Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grammatikalisierung
2.1. Lehmanns Modell
3. Präpositionen: Schwierigkeiten der Kategorisierung?
3.1. Präpositionen: Definition ex negativum
3.2. Idealpräpositionale vs. maximale Differenziertheit
3.3. Neue Präpositionen
4. Begründung der ausgewählten Korpora
4.1. Methodik
4.2 Im Verlauf im Korpus des DWDS
4.2.1 Im Verlauf in der DGD
4.3. Laufe im DWDS
4.3.1 Im Laufe in der DGD
4.4. Im Vorfeld im DWDS
4.4.1. Im Vorfeld in der DGD
5. Zusammenfassung der Ergebnisse
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
8. Anhang
1. Einleitung
Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den neuen Präpositionen des Deutschen, die vor allem mit Schwerpunkt auf ihre Grammatikalisierung untersucht werden sollen. Das Augenmerk soll hierbei auf den komplexen Präpositionen liegen, die aus Präposition-Substantiv Verbindungen, also Präpositionalphrasen bestehen. Im Allgemeinen gehören Präpositionen zu den Wortarten des Deutschen, die am häufigsten vorkommen und sich in fast jedem Satz weiderfinden. (Vgl. Duden 2009: 607) In der Schulgrammatik werden sie in der Regel als Wörter beschrieben, die bestimmte Verhältnisse aufzeigen und Relationen herstellen.
Präpositionen haben Rektionsfähigkeit, das heißt sie fordern einen bestimmten Kasus für die ihnen zugehörigen, deklinierbaren Wörter. Diese Rektionsfähigkeit ist in den letzten Jahren wieder verstärkt in das Zentrum der gesellschaftlichen Debatte über Sprache gerückt. Grund dafür ist unter anderem die populärwissenschaftliche Veröffentlichung Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod von Bastian Sick aus dem Jahr 2004, die das Bewusstsein für Kasusschwankungen des Deutschen geschärft hat. Sick ist der Auffassung, dass es durch diese Kasuswechsel von Genitiv zum Dativ zu einem Verfall der deutschen Sprache kommt. Es gibt allerdings andere Theorien, die belegen, dass Kasusänderungen ein fester Bestandteil deutscher Sprache und ein Prozess der Grammatikalisierung sind. Deutlich wird dies unter anderem daran, dass die primären Präpositionen, zu ihnen zählen zum Beispiel von, auf, an, vor usw., die bereits einen hohen Grad der Grammatikalisierung erreicht haben, nicht den Genitiv, sondern den Akkusativ- oder den Dativ regieren.
Grammatikalisierung meint das Grammatik-Werden von Sprache und die Veränderung von lexikalischen hinzu grammatischen Elementen, weshalb dieser neue linguistische Ansatz die Möglichkeit bietet den Kasuswechsel nicht als stilistischen oder grammatischen Fehler zu beschreiben, sondern als Phänomen der sich wandelnden Sprache. Unter dem Aspekt der Grammatikalisierungsforschung kann untersucht werden, warum diese Änderungen überhaupt passieren.
Im Laufe der Zeit haben sich, neben den geläufigen primären, neue Präpositionen im Deutschen entwickelt. Diese sind in der Regel desubstantivisch, deadverbial oder deadjektivisch und spielen in der Grammatikbetrachtung, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Sie entstehen aus anderen Wortarten, die mittlerweile auch präpositional gebraucht werden können. Die neuen Präpositionen sind oftmals nicht systemisch erfasst, deshalb gibt es keine genauen Angaben über ihre Anzahl. Gerade diese Tatbestände machen die Betrachtung der neuen Präpositionen besonders interessant und werfen Fragen auf wie: Aus welchen Wortklassen sind sie entstanden und warum entstehen sie überhaupt?
Des Weiteren passiert Grammatikalisierung nicht plötzlich, sondern ist ein sich langsam entwickelnder, fortlaufender Prozess, weshalb Ziel dieser Arbeit nicht die diachrone Betrachtung von Präpositionen ist, sondern neue Präpositionen auf synchroner Ebene gegenüberzustellen.
Im ersten, theoretischen Teil der Arbeit wird der Begriff ,Grammatikalisierung‘ definiert und verschiedene Möglichkeiten vorgestellt, wie man den Grad der Grammatikalisierung bestimmen kann. Besonders im Fokus stehen hierbei die Arbeiten Lehmanns, da diese als grundlegend und wegweisend für diese Forschungsrichtung gelten. Im Anschluss wird die Wortart Präpositionen durch eine Definition ex negativum bestimmt. Dies hat zum einen den Vorteil, dass die Unterschiede zu anderen Wortarten direkt erkennbar gemacht werden, zum anderen verdeutlich dieses Vorgehen die Schwierigkeiten der Abgrenzung und macht die oftmals in sich verschwimmenden Grenzen der Wortklassen deutlich. Danach werden zwei verschiedene Ansätze vorgestellt, die versuchen zu begründen, warum sich Präpositionen verändern. Lindqvist (1994) geht davon aus, dass sich neu entstandene Präpositionen einem Idealpräpositionale annähern, Di Meola hat diesen Ansatz fortgeführt: Er nimmt nicht nur an, dass eine Annäherung an das Idealpräpositionale, sondern gleichzeitig eine möglichst große Differenzierung zur Wortart, aus der die Präposition entstanden ist, stattfindet.
Auf Grundlage eines schriftlichen (DWDS) und eines mündlichen (DGD) Gegenwartskorpus wird im praktischen Teil der Arbeit untersucht, inwieweit der Grammatikalisierungsgrad der komplexen Präpositionen im Lauf, im Verlauf und im Vorfeld fortgeschritten ist. Hierfür wird in einem ersten Schritt das Gesamtvorkommen im Korpus betrachtet, um zu untersuchen, inwieweit die Präposition im Sprachgebrauch etabliert ist. Danach werden noch zwei weitere Parameter in die Analyse einbezogen: Die Desemantisierung und die Kasusschwankung. Daraus ergeben sich weitere Fragestellungen: Wird die Präposition noch in ihrem früheren Sinn, beziehungsweise als Präpositionalphrase mit zum Beispiel adverbialer Bedeutung verwendet oder tritt sie nur noch in Form einer komplexen Präposition auf? Ist die komplexe Präposition bereits Kasusschwankungen unterworfen und falls dies der Fall ist, gibt es eine funktionale Differenzierung zwischen den beiden Kasusalternationen? Da sich die Analyse auf einen schriftlichen und einen mündlichen Korpus stützt, kann außerdem geprüft werden, ob der Grammatikalisierungsprozess der einzelnen Präposition im mündlichen oder im schriftlichen Bereich weiter fortgeschritten ist.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Anzahl der untersuchten Beispiele innerhalb der Korpora auf im Schnitt 50 Beispiele reduziert wurde. Auf der einen Seite ist es somit nicht möglich allgemeingültige Tendenzen aufzuzeigen, auf der anderen Seite bietet diese Analyse trotzdem die Möglichkeit gewisse Tendenzen erkennen zu lassen. Des Weiteren wäre es selbst mit einer Vielzahl an Beispielen schwer, allgemeingültige Aussagen zu treffen, da kein Korpus die Möglichkeit bietet, alle Variationen der Sprache fassbar zu machen.
2. Grammatikalisierung
Die Auseinandersetzung mit Grammatikalisierung bildet noch ein recht junges Forschungsgebiet innerhalb der Linguistik und findet seine erst Erwähnung bei Meillet, einem französischen Sprachwissenschaftler, der im Jahr 1912 in seinem Werk L‘évolution des formes grammaticales vom Wandel eines autonomen Wortes zu einem grammatischen Element, erstmals explizit von Grammatikalisierung spricht. (Vgl. Ferraresi 2014:1 u. Smirnova/ Mortelmans 2010: 176) Bereits vor Millets Werk gab es Überlegungen, die heute dem Forschungsgebiet der Grammatikalisierung zugeordnet werden können. Wilhelm von Humboldt war sich beispielsweise bewusst, „dass sich viele grammatische Elemente einer Sprache aus bereits existierenden Elementen entwickeln.“ (Ferraresi 2014: 1) Allerdings gilt Lehmanns Schrift Thoughts on grammaticalization aus dem Jahr 1982 als richtungsweisend und grundlegend für die Grammatikalisierungsforschung.
Grammatikalisierung meint einen Prozess des Sprachwandels, bei dem sich eine lexikalische Einheit zu einem grammatischen Element transformiert. „Grammaticalization is the gradual drift in all parts of the grammar toward tighter structures, toward less freedom in the use of linguistic structures at all levels.” (Haspelmath 1998:318)
Es handelt sich folglich um die Entstehung von grammatischen Elementen innerhalb der Sprache oder „[a]nders formuliert: Grammatikalisierung bedeutet das „Grammatik-Werden“ von linguistischen Einheiten.“ (Diewald 2008: 2) Dieser Prozess geschieht nicht plötzlich, sondern findet allmählich statt, indem sich einzelne sprachliche Elemente von wenig grammatischen, zu hochgrammatikalisierten Einheiten wandeln. Für diesen Veränderungsprozess hat Heine (2003) vier verschiedene Stufen der Entwicklung eingeführt die nicht parallel, sondern immer phasenweise und ineinander übergehend stattfinden:
1) Desemantisierung (semantische Ausbleichung, “semantic bleaching“) - Verlust der ursprünglichen, konkreten Bedeutung,
2) Die Extension (oder Kontextgeneralisierung) - Verwendung des Zeichens in neuen Kontexten,
3) Dekategorialisierung - Verlust der morphosyntaktischen Eigenschaften des Ursprungswortes, was bis zum Verlust der syntaktischen Selbstständigkeit (zur Entwicklung einer gebundenen Form) führen kann, sowie
4) Die Erosion - Verlust phonetischer Substanz. (Szczepaniak 2011: 11f., in Anlehnung an Heine 2003)
Die ersten beiden Mechanismen verändern die Funktion des sprachlichen Zeichens. Durch die Desemantisierung erhält das Zeichen neben seiner ursprünglichen Bedeutung noch eine weitere, die in bestimmten Kontexten zulässig ist. Die zweite Entwicklungsstufe setzt auf einer pragmatischen Ebene an: Im Laufe der Entwicklung wird die neue Bedeutung des sprachlichen Zeichens fest in den Sprachgebrauch integriert. Die neue Bedeutung wird gebräuchlich und konventionalisiert. Die ursprüngliche Bedeutung rückt in den Hintergrund und verblasst letztendlich vollkommen. Nach der funktionalen Entwicklung finden Veränderungen Zeichenform statt. Bei der Dekategorialisierung gehen morphosyntaktische Eigenschaften des Ursprungswortes verloren, beispielsweise die Fähigkeit zur Flexion oder Derivation. Dies führt dazu, dass die neue Wortbedeutung zum einen ihren selbstständigen Status, zum anderen die syntaktische Bewegungsfreiheit verliert und sich auf Grund dessen zu einem gebundenen Morphem entwickelt. Der Mechanismus der Erosion fordert den Schwund von phonetischem Material. Dieser findet sich auch bei Präpositionen, so etwa in Veränderungen der Orthografie (Auf Grund/aufgrund, Mit Hilfe/mithilfe). Die relativ einfache Formel der Desemantisierung A A/B B ist Grundvoraussetzung für jeden Grammatikalisierungsprozess. Allerdings nimmt das sprachliche Zeichen eine neue, grammatische Bedeutung an, weshalb nicht jeder Verlust der ursprünglichen Bedeutung zwangsläufig zu einem Zeichen mit neuer grammatischer Funktion führt. (Vgl. Szczepaniak:2013 11ff.) „Von zentraler Bedeutung ist nämlich, welche Information das Zeichen transportiert. [...] Nur Konzepte die einerseits relevant und andererseits allgemeingültig sind, eigenen sich als grammatische Kategorien [...]. (Ebd.:13) Dies schließt mit ein, dass Grammatikalisierung immer an die Sprachbenutzer gekoppelt sein muss. Es muss das sprachliche Interesse bestehen, eine neue grammatische Form einzuführen. Auch Szczepaniak bemerkt, dass Grammatikalisierung mit dem Ziel der erfolgreichen Informationsübermittlung als Lösung für kommunikative Probleme fungiert. Durch die Verwendung neuer Präpositionen kann der Sprecher Informativität und Explizitheit seiner Aussage verstärken. Zu den altbekannten grammatischen Formen kommen neue hinzu, die die Fähigkeit haben zusätzliche Informationen zu überliefern. (Szczepaniak 2011: 29f.) Dass dies ein normaler Prozess in Sprechsituationen ist, führt Traugott aus:
However, compacting, obliteration of boundaries, and reduction of redundancy is balanced in normal language situations by the introduction of new and innovative ways of saying approximately the same thing. These new and innovative ways of saying things are brought about by speakers seeking to enhance expressivity. This is typically done through the “deroutinizing“of constructions, in others words, finding new ways to say old things. Expressivity serves the dual function of improving informativeness for the hearer and at the same time allowing the speaker to convey attitudes toward the situation, including the speech situation. (Hopper/Traugott 2003: 72f.)
Hierbei muss angemerkt werden, dass die neuen Formen auf den ersten Blick synonym erscheinen mögen, sie aber die Fähigkeit haben, zusätzliche Informationen zu transportieren, Meibauer an einem Beispiel deutlich macht:
a. Während der Konferenz kam es zu Auseinandersetzungen.
b. Am Rande der Konferenz kam es zu Auseinandersetzungen. (Meibauer 1995: 63.)
Die neue Präposition am Rande hat die Möglichkeit untergeordnete Wichtigkeit zu vermitteln, wozu die ältere Präposition während nicht im Stande ist, was verdeutlicht, dass Grammatikalisierungsprozesse auch immer kognitive Prozesse sind. (vgl. ebd. u. Diewald 1998: 42)
Der Fokus von Grammatikalisierung liegt nicht darauf, etwa intentional eine neue Grammatik zu kreieren1, sondern sich Variationen einer sprachlichen Einheit bewusst zu machen und zu untersuchen, ob durch diese neu auftretende Varietät die Einheit zusätzlichen oder neuen Grammatikregeln unterworfen wird. (Lehmann 1991: 493)
Die Untersuchung des Sprachwandels ist kein neuer Bereich der Linguistik, allerdings betrachtet Grammatikalisierung Sprache aus einem anderen Blickwinkel als beispielsweise die historische Sprachwissenschaft. Diewald definiert diese neue Perspektive wie folgt:
[...] die kontinuierliche Entstehung immer neuer grammatischer Elemente und die Flexibilität grammatischer Systeme werden als Grundprinzip der Sprache betrachtet und ins Zentrum der Forschung gerückt. Dadurch kann die Vorstellung eines stabilen synchronen Zustands nicht aufkommen, die Grenzen zwischen Synchronie und Diachronie erweisen sich als prinzipiell künstlich. (Diewald 1997: vii)
Grammatikalisierung wird als omnipräsenter, panchronischer Prozess beschrieben, der Synchronie und Diachronie verbindet und in Beziehung zueinander setzt. Zum einen zeigt Grammatikalisierung auf synchroner Ebene den Wandel eines lexikalischen hin zu einem grammatischen Zeichen, zum anderen, auf diachroner Ebene, die Koexistenz eines ,Spenderlexems‘, das nicht schlagartig aus dem Sprachgebrauch verschwindet, und einer daraus neu entstandenen grammatischen Einheit. (Vgl. Ferraresi 2014: 3f.) Auch Brinton und Traugott machen auf die Koexistenz von Spenderlexem und grammatikalisiertem Element aufmerksam:
Grammaticalization is a change whereby in certain linguistic contexts speakers use parts of a construction with a grammatical function. Over time the resulting grammatical item may become more grammatical by acquiring more grammatical functions and expanding its host-classes (Brinton & Traugott 2005: 99)
Aufgrund der Tatsache, dass Grammatikalisierung nicht plötzlich passiert, ist es schlüssig anzunehmen, dass sich verschiedene sprachliche Einheiten in verschiedenen Stadien der Entwicklung befinden. (Lehmann 2015: 13 ff.) Grammatikalisierung beschreibt nicht ausschließlich den Wandel von lexikalischen zu grammatischen Zeichen, sondern auch die Verstärkung grammatischer Funktion von bereits grammatischen Elementen, was Kurylowicz deutlich macht:
Grammaticalization consists in the increase of the range of a morpheme advancing from a lexical to a grammatical or from a less grammatical to a more grammatical status, e.g., from a derivate formant to an inflectional one. (1965: 52)
Aus dieser These ergibt sich, dass es auch einen Bereich zwischen Grammatik und Lexik geben muss, in dem sich die Grammatikalisierung vollzieht. Außerdem wird deutlich, dass es grammatischen Elementen möglich ist, ihren Grammatikalisierungsgrad zu erhöhen. Da Grammatikalisierung aber immer gekoppelt ist an den nicht endenden Sprachwandel, kann man annehmen, dass Grammatikalisierung auch einen „open-end Prozess“ darstellt. (Vgl. Lehmann 2015: 15) Die Grammatik und die damit verbundenen sprachlichen Einheiten sind nicht statisch, sondern unterliegen einem ständigen Wandel, da Grammatik erst aus den realisierten Gesprächssituationen hervorgeht. Die Sprache und das Sprechen, oder nach de Saussure die langue und die parole, unterliegen keiner strikten Trennung, sondern bedingen sich gegenseitig. Es gibt eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Struktur der Sprache und ihrem Gebrauch, da sich die Regeln der Grammatik durch die korrekte Realisierung festigen, beziehungsweise durch einen neuen oder „falschen“ Gebrauch verändern. Sprachliche Strukturen sind in einem fortwährenden Entstehungsprozess, der immer abhängig ist von Sprachbenutzern, die sich Sprache bedienen. Grammatikalisierung meint, dass Grammatik immer erst nach ihrem Entstehen oder im Prozess des Entstehens selbst verstanden werden kann. Deshalb ist eine strikte Trennung von Diachronie und Synchronie nicht nötig (Respektive mit Blick auf Grammatikalisierungsprozesse nicht möglich) und erscheint fast schon überflüssig, da es keinen Idealzustand oder die „perfekte Grammatik“ gibt. Durch stetig vorhandene Dialekte, Soziolekte und Differenzen zwischen geschriebener und gesprochener Sprache gibt es immer sprachliche Unterschiede, die sich wiederum miteinander verbinden können. Es ist nicht möglich klar abzugrenzen, wo Synchronie anfängt und wo Diachronie aufhört. (Vgl. Elsen 1995: 121ff.)
Sprache muss im Diskurs2 betrachtet werden, da Grammatik erst im Diskurs selbst verstanden werden kann. Erst wenn sprachliche Entitäten und grammatische Formen teil eines Diskurses werde, können sie auch Einfluss auf die Sprache haben. Ein (vermeintlich) grammatischer Fehler tritt erst als Einzelphänomen auf, wird dann aber im Laufe des Sprachwandels zu einer gefestigten Form und gilt als grammatisch korrekt. Diese „Fehler“ treten meist erst in der gesprochenen Sprache auf, da diese weniger Zeit zur Reflektion bietet und somit ein höheres grammatisches „Fehlerpotenzial“ als Schriftsprach hat. Grammatikalisierung setzt ihre Beobachtung und Untersuchung genau diesem Punkt an und beobachtet immer wiederkehrende sprachliche Phänomene eines Diskurses und die daraus entstehenden neuen grammatischen Formen. Dieses Verständnis von Sprache, beziehungsweise dem Akt des Sprechens selbst als Diskurs beinhaltet auch, dass Grammatik ein soziales Phänomen sein muss und erst durch Verwendung von Sprache entsteht. Die neue Grammatik ist durch den Diskurs entstanden und beeinflusst. Der Diskurs wiederum entsteht durch die neue grammatische Form und wird von dieser beeinflusst. Diese gegenseitige Wechselbeziehung macht nochmals deutlich, dass Grammatik niemals abgeschlossen und statisch sein kann, sondern immer geprägt ist von der Dynamik des jeweiligen Diskurses. (Vgl. ebd.: 123f.)
Ziel der Grammatikalisierung ist es also nicht starre grammatische Regeln zu erfassen, sondern einen universell gültigen Ansatz zu liefern, mit dem es gelingt, einzelne Phänomene nach ihrem Grad der Grammatikalisierung zu klassifizieren. Im nächsten Kapitel sollen Parameter vorgestellt werden, die eben diese Klassifizierung ermöglichen.
2.1. Lehmanns Modell
Lehmann vertritt die Grundannahme, dass lexikalische Zeichen autonom, grammatische Zeichen hingegen heteronom sind. Autonomie meint nach seiner Definition die Freiheit eines Zeichens, mit der es verwendet und manipuliert werden kann. Das Zeichen ist, tautologisch formuliert, am autonomsten, wenn es am freisten gebraucht werden kann. Je ungebundener der Gebrauch, desto weniger grammatikalisiert ist das Zeichen sein und stellt als autonomen Zeichen den Gegenpol zur Grammatikalität dar. Um den Autonomiegrad eines Zeichens zu bestimmen, führt Lehmann drei Begriffe ein:
1. Gewicht: Das Zeichen muss ein bestimmtes Gewicht haben, um eine Unterscheidung zu anderen Zeichen seiner Klasse sichtbar zu machen. Durch dieses Gewicht ist es möglich, dem Zeichen eine besondere Stellung im Syntagma zuzusprechen.
2. Kohäsion: Die Autonomie nimmt ab, je mehr Beziehung ein Zeichen zu anderen Zeichen annimmt. Diese systematischen Verbindungen (Kohäsion) stören die Freiheit des Zeichens.
3. Variabilität: Je variabler, austauschbarer und verschiebbar ein Zeichen ist, desto mehr Autonomie besitzt es.
Lehmann unterteilt die einzelnen Autonomieaspekte nochmals auf paradigmatischer, das Zeichen als selegiertes Einzelzeichen einer Gruppe, und syntagmatischer, das Zeichen in Kombination mit anderen Zeichen, Ebene, weshalb sich insgesamt sechs relevante Parameter ergeben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Laufe des Grammatikalisierungsprozesses nehmen Gewicht und Variabilität ab, die Kohäsion hingegen nimmt zu. Im weiteren Verlauf soll auf die einzelnen Parameter kurz eingegangen werden. (Vgl. Diewald: 21ff./ Di Meola 2014: 6ff./ Szczepaniak: 19ff.)
Integrität als paradigmatisches Gewicht: Die Autonomie eines Zeichens zeigt sich durch die Fähigkeit, sich klar von anderen Zeichen der eigenen Klasse, als auch von benachbarten Elementen abzuheben, was auf die semantische und phonologische Reichweite zurück geht, die durch Erosion reduziert werden kann. Auf semantischer Ebene findet eine Reduktion der Merkmale statt, durch die die lexikalische Bedeutung allmählich ausbleicht und das Zeichen in mehreren Kontexten verwendet werden kann. Szczepaniak (2011: 21) und Diewald (1998: 22.) führen als Beispiel das Verb haben auf, dass als grammatisches Hilfsverb seine besitzanzeigende Funktion verliert.
(1) Sie hat einen Hund. (Besitzt wird markiert)
(2) Sie hat schon gegessen. (Tempus wird markiert.)
Auch auf phonologischer Ebene kann Erosion wirken. Di Meola (2014: 7) das englische Verb will an, das als Futurmarkierung (3), nicht aber als Modalverb (4), zu ‘ll reduziert werden kann.
(3) I'll go out.
(4) Can you help me? - I'll *
Paradigmatische Kohäsion: Ein autonomes Zeichen gehört in der Regel zu einer offenen Wortklasse und hat keinen engen Bezug zu anderen Zeichen. Durch den Prozess der Grammatikalisierung wird das Zeichen allerdings immer weiter in ein semantisches und formales Paradigma eingegliedert. Ein mögliches Paradigma wäre nach Lehmann das der Präpositionen:
Consider the grammaticalization of local relational nouns to depositions. In English, there is a fair number of such nouns as front, back, top, bottom, interior etc. which may be used to form periphrastic prepositions. These are opposed to a closed but still relatively large set of secondary local prepositions such as beyond, before, within, amidst etc. Finally, we have the small set of primary local prepositions including in, on, at, from, to and perhaps some others. (Lehmann 2002:118)
Die Gruppe der primären Präpositionen ist relativ geschlossen und zeichnet sich durch einen hohen Grad der Grammatikalisierung aus, der sich beispielsweise daran erkennen lässt, dass nicht mehr nachvollziehbar ist, aus welchem Lexem das Wort entstanden sein könnte. Bei sekundären Präpositionen ist das Ursprungswort meist noch relativ leicht erkennbar (wegen der Weg)
Paradigmatische Variabilität: Die Wahl eines autonomen Zeichens ist lediglich durch die kommunikative Zielrichtung seines Verwenders bestimmt. Im Verlauf des Grammatikalisierungsprozesses wird die Wahl zunehmend obligatorisch. Szczepaniak führt als Beispiel den Unterschied zwischen „Vollverben wie bekommen, entgegennehmen oder empfangen [an, die] je nach Mitteilungsinteresse frei gewählt werden [können]“ und dem „Rezipientenpassiv, [bei welchem] nur bestimmte Hilfsverben einsatzbar [sind], z.B. ich bekomme/kriege/*empfange die Haare geschnitten.“ (Szczepaniak 2011: 22)
Syntagmatisches Gewicht: Das syntagmatische Gewicht oder der Skopus eines Zeichens ist der Einfluss auf Konstruktionen, an denen es beteiligt ist, also der „Stellenwert in der Konstituentenstruktur des Satzes.“ (Diewald 1998: 22) oder anders formuliert, die strukturelle Größe der Konstruktion, deren Bildung eben diese unterstützt (Vgl. Lehmann 2002: 128). Je höher ein Zeichen grammatikalisiert ist, desto kleiner der Skopus. Hilfsverben beispielsweise verändern nur ein lexikalisches Element, wohingegen Vollverben den ganzen Satz regieren können. Dieser Grammatikalisierungsprozess wird als Kondensierung beschrieben. (Vgl. ebd.:22f.)
Fügungsenge: Die syntagmatische Kohäsion beschreibt den Fusionsgrad eines Zeichens. Szczepaniak beschreibt diesen Prozess am Beispiel von Klitisierung, dem Übergang eines freien Lexems zu einem gebundenen Morphem (Vgl. Szczepaniak 2011: 17 u. 22). Diese Übergänge finden beispielsweise aufgrund von schnellem Sprechtempo oder schwacher Betonung statt und können sich im Verlauf der Grammatikalisierung zu festen Affixen entwickeln. (Vgl. Diewald 1998: 12) Vor allem bei primären Präpositionen lassen sich diese Verschmelzungen erkennen.
(5) Ich gehe zum Arzt. (zu dem zum)
(6) Ich bin aufm Weg. (auf dem aufm)
(7) Das Blatt liegt unterm Tisch (unter dem aufm)
Besonders bei Beispiel (5) wird deutlich, dass es sich bei der Enklise um eine bereits gefestigte Form mit eigenständiger Bedeutung handelt. Der Satz Ich gehe zu dem Arzt fordert indirekt eine genauere Spezifizierung, zum Beispiel: Ich gehe zu dem Arzt, der mit empfohlen wurde. Diese Spezifizierung wird in (5) nicht gefordert.
Stellungsfreiheit: Im Verlauf der Grammatikalisierung verliert ein Zeichen seine Stellungsfreiheit und wird an einer festen Position des Satzes fixiert. Die syntagmatische Variabilität sinkt. Demonstrativpronomen haben beispielsweise mehr Stellungsfreiheit als subordinierende Konjunktionen, weshalb angenommen werden kann, dass die Demonstrativpronomen niedriger, beziehungsweise die subordinierenden Konjunktionen höher grammatikalisiert sind.
(8) Kennst du den ? Ich kenne den nicht. oder Den kenne ich nicht.
(9) Ich komme nicht raus, weil es regnet. *Ich komme nicht raus, es weil regnet. *Ich komme nicht raus, es regnet weil.
Die Erscheinungsformen der Grammatikalisierung hat u.a. Szczepaniak (2011: 23) in einer Tabelle zusammengeführt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Erscheinungsformen der Grammatikalisierung (Lehmann 1995)
Im bisherigen Verlauf der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die einzelnen Grammatikalisierungsparameter getrennt voneinander zu betrachten und zu beschreiben.
Es lässt sich aber deutlich erkennen, dass die Parameter theoretisch miteinander verbunden sind und korrelieren. Trotzdem müssen nicht alle aufgeführten Teilprozesse auftreten. Viele sprachliche Zeichen, die einem Grammatikalisierungsprozess unterliegen, müssen beispielsweise nicht dem Vorgang der Koaleszenz unterliegen, sondern existieren weiterhin als freie Grammeme (z.B. das Hilfsverb haben). Die zentralen und am häufigsten auftretenden Teilprozesse innerhalb des Grammatikalisierungsverlaufs sind die Erosion, die Fixierung und die Paradigmatisierung. (Vgl. u.a. Lehmann 2002: 146f. u. Szczepaniak 2011: 23)
Die hier vorgestellten Grammatikalisierungsprozesse und Parameter lassen sich auch auf Präpositionen anwenden, um deren jeweiligen Grad der Grammatikalisierung zu untersuchen. Allerdings sind diese Parameter sehr allgemein gehalten und können auf alle grammatischen Funktionswörter bezogen werden. Wichtige Merkmale, die unabdingbar für die Grammatikalisierung von Präpositionen sind, werden nicht thematisiert. Hierfür werden im Folgenden zwei weitere Prinzipien vorgestellt. Bevor dies geschieht, wird allerdings ein Zwischenschritt gemacht, in dem der Versuch unternommen wird, die grammatische Kategorie der Präpositionen zu definieren.
3. Präpositionen: Schwierigkeiten der Kategorisierung?
Eine genau Definition von Präpositionen festzulegen, erweist sich als äußerst schwierig. Deutlich wird dies allein schon durch die Tatsache, dass in verschiedenen Grammatiken zur deutschen Sprache eine unterschiedliche Anzahl an Präpositionen festgesetzt wird. Engel spricht von genau 119 Präpositionen (2004: 385) und auch Sommerfeldt/Starke gehen von „etwa 120 Präpositionen“ (1998: 142) aus, ergänzen aber, dass sich der Bestand durch Präpositionalphrasen erweitert (Vgl. ebd.). Der Duden folgt der Annahme, dass es sich bei den Präpositionen um eine relativ offene Klasse handelt, „[allerdings [...] nur etwa 20 Präpositionen [...] häufig auftreten (an, auf, aus, bei, bis, durch, für, gegen, hinter, in, mit, nach, neben, über, um, unter, von, vor, zu, zwischen).“ (1995: 375) In einer Fußnote wird erwähnt, dass die Anzahl der Präpositionen zwischen 50 und weit über 100 liegt, je nach enge oder weite der Definition. (vgl. ebd.)
Eisenbergs Begriffsbestimmung deckt sich weitestgehend mit der des Dudens, allerdings geht er von einem Kernbestand an Präpositionen aus, die „eine relativ kleine und ich sich geschlossene, [nicht wie in der Definition des Dudens offene], Gruppe von Ausdrücken [.] [darstellen].“ (2006:184) Gleichzeitig revidiert er seine Aussage gewissermaßen: „Versteht man unter Präpositionen nichtflektierbare Einheiten, die ein substantivisches Nominal bezüglich Kasus regieren, dann hat das Deutsche mehr als hundert Präpositionen.“ (ebd.: 187) Erben beschreibt die Präpositionen als „kleine, kaum die Anzahl von 200 Wörtern erreichende „Funktionsgemeinschaft.““ (1980: 189) Einige Grammatiken, beispielsweise die von Glinz (1975) oder Fläming (1991), geben überhaupt keine Anzahl an. Di Meola (2014) hingegen kommt auf 450 Einheiten, bei denen Eisenberg allerdings anzweifelt, ob es sich bei allen um „echte“ Präpositionen handelt (Vgl. Eisenberg 2006: 187).3 Gerade bei der Definition des Dudens und der Eisenbergs wird deutlich, dass die Präpositionen als Wortgruppe scheinbar nochmals aufgeteilt, beziehungsweise unterteilt werden können. Einen Ansatz hierfür bieten Helbig/Buscha (2001), die zwischen primären und sekundären Präpositionen unterscheiden und diese wie folgt definieren:
Die primären Präpositionen sind in der Gegenwartssprache nicht als Ableitungen und Zusammensetzungen erkennbar und bilden eine relativ geschlossene Wortklasse. [.] [Hierzu zählen überwiegend die Präpositionen, die der Duden als Kernbestand angibt.] [.] Die sekundären Präpositionen erweitern den festen Bestand der primären Präpositionen. (ebd.: 353) Sprachhistorisch handelt es sich bei primären Präpositionen um ältere Varianten der Wortgruppe, die sekundären Präpositionen haben sich in einem späteren Verlauf zu Präpositionen entwickelt. Zu den sekundären Präpositionen zählen Helbig/Buscha auch Wortgruppen, die wie Präpositionen verwendet werden. Hoberg (1988) hingegen nennt diese Gruppen Präpositionalphrasen, also Präpositionen in Verbindung mit einer Nominalphrase, bei denen der Prozess der Grammatikalisierung noch nicht vollständig abgeschlossen ist, weshalb sie noch nicht als Präpositionen bezeichnet werden können (Vgl. Hoberg 1988: 297). In der Gegenwartssprache findet man vor allem Verbindungen von Präpositionen und Substantiven, bei denen das Substativ eine allgemeine Bedeutung hat (1) oder das Substativ der Wortgruppe ausschließlich in dieser festen Verbindung möglich ist (2). Helbig/Buscha geben hierfür folgende Beispiele (Vgl. ebd. 354):
2. Auf Grund des Wetters (=wegen)
3. In Anbetracht <- *der Anbetracht (ebd.)
Anhand der Einteilung in primäre und sekundäre Präpositionen wird deutlich, dass die Wortart einem Grammatikalisierungsprozess unterliegen muss, was in Kapitel XY näher thematisiert wird.
Der Terminus Präposition hat seinen Ursprung im Lateinischen und bedeutet „das Vorangestellte“. Tatsächlich sind die meisten Präpositionen ihrem Bezugswort vorangestellt. Allerdings existieren auch Post- und Zirkumpositionen. (Vgl. z.B. Duden 2009: 375/ Hentschel/Weydt 2013: 251)
4. Der Stift liegt auf dem Tisch. (Präposition)
5. Der Nachricht zufolge geht es ihm gut. (Postposition)
6. Um des Friedens willen stimme ich zu. (Zirkumposition)
Ein neutraler Begriff der keine Voranstellung impliziert wäre Adposition. (Vgl. Hentschel/Weydt 2013: 251) Dieser Terminus ist sowohl in der Standardsprache als auch innerhalb der Grammatiken wenig geläufig, was zum einen die Möglichkeit zur Kritik gibt, da Präpositionen nicht zwangsläufig vor dem Bezugswort stehen müssen. Auf der anderen Seite ist diese Bezeichnung insoweit zutreffend, als dass sie eine gewisse Dynamik, im Sinne von Veränderung, impliziert. Es ist anzunehmen, dass sich neue Präpositionen, beziehungsweise Präpositionalphrasen im Laufe von Sprachwandelprozessen den prototypischen, hochgrammatikalisierten Präpositionen, die immer vor ihrem Bezugswort zu finden sind, annähern. Dementsprechend ist der Prozess der Grammatikalisierung in der Wortbedeutung Präposition bereits vorhanden.
[...]
1 Grammatikalisierungsprozesse als Sprachwandelprozesse sind keine bewussten Entscheidungen, sondern im Sinne Rudi Kellers dem Phänomen der „unsichtbaren Hand“ unterlegen.
2 Diskurs wird hier nicht im Foucaultschen, sondern in einem linguistischen Sinne verstanden und meint das Verhältnis zwischen Sprache, (Welt-) Wissen und Gesellschaft. Vereinfacht könnte der Begriff an dieser Stelle auch durch den Terminus Diskussion ersetzt werden, wobei der Diskurs eher als Metaebene der Diskussion verstanden werden kann.
3 Im weiteren Verlauf der Arbeit folgt eine prototypische Darstellung der Präpositionen, in der deutlich wird, was unter dem Begriff „echte“ Präpositionen verstanden werden kann.