Geschlechterspezifische Gewalt und Femizid


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2021

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

THEMA 1: GESCHLECHTERSPEZIFISCHE GEWALT
Fragestellung:
Lösung:
I. Begriffsbestimmungen
1. Gewalt
2. Geschlechtsspezifische Gewalt
3. Sozialisation
4. geschlechtsspezifische Sozialisation
5. Heteronormativität / binäres Geschlechtsmodell
II. Unterscheidung der erfahrenen Gewalt
1. Gewalt gegen Jungen / Männer
a) in der Familie
b) in der Schule / Peergroup / beim Sport
c) in der Kirche
2. Gewalt gegen Mädchen / Frauen
a) in der Familie
b) im sozialen Nahbereich
3. Gewalt gegen divers
III. Einfluss auf die geschlechtsspezifische Sozialisation

THEMA 2: FEMIZID
Fragestellung:
Lösung:
I. Hintergrund.
1. Allgemein
2. Ländervergleich
a) United Kingdom
b) Italien
c) Spanien
d) Frankreich
e) Deutschland
f) weltweit
3. Instrumente zur Bekämpfung von Frauenmorden
4. Das Urteil des BGH vom 29.10.2008 - 2 StR 349/08
a) Rechtsprechung bis zum Urteil
b) Nach dem BGH-Urteil
c) der Beschluss des BGH vom 07.05.2019 - 1 StR 150/19
aa) zum Sachverhalt
bb) Ansicht des LG München 1
cc) Ansicht BGH vom 07.05.2019- 1 StR 150/19
dd) Ansicht Grünewald
II. vertretene Ansichten
1. Ansicht Steinl
2. Ansicht Wolff
3. Ansicht Winkelmeier-Becker
4. Ansicht Fechner

LITERATURVERZEICHNIS

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Thema 1: Geschlechterspezifische Gewalt

Fragestellung:

Geschlechtsspezifische Gewalt ist die Gewalt gegen Menschen aufgrund ihrer Ge­schlechtszugehörigkeit.

Inwieweit unterscheidet sich die erfahrene Gewalt und welchen Einfluss hat sie auf geschlechtsspezifische Sozialisation?

Lösung:

I. Begriffsbestimmungen

1. Gewalt

Holst stellt zutreffend fest, dass es keine einfache klare Definition von Gewalt gibt,1 dennje nach Gewaltbegriff werden unterschiedliche Phänomene beleuchtet.2 Überdies lassen sich auch in zahlreichen Literaturquellen mitunter (partiell) widersprüchliche Definitionen finden. Ein weitgehender Konsens des allgemeinen Gewaltbegriffs lässt sichjedoch in den beiden Ausprägungsformen der „vis absoluta“ (der absoluten Gewalt) und der „vis compulsiva“ (der zwingenden Gewalt) fassen.3

Die vis absoluta umschreibt dabei die willensausschließende (und nicht bloß die willens­beugende) Gewalt, so dass ihre Anwendung die Willensbildung (also die Willensent-schließung oder die Willensbetätigung) bei dem Opfer unmöglich macht.4 Dagegen ist die vis compulsiva die willensbeugende Gewalt, alsojene, die den Willensentschluss zwar beeinflusst, aber nicht gänzlich ausschließt.5

2. Geschlechtsspezifische Gewalt

Die Vereinten Nationen definieren die geschlechtsspezifische Gewalt als “Gewalt, die in der Privatsphäre im Allgemeinen zwischen Personen geschieht, die durch intime, ver­wandtschaftliche oder gesetzliche Beziehungen miteinander verbunden sind“6 und sich durch bzw. aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit ergibt.

3. Sozialisation

Der Begriff der Sozialisation umfasst zum einen alle intendierten oder beiläufigen Pro­zesse, in denen ein Individuum mit den Werten und Normen einer Gesellschaft vertraut gemacht und befähigt wird, als auch zum anderen, die gemeinschaftliche Interaktion mit konkreten Anderen nach den Regeln einer gegebenen Gesellschaft.7 Es sind also Lern­prozesse, in dem das konkrete Individuum „ein inneres Modell der sozialen Realität men­tal reproduziert und sein Handeln an diesem Modell orientiert, [... es ferner] ein Verhal­ten beobachtet, es mental verarbeitet und im Anschluss nachahmt.“8

4. geschlechtsspezifische Sozialisation

Bei der geschlechtsspezifischen Sozialisation handelt es sich umjenen Prozess, „in des­sen Verlauf das biologisch und zuschreibungsmäßig männliche oder weibliche Indivi­duum durch soziale Beeinflussung auch persönlichkeitsbezogen männlich oder weiblich im Sinne der es umgebenen Gesellschaft entwickelt wird.“9

5. Heteronormativität / binäres Geschlechtsmodell

Die Geschlechterordnung beschreibt den Teil der sozialen Ordnung, in der sich die ge­sellschaftliche Zuordnung nach der Geschlechtlichkeit bestimmt.10 Die Heteronormativi­tät bezeichnet somit die Weltanschauung, in der die heterosexuelle Orientierung die all­gemeine soziale Norm darstellt.11 Folglich geht das heteronormative oder binäre Ge­schlechtsmodell von einer dualen Einteilung der Geschlechter in Mann und Frau aus, ver­bunden mit der heterosexuellen Entwicklung und Orientierung als der „normalen Verhal­tensweise“.

II. Unterscheidung der erfahrenen Gewalt

Männer und Frauen erleben sowohl unterschiedliche Ausprägungen in ihrer Sozialisation als auch (damit zusammenhängend) unterschiedliche Gewalterfahrungen. Auch wenn sie in derselben Familie, derselben Gruppe, demselben Kulturkreis aufwachsen und soziali­siert werden bzw. wurden, so können ihre individuellen Gewalterlebnisse komplett ver­schieden sein.

Das hat auch mit dem tradierten Gesellschaftsbild zu tun, bei dem Männer eher aktiv (als Täter), wehrhaft und tapfer sein sollen - Frauen dagegen eher passiv, ausgleichend, ver­mittelnd und mithin auch eher und grundsätzlich in die Rolle des Opfers gedrängt wer­den.12

1. Gewalt gegen Jungen / Männer

Wenn Männer von Gewalt betroffen sind, dann besonders häufig in ihrer Kindheit bzw. in ihrer Jugend.13 So berichten Walter/Lenz/Puchert, dass über 70 % der befragten Män­ner bereits mit Ohrfeigen in ihrer Kindheit erzogen wurden und „über 60 % gaben [... in einer anderen Studie] an, ,geschlagen, geohrfeigt, getreten oder verhauen‘ worden zu sein.“14 Weit überwiegend fand und findet diese Form der Gewalt im häuslichen Bereich statt. Diese Studien sind zwar schon etwas älter, denn durch das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltes15 vom 02.11.2000 wurde durch § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB den Kindern ein Recht auf eine gewaltfreie Erzie­hung eingeräumt. Dabei sind körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und an­dere entwürdigende Maßnahmen unzulässig, § 1631 Abs. 1 S. 2 BGB. Das Ziel dieser neu eingeführten Normen ist es auf eine Bewusstseinsveränderung bei den Erziehungs­berechtigten (§§ 1626, 1629 BGB) einzuwirken.16 Verboten sollen dabei nur all die Arten der Sanktionen sein, bei der eine körperliche Einwirkung als eine Form der Sanktion für ein individuelles Fehlverhalten des Kindes diene.17 Die Ermahnung, der Verweis, der Ta­schengeldentzug oder auch das Ausgehverbot werden (weiterhin) als zulässige Erzie­hungsmittel anerkannt.18 Ob und inwiefern sich die Gewalt gegen Jungen bzw. junge Männer bereits geändert hat, werden aber erst die nächsten großangelegten Studien zei­gen. Belastbares Material dazu existiert bisher leider noch nicht. Einige Forschungser­gebnisse legen allerdings die Vermutung nahe, dass „Jungen noch seltener als Mädchen Hilfe bei Fachkräften suchen oder von Angehörigen in Beratungsstellen gebracht wer­den“19, was eine recht große Dunkelziffer erahnen lässt.

a) in der Familie

Jungen bzw.junge Männer erleben ihre ersten Gewalterfahrungen (wie oben dargestellt) häufig in der (eigenen) Familie als der ersten Sozialisationsstufe, da vielfach weiterhin die Annahme bestehe, Gewalt sei ein taugliches Mittel, um in dem Verhältnis zwischen Erziehungsberechtigtem und dem Kind einen Erziehungserfolg zu bewirken. Oder zu­mindest sei der Erziehungserfolg durch die Anwendung von Gewalt größer als ohne. Auch stellt ein Klaps auf den Po oder eine leichte Ohrfeige tatbestandlich noch keine Körperverletzung iSd §§ 223 ff StGB dar und wird teilweise von den Gerichten auch als taugliches Erziehungsmittel angesehen. Natürlich im Rahmen des gesetzlich zulässigen und mit Blick auf eine Änderung der bestehenden Rechtsprechung. Die gerichtlichen Maßnahmen zum Schutz des Kindes sind in den §§ 1666, 1666a BGB geregelt. Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind, § 1666 Abs. 1 BGB.20 Davon sind aber überwiegend nur schwere Fälle umfasst, in denen die Eltern ihre (kleinen) Kinder vernachlässigt und misshandelt und dadurch dann auch getötet hatten (bspw. im Fall von Jessica aus Hamburg21, Kevin aus Bremen22 oder Lea-Sophie aus Schwerin). Eine Anwendung dieser Rechtsprechung auf einen „Po- Klaps“ oder eine/einige Ohrfeigen soll aber gerade nicht erfolgen.

Studien belegen ferner, dass mit zunehmendem Alter die körperliche Gewalt an Jungen abnimmt und durch psychische Gewalt in Form von „anschreien oder niederbrüllen“ sub­stituiert wird.23 Erstaunlich ist immer noch, dass teilweise sogar „massive physische Ge­walt von manchen Männern als Teil der ,normalen Erziehung‘, als [angemessene und/oder gerechtfertigte] ,Bestrafung‘, als ,Abreibung‘ oder [lediglich] als ,strenge Er- ziehungsmaßnahme‘ bezeichnet“24 verstanden und ausgeübt wird.

Auch die „Vernachlässigung eines Kindes“ ist eine Form einer Gewaltanwendung an ei­nem Kind. Motzkau versteht unter der Vernachlässigung die „andauernde oder wieder­holte Unterlassung fürsorglichen Handelns durch sorgeverantwortliche Personen [...], welches zur Sicherstellung der seelischen und körperlichen Versorgung eines Kindes not­wendig wäre.“25 Unter körperlicher Vernachlässigung wird die „nicht hinreichende Ver­sorgung der Gesundheitsfürsorge [verstanden], die zu massiven Gedeih- und Entwick­lungsstörungen führen kann (bis hin zum psychosozialen Minderwuchs).“26 27 Ebenfalls als Gewalt zählt die emotionale Vernachlässigung27 eines Kindes.

b) in der Schule / Peergroup / beim Sport

Eine weitere Sozialisationsstufe bei der Entwicklung eines Kindes ist die Peergroup, die Schule oder der Sport. Auch hier erfahren Jungen häufig Formen der Gewalt.

Zwar wählen sie teilweise auch vorsätzlich Sportarten aus, bei denen ein Kräftemessen oder ein körperlicher Konflikt (Kampfsportarten) zentrales Element ist. Doch dieses Kräftemessen kann dann auch zu Zuständen führen, bei denen Gewalt gegen Sie und ge­gen Ihren Willen ausgeübt wird. Überwiegend geht die erfahrende Gewalt von Gleichalt­rigen oder auch von den eigenen Geschwistern aus.28

Häufig lassen die Jungen die Gewalt an sich passiv geschehen, sie leiden also still und sie teilen sich aus Angst vor sozialer Ausgrenzung anderen auch nicht zwangsläufig mit,29 weil sie nicht als Opfer abgestempelt werden wollen. Undje mehr sie sich wehren, desto mehr kommen sie sich in die Opferrolle gedrängt vor. Mörchen führt dazu ein Beispiel an, bei dem „Betroffene auf ihrer Schultasche das Kürzel AGJ („arschgefickter Junge“) [aufgemalt bekommen oder sie] hören ganz direkt von anderen Kindern: „Du bist anders, weil du ein missbrauchtes Kind bist.“30

c) in der Kirche

Eine weitere Form der individuellen Gewalterfahrung ist auch die sexuelle Gewalt.

Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch offenbart sich (nicht nur) in der römisch-ka­tholischen Kirche als ein nicht-enden-wollendes flächendeckendes Problem mit einer er­schreckend langen Tradition, bei dem bisher bereits mindestens 3.677 Missbrauchsopfer bekannt gemacht wurden - die Dunkelziffer wird jedoch um ein Vielfaches höher ge­schätzt.31 Aber auch in den protestantischen Kirchen soll es aktuell mehr als 600 Miss­brauchsopfer geben.32 Sogar Joseph Ratzinger, auch bekannt als der emeritierte Papst Benedikt XVI, soll (nach aktuellen Recherchen von „Correctiv“ und „Frontal21“) per­sönliche Verbindungen zu den „pädophilen Priestern“ unterhalten haben, welche regel­mäßig sexuelle Gewalt gegen „kleine Jungs“ ausgeübt haben sollen.33

2. Gewalt gegen Mädchen / Frauen

Frauen sind in einem Altersbereich zwischen 20 und 50 Jahren besonders häufig von Ge­walt betroffen.34

a) in der Familie

Zwar erleben auch Mädchen Gewalt durch ihre Eltern zu Erziehungszwecken, aber deut­lich weniger als Jungen. Hierzu kann auf die Ausführungen (Il.l.a) zu den Jungen ver­wiesen werden.

b) im sozialen Nahbereich

Mädchen undjunge Frauen werden weit überwiegend derart sozialisiert, dass sie die dro­hende Gewalttätigkeit ihrer männlichen Verwandten, Lebenspartner oder auch nur von Freunden aktiv verhindern sollen - mehr noch, sie sollen in Streitigkeiten aktiv vermitteln und dabei auch Konflikte entschärfen.35 „Dies wurde früher mit der besonderen Friedfer­tigkeit der Frau begründet, heute mit ihrer besonderen Sozialkompetenz.“36 Dennoch er­leben besonders viele Frauen im sozialen Nahbereich die Anwendung von (sexueller) Gewalt. Sexueller Missbrauch von Mädchen oder die Vergewaltigung von Ehefrauen er­eignen sich trotz dieser ihnen zugeschriebenen Sozialisation leider relativ häufig.

Eine erste wissenschaftliche Studie aus dem arabischen Raum brachte hervor, dass zum Beispiel „im Jemen 66 % aller angezeigten Vergewaltigungen Mädchen unter 15 Jahre betreffen und im Rahmen der Familie begangen wurden.“37 Zahlreiche Grausamkeiten gegen Frauen werden regelmäßig „im Namen der Tradition“, ausgeführt und mit „kultu­rellen Überlieferungen“ oder mit „religiösen Vorstellungen“ begründet und damit auch offiziell akzeptiert.38 Nach den dort vorherrschenden Wertvorstellungen wird es als „nor­mal“ angesehen, dass „Männer über Frauen verfügen und sie [somit auch] schlagen dür­fen.“39

Erschreckend ist es daher auch zu lesen, dass „über eine Million Mädchen jedes Jahr in die Prostitution gezwungen [werden], Rund 2 Millionen Mädchen werden jedes Jahr an ihren Geschlechtsorganen verstümmelt und ca. 130 Millionen Mädchen und Frauen aus 28 Staaten, vor allem Afrika, sind hiervon betroffen.“40

3. Gewalt gegen divers

Personen, die sich nach dem binären Geschlechtsmodell weder zu „männlich“, noch zu „weiblich“ zugehörig fühlen oder einordnen lassen, werden als „divers“ bzw. das „dritte Geschlecht“ bezeichnet. Damit unterfallen diese Personen der „nichtbinären Geschlechts­identität“. Auch die Bezeichnung „genderqueer“ wird für sie (hauptsächlich im angel­sächsischen Raum) verwendet. Diese nicht binäre Geschlechtsidentität der Person steht nicht zwingend im Zusammenhang zu dem biologischen Geschlecht der Person oder ih­ren Geschlechtsmerkmalen. Ebenfalls ist die geschlechtliche Identität von der sexuellen Identität zu trennen, da diese ebenso verschieden und vielschichtig seien kann, ebenso wie bei Personen der binären Geschlechtsidentität.

Mit Wirkung vom 01.11.2013 wurde der Absatz 3 an den § 22 Personenstandsgesetz (PStG) angefügt41, wonach ein Kind, welches weder dem weiblichen noch dem männli­chen Geschlecht zugeordnet werden kann, auch ohne eine solche Angabe in das Gebur­tenregister eingetragen werden könne. Der Erste Senat des BVerfG hatte im Oktober 2017 der Beschwerde einer Inter-Person stattgegeben, mit der Folge, dass nunjenseits des bi­nären Geschlechtsmodells auch ein positiver Eintrag im Personenstandsregister möglich ist. Mit Wirkung vom 22.12.2018 wurde daraufhin der Abs. 3 des § 22 PStG erneut ge­ändert42 - nun kann auch die Angabe „divers“ in das Geburtenregister eingetragen wer­den.

Auch Personen, die von ihrer Umwelt als geschlechtlich nicht eindeutig wahrgenommen werden, können ebenfalls (sexuelle) Gewalt gegen sich erleben. Das betrifft also Perso­nen, die in dem einen Geschlecht geboren wurden, sich aber dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen - und das auch zeigen und sich auch dazu bekennen. Diese Personen befinden sich in einer besonderen Situation, da sie weder der einen noch der anderen Gruppe zugeordnet werden können und deshalb von beiden Seiten bzw. der Gesamtge­sellschaft eher als Minderheit, die unnormal ist, und damit als Opfer betrachtet werden. Deshalb erfahren sie meist umfassende Gewalt - vor allem psychisch, aber auch physisch -, da sich die Gesellschaft mit diesem Phänomen nicht identifizieren kann, spricht man ihnen häufig auch ihre Rechte ab.

Bei Stellenausschreibungen wird inzwischen zwar oft der Begriff „männlich/weiblich/di- vers“ verwendet (Beispiel: Deutsche Post auf ihren Auslieferungswagen), aber die gesell­schaftliche Einordnung und Anerkennung für ihre Besonderheit ist noch sehr rudimentär, was besonders unter Jugendlichen zu Gewaltanwendung führt.

Als weiteres Beispiel sei angeführt, dass es bspw. bei Mädchen Vorkommen kann, die sich aber (später) als Jungen fühlen, dass gegen sie (sexuelle, psychische oder physische)

Gewalt derart ausgeübt wird, dass auch Empörung und Unverständnis über die „Anma­ßung ein Junge sein zu wollen, aber ,in Wahrheit nur ein Mädchen‘ zu sein“ ihnen entge­gengebracht wird.43

III. Einfluss auf die geschlechtsspezifische Sozialisation

Ausgrenzungen und Gewalt gegen Minderheiten erfolgten bereits in der Antike.44

Erst im Mittelalter bildeten sich durch die Veränderung der Gesellschaftsstrukturen Vor­formen des Minderheitenschutzes. So beinhalteten bspw. der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden (1555), der Westfälische Frieden (1648), die Verträge von Olivia (1660) und die Verträge von Nijmengen (1678) erste „Regelungen für konfessionell definierte Gruppen, weswegen man von religiösem Minderheitenschutz sprechen kann.“45 Ethni­scher Minderheitenschutz lässt sich erstmals in der Schlussakte des Wiener Kongresses (1815)46 oder im Berliner Vertrag47 von 1878 belegen.

Gewalttaten gegen Minderheiten oder Personen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen oder auch nur ein anderes Geschlecht hatten, sind ein Phänomen mit einer sehr langen „Tradition“ - erinnert werden soll an dieser Stelle bspw. nur an den Holo­caust, bei dem mehr als sechs Millionen Juden ermordet wurden,48 oder den Umgang mit den Armenier und Kurden in der Türkei.

[...]


1 Holst, Geschlechtsspezifische Gewalt als institutioneile Einschreibung, S. 47.

2 BMFSFJ 2004, Gewalt gegen Männer in Deutschland, S. 19.

3 Schönke/Schröder/ßwe/e, StGB § 240 Rn. 4.

4 Küper/Zopfs, Strafrecht BT, S. 422.

5 Küper/Zopfs, Strafrecht BT, S. 422.

6 BMFSFJ 1997a, Gewalt gegen Frauen, S. 7.

7 Abels/König, Sozialisation, S. 1.

8 Kampmann, Organisational Sozialisation, S. 7.

9 Beer, Frauen in hochqualifizierten Berufen, S. 38.

10 Opitz, Aufklärung der Geschlechter, S. 93.

11 Traunsteiner, Gleichgeschlechtlich liebende Frauen im Alter, S. 59.

12 Lembke, Kurseinheit 3, S. 3.

13 Lembke, Kurseinheit 3, S. 10.

14 Walter/Lenz/Puchert, Gewalt gegen Männer in der Kindheit und Jugend, S. 35.

15 BGB1.2000 1 1479.

16 BT-Drs. 14/1247, S. 7.

17 MüKoBGB/Huber, BGB §1631Rn.l8.

18 MüKoBGB /Huber, BGB § 1631 Rn. 4.

19 Märchen, Mehrfachbetroffenheit männlicher Opfer, in: Mosser/Lenz, Sexualisierte Gewalt gegen Jun­gen, S. 198.

20 Durch das Gesetz zur Erleichterung familiengerechter Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls vom 04.07.2008 (BGBl. 2008 I 1188), welches am 12.07.2008 in Kraft trat, ist der § 1666 BGB neu geregelt worden.

21 Hamburger Bürgerschaft, Drs. 18/2926.

22 Bremer Bürgerschaft, Drs. 16/1381, 49 ff.

23 Walter/Lenz/Puchert, Gewalt gegen Männer in der Kindheit und Jugend, S.41.

24 Walter/Lenz/Puchert, Gewalt gegen Männer in der Kindheit und Jugend, S. 39.

25 Motzkau, Vernachlässigung, S. 712.

26 Walter/Lenz/Puchert, Gewalt gegen Männer in der Kindheit und Jugend, S. 45.

27 Walter/Lenz/Puchert, Gewalt gegen Männer in der Kindheit und Jugend, S. 46.

28 Walter/Lenz/Puchert, Gewalt gegen Männer in der Kindheit und Jugend, S.41.

29 Märchen, Mehrfachbetroffenheit männlicher Opfer, in: Mosser/Lenz, Sexualisierte Gewalt gegen Jun­gen, S. 197.

30 Märchen, Mehrfachbetroffenheit männlicher Opfer, in: Mosser/Lenz, Sexualisierte Gewalt gegen Jun­gen, S. 197.

31 Burkhardt, Missbrauch in der Kirche v. 14.01.2020, www; Finger/Völlinger, Sexueller Missbrauch - das Ausmaß des Verbrechens v. 12.09.2018, www.

32 Schmollack, Sexuelle Gewalt in der Kirche - EKD untersucht Missbrauch v. 12.06.2019, www.

33 Bensmann/Haselrieder/Herzlieb, Recherchen zu Papst Benedikt - Ratzinger und der pädophile Priester, t-online.de v. 18.02.2020,www.

34 Lembke, Kurseinheit 3, S. 10.

35 Lembke, Kurseinheit 3, S. 5.

36 Lembke, Kurseinheit 3, S. 5.

37 Heiliger, Männergewalt gegen Frauen beenden, S. 15.

38 Heiliger, Männergewalt gegen Frauen beenden, S. 16.

39 Heiliger, Männergewalt gegen Frauen beenden, S. 15.

40 Heiliger, Männergewalt gegen Frauen beenden, S. 15.

41 Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften (Personenstandrechts-Änderungsgesetz - PStRÄndG)vom 07.05.2013, BGBl. I S. 1122.

42 Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben vom 18.12.2018, BGBl. I. S. 2635.

43 Märchen, Mehrfachbetroffenheit männlicher Opfer, in: Mosser/Lenz, Sexualisierte Gewalt gegen Jun­gen, S. 197.

44 Heitmeyer/Hagan, Internationales Handbuch der Gewaltforschung, S. 1000.

45 Jacob, Minderheitenrecht in der Türkei, S. 38.

46 In Art. 1 Abs. 2 der Schlussakte ist bestimmt, dass den Polen in Russland, Österreich und Preußen bestimmte „Minderheitenrechte“ eingeräumt wurden.

47 In Art. 4 Abs. 2 des Berliner Vertrages ist geregelt, dass Bulgarien den türkischen, rumänischen und griechischen Minderheiten im eigenen Land ein angepasstes Wahlrecht gewähren soll; in Art. 61 des Berliner Vertrages ist geregelt, dass das Osmanische Reich die Bedürfnisse der Armenier verbessern muss und ihnen auch Sicherheit zu gewähren hat.

48 Wehler, Der Nationalsozialismus, S. 211.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Geschlechterspezifische Gewalt und Femizid
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
34
Katalognummer
V1041072
ISBN (eBook)
9783346462138
ISBN (Buch)
9783346462145
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Femizid, Geschlechtsspezifische Gewalt, Gewalt, divers, binär, Sozialisation, Heteronormativität, binäres Geschlechtsmodell, Gewalt gegen Jungen, Gewalt gegen Männer, Gewalt gegen Mädchen, Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen divers, Frauenmord, Frauenmorde
Arbeit zitieren
Oliver Michaelis, LL.M., LL.M. (Autor:in), 2021, Geschlechterspezifische Gewalt und Femizid, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1041072

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