Systemisch-lösungsorientierte Kurzzeitberatung und -therapie. Wie sie bei unerwünschter Hilfe gelingen kann


Masterarbeit, 2021

87 Seiten, Note: 4.5


Leseprobe

1. Einleitung
1.1 Motivation und Begründung der Themenwahl
1.2 Idee und Anliegen
1.3 Eingrenzung des Themas, zentrale Fragestellung
1.4 Aufbau der Arbeit
1.5 Relevanz für die Soziale Arbeit und Praxisfeld

2. Der systemisch-lösungsorientierte Ansatz SLOA
2.1 Entstehung des SLOA
2.2 Fachlicher Diskurs
2.3 Grundannahmen und Grundhaltung des SLOA
2.4 Elemente des SLOA und Beziehungstypen
2.5 Grundbegriffe im SLOA
2.5.1 Selbstorganisation/Autonomie
2.5.2 Konstruktivismus
2.5.3 Zirkularität
2.6 Zusammenfassung

3. SPF und Zwangskontext
3.1 Entstehung und Geschichte der SPF
3.2 Was ist SPF?
3.3 Definition von Zwang und Zwangskontext
3.4 Zwangskontext in der SPF
3.5 Formen von Zwangskontexten in der SPF
3.6 Doppel- und Trippelmandat in der Sozialen Arbeit
3.7 Macht und ethische Diskussion
3.8 Professionelle Haltung im Zwangskontext
3.9 Erfolgreiche Methoden im Zwangskontext
3.10 Das Beratungsgespräch im Zwangskontext aus lösungsorientierter und systemischer Sicht
3.11 Unterschiede im SLOA
3.12 Was ist Motivation und Motivation im Zwangskontext?
3.13 Motivationsfaktoren und Motivationsprozesse im Zwangskontext
3.14 Zusammenfassung

4. Widerstand
4.1 Definition von Widerstand
4.2 Formen von Widerstand und Abgrenzung zum Widerstandbegriffs
4.3 Umgang und Haltung gegenüber Widerstand in der Motivierenden Gesprächsführung
4.4 Umgang und Haltung gegenüber Widerstand im SLOA
4.5 Umgang und Haltung gegenüber Widerstand in der SPF
4.6 Gemeinsamkeiten der Motivierenden Gesprächsführung und dem SLOA
4.7 Ursachen und Formen von Reaktanz
4.8 Auftreten und Ursachen für Widerstand
4.9 Positive Funktionen von Widerstand
4.10 Zusammenfassung

5. Wirkfaktoren im Zwangskontext der SPF
5.1 Begriffsklärung Wirkfaktoren
5.2 Wirkfaktoren in der Beratung
5.2.1 Beziehungs- und Rollengestaltung
5.2.2 Problemerfassung
5.2.3 Auftragsklärung und Arbeitsbündnis
5.2.4 Ressourcen- und Stärkenorientierung
5.2.5 Gelingende Kooperation
5.2.6 Motivierende Gesprächsführung
5.2.7 Motivorientierte Beziehungsgestaltung
5.3 Aussertherapeutische Faktoren
5.4 Zusammenfassung

6 Schlussbetrachtungen und Fazit
6.1 Beantwortung der Fragestellung
6.2 Schlussfolgerung für die Beratungspraxis der SPF
6.3 Persönliche Reflexion des Erkenntnisprozesses und kritische Würdigung
6.4 Ausblick und Relevanz

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

8. Anhang

Abstract

Die vorliegende MAS Thesis beschäftigt sich mit der systemisch-lösungsorientierten Beratung und Erhöhung von intrinsischer Motivation unter erschwerten Bedingungen, nämlich im Zwangskontext der Sozialpädagogischen Familienbegleitung. Diese basiert im Wesentlichen auf einer Unfreiwilligkeit der Klientel und fremdinitiierter Kontaktaufnahme. Wie Beratung trotz unverhandelbarer Ziele und unterschiedlicher Problemdefinitionen hilfreich sein kann, und wel­che Methoden des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes dabei förderlich sind, werden in dieser MAS vorgestellt.

Dazu erfolgt in einem ersten Schritt eine Auseinandersetzung mit Zwang, was unter Zwangs­kontexten im rechtlichen Sinn verstanden wird und welche unterschiedlichen Formen es gibt. Zudem wird die Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF) als Arbeitsfeld vorgestellt.

In einem zweiten Teil werden Widerstandsfaktoren, Umgang mit Reaktanz und deren positiven Funktionen zusammengeführt und anschliessend daraus handlungsorientierte Kriterien für die Methodenauswahl definiert. Resultierend darauf werden themenrelevante Aspekte und Grund­haltungen des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes und der Motivierenden Gesprächs­führung herausgearbeitet und mit Hilfe eines empirischen Praxismodells ergänzt.

Ziel vorliegender Arbeit ist eine Annäherung an das Phänomen des Zwangskontextes in der SPF und eine Antwort darauf, welche theoriegeleiteten Methoden und evidenzbasierten Wirk­faktoren in der Beratung eingesetzt werden sollten. Darüber hinaus werden Ergebnisse dar­gelegt, wie es Fachkräften gelingen kann, die Klientel trotz Widerstand für eine Zusammenar­beit zu motivieren, wie Ambivalenzen positiv genutzt werden können und welche Chancen und Herausforderungen sich dabei zeigen.

Danksagung

Es gibt ein paar Menschen, bei denen ich mich bedanken möchte. Ich danke meinen Eltern für ihre immer da gewesene Unterstützung. So auch in den vergangenen Monaten, wenn sie ihre Grosskinder zu sich genommen haben, damit ich recherchieren und schreiben konnte. Ein Dankeschön geht an meine Arbeitskollegen und Kolleginnen für den wertvollen Austausch, die humorvollen Gespräche und das «Auffangen» in schwierigen beruflichen Situationen. Herzlich bedanken möchte ich mich bei Frau Dr. phil. Regula Berger für ihre fachkompetente, und wohlwollende Begleitung dieser Arbeit und Sabrina und Belinda für das exakte Gegenle­sen und die wertvollen Inputs.

Last but not least geht mein grösster Dank an meine geliebte Familie. An meine Frau, die mich stets unterstützt, mir den Rücken freigehalten hat (wenn unsere drei Buben wieder mal fragten, weshalb Papi so viel schreibt!?) und mich zwischendurch immer mal wieder «auf den Boden der Tatsachen» geholt hat, wenn es zu viel wurde. Muchas Gracias!

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Titelbild: Chancen und Risiken: URL: https://www.asscompact.de/sites/asscompact.de/fi- les/styles/artikel/public/artikel/1 ChancenRisiken 216712936.ipq?itok=kmv5HAY7 [Zugriffsdatum 02. Mai 2021]

Abb. 1: Prinzipien der zirkulären Kausalität in kommunikativen Systemen (eigene Darstellung in Anlehnung an Bamberger, Günter G. 2015: 35) S.

Abb. 2: Doppel- und Trippelmandat in der SPF, eigene Darstellung S.

Abb. 3: Situationsfaktoren und Verlauf intrinsischer und extrinsischer Anreize motivierten Handelns (eigene Darstellung in Anlehnung an Heckhausen, Heinz/Heckhausen, Jutta 2010: 3) S.

Abb. 4: Handlungsoptionen in der Beratung im Zwangskontext, eigene Darstellung S.

Abb. 5: Beziehungen und Wechselwirkungen der Wirkfaktoren zueinander, eigene Darstellung S.

Abb. 6: Wirkfaktoren in der Psychotherapie (eigene Darstellung in Anlehnung an Asay, Ted/Lambert, Michael, 2001: 49) S.

Tab. 1: Systemtherapeutische Modelle im Überblick (eigene Darstellung in Anlehnung an von Schlippe, Arist/Schweitzer, Jochen 2016: 34) S. 12 Tab. 2: Systemische Bezüge der Klientel (eigene Darstellung in Anlehnung an Bamberger, Günter G. 2015: 31) S.

Tab. 3: Rechtliche Vorgaben und ethische Leitlinien zu Interventionen in Zwangskontexten (eigene Darstellung in Anlehnung an Zobrist, Patrick Kähler, Harro Dietrich 2017: 45) S.

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit wird im Rahmen eines Weiterbildungsstudiums im MAS Systemisch- lösungsorientierte Kurzzeitberatung und -therapie an der Hochschule für Soziale Arbeit an der FHNW in Olten verfasst. Zu Beginn wird in das Thema eingeführt, Ziel und Anliegen der Arbeit erläutert, sowie der persönliche Bezug zum Thema und die Fragestellung der Arbeit beschrie­ben. Weiter wird das Thema der Arbeit eingegrenzt, ausserdem das methodische Vorgehen aufgezeigt.

Die Schlüsselbegriffe, Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF), Widerstand, Zwangs­kontext, Wirkfaktoren, systemisch-lösungsorientierter Ansatz (SLOA) werden zu Beginn der MAS einmalig kursiv hervorgehoben, für eine einfachere Lesbarkeit wird später darauf ver­zichtet.

In der MAS Thesis wird eine gendergerechte Sprache verwendet. Wo möglich wird die neutrale Form verwendet. An Stellen, wo diese den Sprachfluss erschwert, wird abwechselnd die weib­liche oder männliche Form benutzt.

Hinsichtlich der Zielgruppe werden die Begriffe Familie, Klientel, Betroffene, und Eltern alle­samt synonym verwendet. Auf weitere Begriffsverwendungen verweist der Autor in den ent­sprechenden Fussnoten.

1.1 Motivation und Begründung der Themenwahl

In der Praxis ist der Autor vorliegender MAS Thesis seit sieben Jahren als Sozialpädagogi­scher Familienbegleiter in einer Institution tätig. Er unterstützt und berät Eltern bei Erziehungs­themen, der Bewältigung von herausfordernden Alltagssituationen, der Lösung von Konflikten und Krisen, sowie im Kontakt zu Schulen, Fachstellen und Behörden.

Die Sozialpädagogische Familienbegleitung, nachfolgend SPF genannt, befindet sich an den Schnittstellen zwischen Kindesschutz, Familienberatung und Alltagshilfen. Die meisten Fami­lien, die begleitet werden, sind unfreiwillige Klientinnen, bei denen eine SPF als Massnahme von einer Behörde verordnet wurde. Die Familienmitglieder haben sich in den meisten Fällen die Hilfe und Unterstützung nicht ausgesucht. Es bestehen in ihrer subjektiven Betrachtung oft keine Probleme, die eine gesetzlich verordnete Familienbegleitung legitimiert. Oftmals sind hochbelastete Familien gar nicht in der Lage, von sich aus vorhandene Schwierigkeiten als solche zu erkennen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen und Definitionen eines Problems stellen die eigentliche Herausforderung in der Arbeit mit unfreiwilligen Klienten dar und führen zugleich zu Machtkämpfen, wer welches Problem hat. Es stellt sich dem Sozialpädagogischen Familienbegleiter deshalb immer wieder die Frage, wie es trotz Widerstand gelingen kann, mit einer sogenannten unfreiwilligen Klientel zu arbeiten, respektive ein Arbeitsbündnis einzuge­hen. Der Autor hat in seinem Praxisalltag häufig mit Eltern zu tun, die eine Kontaktaufnahme 1 nicht selbst initiiert und gewünscht haben, sondern dieser nur unter Androhung von Konse­quenzen zustimmen. Wie kann mit Familienmitgliedern gearbeitet werden, die in der Regel eine geringe Eigenmotivation mitbringen, den Sinn der Unterstützung nicht einsehen, kein In­teresse an Hilfe haben, sich durch die Massnahme in ihrer Autonomie eingeschränkt fühlen oder nicht vorstellen können, dass Veränderung möglich ist? Solchen und weiteren Fragen begegnet der Autor im Kontext der Unfreiwilligkeit in der SPF oft. Aus dem professionellen Verständnis ist es ihm deshalb ein Anliegen, dass er Interventionen und Methoden findet, die ihn in den Beratungen mit unfreiwilligen Klientinnen innerhalb der Familiensysteme weiterbrin­gen und er Ansätze findet, die funktionieren. Dies mit der Absicht, bei den betreffenden Per­sonen eine für den Auftrag und für die Zielerreichung relevante intrinsische Motivation und Veränderungsabsicht auszulösen, die den Beratungsprozess unterstützen, auch wenn der Kontext unverändert bleibt.

Gumpinger (vgl. 2001: 17) findet die wichtigste sozialarbeiterische Handlung im Zwangskon­text1 mit unfreiwilligen oder unmotivierten Klienten sei es, auszuhandeln, wie aus ihnen zwar immer noch unfreiwillige, aber für eine Problemlösung motivierte Klientinnen werden. In die­sem Sinne beschädigt Soziale Arbeit2 im Zwangskontext nicht das Menschenrecht auf Selbst­bestimmung, sondern wird zur kommunikativen menschlichen Brücke für Normen und Gesetze (vgl. ebd.: 18).

1.2 Idee und Anliegen

Die Begriffe Widerstand und unmotivierte, unfreiwillige Klienten treten in der Familienbeglei­tung häufig auf. Die Idee der vorliegenden Arbeit ist, die Chancen und Herausforderungen im Zwangskontext der SPF zu untersuchen und zu eruieren, welche Methoden des systemisch- tösungsorientierten Ansatzes, nachfolgend SLOA3 genannt, die SPF bei Widerstand im Zwangskontext unterstützen. Der Autor will herausfinden, welche Faktoren im Umgang mit Widerstand in der SPF hilfreich sein können und wie es gelingen kann, Klientinnen im Zwangs­kontext für eine Zusammenarbeit zu motivieren. Chancen und Herausforderungen in der SPF im Zwangskontext werden bestimmt und der Verfasser legt dar, weshalb eine Unfreiwilligkeit bei Klienten als normale Reaktion anzusehen ist. Conen (vgl. 1999: 287) spricht in diesem Zusammenhang von der Unfreiwilligkeit als sinnvolles Lösungsverhalten. Wenn dies der Fall ist, so sollten Professionelle, die im Bereich der SPF arbeiten, mit einer personenzentrierten und lösungsorientierten Haltung in die Beratung gehen, Widerstand in der SPF würdigen und konstruktiv nutzen. Fachkräfte müssen die Haltung verinnerlichen, dass nicht die Klientin das Problem oder Ziel der Veränderung ist, sondern das unerwünschte Verhalten und dass Ver­änderung nicht nur möglich, sondern unabdingbar ist und immer stattfindet. Ausserdem ist es wichtig, die Soziale Arbeit in Zwangskontexten als Teil des beruflichen Selbstverständnisses anzusehen. Es war vor allem Marie-Luise Conen, die sich mit den beiden Mailändern Gian­franco Cecchin und Luigi Bosoclo zu Beginn der 1990er Jahren in der systemischen Familien­therapie Gedanken machte, wie mit unmotivierten und unfreiwilligen Klienten gearbeitet wer­den kann (vgl. Conen/Cecchin 2018: 9). Die daraus resultierte vertiefte Auseinandersetzung mit Zwangskontexten der Sozialen Arbeit ist verhältnismässig jung und hat im deutschsprachi­gen Raum erst in den 2000er-Jahren weiter an Fahrt aufgenommen (vgl. Zobrist/Kähler 2017: 7). Lange wurde diskutiert, ob mit Klientinnen in Zwangskontexten angesichts ihrer Unfreiwil­ligkeit überhaupt professionell gearbeitet und in diesem Zusammenhang auch von lösungsori­entierter Beratung gesprochen werden kann, weil diese im Kontext der Freiwilligkeit und am Willen der Klientel ausgerichtet stattfindet (vgl. Eger 2016: 57f.). Die explorative Studie von Kähler 2005 in Zobrist/Kähler (vgl. 2017: 7) führte dazu, dass mehr Kenntnis, Wissen und Information darüber gewonnen und empirisch belegt wurden, dass die systemisch-lösungsori- entierte Beratung, die Motivierende Gesprächsführung oder personenzentrierte Gesprächs­führung wirksame Methoden im Zwangskontext sind. Nebst diesen theoriegeleiteten Ansätzen kamen später Techniken zur Förderung der Veränderungsmotivation, der Beziehungsgestal­tung, des Umgangs mit Widerstand und Rollenklärung zum Methodenrepertoire dazu.

1.3 Eingrenzung des Themas, zentrale Fragestellung

Die vorliegende Arbeit geht hauptsächlich vom Zwangskontext in der SPF aus und fokussiert explizit die Aspekte der aufsuchenden Familienarbeit in Form der Familienbegleitung mit Kli­enten im unfreiwilligen Kontext. Die Beratungen in der SPF finden in ungleichen Settings statt. In vorliegender Arbeit wird darauf verzichtet, auf die unterschiedlichen Besonderheiten der Einzel- und Familienberatung, sowie dem Beratungsort einzugehen. Wenn von Beratung ge­sprochen wird, ist die professionalisierte Form helfender Gesprächsführung gemeint. Mit dem Ziel, Menschen (Familiensysteme) bei der Bewältigung aktueller Probleme zu unterstützen, damit sie diese zukünftig selbst lösen oder zumindest reduzieren können.

Da die SPF immer mit Familiensystemen arbeitet, gelten in der vorliegenden Arbeit ganze Familien (zwei oder mehr Menschen, die in einer engen Beziehung miteinander leben) als Klientel. «Das zentrale Kennzeichen von Familie ist die Zusammengehörigkeit von zwei (oder mehreren) aufeinander bezogenen Generationen, die zueinander in einer Eltern-Kind- Beziehung stehen [...]. Als kleinste Grösse umfasst eine Familie ein Kind und ein Elternteil [...]» (Böhnisch und Lenz 1997, zit. nach Wolf 2012: 89). Die MAS Thesis unterscheidet nicht zwischen Geschlecht, Herkunft oder Nationalität. Die Arbeit setzt jedoch voraus, dass die SPF von einer Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) verordnet und nicht von Eltern (El­ternteil) selbstinitiiert wurde. Das bedeutet, dass es sich mindestens bei einem Familienmit­glied um eine minderjährige, schutzbedürftige Person handelt.

Selbstverständlich wird in der SPF mit den aus Sicht der Klientel relevanten Helfersystemen und Netzwerkressourcen gearbeitet. Für das Thema dieser Arbeit wird dieser Aspekt jedoch bewusst ausgegrenzt. Ausserdem grenzt sich vorliegende MAS Thesis von institutionellen Zwangskontexten ab. Wenn in vorliegender MAS Thesis von Zwangskontext die Rede ist, ist, wie bereits erwähnt, die unfreiwillige Kontaktaufnahme gemeint. Diese besagt aber noch nichts über die motivationale Ausgangslage der Klientinnen. Da der Autor in der Familienbegleitung beratend tätig ist, wird in der vorliegenden Arbeit vom systemisch-lösungsorientierten Ansatz oder der systemisch-lösungsorientierten Arbeit/Beratung gesprochen.

Damit der zentralen Fragestellung nachgegangen werden kann, werden folgende vier Unter­fragen verfolgt:

Unterfrage 1

- Welche Chancen und Herausforderungen gibt es aus Sicht der SPF im Zwangskontext? Unterfrage 2
- Wie kann es in der SPF gelingen, Klienten trotz Zwangskontext für eine Zusammenarbeit zu motivieren?

Unterfrage 3

- Wie wird Widerstand und Zwang aus Sicht vom SLOA gedeutet?

Unterfrage 4

- Wie ist Widerstand in der SPF im unfreiwilligen Kontext zu deuten und welche Wirkfakto­ren sind für den Umgang mit Widerstand hilfreich?

1.4 Aufbau der Arbeit

Die vorliegenden MAS Thesis stellt eine Literaturarbeit dar. Im ersten Kapitel wird die Motiva­tion zur vorliegenden Arbeit dargestellt, auf die Ausgangslage und den wissenschaftlichen Dis­kurs eingegangen, sowie die Fragestellung hergeleitet. Das zweite Kapitel beschreibt die the­oretischen Grundlagen der systemisch-lösungsorientierten Beratung und Therapie, deren Ent­stehung und die wichtigsten Personengruppen in der Geschichte vom SLOA. Ausserdem wer­den Grundbegriffe und einige relevante Lehrsätze, die als Leitlinie für die Praxis dienen, sowie unterschiedliche Beziehungstypen beschrieben. Am Ende des Kapitels wird in aller Kürze auf den Stand der Forschung innerhalb des SLOA, der explorativen Forschung in der SPF und der systemischen Perspektive mit dem Thema Zwangskontext eingegangen. Das dritte Kapitel widmet sich der Entstehungsgeschichte der sozialpädagogischen Familienbegleitung in der Schweiz, macht einen kurzen politischen Vergleich zur Familienhilfe in Deutschland und wird konzeptionell vorgestellt. Zudem werden die Begriffe Zwang und Zwangskontext erläutert und wird ein Bezug zur SPF hergestellt. Weiter wird zum Ausdruck gebracht, dass sich die Soziale Arbeit nicht nur zwischen den Ansprüchen von Staat und Klientel, also Kontrolle und Hilfe bewegt, was mit dem Begriff Doppelmandat erörtert wird, sondern sich auch auf ihre eigene Fachlichkeit als Profession beziehen und berufen, sowie sich ethischen und machtspezifi­schen Fragen im Kontext professionellen Handelns stellen muss. Zudem geht der Autor der Frage nach, welche professionelle Haltung bei der Arbeit in Zwangskontexten wichtig ist, wie gewünschte Veränderung möglich ist und stellt einen Bezug zwischen Motivation, Motivations­prozessen und Zwangskontext her. Im vierten Kapitel werden die Begriffe Widerstand und Motivation erläutert, Formen von Widerstand aufgeführt, sowie Haltung und Umgang mit dem Begriff verknüpft. Die Reaktionen auf Einschränkungen der Handlungsspielräume wird anhand der Reaktanz-Theorie von Brehm beschrieben. Zudem wird eine Verbindung zum Ansatz der Motivierenden Gesprächsführung nach Miller und Rollnick hergeleitet. Am Ende des Kapitels werden auslösende Faktoren und positive Aspekte von Widerstand erwähnt. Im fünften Kapitel werden empirische Wirkfaktoren, die einen positiven Verlauf in der Zusammenarbeit mit Klien­tinnen im Zwangskontext in der SPF begünstigen, vorgestellt. Ausserdem wird aufgezeigt, welche beraterischen Ansätze nicht funktionieren. Am Ende von jedem Hauptkapitel gibt es eine kurze, prägnante Zusammenfassung.

In Kapitel sechs werden die Fragestellungen aus Kapitel eins beantwortet, die Relevanz für das Praxisfeld und die Ergebnisse der Arbeit nochmals rekapituliert, sowie ein Ausblick vorge­nommen.

1.5 Relevanz für die Soziale Arbeit und Praxisfeld

Anders als in Deutschland ist die SPF in der Schweiz, wie die Leserschaft noch erfahren wird, gesetzlich nicht verankert. Es existieren keine staatlichen Statistiken über das Fallvolumen wie in Deutschland. In der Schweiz ist es den einzelnen Kantonen überlassen, eine innerkantonale Fallstatistik zu führen. Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt hat für die Jahre 2016 bis 2019 Fallzahlen publiziert (der Autor verweist an dieser Stelle auf die Statistik im Anhang I). Die Begleitung durch eine SPF haben in dieser Zeitperiode um 47 Fälle zugenom­men. Dies entspricht einer Zunahme von 22% (vgl. Erziehungsdepartement Kanton Basel- Stadt/Ambulante und stationäre Kinder- und Jugendhilfe 2019: 3). Noch deutlicher sind die Fälle im Kanton Bern angestiegen. Hier zeigen die Zahlen des Datenberichts 2019 für beson­dere Förder- und Schutzleistungen vom Kanton Bern, dass die Familienbegleitungen im Jahr 2019 um 207 Fälle auf 892 zugenommen haben, was einer Zunahme von 30% entspricht (vgl. Direktion für Inneres und Justiz, Kanton Bern/Datenbericht 2019: 30). Es gilt jedoch festzuhal­ten, dass aufgrund der rechtlichen und professionell äusserst heterogenen Lage in der Schweiz nicht davon auszugehen ist, dass in allen Kantonen die Situation gleich aussieht. Der Fachverband Schweiz der sozialpädagogischen Familienbegleitung (SpF) führt seit 2011 eine jährliche Statistik über Zu- und Abnahme von Fällen und Mitgliedschaften durch. Die Statistik weist 2018 eine Fallzunahme von 220 Dossiers gegenüber 2017 auf. In der gleichen Zeitperi­ode nahm die Zahl der Neumitglieder leicht um fünf Organisationen zu. 2019 nahmen die Fall­zahlen der Mitglieder gegenüber 2018 zwar um 207 Dossiers auf 771 ab, gleichzeitig verrin­gerte sich die Anzahl SPF-Anbieter jedoch um neun Organisationen. Ausführlicheres zu den Fall- und Anbieterzahlen von 2016 - 2019 beim Diagramm im Anhang II und im Internet unter https://www.spf-fachverband.ch/wissenswertes.

Aus der Statistik der Jahre 2016 bis 2019 im Anhang II lässt sich demnach Folgendes ablesen:

a) Eine geringere Abnahme der Fälle/Dossiers in Prozenten, im Verhältnis zur Abnahme von SPF-Anbietern.
b) Eine grössere Zunahme der Fälle/Dossiers in Prozenten, im Verhältnis zur Zunahme von SPF-Anbietern.

Dies lässt wiederum darauf schliessen, dass die Begleitungen unter dem Strich zugenommen haben und die SPF als Teildisziplin der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik aus ökonomischer und professioneller Sicht in der Schweiz einen zunehmend grösseren Stellenwert einnimmt und an Bedeutung gewinnt. Gemäss Müller und Bräutigam (vgl. 2011: 172) hat die Sozialpä­dagogische Familienhilfe4 in Deutschland in den letzten 15 Jahren eine erhebliche Ausweitung erfahren. Sie hat sich als stetig wachsendes Feld in der Jugendhilfe etabliert. Die Familienhilfe weist nicht nur die höchste Zuwachsrate auf, sondern stellt durch die Arbeit der Fachkräfte zu

Hause bei den Familien auch die intensivste Form ambulanter Erziehungshilfen dar. Die SPF gewinnt auch in der Schweiz zunehmend an Bedeutung und hat sich als Arbeitsfeld innerhalb des Berufsbildes der Sozialen Arbeit profiliert. Ungeachtet ihrer hohen Bedeutung im Spektrum der Hilfen zur Erziehung ist über die SPF in der Schweiz jedoch verhältnismässig wenig be­kannt und ebenso wenig empirisch erforscht. Es besteht kaum Wissen darüber, welche Inter­ventionen, Methoden und Techniken, bei den Familien, welche Veränderungen nach sich zie­hen. Darüber besteht in der Schweiz ein grosser Forschungsbedarf.

Zobrist und Kähler (vgl. 2017: 15) erwähnen, dass bei Studierenden der Sozialen Arbeit die Ausrichtung auf die Arbeit mit sogenannten freiwilligen Klienten dominiert und altruistische Motive die wichtigste Rolle spielen, Soziale Arbeit zu studieren. Häufig wird angenommen, dass Beratungen die besten Erfolgsaussichten haben, wenn sie in einem freiwilligen Setting vorkommen. Die Vorstellung der Sozialen Arbeit, die durch Selbstinitiative geprägt ist und die auf einem freiwilligen Zustandekommen einer Arbeitsbeziehung gründet gilt als Wunschvor­stellung vieler Studierenden. Gemäss Widulle (vgl. 2020: 142) darf eine Freiwilligkeit und Än­derungsmotivation als Anfangsbedingung für unterstützende Beratung aber nicht vorausge­setzt werden. Soziale Arbeit ist in der Mehrzahl (u. a. RAV, Kinder- und Erwachsenschutz, Straf- und Massnahmenvollzug, Sozialhilfe, Asylwesen, Bewährungshilfe) im Bereich der Un­freiwilligkeit anzusiedeln. Dies gilt insbesondere auch im Arbeitsfeld der SPF, das mehrheitlich mit einer Klientel zu tun hat, die nicht von sich aus Hilfe in Anspruch genommen und sich das Angebot der Familienbegleitung nicht ausgesucht haben. In vielen Fällen ist jedoch die Unter­scheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Klientinnen nicht so klar. Rosch (2011: 84) meint, «In den letzten Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende hat sich Soziale Arbeit beson­ders dem Paradigma der Freiwilligkeit verschrieben. Dabei hat sie die Arbeit in einem Zwangs­kontext teilweise implizit als nicht im Kern sozialarbeiterisch abgetan und kaum beachtet.» Die Thematisierung von Pflichtklientel im Kindes- und Erwachsenenschutzbereich sowie im Straf­vollzug hat um die Jahrtausendwende dazu geführt, dass die Sensibilität gegenüber der Sozi­alen Arbeit im Zwangskontext zugenommen hat und gleichzeitig auch den schillernden Begriff der Freiwilligkeit relativiert (vgl. ebd.). Wie freiwillig ist eine Kontaktaufnahme, wenn die Schule den Eltern rät, ihr Kind beim KJPD5 abklären zu lassen? Ist Freiwilligkeit beim Ehepartner vor­handen, wenn das Angebot einer Eheberatung in Anspruch genommen wird, weil seine Frau droht, ansonsten die Scheidung einzureichen? In diesen Fällen wird die individuelle Haltung zum Beratungsprozess trotz äusserer Strukturen der Freiwilligkeit wohl kaum von Freiwilligkeit geprägt sein. Für Conen (vgl. 1999: 286f.) ist in diesem Zusammenhang erstaunlich, dass das Postulat der Freiwilligkeit von vielen Professionellen der Sozialen Arbeit hochgehalten wird, obwohl viele in der Sozialen Arbeit nicht in einem Arbeitssetting tätig sind, wo dies die

Grundlage ist. Wenn im Fachdiskurs über Beratung von Freiwilligkeit gesprochen wird, dann geht es um die Art der Nutzung eines Beratungsangebotes.

Diese MAS Thesis soll aufzeigen, was es an methodischem Rüstzeug und professionellen Kompetenzen braucht. Ausserdem soll sie verdeutlichen, welche Haltungs- und Ethikfragen in der Beratung mit unfreiwilliger Klientel eine wichtige Rolle spielen. Die MAS soll Fachpersonen ansprechen, die bereits im Bereich der SPF arbeiten oder dies in Zukunft tun möchten. Ihnen soll mit vorliegender Arbeit die Möglichkeit gegeben werden, sich mit dem Thema fachlich fundiert auseinanderzusetzen und dass sie nach dem Lesen idealerweise einen geschärften und erweiterten Blick für ihren Praxisalltag haben. Wichtig dabei ist, dass die Fachkräfte in der SPF für sich reflexiv klären, welches Selbstverständnis ihre Arbeit im Zwangskontext prägt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Thema Zwangskontext in der SPF von hoher Bedeutung ist, da die Beratung nicht aus freien Stücken stattfindet. Das Zusammenkommen zweier zentraler Themen, welche Methoden und theoriegeleitetet Ansätze die SPF bei Wider­stand unterstützen und was für Chancen und Schwierigkeiten sich dabei ergeben, bedeutet eine Herausforderung. Dies erfordert eine laufende Auseinandersetzung mit eigenen Werte­haltungen, Menschenbildern und professionellem Verständnis.

2. Der systemisch-lösungsorientierte Ansatz SLOA

«Die beste Art die Zukunft vorherzusagen, ist - sie zu erschaffen»

Peter Drucker

Im folgenden Kapitel werden Elemente des SLOA beschrieben. Ausserdem werden die Ent­stehung, die Grundprinzipien und Annahmen erläutert, sowie typische Fragestellungen, die bei der Anwendung genutzt werden, aufgeführt. Abschliessend wird aufgezeigt, wie lösungs­orientiert mit dem Thema Widerstand in der SPF gearbeitet werden kann.

2.1 Entstehung des SLOA

Aus Pablo Alto, im Silicon Valley, gingen zwischen 1950 und 1980 zahlreiche Impulse für die systemische Therapie aus. Hier wurde in den 50er Jahren das Mental Research Institut (MRI) von Don Jackson gegründet, wo sich verschiedene Wissenschaftsbereiche, nicht mehr nur noch mit der Beobachtung isolierter Dinge und individueller Merkmale beschäftigten, sondern auch damit, wie sich diese in einer reziproken Wechselbeziehung zueinander verhalten und miteinander interagieren (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2016: 44f.). Menschliches Verhalten wurde in einem breiteren interpersonellen Kontext betrachtet, wo die Familie als Ganzes im Mittelpunkt steht. Neben der familiären Interaktion wurde von Systemtheoretikern später zu­nehmend auch die Wechselbeziehungen mit der persönlichen Umwelt wie Peers, Schule, oder beruflichem Umfeld miteinbezogen (vgl. von Sydow/Beher/Retzlaff/Schweitzer 2007: 30). Die­ses neue, erweiterte, ganzheitliche systemische Denken basiert auf der Annahme, dass der Mensch ein beziehungsorientiertes Wesen ist und sich Systemmitglieder stets in Abhängigkeit von anderen Systemmitgliedern bewegen und gegenseitig beeinflussen. Mit einer solchen sys­temischen Betrachtungsweise war es dann nur logisch, dass das bis anhin übliche Zweierset­ting in der Psychotherapie weg, hin zur Beratung mit der ganzen Familie oder Mehr-Personen­Systemen führte (vgl. Bamberger 2015: 29).

Die lösungsorientierte Kurztherapie - Solution Focused Brief Therapy (SFBT) wurde Mitte der 1970er Jahre am Brief Family Therapy Center (BFTC) in Milwaukee, USA, von Steve de Shazer, seiner Frau Insoo Kim Berg und Eve Lipchik entwickelt. Der Ansatz setzt Ressourcen als vorhanden voraus. In den Gesprächen wird ausserdem darauf aufgebaut, wie Veränderun­gen geschaffen werden, und woran sowohl Beratende als auch zu beratende Personen erken­nen können, dass ein Problem gelöst ist (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2016: 55f.).

Weitere wichtige Wurzeln in der Entstehungsgeschichte der lösungsorientierten Kurztherapie werden in der Tabelle eins auf Seite 12 zusammengefasst.

2.2 Fachlicher Diskurs

An dieser Stelle wird kurz Bezug auf wenige Forschungsergebnisse genommen. Zur lösungs­orientierten Kurztherapie - Solution Focused Brief Therapy (SFBT) wird seit den 1980-Jahren breit geforscht. So haben in den Anfängen Steve de Shazer, Insoo Kim Berg und ihr Team in Milwaukee, zahlreiche empirische Untersuchungen durchgeführt, darunter über 150 klinische Studien. Die Forschungsbeweise für SFBT sind erheblich und wachsen stetig an. Die For­schung dokumentiert die Effektivität von SFBT in unterschiedlichen Bereichen der Sozialen Arbeit, so u. a. auch im Bereich des Kinderschutzes (vgl. De Jong/Berg 2014: 379).

Die SFBT ist ein zielgerichteter, evidenzbasierter Therapieansatz, der positive psychologische Prinzipien und Praktiken beinhaltet und Klienten hilft, sich zu verändern, indem sie Lösungen konstruieren, anstatt sich auf Probleme zu konzentrieren. Der Ansatz ist sowohl im Konstrukt als auch in der Praxis empirisch abgeleitet und nicht theoretisch begründet. Er ist ein zielge­richteter Ansatz für psychotherapeutische Veränderungen, der in erster Linie durch direkte klinische Beobachtung der Antworten der Klientel auf eine Reihe sorgfältig konstruierter Fra­gen basiert. Steve de Shazer und Insoo Kim Berg verbrachten Stunden damit, die realen The­rapiesitzungen sorgfältig zu beobachten und dabei alle Worte oder Verhaltensweisen der The­rapeutin, die zu Fortschritten auf dem Weg zum erklärten Ziel des Klienten führten, akribisch zu notieren (vgl. Institute for Solution-Focused Therapie o.J., o.S).

Ein neuerer wissenschaftlicher Artikel zur Wirksamkeit von lösungsorientierter Kurzzeitthera­pie von Gingerich und Peterson stammt aus dem Jahr 2013. Dabei wurden 43 Studien lokali­siert und Schlüsseldaten zu Problem, Einstellung, SFBT-Intervention und Ergebnissen abstra­hiert. 74% der Studien berichteten über einen signifikanten positiven Nutzen von lösungsori­entierter Kurztherapie. 23% gaben positive Trends an. Drei Studien untersuchten die Behand­lungsdauer und in allen wurde festgehalten, dass lösungsorientierte Kurztherapie weniger Sit­zungen als alternative Therapien verwendete. Die überprüften Studien liefern starke Beweise dafür, dass lösungsfokussierte Kurztherapie eine wirksame Behandlung für eine Vielzahl von (verhaltens-)psychologischen Ergebnissen ist und darüber hinaus kürzer und daher kosten­günstiger als alternative Ansätze sein kann (vgl. Gingerich/Peterson 2013: 279).

Conen war es, die zusammen mit ihren Kollegen Cecchin und Bosoclo Anfangs der 1990- Jahren begann, das Thema Zwangskontext in der systemischen (Familien-)Beratung zu etab­lieren. Sie zeigten auf, welchen bislang unbekannten Weg die Therapeutinnen mit Klientinnen gehen konnten, die unfreiwilliger Weise zu ihnen kamen (vgl. Conen/Cecchin 2018: 9). Später haben Gumpinger (2001) und Kähler (2005) das Thema Pflichtklientschaft und Soziale Arbeit im Zwangskontext methodisch diskutiert und reflektiert (vgl. Rosch 2011: 84). Im englisch sprachlichen Raum war vor allem Rooney mit seinem 1992 erstmals veröffentlichten Lehrbuch, «Strategies for Work with Involuntary Clients», das Richtlinien für die Arbeit mit unfreiwilligen Klienten enthält, wegweisend. Das Buch schlägt wirksame rechtliche und ethische Interventionen vor, die zu kooperativeren Begegnungen mit unfreiwilligen Klientinnen führen (vgl. Rooney 2009: 35). Obwohl die grosse Mehrheit der Fälle in der Familienbegleitung im Zwangskontext stattfinden, und es den Personen nicht freisteht, Klienten zu sein, hat der Autor zu diesem Thema wenig wissenschaftliche Forschung gefunden. Er ist bei seiner Recherche­arbeit auf ein laufendes Projekt an der FHNW in Olten, unter der Leitung von Prof. Dr. habil. Roland Becker-Lenz gestossen, das zum Zeitpunkt der Erscheinung der vorliegenden MAS Thesis jedoch noch keine Publikation veröffentlicht hat. Das Forschungsprojekt untersucht die wissenschaftliche Bedeutung hinsichtlich des Vertrauens für die Arbeitsbeziehung zwischen Fachkräften und Klientinnen respektive Klienten im Zwangskontext. Es geht der Frage nach, wie Vertrauen zwischen der SPF und Familien entsteht, wenn die Zusammenarbeit verordnet und ursprünglich unerwünscht ist (vgl. Becker-Lenz/Gautschi/Rotzetter/Rüegger 2017: o.S.). Petko hat die Handlungsmuster und empirischen Zugänge in der sozialpädagogischen Fami­lienhilfe untersucht. Er ist in seiner wissenschaftlichen Arbeit aber nicht auf das Thema Zwangskontext eingegangen. Es wurden hauptsächlich qualitative Forschungsmethoden, wie narrative Interviews, akustische Aufnahmen, standardisierte Fragebogenuntersuchungen, Er­fahrungsberichte mit Anbietern und Familien, sowie Ämtern durchgeführt (vgl. 2004: 51-55). Eine qualitative Untersuchung fand im Jahr 2000 mit dem Verein Pro Juventute in der Schweiz zusammen mit 25 Fachkräften aus der SPF und 50 Familien statt (vgl. ebd.: 88f.).

2.3 Grundannahmen und Grundhaltung des SLOA

Sowohl in systemischer als auch in lösungsfokussierter Arbeit sehen Beratende die Klientel als Expertin für den Inhalt ihres Problems respektive ihrer Anfrage. Es ist nicht Ziel, die Klientel von einer Haltung oder einer Theorie zu überzeugen und Ratschläge zu erteilen. Es gilt verlo­ren gegangene Stärken und Ressourcen des Klienten mit Hilfe von Fragetechniken (wieder), zu aktivieren. Ebenso wichtig ist, dass Professionelle dabei eine nichtwissende Haltung ein­nehmen - nichtwissend im Sinne von, eigene Annahmen, Vermutungen, Interpretationen bei­seitezulegen, um dem Gegenüber neutral zu begegnen. Durch diese Erweiterung vom Fokus gelangen Klientinnen zu mehr Wahlmöglichkeiten. Diese formulieren ihre eigenen Ziele und geben somit die Richtung des beraterischen Prozesses im besten Falle selbst vor. Die Prä­misse im SLOA ist, dass man für die passende Intervention gar nicht so genau Bescheid wis­sen muss, über was sein Gegenüber klagt. Notwendig ist nur, dass die betroffene(n) Per- son(en) in einer problematischen Situation etwas anderes tut(n), selbst wenn dieses Verhalten komisch ist und irrational wirkt (vgl. de Shazer 2014: 24). Die lösungsorientierte Arbeit geht auf die Problembezeichnungen, welche von Seiten der Klientel angesprochen werden, ein, verzichtet jedoch auf eine Problemanalyse (vgl. Eger: 2016: 101). Der SLOA geht davon aus, dass jede Reaktion eine Form von Kooperation ist, auch Widerstand (vgl. Baeschlin/Baeschlin 2014: 5).

In der untenstehenden Tabelle sind bedeutsame Personen und deren Kernthemen dargestellt, die ursprünglich das systemische und konstruktivistische Denken stark geprägt haben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Systemtherapeutische Modelle im Überblick, eigene Darstellung, in Anlehnung an von Schlippe Schweitzer 2016: 34f.

2.4 Elemente des SLOA und Beziehungstypen

Nachdem jetzt drei wichtige historische Schauplätze des SLOA benannt und aufgezeigt wur­den, wird in diesem Kapitel auf acht Grundprinzipien des SLOA nach de Shazer und Dolan (vgl. 2020: 23-25) eingegangen. Ausserdem werden drei Beziehungstypen von Klientinnen unterschieden:

1. Was nicht kaputt ist, muss nicht repariert werden: Es werden nicht Probleme gelöst, die nicht vorhanden sind, bereits gelöst oder nicht benannt wurden.
2. Mach mehr davon was funktioniert: Der Fokus liegt auf dem was funktioniert und die Klientel wird motiviert, mehr von dem zu tun, was wirkt. Dies impliziert, dass eine Häufung von Lösungsverhalten auch Lösungen generiert und dass jede Klientel Ressourcen und Fähigkeiten mitbringt, die ihr bei der Verfolgung der eigenen Anliegen hilfreich sind oder waren.
3. Wenn etwas nicht funktioniert hat, versuch etwas anderes: Wenn etwas nicht funkti­oniert, ist dies keine Lösung. Beratende sollten etwas anderes ausprobieren. Dies gilt auch für die Lösungsversuche der Klientel.
4. Kleine Schritte können zu grossen Veränderungen führen: Die Wahrnehmung kleiner, positiver Veränderungen führt zu einer Reihe weiterer Veränderungen, was dann wiede­rum andere Umwandlungen nach sich zieht. Kleine Schritte tragen dazu bei, dass die Klientel ihrem Ziel näherkommt und sich den gewünschten Veränderungen annähert.
5. Die Lösung hängt nicht zwangsläufig mit dem Problem zusammen: Es bedarf keines Verständnisses der Ursache des Problems, um es zu lösen. Es wird keine Zeit darauf verwendet, den Ursprung des Problems zu ergründen. Der Fokus liegt in einer in die Zu­kunft gerichteten Betrachtungsweise darauf, was anders sein wird, wenn das Problem gelöst ist.
6. Die Sprache der Lösungsentwicklung ist eine andere als jene, die zur Problembe­schreibung nötig ist: Es wird eine Sprache verwendet, in der Lösungen formuliert wer­den, die im Allgemeinen positiver gefärbt und hoffnungsvoller auf die Zukunft gerichtet sind als das Sprechen über Probleme in der Vergangenheit. In den Worten von Steve de Shazer ausgedrückt: «Problem talk creates problems. Solution talk creates solutions».
7. Die Zukunft ist etwas Geschaffenes und Verhandelbares: Der Mensch wird nicht als Gefangener seiner Verhaltensweisen angesehen. Seine Wahrnehmung der Wirklichkeit ist ein individuelles Konstrukt und somit veränderbar.
8. Ausnahmen sollen genutzt werden, kein Problem besteht immer: Menschen erleben bei ihren Problemen immer Ausnahmen und sind es noch so kleine. Diese Ausnahmen sollten dazu genutzt werden können, um kleine Veränderungen vorzunehmen.

Der systemisch-lösungsorientierte Ansatz erachtet es als sinnvoll, Klienten hinsichtlich ihrer Beratungsmotivation in drei Typen einzuteilen. Diese Einteilung wird allerdings nicht aufgrund persönlicher Merkmale der Klientin gemacht, sondern bezieht sich auf die jeweilige Beziehung zwischen den Beratenden und der Klientel. Diese kann sich im Verlaufe des Beratungsprozes­ses fortlaufend verändern und sich von einem zum anderen Typus hin und her bewegen (vgl. Berg 2010: 37).

Die drei verschiedenen Typisierungen, die zur Kennzeichnung der Beratungsbeziehung vor­genommen werden, sind:

1. Kunden/Kundinnen: Sie benennen ein Problem und sehen sich selbst als Teil davon. Sie haben einen Auftrag sowie ein Ziel und sind bereit, mit den Fachpersonen an einer Lösung zu arbeiten. Diese Klienten sind meistens sehr motiviert (vgl. Pfister-Wiederkehr 2019: 80).
2. Besucher/Besucherinnen: Sie kommen meistens im Auftrag von Dritten (Behörden, Ar­beitgebern, Schulen, Ärzten etc.). Sie folgen einer Auflage, Aufforderung oder Empfehlung, sehen aber selbst in ihrem Verhalten und in ihrer Person kein Problem und wollen auch nicht mit Fachleuten zusammenarbeiten (vgl. ebd.: 154).
3. Klagende: Sie sehen bei sich keinen Veränderungsbedarf und erleben sich der Situation ausgeliefert. Sie sehen sich häufig als Opfer und den Situationen gegenüber ohnmächtig und hilflos. Sie wollen, dass andere Menschen, die Umwelt, oder die Situation sich ändert. In der Beratung verbringen sie viel Zeit damit, sich zu beklagen (vgl. ebd.: 138).

2.5 Grundbegriffe im SLOA

Die folgenden Grundbegriffe und Handlungsprinzipien des SLOA orientieren sich schwerge­wichtig auf der Autorenschaft rund um das BFTC aus Milwaukee und der Mailänder Gruppe.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Systemische Bezüge der Klientel, eigene Darstellung, in Anlehnung an Bamberger 2015: 31

2.5.1 Selbstorganisation/Autonomie

Die aus der Biologie von Maturana und Varela stammende Grundannahme, dass sich ein Sys­tem selbst (re-)produziert, macht die Menschen zu autonom-selbstwirksam Interagierenden in ihrer jeweiligen Lebenswelt. Diese organismische Selbstorganisation wird in der Biologie auch Autopoiese genannt. Personen machen ihre eigenen Erfahrungen und besitzen eigene psy­chische Strukturen, die sich aufgrund ihrer Lernerfahrungen gebildet haben. Daraus entsteht wiederum alles Wissen darüber, was gut war und vermutlich wieder guttun wird, aber auch, was weniger funktioniert hat und vielleicht besser gemieden werden sollte.

Der Soziologe Niklas Luhmann, hat das Konzept auf die sozialen Systeme erweitert. Er spricht dabei von Selbstreferenz. Diese hat in der Beratung zur Folge, dass man nicht von aussen zielgerichtet auf ein System einwirken kann und die Beratenden nie mit Sicherheit wissen, wie ihre Interventionen ankommen (vgl. Bamberger 2015: 31f.). In der lösungsorientierten Haltung gilt es, dass die Beratenden in der Familienbegleitung die Autonomie zu respektieren und ge­nau hinzuschauen haben, welche autonomen (Re-)Aktionen das Klientensystem zeigt. Mit Hilfe von Skalierungen und Ausnahmefragen kann die Beratungsperson die Klientin darin res­sourcenorientiert unterstützen, was sie bereits macht oder für denkbar hält (vgl. ebd.: 32).

2.5.2 Konstruktivismus

Der Konstruktivismus bildet eine wichtige Grundlage im SLOA und betrifft die Interaktion der Klientel und deren Umwelt. Die Kernthese des Konstruktivismus ist die Subjektabhängigkeit jeder Erkenntnis und jeder Beobachtung. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass gewisse Zweifel am Glauben angebracht sind, dass Wissen und Wirklichkeit übereinstimmen. Er pos­tuliert, dass Wissen nicht das Ergebnis eines Abbildes im Sinne eines Entdeckens der objektiv vorliegenden Wirklichkeit ist, sondern das Ergebnis eines Erfindens der Wirklichkeit. Bedeut­sam ist der Konstruktivismus für die Beurteilung der Art von Wirklichkeit zwischen den Men­schen. Wenn zwei Personen miteinander reden, kann das Gegenüber nie exakt wissen, was er/sie gemeint hat. Für die Beratung bedeutet dies, dass wir es nie mit der Wirklichkeit schlechthin zu tun haben, sondern immer nur mit Bildern, die sich die Klientel von ihrer Wirk­lichkeit machen und so wie es die Beratenden in ihrer Realität verstehen (vgl. von Schlippe/Schweitzer 2016: 120f.). Wenn es nicht die Wahrheit gibt, mit der das beraterische Vorgehen konzipiert werden kann, können Beratende einen Perspektivenwechsel und Um­deutungen anbieten. Damit können Wahlmöglichkeiten von Klienten vergrössert werden. Fachkräfte sollten dabei über eine offene und flexible Herangehensweise verfügen, um sich im Prozess des Joining6 inhaltlich und emotional dem Klientensystem anzunähern, damit der Aufbau eines kooperativen Arbeitsbündnisses besser gelingen kann (vgl. ebd.: 225f.).

2.5.3 Zirkularität

Als bedeutsames Kommunikationsmittel, das aus der Mailänder Gruppe bis heute als zentra­les Werkzeug in der systemischen Therapie verwendet wird, gelten die zirkulären Fragen. Ziel dieser Fragetechnik ist, neue Informationen im System zu erhalten (vgl. ebd.: 49, 251). In ei­nem lebenden System beeinflussen die Verhaltensweisen des einen Menschen immer die Verhaltensweisen eines Mitmenschen. Es gibt dabei keinen Ausgangspunkt, der bestimmen würde, welche Verhaltensweise nun welche Reaktionen hervorruft. Bamberger (2015: 34) schreibt, «Jedes Verhalten kann man sowohl unter dem Aspekt seiner Ursachen als auch un­ter dem seiner Auswirkungen analysieren, wobei diese Auswirkungen wiederum zu den Ursa­chen für neues Verhalten werden». Genau diese zirkulären Beziehungen und Wechselwirkun­gen machen das Hauptmerkmal sozialen Zusammenlebens aus. Für die Beratung bedeutet dies, dass Probleme immer als Ergebnisse eines Zusammenwirkens von mehreren Beteiligten angesehen werden müssen (vgl. ebd.: 35). Mit Hilfe von zirkulärem Fragen können Beratende diese Wechselwirkungen untereinander erfragen, sichtbar und verstehbar machen. Die drei folgenden Beispiele zirkulärer Fragen verdeutlichen dies.

1. «Was würde X. sagen, was schon geholfen hat? Und was meinen Sie dazu?»
2. «Mal angenommen X. wäre hier und ich würde ihn/sie fragen, was der nächste Schritt wäre, was denken Sie, was würde er/sie sagen?» Zudem gibt es immer Dritte, die auf die Beziehungen von zwei anderen schauen:
3. «Was denkst du, was es bei deiner Mutter auslöst, deine Schwester weinen zu sehen?»

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Verdeutlicht das Prinzip der zirkulären Kausalität in den kommunikativen Systemen, eigene Darstel­lung, in Anlehnung an Bamberger 2015: 35

2.6 Zusammenfassung

Der Inhalt des Kapitels war ein kurzer Abriss über die Entstehung des SLOA, deren wichtigster Vertreterinnen und Vertreter und die Erwähnung einiger aktuellerer Forschungsergebnisse zur Solution Focused Brief Therapy. Ausserdem wurde im selben Kapitel einen konkreten Bezug zu Studien in der Beratung einer SPF im Rahmen von Zwangskontexten vorgenommen. Grundannahmen und Grundhaltungen aus systemischer und lösungsorientierter Sicht wurden mit Hilfe wesentlicher Prinzipien dargelegt. Ihnen ist gemeinsam, dass der Fokus anstatt auf die Probleme auf vorstellbare Lösungsmöglichkeiten gerichtet wird und dabei die Ressourcen und Stärken der Klientinnen gewürdigt werden. Weiter wurden drei Beziehungstypen vorge­stellt, die zur Komplexitätsreduzierung in Beratungssitzungen dienen und die wichtigsten sys­temischen Grundannahmen vorgestellt.

3. SPF und Zwangskontext

«Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will»

Jean-Jacques Rousseau

3.1 Entstehung und Geschichte der SPF

In der Schweiz wird die SPF seit Mitte der 1980er Jahre angeboten. Pro Juventute startete 1985 das Projekt «Familienbegleitung», das Kinder und Familien in schwierigen Familiensitu­ationen unterstützt (vgl. Pro Juventute, 2019: o.S.). Anders als in Deutschland, wo die Sozial­pädagogische Familienhilfe (SPFH) eine Form der Hilfe zur Erziehung gemäss § 31 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) darstellt (vgl. Sozialgesetzbuch (SGB VIII), ist die SPF in der Schweiz gesetzlich nicht verankert. Daran änderte auch eine Interpellation der ehemaligen Nationalrätin Angeline Fankhauser (1993 - 1999) von der Sozialdemokratischen Partei, der Schweiz im Jahre 1993 nichts. Die SPF wird in der Schweiz unter Ausnutzung des Spielraums des Kinderschutzartikels 307 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB)7 durchgeführt. Mit Bezug auf diesen Artikel, wurde die SPF von Seiten des Bundesrates im Jahr darauf zwar gutgeheissen, eine Gesetzesänderung wurde jedoch nicht veranlasst. Es liegt im Einzelfall im Ermessen der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), die wiederum den Kantonen unterstellt ist, die Erziehungshilfe nach Artikel 84 und Artikel 91 Ziffer 1 StGB in Form einer SPF anzuordnen (vgl. Fankhauser 1993: o.S.).

Die Zahlen des Fachverbandes SpF Schweiz zeigen, dass 2018 mehr Einsätze getätigt wur­den als in den vorangegangenen Jahren. Gleichzeitig hält der Verband in seinem Überblick zur Statistik der Kostenträger im Jahr 2018 fest, dass in fast 95 % der Fälle eine SPF von der öffentlichen Hand bezahlt wurde und nur ca. 5 % von Selbstzahlenden (vgl. SpF, Fachverband 2018: 3-7). Der Autor verweist in dem Zusammenhang auf das Diagramm III im Anhang.

Zum Zeitpunkt dieser Arbeit besteht ein Vorprojekt zu einem Buch über die SPF. Das Buch wird vom Verlag Rüffer & Rub, Zürich in Zusammenarbeit mit einer Projektgruppe vom SpF Fachverband, Schweiz und zwei wissenschaftlichen Autorinnen erstellt. Das Buch soll einen Überblick über die SPF in der Schweiz bieten und es werden auch die Ergebnisse aus For­schungsprojekten darin vorgestellt

3.2 Was ist SPF?

Im Leitbild der Sozialpädagogischen Familienbegleitung (vgl. AvenirSocial 2017: 1) wird SPF folgendermassen definiert:

Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF) ist ein aufsuchendes Angebot der Kinder- und Jugendhilfe, um Familien bei der Bearbeitung unterschiedlichster familiärer Problem­lagen zu unterstützen und dadurch die Lebensbedingungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Dabei ist der Fokus auf das Kindeswohl und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gerichtet.

Die SPF stellt eine Grundleistung der Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz mit dem über­geordneten Ziel dar, Familien bei der Bearbeitung unterschiedlichster familiärer Problemlagen zu unterstützen und zu stabilisieren, um dadurch die Lebensbedingungen der betroffenen Kin­der und Jugendlichen zu verbessern. Dabei ist der Fokus auf das Kindeswohl und die Entwick­lung der Kinder und Jugendlichen gerichtet (Risikoorientierung). Das Leistungsspektrum um­fasst die Stärkung und Befähigung der Erziehungsberechtigten für eine gelingende Erziehung und Lebensgestaltung, die Förderung eines konstruktiven Umgangs mit Spannungen in der Familie, die individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen, sowie die nötige Netzwerk­arbeit und Ressourcenerschliessung in der Alltags- und Lebensweltnähe der begleiteten Fa­milien. Die SPF erweitert dadurch die Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten aller Beteiligten, stärkt die Eigenverantwortung und bietet Hilfe zur Selbsthilfe an (vgl. AvenirSocial 2017: 2-5). SPF wird häufig auch als eine besondere Form der professionellen Unterstützung von Familien bezeichnet, die sich mit vielfältigen Belastungen und Problemen konfrontiert sehen und des­wegen auf externe Hilfen angewiesen sind, um den Kindern in der Familie positive Bedingun­gen des Aufwachsens und der Entwicklung zu bieten und Risikofaktoren zu verringern. Im Kontext des zivilrechtlichen Kindesschutzes wird die SPF als Massnahme eingesetzt, Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung und ihren Erziehungskompetenzen zu stärken und damit dem Eingriff der Fremdplatzierung vorzubeugen. Ungeachtet dieser bedeutsamen Funktion für die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, ist über die Wirkfaktoren in der SPF nur wenig bekannt. Insbesondere besteht kaum empirisches Wissen darüber, welche Arbeitsformen und Interven­tionen sich als wirksam erweisen, wie Kooperation im Falle von Hilfen bei Unfreiwilligkeit be­fördert werden kann und welche Ressourcen die SPF innerhalb der Familien optimieren kann. Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich nebst dem bereits erwähnten Projekt unter Punkt 2.2 zwei weitere Forschungen an der FHNW in, Olten (vgl. Messmer/Fellmann/Wet- zel/Käch 2017: o.S.) und an der ZHAW in, Zürich, (vgl. Lätsch/Hasani/Quehenberger 2019: o.S.), auf welche der Verfasser im Literaturverzeichnis hinweist.

Für Petko ist das das Herzstück von gelingender SPF die nicht-standardisierbare Interaktion zwischen Familien und der Familienbegleitung (Petko vgl. 2004: 26).

3.3 Definition von Zwang und Zwangskontext

Die Arbeit im Zwangskontext wird von Zobrist und Kähler (vgl. 2013: 23f.) ganz allgemein dadurch charakterisiert, dass sie es mit Kontaktaufnahmen zu tun hat, die nicht von der Klientel selbst initiiert worden sind. Diese Definition ist sehr weit gefasst und nicht präzise genug. Die wenigsten Kontakte im Bereich der Sozialen Arbeit sind selbstinitiiert. Lindenberg und Lutz (vgl. 2014: 115) haben diese Ungenauigkeit kritisiert. Sie sind der Auffassung, dass zwischen Zwang im engeren und weiteren Sinne zu unterscheiden ist. Zwang im weiteren Sinne ent­spricht den materiellen und sozialen Einschränkungen, der Entscheidungsfreiheit und der Handlungsmöglichkeiten. Zwang im engeren Sinne wird gegen den Willen der Betroffenen und gegen deren Widerstand durchgesetzt. Dies geschieht mit rechtlichen, physischen oder psy­chischen Mitteln.

Rosch (vgl. 2011: 88) ist der Ansicht, dass der Zwangskontext im engeren Sinn ein legitimier­tes Handeln gegen den Willen der Betroffenen ist. Dies mit dem Ziel, eine Verminderung oder Behebung der Problemsituation zu erreichen. Dabei muss jedoch eine Abwägung des Verhält­nisses von Selbstbestimmung und Zwang im Einzelfall vorgenommen werden. «Damit beginnt nach der hier vertretenen Auffassung der Zwangskontext dort, wo Zwang als Instrument im Einzelfall mittels Berufsethik und des Berufsverständnisses legitimiert wird.» (ebd.)

Klienten, die zwecks behördlicher Anweisung und rechtlicher Bestimmungen zur Kontaktauf­nahme mit der Sozialen Arbeit verpflichtet werden, bezeichnen Rosch (vgl. 2011: 84) und Hes- ser (2001: 32) als Pflichtklientel im Zwangskontext. Diese Verpflichtung zur Kontaktaufnahme kann dadurch geschehen, dass die zuständige Behörde den Kontakt zum Sozialdienst direkt anordnet oder aber, dass die Betroffenen im Rahmen der Fallführung angewiesen werden, einen Kontakt zu einer Drittinstitution aufzunehmen. Sozialarbeitende bewegen sich dabei im Rahmen ihrer Tätigkeit u. a. in der Sozialhilfe, im Kindes- und Erwachsenenschutz, in der Be­währungshilfe, im Jugendstrafvollzug, etc. (vgl. Rosch 2011: 92). Nach dieser Beschreibung gelten alle, nicht von den Familien selbst initiierten Kontaktaufnahmen zum Aufsuchen von sozialen Einrichtungen als Zwangskontexte. Zwang bedeutet dann, dass Menschen zum einen durch subjektiv interpretierte Druck- (Push-) und Anreiz- (Pull-) Faktoren der informellen und formellen Netzwerke und zum anderen durch rechtliche Bestimmungen, z. B. bei einer Kin­deswohlgefährdung, zur Inanspruchnahme Sozialer Arbeit gebracht werden (vgl. Kaminsky 2015: 5). Zwang im engeren Sinne bedeutet beispielsweise eine Zwangsunterbringung oder Zwangsbehandlung.

Zwang im weiteren Sinne beinhaltet das Annehmen von Hilfe aus Angst vor Sanktionen bei Nichtannahme (vgl. ebd.: 7). Dieselbe Autorin schreibt: «Mit kaum einem anderen Gesichts­punkt, unter dem man die Soziale Arbeit betrachten könnte, scheinen sich die Bedingungen und Ansprüche an professionell sozialberufliches Handeln so stark zu verbinden, wie mit dem Ausdruck Zwangskontexte.» (vgl. ebd.: 15).

Abschliessend wird an dieser Stelle eine neugefasste und erweiterte Definition von Zobrist und Kähler (2017: 31) zusammengefasst:

Zwangskontexte sind strukturelle Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit, die zu einge­schränkten Handlungsspielräumen bei Klienten, Fachkräften und Zuweisern führen und durch institutionelle Sanktionsmöglichkeiten sowie asymmetrische Machtverhältnisse ge­kennzeichnet sind. Die Interaktionen zwischen Klienten und Fachkräften konstituieren sich aufgrund von rechtlichen Normen und finden i.d.R. fremdinitiiert statt. In Zwangskontexten werden teilweise Zwangselemente als Interventionen eingesetzt, welche die Autonomie der Klienten erheblich beschränken.

Diese begriffliche Eingrenzung ist passend, wenn im weiteren Verlauf der MAS von Zwangs­kontext gesprochen wird.

3.4 Zwangskontext in der SPF

Nachdem der Begriff Zwangskontext differenziert beschrieben wurde, wird in folgenden Ab­schnitten der Bezug zur SPF hergestellt. Die Beratungen und Begleitungen in der SPF finden wie erwähnt, in Zwangskontexten sowohl im engeren als auch weiteren Sinn statt. Der Eingriff in die Lebensverhältnisse der betroffenen Familien ist begründungsbedürftig und braucht eine Legitimation. Viele Interventionen in der SPF erfolgen in Situationen von Unfreiwilligkeit und Druck (vgl. Wolf 2012: 72). Eine Organisation erhält von behördlicher Seite einen Auftrag mit der betroffenen Familie, Kontakt aufzunehmen. Die KESB und die Beistandsperson fordert die Familie zu einer Zusammenarbeit mit der Familienbegleitung auf, weil sie ein bestimmtes Ver­halten der Familie, oder einzelner Angehörigen mit Blick auf das Kindeswohl als nicht ange­messen respektive kindeswohlgefährdend betrachten. Die betroffene Familie hat die Möglich­keit die Unterstützung anzunehmen, oder sich gegen die Hilfe zu entscheiden und mit den Konsequenzen der Behörde zu leben. Beispielsweise könnte der Druck darin bestehen, dass die KESB androht, den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht ihres Kindes, wegzunehmen und die Unterbringung bei Dritten anzuordnen (vgl. Conen/Cecchin 2018: 160). Es besteht für die Eltern dennoch keine Verpflichtung, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nicht in jeder Kindes­schutzmassnahme wird Zwang im engeren Sinne eingesetzt, aber die Möglichkeit der Zwangs­anwendung strukturiert die Handlungsspielräume und das Bewusstsein der Akteure (vgl. Zobrist/Kähler 2017: 28).

[...]


1 Der Autor verwendet in seiner MAS den Begriff «Zwangskontext» macht aber inhaltlich keine Unterscheidung zum Begriff «Pflichtkontext», da sie sich fachlich nicht unterscheiden. Die Unterscheidung findet in der subjektiven Be­wertung der Betrachtenden statt.

2 Begriffsverwendung: Die Begriffe «Soziale Arbeit» und «Sozialpädagogik» sind in der MAS gleichgestellt, da im Praxisfeld der SPF, viele klassische Methoden und Aspekte der Sozialen Arbeit einfliessen.

3 Die beiden Begriffe «systemisch» und «lösungsorientiert» gehören aus Sicht des Autors untrennbar zusammen. Dies aus dem Grund, weil sich das lösungsorientierte Arbeiten aus vielen Prämissen der systemischen Haltung generiert hat. Die Erkenntnisse des Begründers der lösungsorientierten Kurzzeittherapie, Steve de Shazer, bauten mehrheitlich auf der systemischen Familientherapie auf (vgl. de Shazer/Dolan 2020: 22f.).

4 In Deutschland wird der Begriff Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) an Stelle von SPF verwendet

5 Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst

6 Joining ist ein Begriff aus der systemischen Therapie und verfolgt das Ziel, mittels Ankoppelung eine positive Arbeitsbeziehung mit der Klientel einzugehen, (vgl. Berg 2010: 58).

7 Als Kindesschutzmassnahme kann die KESB eine geeignete Fachperson bestimmen und einsetzen, welche die Eltern oder das Kind in bestimmten Angelegenheiten berät und beaufsichtigt (vgl. Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB) Art. 307, 2020: 100).

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Systemisch-lösungsorientierte Kurzzeitberatung und -therapie. Wie sie bei unerwünschter Hilfe gelingen kann
Hochschule
Fachhochschule Nordwestschweiz
Note
4.5
Autor
Jahr
2021
Seiten
87
Katalognummer
V1040127
ISBN (eBook)
9783346458698
ISBN (Buch)
9783346458704
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zwangskontext, Widerstand, Sozialpädagogische Familienbegleitung, Systemisch-lösungsorientierte Beratung
Arbeit zitieren
Roland Jäggi (Autor:in), 2021, Systemisch-lösungsorientierte Kurzzeitberatung und -therapie. Wie sie bei unerwünschter Hilfe gelingen kann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1040127

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