalls lediglich ein Ich-Anteil Mel­chiors, liegt in seinem Wissen um die Todesursache von Wendla Bergmann. Melchior fuhlt sich fur Wendlas Tod verantwortlich und wahrend er uber den Friedhof wandelt sagt er zu sich: „Warum sie um meinetwillen!“. Als er vor ihrem Grab steht ubermannen ihn die Schuldgefuhle und er ruft aus: „Und ich bin ihr Morder! - Ich bin ihr Morder!“. Obwohl ihm der Gedanke an einen Selbstmord sichtlich missfallt, so sieht er doch eine gewisse Notwendigkeit in diesem Schritt. Er versinkt nahezu im Selbsthass und sehnt sich nach dem Vergessen. Gerade als er im Begriff ist, Moritz die Hand zu reichen, taucht der vermummte Herr auf und halt ihn vom Selbstmord ab.

Der vermummte Herr erleichtert Melchiors Gewissen, indem er ihn daruber aufklart, dass sie nicht auf Grund von Komplikationen im Zusammenhang mit ihrer Schwanger- schaft gestorben ist, sondern durch eine missgluckte Abtreibung. Uber dieses Wissen kann Melchior unmoglich verfugen; es ist exklusiv Frau Bergmann und der Mutter Schmidtin vorbehalten. Die wahre Todesursache Wendlas wurde nie publik gemacht - selbst auf ihrem Grabstein steht die Luge „gestorben an der Bleichsucht“. Frau Berg­mann wird auf Grund ihrer burgerlichen Wertvorstellungen samtliche Energie darauf verwenden, dass die wahre Todesursache ihre Tochter niemals an die Offentlichkeit ge- rat. Auch Mutter Schmidtin wird ein groBes Interesse daran haben, die Ereignisse geheim zu halten, stellt der Schwangerschaftsabbruch mit Todesfolge doch ein Verbre­chen dar. Der Wissenshorizont des vermummten Herrn ubersteigt auch in weiteren Aspekten den Melchiors. So beispielsweise, wenn er sagt:, ,Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kraftigen Armen deiner Mutter.“ Auch dies wiederum ist ein Wissen, welches exklusiv zwei Personen - Melchiors Eltern - vorbehalten ist. Der Wissenshori­zont des vermummten Herrn uberschreitet also nicht nur den Melchiors, sondem er be- trifft Privatangelegenheiten, die ausschlieBlich den unmittelbar Beteiligten vorbehalten sind.

Da Melchior also nicht uber dieses Wissen verfugen kann, erscheint es nicht plausibel, den vermummten Herrn als Ich-Anteil Melchiors zu betrachten. Auch zeichnet sein Wissen ihn als nicht-herkommlichen Menschen aus. Die realistische Lesart stoBt hier an ihre Grenze.

Die allegorische Lesart

Begreift der Leser die Vorgange in der Schlussszene hingegen nicht als real mogliches Geschehen, sondem wahlt die allegorische Lesart, gewinnt nicht nur die Szene auf dem Friedhof an Bedeutung, sondern das gesamte Drama muss noch einmal neu uberdacht werden. Insbesondere die Schlussszene des vorhergegangenen Aktes und die Figur der Use verlangen nach einer neuen Interpretation.

Indem der vermummte Herr sagt, ,Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch im letzten Augenblick noch zwischen Tod und Leben“, gibt er sich als allegorische Verkorperung des Lebens zu erkennen und offenbart eine relative Kon- gruenz mit der Figur Use. Es wird deutlich, dass Use die Funktion und Absicht vertrat, Moritz nicht nur zum Geschlechtsverkehr, sondem auch zum Leben zu verfuhren. So- wohl beim vermummten Herrn als auch bei Use handelt es sich also nicht um, ,her- kommliche“ Figuren, sondern um allegorische Figuren. Ihr Auftreten wurde haufig als stilistischer Bruch empfunden und Theaterregisseure hatten Schwierigkeiten, die Szenen 11,7 und 111,7 in die Gesamtheit des Stuckes zu integrieren7, da das Stuck weitgehend na- turalistisch und romantisierend interpretiert wurde. Daher wurde oftmals entschieden, sie, ,ins Phantastisch-Traumhafte zu rucken und sie als leblose Bilder bloB zu zeigen, statt sie 'wirklich' zu spielen.“8 Durch eine solche Auffuhrung geht allerdings der gesam- te allegorische Charakter des Stuckes verloren, der sich nicht nur auf die beiden Szenen beschrankt. Denn - wie im weiteren Verlauf noch zu zeigen wird - handelt es sich bei den Figuren in Fruhlings Erwachen hauptsachlich um Typen; um „karikaturhafte menschliche Abziehbilder“9 10 11.

Bezeichnend ist die Kulisse, in welcher sich die Begegnung zwischen Moritz und Use abspielt., ,In einiger Entfernung hort man den Fluss rauschen“, heiBt es in der Regiean- weisung. Es liegt daher nahe, dass es sich bei der Figur Use um eine Anlehnung an den personifizierten Fluss Use in Heinrich Heines Die Harzreise handelt. Dort spricht sie zum traumenden Dichter:

,,Ich bin die Prinzessin Use

Und wohne im Ilsenstein;

Komm mit nach meinem Schlosse,

Wir wollen selig sein.

Dein Haupt will ich benetzen

Mit meiner klaren Well',

Du sollst deine Schmerzen vergessen,

Du sorgenkranker Gcscll!”1"

Auch die Figur Use in Wedekinds Fruhlings Erwachen mochte, dass Moritz seine Sor- gen vergisst - indem sie ihn zu sich nach Hause einladt, mochte sie ihn vom Selbstmord abhalten. Weiterhin heiBt es bei Heine uber den Fluss Use:, ,Es ist unbeschreibbar, mit welcher Frohlichkeit, Naivitat und Anmut die Use sich hinuntersturzt uber die abenteuerlich gebildeten Felsstucke, die sie in ihrem Lauf findet“n. Wedekinds Figur Use sturzt sich ebenso hinunter - allerdings in das Leben der Boheme.

Sie verkehrt mit einem halben Dutzend Kunstlern, nimmt an Saufgelagen teil, feiert drei Tage und Nachte lang am Stuck und wird schlieBlich sogar inhaftiert. Gemessen an den burgerlichen Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts ist ihr Verhalten kurzum skanda- los. Doch diesen zum Trotz genieBt sie ihr Leben und gibt sich ganz dem Genuss hin. Sie ist also vie mehr als ein „leibgewordenes Abziehbild mannlichen Begehrens“12. Sie ist der Inbegriff des Lebensgenusses trotz aller Widrigkeiten.

Moritz stellt sich den Coitus vor „als wurde man uber Stromschnellen gerissen“ [44,32f.]. Allerdings hat er Melchior gegenuber offenbart, dass er die Rolle der Frau wahrend des Geschlechtsverkehrs bevorzugt. Deren Empfinden denkt er sich, ,so frisch wie der Quell, der dem Fels entspringt“ [33,10f.], wohingegen er sich „die Befriedi- gung, die der Mann dabei findet [...] schal und abgestanden“ [33,14f.] vorstellt. Darum identifiziert er sich in seinen letzten Augenblicken auch mit Use.

„... ich werde -

Aufschreien! - Aufschreien! - Du sein, Use!”

Doch letztendlich gewinnt die kopflose Konigin, welche in dieser Szene die Rolle ein- nimmt, die in der Schlussszene durch Moritz ubemommen wird.

„Von druber her sehe ich emste freundliche Blicke winken: die kopflose Konigin, die kopflose Konigin - Mitgefuhl, mich mit weichen Armen erwartend ...“

Die Kopflosigkeit ist im Hinblick auf Moritz ein Leitmotiv des Dramas. Die Geschichte von der „Konigin ohne Kopf‘ erzahlt er Melchior in 11,1 und vertraut ihm obendrein an, dass er sich zuweilen, ,selber als kopflose Konigin“ [30,13f.] erscheint. In dieser Aussa- ge lasst sich bereits eine Andeutung der Schlussszene erkennen.

In seinem Monolog in 11,7 bedient Moritz immer wieder das semantische Feld des Kop- fes.

„Mogen sie einander auf die Kopfe steigen.'' [43, 25f.]

,,Ich musste ja auf denKopf gefallen sein!” [44,13]

AuBerdem wunscht er sich, ,eine schneeweiBe Marmorurne auf schwarzem Syenitso- ckel“ [45,10f.]. Dieser Grabstein wurde die Identitatskrise reprasentieren, an welcher er zugrunde ging - sein abstrakt-erhabener Idealismus ist mit seinem korperlichen Trieb nicht vereinbar. Angesichts der Tatsache, dass Wedekind Richard von Krafft-Ebings Werk Psychopathia Sexualis gelesen hat, in dem der Psychiater sexuelle Abweichungen anhand von Fallbeispielen beschreibt, lieBe sich Moritz Stiefel auch als Transvestit be- trachten.

In dieser Interpretation ginge er an einer geschlechtlichen Inkongruenz zugrunde, die er sich im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht erklaren kann, da Transsexualitat damals kein allgemein bekanntes Phanomen darstellte, welches durch die Gesellschaftlichen Normen geachtet und somit bewusst unterdruckt wurde. Diese Interpretation ist sicher- lich gewinnbringend - v.a. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Drama in Schulen bietet das Schicksal des Moritz Stiefel somit eine Tur zu einem wichtigen aktu- ellen Thema in unserer Gesellschaft.13

Als Suizid-Mittel wahlt Moritz Stiefel ausgerechnet einen Schuss in den Kopf, wodurch „die Konigskerzen [...] uber und uber mir Blut besprengt“ [60,30f.] werden. Wenn all dies den Rezipienten noch nicht dazu gebracht hat, eine allegorische Lesart zu wahlen, so sollte dies spatestens geschehen, sobaid der tote Moritz Stiefel14 mit, ,seinem Kopf un- ter dem Arm [uber die Graber her stapft]“ [75,8f.]. Moritz ist von Beginn an in den Fangen des Todes. Bereits in 1,2 offenbart er Melchior welche „Todesangst“ [12,29] er durchgestanden hat, seitdem sich bei ihm die ersten „mannliche[n] Regungen“ [12,9] gezeigt haben. Er ist mit der Situation mablos uberfordert und dermaben beschamt, dass er nicht einmal in der Lage ist, mit seinem besten Freund offen uber das Thema zu spre- chen. Er mochte lieber schriftlich von ihm aufgeklart werden und Melchior stellt ange- sichts dieses Gehabes fest er sei „wie ein Madchen“ [15,7], was wiederum sehr gut zur Transvestiten-Theorie passt.15

[...]


1 Vgl. Volker Meid: Metzler Literatur Chronik. Werke deutschsprachiger Autoren. Stuttgart 2013. S.477f.

2 Vgl. Hartmut Vinson: Wedekind. In: Wilhelm Kuhlmann, Walther Killy (Hrsg.): Killy- Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd.12, Berlin 2011. S.185-190.

3 Vgl. Mischa Meier: Frank Wedekind, Fruhlings Erwachen. Eine Kindertragodie? In: W. Klein (Hrsg.): Kaleidoskop, Zeitschriftfur Literaturwissenschaftund Linguistik, Bd. 28, Stuttgart 1998, S. 94-109.

4 Ebd. S.95.

5 Vgl. U. Henry Gerlach: Wer ist der „vermummte Herr” in Wedekinds, Fruhlings Erwachen‘? In: MaskeundKothum31 (1985), 1-4, S. 101-112.

6 Vgl. Franziska Schohler: Einfuhrung in die Dramenanalyse, Stuttgart 2017. S.142.

7 Vgl. Einar Schleef: Existenzkampf auf leerer Buhne. Fruhlings Erwachen im Theater am Schifibauerdamm 1974. In: E. Austermuhl, A. Kessler, H. Vinson, F. (Hrsg.): Kein Funke mehr, kein Stem aus fruh'rer Zeit. Frank Wedekind - Texte, Interviews, Studien, Pharus, Bd. 1.1. Ausgabe, Darmstadt 1989, S. 23-30.

8 Ansgar Haag: Fruhlingserwachen am Staatstheater Darmstadt. Ein Gesprach. In: Austermuhl, Kessler, Vinson, F. Wedekind (Hrsg.): Kein Funke mehr, kein Stem aus fruh'rer Zeit.

9 Ebd. S.30.

10 Heinrich Heine: Die Harzreise. Mit einem Nachwort von Friedrich Sengle. Textrevision und Anmerkungen vonManfred Windfuhr. Stuttgart: Reclam, 1955. (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 2221.) S.74f.

11 Ebd. S. 72.

12 Andreas Hamburger: Zur Konstruktion der Pubertat in Wedekinds Fruhlings Erwachen. In: O. Gutjahr (Hrsg.): Frank Wedekind, Freiburger literaturpsychologische Gesprache, Bd. 20, Wurzburg 2001, S. 55-91. S.82.

13 Auch Homosexualitat wird in Fruhlings Erwachen durch die Beziehung zwischen Ernst und Hanschen thematisiert. Die Weinberg-Szene, in welcher die beiden sich kussen, fiel wie auch die Szene 111,6, in wel- cher sechs Jungen in der Korrektionsanstalt um die Wette onanieren, wahrend der ersten Spielzeit des Stuckes der Zensur zum Opfer. Das Drama bietet also nicht nur eine Tur zum Thema Transsexualitat, son- dem auch zum Thema Homosexualitat und in einem facherubergreifenden Unterricht stellt Fruhlings Er­wachen somit einen Einstieg in Thema LGBT dar, welches auch heute noch viel zu wenig in den Schulen behandelt wird.

14 Vgl. Frank Wedekind: Zirkusgedanken. In: E. Austermuhl, R. Kieser, H. Vinson (Hrsg.): Frank

15 Wedekind. Werke. Kritische Studienausgabe in acht Banden, Darmstadt. S.98.

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Details

Title
Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen" und seine Schluss- und Schlüsselszene. Analyse der Sinnesebenen
College
University of Münster
Author
Year
2019
Pages
21
Catalog Number
V1038211
ISBN (eBook)
9783346450661
ISBN (Book)
9783346450678
Language
German
Keywords
frank, wedekinds, drama, frühlings, erwachen, schluss-, schlüsselszene, analyse, sinnesebenen
Quote paper
Laura Vormann (Author), 2019, Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen" und seine Schluss- und Schlüsselszene. Analyse der Sinnesebenen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1038211

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