Pygmalion - Der Künstler und sein Werk


Trabajo de Investigación (Colegio), 2000

15 Páginas


Extracto


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung: Pygmalion

II. Rahmenhandlung: das 10. Buch der Met.

III. Interpretation: Pygmalion, Buch X, 243-297

IV. Rezeptionsbeispiel: My fair Lady, Musical

V. Vergleich: Ovid- My fair lady

I. Einleitung

Mit dem Thema „Pygmalion- Der Künstler und sein Werk“ möchte ich am diesjährigen Lateinwettbewerb Certamen Carolinum teilnehmen.

Bei Ovid ist Pygmalion ein begabter Künstler. Von der Handlung der Propoetiden abgeschreckt, lebt er unvermählt und schafft sich nach seinen hohen Ansprüchen und Idealvorstellungen eine Elfenbeinstatue, in die er sich schließlich verliebt. In seiner Verzweiflung fleht er zu Venus, welche die Figur erwachen lässt. Zum Abschluss der Metamorphose heiratet er die Jungfrau.

In meiner Facharbeit werde ich zuerst die Rahmenhandlung für den Pygmalion Mythos darstellen und dabei auf die Orpheussage zurückgreifen. Diese beginnt mit Orpheus Liebe zu Eurydike und endet mit dem Tod des Sängers. Pygmalio n ist eine der Geschichten, die Orpheus während seiner Trauerlieder singt. Danach folgt meine Interpretation der ovidischen Darstellung. An einem ausgewählten Rezeptionsbeispiel, dem Musical "My fair Lady“, möchte ich dann die Verbindung der Pygmalion-Episode mit der heutigen Zeit betrachten.

II. Rahmenhandlung

Publius Ovidius Naso wurde am 20. März 43v. Chr. in Sulmo geboren und stieg durch den großen Erfolg seiner Elegien zum bedeutesten Dichter Roms auf. Später schrieb er seine ‚Metamorphosen’ (Verwandlungssagen), ein mythologisches Epos in 15 Büchern. Im zehnten Buch erzählt er das Leben des Orpheus.

Orpheus war der Sohn der Muse Kalliope und des Apollon11, der ihm die Leier schenkte, mit der er ein großer Musiker wurde. Er heiratet die schöne Nymphe Eurydike, die nach der Hochzeit an einem Schlangenbiss stirbt. Orpheus ist untröstlich. Er singt Klagelieder, die seine Gemahlin aber nicht zurückholen.

In der Unterwelt kann er die Götter umstimmen. Aber Orpheus bekommt Eurydike erst zurück, wenn er sie aus dem Reich der Schatten herausführt, ohne sich dabei ein einziges Mal zu ihr umzuschauen. Trotz des ausdrücklichen Verbots blickt sich der Sänger zu seiner Frau um. Ihr Schatten sinkt zurück in die Dunkelheit und sie stirbt zum zweiten Mal. Orpheus vereinsamt und meidet für immer die Frauen. Erst nach längerer Zeit beginnt er wieder zu singen. Alle Lieder sind voll Wehmut und Sehnsucht nach dem Tod. Die Bäume lauschen dem Gesang und spenden ihm Schatten. Unter ihnen ist auch der Zypressenbaum, der früher der Knabe Cyparissus 22 war. Er wurde nach dem Tod seines Lieblingstieres, einem Hirsch, auf eigenen Wunsch in den Baum verwandelt.

Nun singt Orpheus von „göttergeliebten Knaben und Mädchen, die böser Leidenschaft verfallen sind“ (X, V.143-739). Dazu gehören auch die Geschichten, die auf Zypern spielen (V.217-739). Die Göttin Venus ist die Mutter Zyperns. Die erste gesungene Geschichte handelt von den Cerasten und Propoetiden, die über ihre Göttin lästern und Venus so sehr beleidigen, dass sie die Cerasten in grimmige Stiere verwandelt. Die Töchter des Propoetus, die zusätzlich noch Venus Gottheit verleugnen, zwingt sie zur Prostitution und verwandelt sie dann in Steine.

Nach dieser Metamorphose folgt der Mythos von Pygmalion (V.243-297). Dieser ist über das zügellose Verhalten der Propoetus-Töchter so entsetzt, dass er nichts mehr mit Frauen zu tun haben will. Er lebt lange zurückgezogen und schafft sich in dieser Zeit eine Statue aus Elfenbein, in die er sich verliebt. Mit der Hilfe der Venus erwacht die Jungfrau zum Leben. Sie gebärt ihm die Tochter Paphos. Das zurückgezogene Leben des Pygmalion erinnert an den Künstler Orpheus, der sich nach dem Tod seiner Frau Eurydike ebenfalls von den Frauen zurückzieht. Beide leben einsam und verlassen, jedoch findet Pygmalion eine Lösung, um wieder glücklich sein zu können. Orpheus dagegen singt weiter Lieder, um seinen Kummer zu übertönen.

Die nächste Geschichte handelt von Myrrha (V.298-502), die Tochter der Paphos und somit die Enkelin des Pygmalion. Sie verliebt sich in ihren Vater Kinyras. Die Amme erzählt dem Hausherrn von dem hübschen Mädchen, das ihn liebt, und führt Myrrha in das Zimmer des Vaters hinein. Im Dunkeln erkennt Kinyras seine Tochter nicht und schwängert sie. Als er dies später bemerkt, flieht Myrrha und bittet die Götter, sie zu verwandeln. Sie wird ein Myrrhenbaum und gebärt den schönen Jüngling Adonis.

Venus verliebt sich in Adonis (V.503-739) und wird seine Jagdgenossin. Unter den Pappeln erklärt sie ihm, warum sie wilde Tiere hasst. Auch hier ist der Bezug zu Orpheus zu erkennen, denn er selbst sucht den Schatten der Bäume und besänftigt die wilden Tiere. Venus erzählt die Geschichte von Hippomenes und Atalanta (V.560-707):

Hippomenes verliebt sich in Atalanta, ein Mädchen, das die schnellsten Männer im Wettlauf besiegt. Sie nimmt nur den zum Gemahl, der gegen sie gewinnt. Alle Verlierer müssen sterben. Mit Venus Hilfe gewinnt Hippomenes den Wettlauf. Er vergisst jedoch der Göttin dafür zu danken. Venus ist beleidigt und ve rwandelt ihn zusammen mit Atalanta in ein Löwenpaar.

Adonis geht trotz der Warnung auf die Jagd. Dabei wird er von wilden Tieren getötet. Venus ist bestürzt und wünscht sich, wie Orpheus nach Eurydikes Tod, ihren Geliebten zurück. So soll er die Wintermona te bei Persephone im Reich der Toten und die Sommermonate bei Venus verbringen. Sein Blut verwandelt sie als Erinnerung in eine Blüte, wie der Granatbaum sie trägt. Mit dieser Geschichte, die deutlich an Orpheus Versuch anknüpft, seine Frau aus der Unterwelt zurückzuerbitten, endet das 10. Buch von Ovids Metamorphosen.

Orpheus Tod steht im 11. Buch (XI, V.1-66). Während er seine Lieder singt, erblicken ihn die betrunkenen Bacchantinnen, beschimpfen ihn als Frauenfeind und töten ihn mit Steinen und Stöcken. In der Unterwelt ist der Schatten des Sängers nun für immer mit dem Schatten seiner geliebten Eurydike vereint.

In den Liedern des Orpheus bildet die Pygmalion-Episode zuerst einmal einen Lichtblick. Alle Geschichten handeln von dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Pygmalion ist der einzige, der ein positives Ende mit seiner Geliebten findet.

Überlegt man aber genauer, welche Rolle diese Geschichte in den Erzählungen von Zypern spielt, wird diese Besonderheit immer geringer.

Ovid führt die Pygmalion-Erzählung direkt an die abschreckende Geschichte der Propoetiden an. Orpheus drückt mit dieser Geschichte auch seinen Rückzug von den Frauen aus. Das schändliche Verhalten der Frauen wird durch seinen tragischen Tod noch verstärkt. Pygmalion kann aber die Frauen wieder lieben und hat sie auch nie wirklich vergessen. Seine Geschichte dient dem Sänger trotzdem nur als Übergang zu der Geschichte von Myrrha. Ohne Pygmalion könnten die folgenden Geschichten nicht erzählt werden, denn Myrrha ist seine Enkelin und Adonis sein Ur-Enkel. Im Vergleich mit den anderen Geschichten erscheint die Pygmalion-Episode kurz und knapp. Ovid beschränkt sich nur auf das Wesentliche. Die Fragen, wer Pygmalion ist, woher er das Elfenbein hat und womit er die Statue erschafft, werden nicht beantwortet. Trotzdem ist dieser Mythos sehr ausdrucksstark, wie in der folgenden Interpretation festzustellen ist.

III. Interpretation

Bevor ich mit meiner Übersetzung der ovidischen Darstellung und der Interpretation33 beginne, muss darauf hingewiesen werden, dass Ovid nur einer der vielen Bearbeiter der Erzählung ist. „Der christliche Gelehrte Clemens Alexandrinus vom Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. bewahrt in seinem Werk Protreptikos wohl die Urfassung, die auf eine Angabe des griechischen Antiquars Philostephanus von Kyrene (3. Jahrh. v. Chr.) zurückgeht. Demnach war Pygmalion ein König und hatte Umgang mit einer Plastik, die Aphrodite, die Schutzgottheit der Insel, darstellte.“44

Ovid, Buch X (243-297): Pygmalion

Weil Pygmalion gesehen hatte, wie diese Frauen ihr Leben in Schande verbrachten, lebte er abgestoßen durch die Fehler, die die Natur sehr zahlreich dem weiblichen Verstand gegeben hat, ehelos ohne Gemahlin und entbehrte lange die Gemeinsamkeit des Lagers.

Inzwischen hat er eine Statue aus schneeweißem Elfenbein glücklich mit wunderbarer Kunst geschnitzt und gab ihr eine Form, die keine Frau von Geburt an haben kann, und verliebte sich in sein Werk. Ihr Aussehen ist das einer wirklichen Jungfrau, von der man glauben könnte, sie lebe, und wenn die Scheu nicht behindere, möchte sie sich bewegen: so sehr verbirgt sich die Kunst in seinem Können.

Pygmalion staunt und schöpft in seinem Herzen das brennende Verlangen nach dem Abbild des Körpers. Oft nähern sich seine Hände dem Werk und betasten, ob es Fleisch oder jenes Elfenbein sei, und gesteht sich auch dann nicht ein, dass es Elfenbein ist. Er gibt ihm Küsse, glaubt, es erwidert die Küsse, redet und hält es fest und glaubt, dass die Finger an den berührten Gliedern sich eindrücken und fürchtet, ihr blaue Flecken durch das Drücken der Glieder zuzufügen.

Und bald fügt er Komplimente hinzu, bald bringt er ihm Geschenke, wie Mädchen sie mögen: Muscheln und abgeschliffene Steine, kleine Vögel, tausendfarbige Blumen und Lilien, angemalte Kügelchen und die Tränen, die vom Baum der Töchter des Helios getropft sind; er schmückt auch die Glieder mit Kleidern, steckt an die Finger Edelsteine, gibt dem Hals lange Ketten, vom Ohr hängen zierliche Perlen herab, von der Brust Halsketten. Dies alles steht ihr gut: doch sie erscheint auch nackt nicht weniger schön.

Er legt sie auf Decken, die in sidonischem Purpur gefärbt sind, nennt sie seine Genossin des Lagers und stützt den Nacken mit weichen Flaumfedern, als ob sie es fühle.

Der Festtag der Venus, der überall in Zypern groß gefeiert wird, war gekommen. Junge Kühe, die gekrümmten Hörner mit Gold überzogen, sanken zusammen, mit einem Schlag im weißen Nacken getroffenen. Weihrauch dampfte, als Pygmalion nach vollendetem Opfer am Altar stand und voller Furcht sagte:

„ Wenn ihr Götter alles zu geben vermögt, wünsche ich, dass meine Gattin (er wagte nicht die ‚Elfenbeinjungfrau’ zu sagen) meiner elfenbeinernen ähnlich ist.“

Die goldene Venus, die selbst an ihrem Fest anwesend war, fühlte, was jener mit seiner Bitte meint, und gab ein Zeichen ihrer freundschaftlichen Gesinnung; die Flamme loderte dreimal mit der Spitze in die Luft geführt auf.

Als Pygmalion zurückkam, sucht jener das Bildnis seines Mädchens auf und beugt sich über das Bett und gibt ihr Küsse: Sie schien zu erwärmen. Wiederum bewegte er den Mund zu ihr, mit den Händen betastete er auch ihre Brust:

Das betastete Elfenbein wird weich und verliert die Starrheit, fügt sich dem Druck der Finger und gibt nach, wie das hymettische Wachs durch die Sonne erweicht wird; und vom Daumen geknetet wird es in viele Gestalten geformt, und wird selbst erst durch den Gebrauch nützlich. Während der Liebende staunt, sich zweifelnd freut und fürchtet, sich zu täuschen, berührt er wieder und wieder seinen Wunsch mit der Hand: es war Leib! Die Adern, von den Daumen betastet, pochen.

Dann aber erhebt der Held aus Paphos die inhaltreichsten Worte, um Venus Dank zu erweisen, und endlich presst er seinen Mund auf ihren, der nun nicht mehr täuscht. Die Jungfrau spürt die ihr gegebenen Küsse und errötete; sie erhob die Augen schüchtern zum Licht und sah den Himmel zugleich mit dem Liebenden.

Der Ehe, die sie selbst gestiftet hat, ist die Göttin gewogen, und bald, nachdem sich die Sicheln des Mondes neunmal im vollem Kreis gerundet haben, hat jene die Paphos geboren, von der die Insel ihren Namen erhalten hat.

„Der Übergang der Geschichte der Propoetiden zu der des Pygmalion ist ein Werk von vollendeter Gedankenführung.“55 Die Töchter des Propoetus leugnen die Göttlichkeit der Venus, die sie daraufhin in Steine verwandelt. Pygmalions Schöpfungsakt ist dessen Gegenstück. Seine ‚Frau’ ist anfangs starr und erwacht später zum Leben. Die Pygmalion-Episode beginnt mit einer Alliteration „Quas quia“ (V. 243), die eine Inversion mit sich zieht. Mit dem relativen Anschluss will Ovid den direkten Bezug zu den Propoetiden ziehen. Pygmalion billigt deren zügelloses Verhalten nicht und wendet sich deshalb von den Frauen ab. Ovid begründet seine Abneigung durch die Fehler, welche die Natur dem weiblichen Verstand gegeben hat (V. 244/245: quae plurima menti femineae natura dedit). Für Pygmalion ist der Verstand der Frauen gefühllos und abschreckend. Der Schöpfer kann sich nic ht mit dem natürlichen Menschen anfreunden und schafft sich später einen künstlichen. Er hat aber nicht die Schönheit der Frauen vergessen. In seinem Unterbewusstsein hat er immer eine bestimmte Vorstellung vom Aussehen einer Frau. Bei der Schöpfung des Kunstwerkes verwirklicht er sein Bild. Hier wird schon bewusst gemacht, dass er sich nach einer Partnerin sehnt.

In den Versen 245 und 246 wird auf das gemeinsame Lager angespielt (thalamique diu consorte carebat). Die Sperrung durch diu verdeutlicht, dass er erst nach langer Zeit eine Partnerin, welche die Rolle der Lagergenossin einnehmen wird, findet. Pygmalion lebt ‚ehelos ohne Gemahlin’ und entbehrt das gemeinsame Lager. Ovid beschreibt seine Lebenssituation mit einer Synonymenhäufung (V.245: sine coniuge caelebas vivebat). Im Grunde hätte ein Ausdruck für den Junggesellen gereicht, aber so wird Pygmalions Härte und die Abneigung gegenüber der mens der Frauen durch unterschiedliche Ausdrücke verstärkt.

In der kurzen Einleitung wird keine Erklärung über Pygmalion als Person gegeben. Seine Einsamkeit wird in den Vordergrund gestellt, er lebt zurückgezogen und ohne Frau. Deshalb erschafft er sich eine Statue aus weißem Elfenbein. Ovid erwähnt auch nicht, womit Pygmalion die Figur erstellt und woher er das kostbare Material Elfenbein hat. Ovid beschränkt sich lediglich auf die Tatsache der Erschaffung, um bereits hier Pygmalions Sehnsucht nach Frauen zu unterstützen. Der Künstler hätte auch alles andere erstellen können, formt aber eine Frau von unübertrefflicher Schönheit.

Sein wunderbares Können wird durch feliciter (V.247) gesperrt, was sein Glück einerseits hervorhebt, andererseits aber auch eine glückende und zugleich wunderbare Kunst meinen kann. Ebur steht für das Werk und ist zu diesem Zeitpunkt noch unpersönlich.

Nach der Schöpfung des opus verliebt sich Pygmalion in die Statue. „Nasci“ (V. 248) drückt die allgemeine Geburt der Frauen aus. Aber drei Verse weiter folgt ein weiterer Passiv- Infinitiv (V.251: moveri), der ebenfalls am Versende steht. Es wird verdeutlicht, dass die Statue zu den lebenden Frauen gehört, die geboren werden und sich bewegen wollen. Hier greift Ovid bereits die Metamorphose voraus und demonstriert indirekt das Erwachen des Kunstwerkes zum Leben.

Von nun an ist die Figur für den Künstler eine vera virgo, die den Anschein erweckt, sie würde jetzt schon leben. (V.250: quam vivere credas). Die v-Alliteration verstärkt den Wunsch, der in Pygmalion entfacht ist. Mit dem Satz ‚ars adeo latet arte sua’ (V. 252) kommt die großartige Kunst noch mehr zum Vorschein als schon in Vers 247. Das Polyptoton von ars verstärkt die Schönheit der Statue. Das Verbergen steht im Mittelpunkt dieses kurzen, aber aussagekräftigen Satzes. Sie ist ein Kunstwerk, kann sich noch nicht bewegen und der Künstler verbirgt sein Verlangen zu ihr. Er ist erstaunt und seine Liebe wächst immer weiter. Die Metapher ignes (V. 253) verdeutlicht erneut sein Begierde; wobei auffallend ist, dass die ‚Liebe’ jeweils am Versende steht (V.249: concepit amorem; V.252: haurit...ignes).

Der Künstler betastet mit beiden Händen das Werk, seine Gefühle werden intensiver und er nimmt nicht mehr wahr, dass es noch Elfenbein ist. Die indirekte Frage, ob es Körper oder noch Elfenbein sei, und die Anapher an (V. 254/255) bringen diese Gefühle zum Ausdruck. Pygmalion verliert den Bezug zur Realität und verwechselt Kunst mit Leben. Er nimmt nichts mehr um sich herum wahr und lebt nur noch für seine Statue. Schließlich überkommen ihn seine Gefühle und er begehrt das opus wie ein lebendige s Mädchen. Für den Leser ist es aber immer noch eine Figur, unpersönlich und nur dann feminin, wenn Pygmalion es so empfindet. Die Küsse, die Erwiderungen, das Ansprechen, Umarmen und Festhalten zählt Ovid parallel und als Polysyndeton auf, da jede einzelne Annährung hintereinander ausgeführt wird und für Pygmalion viel bedeutet. So viel, dass er sogar scheinbare Erwiderung spürt (V. 256: reddique putat; V. 268/269: colla sensura). Das Hyperbaton (V.257: tactis...membris) drückt erneut die Anziehungskraft der Statue aus. Pygmalion greift nach ihr und stellt sich vor, er würde an ihr kleben, sie würde ihn nicht weglassen. Die m-Alliteration (V.257/258: membris et metuit) steht für seine Fürsorge. Der Schöpfer möchte nicht, dass der Elfenbeinstatue etwas passiert. Außerdem setzt Ovid zwei unterschiedliche Wörter für den Begriff ‚Glieder’ (V.257: membris; V.258: artus) ein. Beide stehen am Ende des Verses und verdeutlichen Pygmalions Vorstellungskraft. Eigentlich ist es immer noch ein Kunstwerk, für ihn aber bereits ein Mensch.

Danach macht er ihr Komplimente und beschenkt sie. Dies läuft wieder parallel ab und wird mit der Anapher modo (V. 259) verstärkt. Pygmalion hat nun komplett seine Abneigung gegen Frauen verloren und es ist festzustellen, dass er nicht vergessen hat, was puellae mögen. Ovid zählt die Geschenke mit dem Polysyndeton et/-que auf, um die Vielzahl zu verdeutlichen. Außerdem kommt ein Homoioteleuton hinzu; die Geschenke werden alle im Akkusativ Plural aufgereiht: Muscheln, Steinchen, Vögel, Blumen, Kügelchen und Bernsteine. Die Liebe lässt Pygmalion die Gaben verniedlichen. Ab arbore lapsas Heliadum lacrimas (V. 262/263) steht für Bernstein und ist somit eine Antonomasie. Dieser Ausdruck wird noch durch ein Hyperbaton unterstützt, so dass die Betonung auf Heliadum66 liegt. Erst nach den Geschenken wird das nackte opus beschmückt.

Ornat (V. 263) leitet die nächste Phase seiner Begierde ein. Die Handlungen geschehen wieder parallel, werden aber diesmal asyndetisch aufgezählt, um nicht jeden einzelnen Schmuck zu betonen, sondern die Gesamtheit, die das Werk ausstattet. Der Verliebte schmückt nun die Glieder (artus) und nicht mehr das Kunstwerk (ars). Pygmalion schmückt die Glieder, da er sich die Statue lebend wünscht. Es sind aber nur in seiner Vorstellung Körperteile und deshalb ist es eigentlich noch ein Kunstwerk. Anschließend zieht er das Fazit, dass die Statue aber auch nackt schön anzusehen ist, und verallgemeinert den Schmuck (V. 266: cuncta), um erneut ihre Schönheit hervorzuheben. Außerdem heißt es formosa und nicht nur pulchra: ihre Schönheit ist unübertrefflich. Danach zieht der Künstler die Figur auf das Lager, was eigentlich auch jetzt noch nicht das gemeinsame Lager genannt werden kann. Die Decken des Bettes sind purpurrot und bringen die zweite Farbe in die Geschichte, die gegen das schneeweiße Elfenbein hervorsticht. Rot ist die Farbe der Liebe und weiß steht für Unschuld. Hier steht weiß zusätzlich für die Reinheit und Jungfräulichkeit der Statue.

Zwischen den Versen 269 und 270 liegt eine Zäsur. Im ersten Abschnitt (V. 243-269) geht es um Pygmalion und sein Liebe zu der Elfenbeinstatue. Er macht eine Wandlung mit: nach der Abneigung zu Frauen ist er jetzt von tiefer Liebe zu seinem Werk ergriffen. Der zweite Abschnitt (V. 270-297) bezieht sich auf „das Eingreifen der Venus“. 77

Am Festtag der Venus feiert ganz Zypern ihre „Mutter“. Celeberrima (V. 270) drückt die Bedeutsamkeit der Göttin für die Inselbewohner aus. Die Göttin bringt nun aurum (V.271, V.277), die dritte Farbe in die Erzählung ein. Venus (Aphrodite) ist die griechische Göttin der Liebe und Schönheit. Die Griechen glaubten, dass die unsterblichen Götter alle Naturerscheinungen beherrschten, und dass demzufolge ihr Leben ganz und gar vom Wohlwollen der Götter abhing. Somit wurden zu ihren Ehren Feste gefeiert, Gebete gesprochen und Opfer dargebracht. Auf Zypern war Venus die Schutzgöttin. Es werden junge Kühe mit weißen Flecken geopfert (V. 272: ictae nivea cervice iuvencae). Die weißen Flecken im Nacken stehen auch hier für die Unschuld der Tiere.

Voller Ehrfurcht wünscht sich Pygmalion von der Göttin das Erwachen seiner Statue. Er traut sich aber nicht „eburnea virgo“ (V. 275) auszusprechen, sondern sagt, sie soll seiner Statue ähnlich sein. Der Einschub von Ovid verdeutlicht sofort sein Zögern. Eburnea ist eine Metonymie für das Werk, welches für Pygmalion, wie hier erneut deutlich wird, weiblich ist, bevor es überhaupt lebt. Das Possessivpronomen mea klärt die Besitzverhältnisse. Die Statue gehört ihm, er lässt sich sie von keinem wegnehmen. Die beiden Wörter virgo und eburnea stehen jeweils am Ende der Verse 275 und 276; dadurch wird dem Leser sofort bewusst, was für den Liebenden wichtig ist. Pygmalion spricht in seiner Bitte nicht nur Venus, die Schutzgöttin der Insel, sondern alle Götter an (V.274: si di dare cuncta potestis)88. Die d- Alliteration und cuncta drücken die Allmächtigkeit der Götter aus. Venus ist an ihrem Ehrenfest anwesend und erhört den Wunsch. Sie gibt ihm ein positives omen: die Flamme entfacht drei Mal, welches Ovid mit der dreifachen Alliteration verdeutlicht (V. 279: ter accensa est apicemque per aera). Pygmalions Reaktion darauf wird nicht erwähnt. Man kann sein Erstaunen aber aus den vielen a-Lauten herauslesen.

Danach kehrt er heim und eilt zu der Statue. Sein Verlangen ist nun nicht mehr zu bremsen, was durch das Trikolon „rediit-petit-dedit“ (V. 280/281) zum Ausdruck kommt. „Simulacra suae petit ille puellae“ (V. 280) stellt mit der s- und p-Alliterationen bereits jetzt schon die Wandlung dar. Zuerst ist es ein Bildnis und dann ein Mädchen.

Durch Pygmalions oscula (V. 281) erwärmt sie. Er küsst sie erneut und umarmt sie. Diesmal sind ihre Erwiderungen kein Trugbild mehr. Nun betastet er sie nicht mehr zaghaft, sondern voller Erwartung. In dem folgenden Abschnitt fügt Ovid dreimal Formen von temptare ein (V. 282, 283, 289). Diese betonen, dass das Verlangen immer noch größer wird und er durch das Fühlen seine Zweifel aus dem Weg räumen möchte. Besonders das Polyptoton (V. 282/283: tempat: temptatum) bringt dies zum Ausdruck.

Das Erwachen des Elfenbeins gibt Ovid in einem Trikolon wieder: mollescit- subsidit- cedit (V.283/284). Es beginnt weich zu werden, sich drücken zu lassen und schließlich zu weichen. Außerdem vergleicht er den Vorgang mit dem Schmelzen des Bienenwachs; ein Bild, das wir aus der Erzählung von Daedalus und Ikarus99 bereits kennen. Der Ablativus absolutus (V. 285: tractata pollice) zieht eine Verbindung zu der Erschaffung des Werkes; Pygmalion bearbeitet sein Werk erneut. Die Paronomasie von utilis usu (V. 286) steht für den Gebrauch eines Gegenstandes, keines wirklichen Menschen: das Elfenbein wird erst durch den Gebrauch selbst nützlich. Der Künstler zweifelt, ob er es sich doch wieder nur vorstellt. Seine Unsicherheit wird durch einen weiteres Trikolon (V. 287: stupet et gaudet -que veretur) unterstützt. Dann überkommen ihn erneut seine Gefühle und er prüft immer wieder, ob sie wirklich erwacht ist. Die Anapher rursus (V. 288) betont seinen Wunsch. Pygmalions Staunen untermalt Ovid mit vielen a-Lauten, die Unsicherheit durch die u-Laute.

Ab Vers 289 lebt die Jungfrau endgültig, ihr Körper ist vollends erwacht (corpus erat). Das Imperfekt drückt das eigentliche Ende der Metamorphose aus. Ovid fügt aber noch weitere Ausformungen ihres Wandels hinzu.

Mit Vers 290 beginnt der Epilog dieser Erzählung, indem der Künstler Venus dankt und sie ihn erneut beschenkt. „Paphius heros“ (V. 290) greift das Ende der Geschichte bereits auf. Pygmalion wird als Held von Paphos dargestellt. Da die Insel aber erst am Ende ihren Namen bekommt, hat Ovid hier einen Anachronismus eingefügt. Der Superlativ plenissima (V. 290) verdeutlicht den überaus glücklichen und dankbaren Künstler, der sich als erstes bei Venus bedankt. Das Polyptoton oraque tandem ore (V. 291/292) steht für den ersten Kuss, den die Jungfrau wirklich spürt. Ihre erste Reaktion ist das Erröten, sie ist nun Mensch und nicht mehr bloß ebur. Die rote Farbe hat sich also in der Erzählung gegenüber dem Weiß durchgesetzt. Es fließt nun Blut in ihren Adern. Als sie die Augen öffnet, sieht sie den Himmel und Pygmalion. Der Himmel steht für den Bezug zu der Göttin und somit erblickt sie zuerst ihre beiden Schöpfer. Zudem ist „ad lumina lumen“ (V. 293) ein Polyptoton und lumen ist hier Synonym für oculi. Jetzt lebt sie!

Danach folgt ein kleiner Einschnitt, indem man sich denken kann, wie die vorher ausführlich beschriebene Begierde des Liebenden fortgesetzt wird. Ovid nennt nur das Stichwort coniugium (V. 295) und bezieht sich wieder auf die Göttin Venus, die, wie an ihrem Festtag, beim Zeugungsakt anwesend ist. Neun Monate später gebärt die virgo ihre Tochter Paphos. Der zeitliche Ablauf der Schwangerschaft wird durch die c-Alliteration verstärkt (V. 294/295: coniugio, coactis cornibus) und orbem schließt den Kreislauf. Ovid bezeichnet die Mutter der Paphos geschickt mit illa (V. 297); dadurch ist die Jungfrau, aber auch Venus gemeint. Schließlich ist Venus die eigentliche Mutter des Kindes, das der heutigen Stadt Paphos den Namen gegeben hat. Paphos war die Hauptstadt Zyperns, bis sie um 100 v. Chr. durch ein Erdbeben zerstört wurde.

Abschließend ist hinzuzufügen, dass Ovid bei seiner Erzählung viel Wert auf die Verben legt und sie deshalb häufig in die Mitte oder an den Anfang der Verse stellt. Zur Bewahrung der Abwechslung und zur Charakterisierung verwendet er für die beiden Personen dieser Episode immer neue Namen. Pygmalion ist der Schöpfer, aber auch amans und schließlich heros. Ovid bezeichnet besonders die Elfenbeinjungfrau variabel: niveum ebur, opus, ars, simulatum corporis, tori socia - eburnea virgo, puella, corpus, virgo. Alleine die Entwicklung dieser Bezeichnungen stellt schon die Verwandlung der Figur in eine Frau dar. Aber auch die Wandlung Pygmalions ist zu erahnen; schließlich verliert er seine Abneigung gegen Frauen und wird ein Held, der mit seiner Begierde und Liebe Erotik verkörpert. Die Besonderheit dieser Metamorphose ist also die doppelte Verwandlung: aus einem verletzten und abweisenden Mann, der kühl wie Stein erscheint, wird ein leidenschaftlicher Liebhaber und aus seiner Statue erwacht eine schüchterne Jungfrau.

Pygmalion umgeht durch die Erschaffung eines weiblichen Kunstwerkes seinem Problem. Eine Figur besitzt keine mens, also weder Verstand noch Herz. Sie kann nicht auf andere reagieren, Ansprüche stellen oder Widersprüche geben. Sie muss sich mit dem zufrieden geben, was der Künstler ihr gibt bzw. erlaubt. Er macht ihr Komplimente, beschenkt und begehrt sie. Trotzdem erfährt der Leser nicht, welche Rechte die Jungfrau bekommt. Wahrscheinlich wird sie immer eine Marionette sein, weil sie keine Möglichkeit hat ihre Fäden durchzuschneiden. Ihr fehlt der Verstand. Ob sie diesen später bekommt, wird in der Pygmalion-Episode nicht gesagt.

Die ganze Geschichte steht bei Ovid von Anfang an im Gegensatz zu der vorherigen Geschichte der Propoetiden. Dort werden aus Menschen Steine und bei Pygmalion wird aus Elfenbein ein Mensch. Die Propoetiden sind schamlos, der Künstler voller Ehrfurcht vor der Göttin, die in diesen zwei Erzählungen die entscheidende Rolle spielt und durch die Farbe ‚Gold’ noch mehr hervorgehoben wird. Beide Verwandlungen gehen von ihrem Wohlwollen aus. Dort ist sie wütend, hier hilft sie. Dabei kann man feststellen, wie wichtig die Götter sind. Sie entscheiden über alles. Durch diese Erzählungen wird ihre Macht demonstriert.

Heute wird immer mehr geglaubt, dass die Götter unser Leben nicht beeinflussen können. Trotzdem hat dieser Mythos eine aktuelle Aussage. Jeder hat eine Idealvorstellung vom Menschen, sei es weiblich oder männlich. Wenn man sich seinen Partner sucht, achtet jeder, ob er nun will oder nicht, auf das äußere Erscheinen eines Menschen und erst danach auf sein Inneres. Auch Pygmalion hatte die Schönheit einer Frau, wahrscheinlich die Schönheit der Aphrodite, die für ihn die wichtigste Person ist, im Kopf. Für ihn zählen die inneren Werte bei der Schöpfung des Werkes nicht. Er lehnt lebende Frauen ab. Das ist aber nur eine Flucht, denn auch er kann sich nicht von dem weiblichen Geschlecht zurückziehen. Es sind die natürlichen Gefühle und Empfindungen, die ein jeder Mensch hat, und die ihn schließlich auch wieder in einen liebenden Mann verwandeln. Der Künstler hat seine Bedürfnisse nach Liebe und Zuneigung versucht zu überspielen, aber schon als er anfängt eine Frauengestalt zu schnitzen, kommt seine Sehnsucht zum Vorschein. Eine Frau ist für ihn kostbar, ansonsten hätte er nicht das edle und teure Material Elfenbein verwendet. Nach der Schöpfung verhält er sich wie jeder andere verliebte Mann. Er versucht der Elfenbeinjungfrau zu imponieren und ihr zu gefallen. Er macht ihr Komplimente und beschenkt sie. Im Grunde wünscht sich jede Frau einen so netten und hilfsbereiten Mann. Somit ist nicht nur die Elfenbeinstatue ein Muster für die Schönheit der Frau, sondern auch der verliebte Schöpfer. So einen vollkommenen Mann braucht die Frauenwelt. Aber das ist natürlich im wahren Leben nicht möglich. Außerdem erfährt der Leser auch nicht , wie Pygmalion sich später zu ihr verhält. Behandelt er sie immer noch so freundlich oder muss auch sie sich ihm unterordnen? Es kann auch durchaus sein, dass die Jungfrau sich nicht über seine Geschenke freut oder sich davon erdrückt fühlt. So bleibt für die Frau, die durch die Geburt der Tochter bereits noch mehr Mensch geworden ist, zu hoffen, dass sie nach der Hochzeit als normaler Mensch und nicht wie eine Marionette leben kann.

III. Rezeptionsbeispiel

Eine der bekanntesten Variationen des antiken Mythos ist die Komödie „Pygmalion“ von George Bernard Shaw. 1913 wurde das Theaterstück am Wiener Burgtheater zum ersten Mal aufgeführt und entwickelte sich zu Shaws populärsten Werk. „Shaws Pygmalion ist der Phonetik-Wissenschaftler Henry Higgins“1010, dessen Interesse an den Menschen nur in ihrer Art zu Reden besteht. Diese Komödie bildete die Textgrundlage für Frederick Loewes und Alan Jay Lerners Musical „My fair Lady“1111.

Allerdings gab Shaw die Komödie zu seinen Lebzeiten nicht zur Vertonung frei. Erst nach langen Verhandlungen mit den Erben konnte das Werk realisiert werden. Der Ablauf ist nur wenig verändert worden. Es blieb die Idee erhalten, dass Professor Higgins sich eine Frau nach seinem Bild schafft und sich unsterblich in dieses Geschöpf verliebt. Der Witz dieses Musicals liegt in der englischen Hochsprache, die jeder Amerikaner komisch findet, weil sie in seinen Ohren gestelzt klingt.

Sprachwissenschaftler Higgins kann an der Aussprache der Menschen genau erkennen, in welchem Stadtteil Londons sie wohnen. Auf dem Markt in Covent Garden entdeckt er das vorlaute Blumenmädchen Eliza Doolittle. Er wettet mit Oberst Pickering, dass er ihre Aussprache und Manieren so weit kultivieren kann, dass man sie als ‚Herzogin’ anerkennt. Eliza verkauft er die Wette als Experiment und kann sie überreden daran teilzunehmen, weil sie davon träumt, als feine Lady in einem Blumengeschäft zu arbeiten. Der Unterricht beginnt: nachplappern, schauspielern und verkleiden. Zuerst macht Eliza nur langsam Fortschritte und bringt Higgins damit an den Rand des Wahnsinns. Beim Pferderennen in Ascot hat sie ihre erste Bewährungsprobe. Higgins genießt die Komplimente, die man ihr macht. Die Avancen des jungen Freddy Eynsford-Hill stören ihn nicht. Der Professor will sein Kunstprodukt so glänzend wie möglich verkaufen. Eliza soll lediglich der Beweis seiner Unschlagbarkeit als Sprachforscher sein. Beim weiteren Üben verliebt er sich in sie, behandelt sie aber immer noch als Objekt seiner Wette. Obwohl Eliza als Herzogin auf dem Diplomatenball anerkannt wird und Higgins seine Wette gewonnen hat, ändert sich daran nichts. Eliza wirft ihm die Kleider vor die Füße und befreit sich von ihrem Lehrmeister, der sie diskriminiert. Er versteht ihren Ausbruch nicht, merkt nicht, dass das Schicksal eines Menschen auf dem Spiel stand. Erst Tage später kommt er zur Besinnung: Higgins vermisst Eliza. Er setzt sich vor den Sprechapparat, an dem sie so mühevoll geübt hat, und lauscht ihrer Stimme. Da kommt die ‚Fair Lady’ dazu. Trotz seiner Sehnsucht hat Higgins nicht den Charakter des verwöhnten Muttersöhnchens abgelegt und schreit sie an: ‚Wo zum Teufel sind meine Hausschuhe?!’ Eliza verlässt ihn nun endgültig und ist die eigentliche Gewinnerin des Experiments. Sie kann für sich selbst sorgen, wird anerkannt und zieht zu Freddy. Der Komponist Loewe und der Texter Lerner haben aus Shaws Komödie eine liebevolle Erzählung männlicher Überheblichkeit gemacht. Die Hauptrollen Higgins und Eliza bekommen musikalischen Charakter. Higgins Lieder sind von kühlem, intellektuellem Charme und Elizas Songs haben einen emotionalen Klang. Der Premiere am Broadway vom 15. März 1956 folgten mehrere tausend Aufführungen. Heute ist das Musical weltweit ein Evergreen, bekam 1957 fünf Tony Awards und wird immer noch aufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung war am 25. Oktober 1961 in Berlin im Theater des Westens. 1964 folgte der Film mit Rex Harrison und Audrey Hepburn. Er wurde das Hollywood- Geschäft des Jahrzehnts und erhielt acht Oscars.

IV. Vergleich: Ovid- My fair lady

Was nun hat das Musical mit der Metamorphose des Pygmalion zu tun hat? Im Mythos schaffte sich der Schöpfer eine Frauengestalt nach seiner Idealvorstellung. In der Komödie schafft sich der Schöpfer durch Sprachwissenschaft einen äußerlichen Charakter, ebenfalls nach seinen eigenen Interessen. Die Puppe wächst jedoch über ihren Schöpfer hinaus. „In England ist man gesellschaftlich das, was und wie man spricht.“1212 Die Sprache spiegelt die gesellschaftliche Stellung wider und „My fair Lady“ lebt von dem Wortwitz und der Schlagkraft der Dialoge. Heute sehen einige Sprachwissenschaftler in der Sprache ein Instrument, über das der Mensch frei verfügen kann. Andere Wissenschaftler sagen, dass die Sprache die Wahrnehmung und das Weltbild des Sprechenden bestimmt und somit auch das menschliche Denken und Handeln. Es stellt sich also die Frage, ob wir die Sprache beherrschen oder sie uns. Bei Eliza, die gesellschaftlich aufsteigt, bestimmt die Sprache ihr Umfeld. Man kann also durchaus sagen, dass nicht nur Kleider, sondern auch der Sprachgebrauch Leute machen. Außerdem ist festzustellen, dass Elizas Entwicklung und ihr sozialer Aufstieg die Metamorphose darstellt. Schließlich war sie anfangs in ihrer „ungehobelten“ Art wie eine Statue, am Ende ist sie eine Dame von Welt.

Die Erschaffung eines Menschen, ob es nun die Gestalt wie bei Ovid oder die Sprache wie im Musical ist, ist heutzutage auf Grund der Gentechnik wieder aktuell. Die Wissenschaft verändert vererbbare Eigenschaften eines Lebewesens. Das Schaf Dolly ist dafür das bekannteste Beispiel. Die fortschreitenden Entwicklungen der Gentechnik helfen uns, so dass wir eines Tages einen Menschen klonen können. Der Künstler Pygmalion hat schon einen Menschen erschaffen, der durch die Hilfe der Venus zum Leben erwacht ist. Im Musical verändert Higgins Elizas ‚Gossenslang’ in den Sprachgebrauch einer feinen Dame. Sie wird dadurch neu geboren und somit auch ihre vererbte Sprache verändert.

Die Geschichte Pygmalions zeigt uns das allgemeine Problem der Menschen, die zu oberflächlich mit ihren Mitmenschen umgehen. Man urteilt nach dem Aussehen und der Sprache, erst danach über den Charakter. Jeder hat den Traum eines idealen Menschen.

Pygmalion und Higgins haben lediglich versucht, ihre Träume zu verwirklichen. Beide haben dies erreic ht, aber sie zeigen uns auch, wie schwer es ist, und wie unglücklich es enden kann. Man sollte sich also immer vor Augen halten, seine Mitmenschen nicht an den eigenen Idealbildern zu messen, denn kein Mensch ist vollkommen.

Außerdem beziehen sich der Mythos und auch das Musical „My fair Lady“ auf die Beziehung zwischen Männer und Frauen. Zur Zeit des Pygmalion, aber auch zur Zeit Shaws, waren Frauen den Männern untergeordnet. Die Elfenbeinjungfrau muss wahrscheinlich immer auf ihren Schöpfer gehört haben, da er sie schon in seiner Bitte mit dem Possessivpronomen mea sich zugeschrieben hat und dadurch Besitz ergreifend wirkt. Sie hat keinen Verstand und keine Rechte. Selbstständiges Denken ist ausgeschlossen. Eliza, die im Musical die Rolle der Elfenbeinjungfrau übernimmt, darf auch nicht selbstständig denken. Das Experiment erlaubt nur nachsprechen. Am Schluss bekommt sie aber ihre Rechte zurück. Sie ist frei, hat ihren Traum erfüllt und ist von Freddy, der sie von Anfang an als eigene Persönlichkeit anerkennt, geliebt. Higgins, der im Musical die Rolle des Pygmalion darstellt, ist traurig und deprimiert. Shaw hat sich mit der Weiterführung der Geschichte eine Entwicklung der ‚erwachten Statue’ gedacht. Eliza ist für ihn die Heldin, nicht ihr Schöpfer. Eliza, als Elfenbeinstatue, hätte ihren Verstand bekommen und die Fäden der Marionette durchtrennt. Im Mythos ist es durchaus anzunehmen, dass sich die Entwicklung der Jungfrau weiter fortsetzt. In welchem Ausmaß erklärt Ovid aber nicht. Shaws Lösung ist nur eine Antwort unter vielen, die aber in unsere Zeit gut hineinpasst. Elizas Befreiung soll ein Symbol für alle Frauen sein, die von ihren Männern unterdrückt werden. Frauen haben Rechte und können für sich selbst sorgen, dafür brauchen sie keine Männer, die ihnen alles ‚vorkauen’.

Abschließend bleibt nur noch zu sagen, dass Frauen und Männer in ihrer Art, ihrem Verhalten, ihrem Charakter verschieden sind. Man sollte die Fehler anderer Menschen akzeptieren, denn jeder hat seine Vor- und Nachteile. Gerade diese machen uns Menschen doch erst menschlich!

Literaturverzeichnis

Ovidius Naso, Publius: Metamorphosen. Übersetzung von Erich Rösch, Einführung von Niklas Holzberg und Register von Gerhard Fink. München 1997, Deutscher Taschenbuch Verlag. Zürich und München 1988, Artemis Verlag

Bömer, Franz: P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Buch X-XI. Kommentar von Bömer. Heidelberg1980, Carl Winter-Universitätsverlag

Döpp, Sigmar: Werke Ovids. München 1992, Deutscher Taschenbuch Verlag

Mander, Gertrud: George Bernard Shaw. Hannover 1969, 2 Aufl. Velber: Friedrich (Friedrichs Dramatiker des Welttheaters; 10). Hannover 1965, 1. Aufl. Velber

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des Klassischen Altertums. Wien 1955, Kremayr & Scheriau Verlag. München, Südwest Verlag

Walter, Hermann und Horn, Hans-Jürgen: Die Rezeption der Metamorphosen des Ovid in der Neuzeit: Der Antike Mythos in Text und Bild; internationales Symposion der Werner Reimers-Stiftung, Bad Homburg v.d.H. (22. bis 25. April 1991). Berlin 1995, Gebr. Mann Verlag

Hendel, Rainer: Pygmalion, Das Motiv der Liebe zur Puppe in Texten von Goethe bis Lem. Der Altsprachliche Unterricht, 1/83. Februar 1983, 1/83 Klett

Denise Niggemann, Habichtsweg 11, 34439 Willebadessen (geb. 19.08.1982) Jahrgangsstufe 11, Gymnasium St. Kaspar, Bad Driburg-Neuenheerse

[...]


11 Es ist nicht ganz eindeutig, ob Apollo oder der Thrakerkönig Oeagrius sein Vater war

22 Cyparissus: Liebling des Apollon (Met. X 106ff.)

33 Zur Interpretation Pygmalion vgl.: Franz Bömer, Buch X-XI, Kommentar zu Pygmalion, Heidelberg 1980, S. 93ff.; Hans-Jürgen Horn, Rezeption der Metamorphosen, Die Tetrasticha des Johannes Posthius, Berlin 1995, S.219-221; Siegmar Döpp, Werke Ovids. Eine Einführung, München 1992, S. 131-142.

44 Zitiert aus: Rainer Hendel: Pygmalion, Februar 1983; Der Altsprachliche Unterricht 1/83, S.57.

55 Bömer, Buch X-XI, S.93.

6 Heliaden: Töchter des Sonnengottes und der Clymene. Sie wurden bei der Klage um ihren Bruder Chaeton in Pappeln verwandelt und ihre Tränen erstarrten zu Bernstein (Ovid, Met. II 340ff.)

77 Döpp, Werke Ovids, S.137

88 vgl. Met.I, V.1ff.: Ovid erklärt die Macht der gesamten Gottheit bereits zu Beginn seiner Metamorphosen.

99 Met. VIII 195ff.

1010 Döpp, Werke Ovids, S. 131.

1111 Zu dem Musical „My fair Lady“: http://vip. fh-lueneburg.de/u1/theatre/stuecke/lady.htm, (Inhaltsangaben, Theaterkritiken, http://www.dingolfing.de/stadthalle/programm/lady.html, Veranstaltungsdaten, Personen: http://www.omm.de/veranstaltungen/musiktheater/DO-my-fair- lady.html, Ausdrücke vom 24.02.2000, einige http://www.omm.de/veranstaltungen/musiktheater/BN-my-fair-lady.html Seiten nicht mehr auffindbar.) http://www.staatstheater-wiesbaden.de/repertoire/pygmalion.html.

1212 Gertrud Mander, George Bernard Shaw, Hannover 1969, S.90.

Final del extracto de 15 páginas

Detalles

Título
Pygmalion - Der Künstler und sein Werk
Autor
Año
2000
Páginas
15
No. de catálogo
V104076
ISBN (Ebook)
9783640024469
Tamaño de fichero
369 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Pygmalion, Künstler, Werk
Citar trabajo
Denise Niggemann. (Autor), 2000, Pygmalion - Der Künstler und sein Werk, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104076

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