Die Ästhetik der Gesellschaft. Ein Vergleich der Theorien von Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu


Hausarbeit, 2021

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Zum Begriff der Ästhetik

2. Niklas Luhmanns Theorie der sozialen Systeme

3. Pierre Bourdieus Feldtheorie

4. Ästhetik der Gesellschaft
4.1 Luhmanns Kunstsystem
4.2 Bourdieus Kunstfeld
4.3 Theorievergleich

5. Ästhetik als Differenz

1. Zum Begriff der Ästhetik

Der Begriff der Ästhetik stellt uns vor ein Verständnisproblem. Wir mögen einerseits dazu geneigt sein, den unterschiedlichsten Sachverhalten eine ästhetische Wirkung zuzusprechen und variieren andererseits bezüglich ihrer Empfindungen, ihren konkreten Bezugsobjekten und Zuschreibungsweisen. Während der eine möglicherweise nur „kunstnahen“ Objekten, wie Literatur, Filmen und Kunstwerken wie Gemälde oder Skulpturen eine potenziell ästhetische Wirkung bescheinigen mag, begreift sie ein anderer die auch in vergleichsweise banalen Ereignissen wie einem Sonnenuntergang oder einer klaren Sternennacht – und damit ist noch nichts darüber ausgesagt, welches Begriffsverständnis zugrunde liegt.

Man sagt: Ich finde dieses oder jenes ästhetisch – ohne sich darüber bewusst zu sein, was Ästhetik ist und wie sie entsteht. Alltagsweltlich wird man dazu geneigt sein, Verschiedenstes als ästhetisch zu empfinden und zu benennen, aber es ist uns kein explizites Begriffsverständnis verfügbar. Als Bezugssystem kultureller Imperative, welche wiederum einem historischen Wandel unterliegen, kann man annehmen, dass Sinnkomplexe zur Informationsarbeitung sich verschoben haben und Ästhetik als Begriff unterschiedlich tradierten. Das eröffnet zum einen Vergleichsmöglichkeiten, mit denen die semantischen Rekonstruktionen des Ästhetikbegriffs und damit die Divergenzen ästhetischer Verständnisse und Empfindungen im Wandel der Zeit nachvollzogen werden können. Andererseits fragt es insofern nach der Entwicklungsgeschichte von Ästhetik, als dass unser heutiges Begriffsverständnis das Ergebnis hochkomplexer soziokultureller Prozesse ist, welche seine Genese bis in die Gegenwart hinein beeinflusst haben.

Trotz dieser recht diffusen Auffassung herrscht ein Konsens darüber, dass ihrerartige Empfindungen und Verweisungszusammenhänge subjektiv seien, dass sie sich begründen in den Differenzen der sozialen Norm, der Wertvorstellung, dem eigenen Geschmack. Die daraus resultierende Inkonvergenz bestreitet trotzdem nicht die Vorstellung, der Ästhetik wäre ein entsprechendes Normenverständnis vorausgesetzt – also dass es Grenzen bezüglich der Möglichkeiten gäbe, was als ästhetisch beschrieben werden kann und was nicht – und das veranlasst dazu, etwaige Entstehungsprozesse gesellschaftlicher Leitvorstellungen der Ästhetik aufzudecken und ebenjene Grenzsetzungen auszuarbeiten. Wenn Ästhetik als eine Differenz zu verstehen ist – ich werde später darauf zurückkommen – können wir sagen: Mit dem Ausschluss des Nichtgesagten grenzt sich Ästhetik von allem Nicht-Ästhetischen ab. In der modernen Gesellschaft befindet sich das Verhältnis der Abgrenzung zwischen Ästhetischem und Nicht-Ästhetischem in einem permanenten Spannungsverhältnis, und es ist diese Abgrenzung, die in der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmends unklarer erscheint.1

Dass die Lösung dieser Inkonvergenz des Ästhetikbegriffes mit unterschiedlich ausgestalteten Definitionsvorschlägen behoben wäre, die dann um Deutungshoheit konkurrieren, mag ernsthaft bezweifelt werden. Der vorliegende Text kennt das unvermeidliche Schicksal jener Begriffe, die in ihrer Bedeutung stets Gegenstand teils minder, teils stärker umstrittenen Debatten waren; insofern muss er dies schon am Anfang seiner wissenschaftlichen Bemühungen bedenken, wenn er sein Forschungsvorhaben nicht ins Leere laufen lassen möchte. Nun erscheint es nicht nur naiv, diese Eigenschaft des ästhetischen Begriffes als ein essentially contested concept zu bestreiten – also zu negieren, dass Ästhetik und Kunst ihrem Wesen nach umkämpfte Begriffe sind und aus Differenzen von Wertvorstellungen heraus resultieren. 2 Ebenso muss man darauf hinweisen, dass das Ausmaß und gleichwohl auch ihre Intensität nicht auf wissenschaftsdisziplinäre Grenzen beschränkt blieb. Nicht nur der Künstler, auch der Soziologe, der Psychologe, der Mathematiker, der Metaphysiker haben zu diesem Diskurs ihre berechtigte Meinung, und bei dieser (funktionalen) Ausdifferenzierung des Begriffes bleibt selbst mit einer einheitlichen Leitdifferenz die Hoffnung auf einen Konsens über wissenschaftsdisziplinäre und ideologische Grabenkämpfe hinweg bestenfalls eine schimmernde Utopie. Wenn auch zahlreiche ergiebig erscheinende Theoriestrategien somit ausgeräumt werden, stellt dies nur grobschlächtige Hinweise für eine ausgearbeitete Theorie der Ästhetik dar. Um diese Eigenart des Begriffes zu berücksichtigen und das bekannte Schicksal zu vermeiden, soll es stattdessen nicht um die Behebung dieser Inkonvergenz gehen, sondern um das Aufzeigen ihrer Entstehung, welche dann diese Konkurrenzkämpfe um Deutungshoheit in eine Analyse der Genese persönlicher Individualität3 als Gesamtheit von internalisierten Normen und Werten und daraus resultierenden Geschmäckern mit einbezieht. Es geht also um die Frage, ob und wie ein entsprechendes Begriffsverständnis von Ästhetik in der Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Wertvorstellungen entsteht, wie es erzeugt wird und sich verändert. Eine nähere Betrachtung dieser Frage soll nun mit der Anwendung zweier Gesellschaftstheorien erfolgen: Der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann (Kap. 2) und der Feldtheorie von Pierre Bourdieu (Kap. 3). Diese prominenten Namen werden dem soziologisch interessierten Laien zunächst verraten, dass hier grundsätzlich mit Theorien gearbeitet wird, die eine (deskriptive) Beschreibung gesellschaftlicher Realität und nicht entsprechende (normative) Vorgaben anstreben.4 Es geht also, wie man dann weiß, nicht um eine Verteidigung jener Wertvorstellung nebst anderen, nicht um eine Fürsprache, einen Widerstreit oder gar einen Nekrolog zu einer bestimmten Ideologie. Wenn auch zwangsläufig normative Inhalte wie Geschmack, Norm, Wert Gegenstand der soziologischen Untersuchung sein könne, ist ihre reine Beschreibung und Relationierung in Differenz zu anderen Gattungslogiken stets ein deskriptives Unterfangen.

Neben den jeweiligen Hauptwerken5 werden auch eine Vielzahl weiterer Monographien, Aufsätze und Interviews mit einbezogen. Anschließend gilt es, mit einer schärferen Beleuchtung des Ästhetikbegriffs die Frage nach der Entstehung und Veränderung ästhetischer Wahrnehmungen und Zuschreibungen auf die Gesellschaftstheorien anzuwenden (Kap. 4): Wie wird Ästhetik in der Gesellschaft vorgegeben, wie entstehen Leitvorstellungen über Ästhetik und Kunst? Dabei soll erläutert werden, wie ästhetische Vorstellungen und Zuschreibungen im Rahmen komplexer soziokultureller respektive sozioökonomischer Prozesse entstehen und sich wechselseitig beeinflussen. Zum Schluss werden anhand einiger empirischer Beispiele anhand von verschiedenen Zeitungen und Magazinen die Distinktion des Ästhetischen vollzogen (Kap. 5)

2. Niklas Luhmanns Theorie der sozialen Systeme

Wer eine kurze und leicht verständliche Einführung in das Denken und Werk von Niklas Luhmann und seiner „Theorie der sozialen Systeme“ bieten möchte, ist aus vier Gründen mit schwerer Aufgabe konfrontiert.

Erstens ist Luhmann zwar als Soziologe respektive Gesellschaftstheoretiker bekannt geworden, war jedoch im ursprünglichen Sinne Vertreter soziologischer Systemtheorie. Die Anwendbarkeit seiner Systemtheorie auf Gesellschaft ist nur unter der Perspektive von Gesellschaft als (soziales) System möglich. Impliziert ist damit auch, dass außer sozialen Systemen noch Systeme anderer Art existieren.6 Die primäre Herausforderung systemtheoretischer Formulierungen besteht also in einer überaus abstrakten, informationsarmen Sprache, die auf alle Systemtypen7 anwendbar sein muss.

Zweitens ist Luhmanns Werk sehr umfangreich und ausdifferenziert. Über den Zeitraum seines wissenschaftlichen Wirkens von etwa 30 Jahren hat Luhmann zu hochkomplexen Problemstellungen vielfältiger Themenbereiche publiziert. Selbst bei größter Bemühung um eine gehaltreiche Zusammenfassung wird es sich nicht vermeiden lassen, nur solche Theorieteile gesondert zu behandeln, die für die vorliegende Thematik als relevant erachtet werden.

Drittens gestalten sich die Ausgangspunkte für Erklärungsansätze Luhmannscher Systemtheorie sehr flexibel. Luhmann selbst schreibt dazu: „Die Theorieanlage gleicht also eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende. Die für dieses Buch gewählte Kapitelfolge ist sicher nicht die einzig mögliche, und das gilt auch für die Auswahl der Begriffe, die als Themen für Kapitel hervorgehoben werden. Auch in den Fragen, welche Begriffe überdisziplinär und systemvergleichend eingeführt werden und welche nicht […] hätte ich andere Entscheidungen treffen können8.“ Das mag letztlich daran liegen, dass Luhmanns Systemtheorie eine hochgradig komplexe Synthese aus mehreren Theoriebausteinen ist: Gesellschaftstheorie als Systemtheorie, Kommunikationstheorie und Evolutionstheorie.9

Und viertens wird ein Verständnis seiner Theorie dadurch erheblich erschwert, dass sie sich von traditionellen Bezugspunkten gesellschaftstheoretischer Klassiker vollständig abgrenzt und ontologische Annahmen sowie den Subjektbegriff als Voraussetzung seiner Theoriebildung ablehnt.10 Ausgenommen ist als Ausgangspunkt seiner Überlegungen nur die Annahme, dass es (selbstreferentelle) Systeme gibt.11

Wer den Versuch nun doch wagt, muss im Zuge dieser Erläuterung zwei Fragen als vorrangig betrachten. Erstens muss man einige Dinge sagen über Systeme und den System begriff schlechthin. Aufbauend darauf kann dann mit dem Begriffsinstrumentarium die Frage schärfer beleuchtet werden, was eigentlich die Perspektive von Gesellschaft als System verspricht – also was es bedeutet, wenn Gesellschaft als System begriffen wird. Wann immer man dann mit der Frage konfrontiert ist, von was genau die Rede sei, wenn man den Begriff der Gesellschaft verwendet, stößt man auf ein Unbestimmbarkeitsproblem insofern, dass der Gesellschaftsbegriff „zugleich das Ganze und einen Teil des Ganzen vertreten muss“12 und damit doppeldeutig bleibt. Diese Unbestimmbarkeit als Paradoxie zwischen Ganzem und Teil konstruiert die Aktualität eines Bezugsproblems, hinter das keine gesellschaftstheoretische Formulierung fallen darf, wenn sie ihrem Forschungsgegenstand gerecht werden will – und das geschieht durch einen Paradigmenwechsel13. Die Ausgangshypothese zum Forschungsvorhaben Luhmanns lautet, dass bei den theoretischen Ansätzen zur Behebung des Unbestimmbarkeitsproblems keine nennenswerten Fortschritte erzielt wurden – und zwar nicht nur deswegen, weil die Lösungsansätze unzureichend waren, sondern weil es nicht passiert ist, „dass man diesen Nerv jemals gezielt angebohrt hätte14 “ und bis Luhmann nichts derartiges entwickelt wurde. Er ergänzt diese Anmerkung mit der Behauptung, seine Theorie sozialer Systeme hätte nun eine Lösung zu bieten. Diese Lösung liegt nach Luhmann in der Definition des Systembegriffs als Differenz zwischen System und Umwelt15.

Auf dieser Differenz System/Umwelt baut die gesamte Systemtheorie auf. Die Perspektive von System als Differenz ermöglicht zu sagen: ein System besteht erst durch seine Abgrenzung zur Umwelt. Die ursprüngliche Unbestimmbarkeit des Gesellschaftsbegriffs als Differenz Teil/Ganzes ist dem Systembegriff als Differenz System/Umwelt inhärent16, und Umwelt eines System ist jeweils alles andere, also auch andere Systeme und das Gesamtsystem – die Umwelt ist systemspezifisch. Das System selbst besteht weiterhin aus der Differenz Element/Relation17: den systemspezifischen

Elementen und den Relationen zwischen ihnen, welche in ihrer Gesamtheit die Struktur des Systems ergeben und deren Elemente determinieren. Ab einer bestimmten Anzahl an Relationen wird die Struktur des Systems zu komplex18, die Funktion dieser Differenz von System/Umwelt liegt also in der Konstitution von Komplexität19 – es bezeichnet, was zum System gehört und was nicht. Was als Element des Systems gilt, legt das System also durch Ausdifferenzierung selbst fest. Ab Dies wird neben der notwendigen Potenzialität zur Lösung systeminterner Probleme durch die Anpassung an die übermäßige Komplexität der Umwelt erfordlich, die durch Systembildung und Ausdifferenzierung in Teilsysteme20 reduziert wird, welche dann systemspezifische Funktionen übernehmen und das Konzetrationsgefälle von Umwelt zu System hin überwinden.

Luhmanns Systemtheorie ist also differenztheoretisch, sie begreift Differenz und damit die Reduktiion von Komplexität als zentrale Voraussetzung für Erleben und Handeln21. Bevor man sich überhaupt aus einer Vielzahl von Möglichkeiten für etwas entscheiden kann, ist die Fähigkeit, zwischen etwas zu unterscheiden, zwingende Voraussetzung. Eng damit verbunden ist der Begriff der Kontingenz. Er bezeichnet die Tatsache der Möglichkeit bei gleichzeitiger Nichtnotwendigkeit und damit auch die Unwahrscheinlichkeit einer Entscheidung. Man kann nicht alles zugleich tun, sagen oder denken, eine Differenz und die darauffolgende Selektion ist notwendig22: Da alles Handeln jedoch kontingent ist, hätte jede Entscheidung auch anders getroffen werden können. System als Differenz zwischen System und Umwelt leistet nun Selektionen aus den einzelnen Entscheidungsmöglichkeiten, um die Komplexität der Umwelt zu reduzieren und so die Anpassung des Systems an die Umwelt zu gewährleisten.

Diese knappe Erläuterung des Systembegriffs soll reichen, um die Perspektive von Gesellschaft als soziales System näher zu betrachten. Luhmann denkt bei Gesellschaft nun an „ein System, dass sich durch soziale Operationen erzeugt und reproduziert“.23 Aufbauend auf den Systembegriff muss also noch der Begriff der Operation und der Prozess der Erzeugung und Reproduktion beschrieben werden.

Unter Operation allgemein versteht Luhmann zunächst ein Ereignis in Form einer Differenz, welche das System und die Systemgrenzen als Differenz zwischen System und Umwelt ständig reproduzieren.24 Der Prozess der Erzeugung und Reproduktion selbst wird mit dem Begriff der Autopoiesis25 zusammengefasst und beschreibt den Sachverhalt der Erschaffung und Erhaltung des Systems aus sich selbst. Man bezeichnet solche Systeme als operativ geschlossen, und diese „operative Geschlossenheit hat die Konsequenz, dass das System auf Selbstorganisation angewiesen ist. […] Die eigenen Strukturen [Elemente des Systems] können nur durch eigene Operationen aufgebaut und geändert werden.“26 Diese operative Schließung ist gleichbedeutend mit autopoietischer Reproduktion.27 Jedes System hat seine systemspezifischen Operationen, und soziale Systeme erzeugen und reproduzieren sich durch die soziale Operation Kommunikation.28 Operationale Geschlossenheit bedeutet nun: An Kommunikation kann sich nur Kommunikation anschließen.29

Die These der operationalen Geschlossenheit begründet auch die Abgrenzung30 von herkömmlichen kommunikationstheoretischen Modellen wie etwa dem Sender-Empfänger-Modell.31 Dieses Begriffsverständnis von Kommunikation impliziert zwei Personen, die durch wechselseitige Informationsübertragen jeweils Sender- und Empfängerstatus tragen. Luhmann erweitert diese Vorstellung um zwei Aspekte32: Als Voraussetzung dafür, dass eine Information übertragen wird, muss der Sender sie mitteilen und der Empfänger sie verstehen33. Wie auch die Information selbst sind die Mitteilung und das Verständnis der Information Selektionen34, Kommunikation demnach der Zusammenschluss dreier Selektionen als Einheit aus Mitteilung, Information und Verstehen.35 Durch Kommunikation als Selektionssynthese36 wird aus einer unbestimmten Menge an Selektionsmöglichkeiten eine Entscheidung getroffen – es wird dieses kommuniziert und nicht jenes -, womit eine Differenz erzeugt wird. Anschließend findet eine vierte Selektion statt, nämlich diejenige, was man auf die verstandene Information wiederum mitteilt. Erst der Anschluss an vergangene Kommunikation durch neue Kommunikation erzeugt und reproduziert das System als Differenz zu seiner Umwelt. Ein System muss zu seiner Reproduktion also Möglichkeiten zur Anschlussfähigkeit bereitstellen.

Luhmann begreift die (moderne) Gesellschaft zusammengefasst als ein soziales System, dass sich durch die notwendige Reduktion der übermäßigen Komplexität seiner Umwelt in verschiedene funktionsspezifische Teilsysteme ausdifferenziert. Das (soziale) System mit seinen Teilsystemen ist autopietisch: es stellt die Elemente, aus denen sie bestehen und die sie für das Fortbestehen des Systems benötigen, durch ihre eigenen Operationen her, um dadurch seine systemspezifische Funktion erhalten zu können. Die Operation sozialer Systeme ist Kommunikation. Die Reproduktion von Kommunikation bedeutet nun die Reproduktion von Gesellschaft, und schlussendlich ist Gesellschaft die Gesamtheit aller Kommunikationen. Aus Luhmanns Begriffsverständnis, der handelnde Subjekte auf ihre Funktionen innerhalb der Kommunikation reduziert und somit konkrete Menschen selbst kein

Teil, sondern lediglich Voraussetzung von Kommunikation sind37, muss Gesellschaft als Gesamtheit aller Kommunikationen bedeuten, dass Gesellschaft ausschließlich aus Kommunikationen besteht und nur Kommunikationen zur Gesellschaft gehören – nicht Menschen. Entsprechen kommunizieren auch nicht Menschen als psychische Systeme miteinander - nur Kommunikationen können miteinander kommunizieren. Wurden Menschen ehemals noch als fester Bestandteil der Gesellschaft gesehen, verortet ihn die Theorie der sozialen Systeme nun in der Umwelt des gesellschaftlichen Gesamtsystems.

3. Pierre Bourdieus Feldtheorie

Wie auch Luhmanns Theorie der sozialen Systeme findet Pierre Bourdieus Feldtheorie ihren konkreten Gegenstand in der Untersuchung in der modernen Gesellschaft. Jedoch lassen sich schon vor dem näheren Inhalt seiner Theorie zwei zentrale Unterschiede zwischen den Theorien hervorheben. Zum Einen ist Bourdieus Feldtheorie – im Gegensatz zu Luhmanns Systemtheorie – deutlich von traditionellen soziologischen Denkrichtungen wie dem Marxismus beeinflusst, welche für Luhmanns Gesellschaftstheorie „wenig Anregungen [bieten] , wohl aber Mindestforderungen an Blickweite und Reflexionsvermögen, die nicht unterschritten werden sollten.“38 Nicht zuletzt machen das übernommene und wiedereingeführte Theoriebegriffe wie Kapital oder Klasse deutlich.39

[...]


1 Das insofern, dass man durch die Ausdifferenzierung des Kunstsystems heutzutage bestimmten Objekten eine Ästhetik zuspricht, gerade weil der gesellschaftliche Diskurs diese Objekte bewusst als etwas Nicht-Ästhetisches begriff und eine Reflexion über Kunst dann fragen müsste, ob das noch Kunst sei – und damit: was Kunst und Ästhetik an sich ist. Am Beispiel Abfall Vgl. Kranz, Margarete: Die Ästhetik des Abfalls. Vokus (1). Hamburg: 2006, S.51-72 ; Jarchow, Margarete: Vom scheinbar Wertlosen: Über die Ästhetik von Abfall und Recycling in Kunst und Technik, in: Jarchow, Margarete / Orth, Dominik (Hrsg.): Kultur und Technik. Baden-Baden: Nomos 2020, S. 109 – 128

2 Ohne dabei ontologische Grundvoraussetzungen zu fordern, wegbereitend Gallie, Walter v.: Essentially Contested Concepts. in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 1956, S. 167 – 198; Ostiguy, Pierre : Populism. A Socio-Cultural Approach. In: Kaltwasser, Christóbal Rovira/ Taggart, Paul A./ Espejo, Paulina Ochoa:The Oxford handbook of populism. Oxford, New York, NY 2017, S. 73 – 100

3 Durkheim, Emile: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt: Suhrkamp 1977, S. 440 – 446; Simmel, Georg: Grundfragen der Soziologie. Individuum und Gesellschaft. Berlin: de Gruyter 1984.

4 Zumindest bei Luhmann wird diese Auffassung immer wieder dadurch kontrastiert,

5 Vgl. Luhmann, Niklas : Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Berlin: Suhrkamp Verlag 1984, Gesellschaft der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp 1997 ; Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. 26. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1999.

6 Vgl. Luhmann, Niklas : Systemtheorie der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, S. 21f.; Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. 4.Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S.224

7 Zur Ausdifferenzierung von Systemtypen als Lösungsansatz auf ein umweltspezifisches Problem, Vgl. Luhmann: Systemtheorie der Gesellschaft, S. 19 – 24.

8 Luhmann, Soziale Systeme, S. 14

9 Berghaus, Margot: Luhmann lesen – eine Einführung in die Systemtheorie. 3. Überarb. u. erg. Aufl.. Köln: Böhlau 2011, S. 282 ff.; für eine andere Gliederung in Gesellschaftstheorie, Organisationssoziologie, Wissenssoziologie und politische Theorie vgl. Luhmann, Niklas : Archimedes und wir. Interviews, hg. von Dirk Baecker und Georg Stanitzek, Berlin 1987 in: Horster, Detlef : Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Berlin: Akademie Verlag 2013.

10 Luhmann, Soziale Systeme,S. 155, S. 243f

11 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme: „Das heiβt zunächst nur in einem ganz allgemeinen Sinne: Es gibt Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt.“, S.30ff.

12 Luhmann, Soziale Systeme, S. 20

13 Luhmann, Soziale Systeme, S. 14 – 29

14 Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, S.8

15 Luhmann, Niklas / Baecker, Dirk (Hrsg.): Einführung in die Systemtheorie. 5. Auflage. Heidelberg: Carl Auer Verlag 2009, S. 66.

16 Luhmann meint dazu: „Das, was mit der Differenz von Ganzem und Teil gemeint war,wird als Theorie der Systemdifferenzierung formuliert und so in das neue Paradigma [der Differenz System/Umwelt] eingebaut. Systemdifferenzierung ist nichts anderes als die Wiederholung der Differenz von System und Umwelt innerhalb von Systemen.“Soziale Systeme, S. 22

17 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 135ff.

18 Vgl. zum Begriff der Komplexität: Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, S.25 – 59; Georg, Klaus: Wörterbuch der Kybernetik. 4. Völlig überarb. Auflage. Berlin: Dietz 1976.

19 Zwischen Umwelt und System besteht also immer ein Komplexitätsgefälle

20 Vgl Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993), Die Wirtschaft der Gesellschaft (1994), Die Kunst der Gesellschaft (1997), Die Politik der Gesellschaft (posthum, 2000), Die Religion der Gesellschaft (posthum, 2000), Das Erziehungssystem der Gesellschaft (posthum, 2002) und schließlich Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), Berlin: Suhrkamp.

21 Vgl Beobachter im Krähennest, Interview mit Niklas Luhmann und Ulrich Boehm, 1973

22 Die Aussage, die Selektion sei notwendig, führt in bezug auf die vorangestellte Definition von Kontingenz zu einiger sprachlicher Verwirrung: Um handeln zu können ist es notwendig, dass man überhaupt eine Entscheidung trifft, eine bestimmte Selektion aus der Gesamtheit der Kontingenz kann jedoch keine Notwendigkeit beanspruchen.

23 Vgl. Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? Vorlesung in Übertragung vom Südwestrundfunk, Baden-Baden 1993, zur gleichnamigen Transkription vgl.: Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? Heidelberg: Müller 1993.

24 Vgl. Krause, Luhmann-Lexikon, S. 201f.

25 Die Theorie autopoietischer Systeme (αὐτός autos, deutsch ‚selbst' und ποιεῖν poiein „schaffen, bauen) ist ursprünglich in der Neurobiologie begründet, Vgl. Maturana, Humberto / Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Bern: Scherz 1987.

26 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92 – 95

27 Vgl. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 22 – 25.

28 Luhmann steht damit dem herkömmlichen Verständnis soziologischer Theoriebildung entgegen, die Handlungen als grundlegende Operation für die Erzeugung und Reproduktion sozialer Systeme begreifen, Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 191 – 240

29 Entsprechend können in psychischen Systemen, deren autopoietische Operation Bewusstsein ist, an Gedanken nur Gedanken anschließen.

30 Vgl. Luhmann / Baecker: Einführung in die Systemtheorie, S. 288ff.; Luhmann, Soziale Systeme, S. 193f.

31 Vgl. Wiener, Norbert: Futurum exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Wien: Springer Verlag 2002., Fleischer, Michael: Allgemeine Kommunikationstheorie. Oberhausen: Athena-Verlag 2006.

32 Diese Erweiterung rührt letztlich daher, dass Menschen sozial in der Umwelt zu verorten und zwar als Voraussetzung, nicht jedoch als Teil der Kommunikation zu sehen sind. Sender und Empfänger werden nun auf die Teiloperationen reduziert.

33 Der Erfolg der Kommunikation wird nicht daran gemessen, ob das, was mitgeteilt dann auch verstanden wurde, sondern das überhaupt etwas verstanden wurde, sodass im Anschluss hinterfragt, weiter darüber geredet, sich eine Meinung gebildet werden kann.

34 Dadurch dass etwas mitgeteilt, dass genau diese Information mitgeteilt und das sie auf diese Weise interpretiert und verstanden wird, wird immer jede andere Mitteilungs-, Informations-, Verstehensmöglichkeit ausgeschlossen.

35 Luhmann, Soziale Systeme, S. 203f.

36 „Kommunikation ist Prozessieren von Selektionen“, Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, S. 194

37 Was sich jedoch über erdenklich viele Sachverhalte als wahr aussagen lässt: Beispielsweise die Temperaturverhältnisse auf der Erde oder die evolutionäre Entwicklung des Menschen

38 Luhmann, Theorie der sozialen Systeme, S. 10

39 Trotz diesem unverkennbaren Einfluss bleibt natürlich die Frage offen, wie kritisch diese theoretische Rezeption vollzogen wurde: also ob Theorieinhalte ohne sonderlich große Adaption übernommen oder für die eigene Theorie spezifisch angepasst, umformuliert, rekombiniert wurden

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Die Ästhetik der Gesellschaft. Ein Vergleich der Theorien von Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (FB 05 Philosophie und Philologie)
Veranstaltung
Ästhetische Aspekte des Buches
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
28
Katalognummer
V1039272
ISBN (eBook)
9783346456175
ISBN (Buch)
9783346456182
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ästhetik, Kunst, Luhmann, Bourdieu, Gesellschaft, System, Systemtheorie, Feld, Feldtheorie, Kapital, Kommunikation, Differenz, Soziologie, Theorie
Arbeit zitieren
Felix Werner (Autor:in), 2021, Die Ästhetik der Gesellschaft. Ein Vergleich der Theorien von Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1039272

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