Die Bedeutung der Traumdeutung für den Surrealismus. Dialektik und Uniformität von Sex und Tod in dem Film "Un chien andalou"


Term Paper, 2021

15 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Surrealismus und der Einfluss der Traumdeutung

3. Filmanalyse: Aspekte von Sex und Tod im Film

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

6. Internetquellen

7. Filmverzeichnis

1. Einleitung

Ebenso habe ich aus Gründen, die ich nicht durchschaue, im sexuellen Akt immer eine Verwandtschaft mit dem Tod verspürt, eine geheimnisvolle, aber stets vorhandene Beziehung. Ich habe sogar versucht, dieses unerklärliche Gefühl in Bilder zu übersetzen in Un chien andalou (Hervorh. im Orig.).1

Dass der sexuelle Akt zum Tod führen kann, beweist eine Studie aus dem Jahr 2017, die das Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums der Goethe-Universität in Frankfurt am Main um die Rechtsmediziner Lena Lange und Markus Parzeller durchgeführt hat. So stellte man 99 sogenannte „Liebestode“ von insgesamt 38.000 Autopsien über einen Zeitraum von 45 Jahren fest. Überwiegend Männer mit einer Vorerkrankung und ein Großteil von ihnen während eines Seitensprungs mit einer Prostituierten, erlagen dem Tod2 während des Geschlechtsaktes. Das ist das Fazit der Analyse, die im „Journal of Sexual Medicine“3 erschienen ist. Auch die französische Redewendung »la petite mort« (übersetzt: der kleine Tod) für Orgasmus stellt eine Verbindung zum Tod her.4 Eine Verbindung zwischen Tod und sexueller Lust sah auch der berühmte Arzt, Neuropsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker Sigmund Freud, der dem Eros5 den Todestrieb6 entgegenstellte und gleichzeitig behauptete, dass diese Gegenpole nicht isoliert voneinander zu betrachten sind, sondern eine Vermischung eingehen7. In Luis Buñuel und Salvador Dalis Film Un chien andalou (Ein andalusischer Hund, FR 1929) kann man diese Phänomene von Gegensätzlichkeit und Interaktion ebenfalls feststellen.

Wie Luis Buñuel die Dualität und Einheit von Sex und Tod in dem Film Un chien andalou darstellt, das soll diese Hausarbeit untersuchen, indem sie die visuellen und auditiven Darbietungen, die eine solche Interpretation zulassen, filmanalytisch erfasst. Durch die ergänzende Anwendung der psychoanalytischen Traumdeutung nach Freud soll die Filmanalyse8 zudem theoretisch untermauern, wie sich die Beziehung zwischen Sex und Tod ausdrückt. Das vorbereitende Kapitel „Surrealismus und der Einfluss der Traumdeutung“ soll insbesondere die Bedeutung des Traumes für den Surrealismus herausarbeiten und eine kurze Einführung in das Sujet der Traumanalyse nach Sigmund Freud geben.

2. Surrealismus und der Einfluss der Traumdeutung

Der französische Schriftsteller Guillaume Apollinaire hat den Begriff „Sur-Realismus“ 1917 in einem Vorwort zu Jean Cocteus Programm zu Parade eingeführt und beschrieb damit einen „Über-realismus“.9 Seine Wortschöpfung wurde einige Jahre später von André Breton und seinen Freunden in Hommage an Apollinaire übernommen, bedeutete für sie aber „Meta-Realismus“.10 Breton hatte damals Verbindungen zu den bedeutendsten Dadaisten11, von denen er und andere sich abspalteten, weil ihnen Dada zu subversiv und nihilistisch war. Daraufhin wurde er Gründer und führender Theoretiker der Surrealisten, wie sie sich nannten. Diese lehnten den Rationalismus ab.12 Das Groteske und Irrationale faszinierte sie und ihr Ziel war es, die Gesellschaft durch Revolution zu transformieren.13

Mit der Welt des Unbewussten und der Träume kam Breton, der als zwanzigjähriger medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum der französischen Armee arbeitete, durch Sigmund Freud und Pierre Janet in Kontakt.14 Die Auseinandersetzung mit deren Theorien sollte der Grundstein für die surrealistische Bewegung sein.15 Beeinflusst von Freuds Theorie sah Breton seine Aufgabe darin, die Sprache des Traums zu entschlüsseln und die Tiefen des Unterbewusstseins zu erkunden.16 Techniken, wie der Automatismus17 bezweckten die „Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, Vernunft und Wahnsinn, objektiver und subjektiver Erfahrung aufzuweichen“.18 Durch das Aufheben der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit sollte so eine absolute Wirklichkeit, eine Surrealität erschaffen werden.19 Das funktionierte auch über die Analyse von Träumen.20

Das Drehbuch zu Un chien andalou resultierte größtenteils aus den Träumen von Salvador Dali und Luis Buñuel und entstand mithilfe des Automatismus.21 Sie strichen jegliche Szenen, die irgendeiner Logik folgten.22 Somit ist der Film ein sich anbietendes Untersuchungsfeld für die Traumdeutung nach Freud, dessen Einfluss im Folgenden beschrieben werden soll.

Eines der bedeutendsten Werke von Freud ist die Abfassung seiner Traumdeutung von 1900, zu deren Erkenntnis die 1897 initiierte Selbstanalyse wesentlich beitrug.23 Freud hatte mit der Traumdeutung und der Psychoanalyse Methoden entwickelt, um Geisteszustände und ihre Manifestationen in Träumen zu erkennen und zu analysieren.24 So stellte er unter anderem fest, dass Träume von Erwachsenen den „tieferen Sinn bis zur Unkenntlichkeit entstellen“, während Träume von Kindern „direkt und einfach“25 sind. Da der Traum nicht vom Bewusstsein überwacht werden kann, manifestieren sich dort die Begierden und Ängste.26

In „Jenseits des Lustprinzips“ konzipierte Freud den Eros und den Todestrieb.27 Sie ist eine „der originellsten aber auch umstrittensten Schriften Freuds“28, da er seinen Spekulationen freien Lauf ließ. Bezüglich des Todestriebs äußerte sich Freud wie folgt: „Man könnte mich fragen, ob und inwieweit ich selbst von den hier entwickelten Annahmen überzeugt bin. Meine Antwort würde lauten, daß [sic!] ich weder selbst überzeugt bin, noch bei anderen um Glauben für sie werbe.“29

Breton sah Freuds Theorien nach einer gewissen Zeit eher als Inspirationsquelle an, die er für die eigenen surrealistischen Theorien umformulierte.30 Buñuel, der behauptete, sein Film enthielte keine Symbole, räumt ein, dass die psychoanalytische Methode zur Untersuchung des Films legitim sei.31 Dies lässt darauf schließen, dass die Traumdeutung von Sigmund Freud den Filmemachern bekannt war.

3. Filmanalyse: Aspekte von Sex und Tod im Film

In der folgenden Filmanalyse sollen insbesondere die ästhetischen Mittel untersucht werden, die Aspekte des Todes oder Sex symbolisieren könnten und wie diese miteinander in einer Verbindung stehen. Nach der Merkmalbestimmung im visuellen Kontext soll auch die auditive Ebene zum Schluss miteinbezogen werde.

Ein Mann mit Zigarette (Luis Buñuel) steht in der ersten Szene vor dem Balkonfenster und wetzt das Rasiermesser, mit dem er seine ovalförmigen Fingernägel schneidet. Freud behauptet, dass alle länglichen Objekte wie Stöcke, Baumstämme oder auch Waffen, Messer und Nagelfeilen das männliche Glied darstellen.32 Schachteln, Kästen, Dosen oder auch Höhlen und Zimmer symbolisieren nach Freud den Frauenkörper.33 Wann immer also ein längliches Objekt in eine yonische34 Figur eintritt, sie durchschneidet oder passiert, kann man davon ausgehen, dass dies eine Anspielung auf den Geschlechtsakt im Freud‘schen Sinne darstellt.

Nachdem der Mann mit dem silbernen Rasiermesser auf den Balkon tritt und seinen Blick gen Himmel wendet, sieht er drei längliche silberne Wolken, die sich auf den Mond zubewegen. Diese Wolken lassen sich nicht nur phallisch interpretieren, sie können ebenso mit Spermien verglichen werden, die zur Eizelle (Mond) aufbrechen. Der Mond wird zudem mit dem Weiblichen assoziiert.35

Der ekstatisch wirkende Blick des Mannes verweilt auf dem Mond und enthält dadurch einen mystischen Subtext. Der nach oben gerichtete Blick kann eine Verbindung vom Diesseits mit dem Jenseits bedeuten. Daraufhin folgt die berühmte Szene, in der einer Frau (Simone Mareuil) das Auge vom zuvor gezeigten Mann auseinandergezogen wird und das phallische Rasiermesser angesetzt wird. Auf diese Einstellung folgt in einem Jump Cut das fotografische Negativ vom linksgerichteten hellen Mond, den nun die Wolken passieren und antizipieren lassen, was mit dem dunklen Auge der Frau, das rechtsseitig im Bild platziert ist, geschehen könnte. Gewaltsam dringt das Rasiermesser in der letzten Einstellung in das vermeintliche Auge der Frau ein und eine geleeartige Masse tritt hervor. Diese metaphorische Assoziationskette sorgt dafür, dass ein poetisches Bild (der Mond in der Nacht) mit einem grausamen Bild (Schnitt durch das Auge) verschmilzt. Ebenso verschmilzt das scharfe Rasiermesser mit den weichen Wolken. Der gewaltsame Eintritt des phallischen Rasiermessers in das Auge36, das nach Freud die weibliche Genitalöffnung symbolisiert, ist die erste aggressive sexuelle Assoziation mit dem Tod. Das brutale Zerstören des Augapfels, dass das Abjekte37 hervorbringt, gebiert den Tod, der dem Leben innewohnt. Die Eröffnungsszene etabliert die dialektische Beziehung zwischen den Gegensätzen.

Ein Mann (Pierre Batcheff), im Folgenden als „Fahrradfahrer“ bezeichnet, fährt „Huit ans apres“ (8 Jahre später) in Nonnenkutte eine Straße entlang. Die Verschmelzung von Männlichkeit und Weiblichkeit scheint hier nicht nur durch das Crossdressing38 ausgedrückt zu sein, denn die Schachtel ist nach Freud ein Symbol für die Weiblichkeit, die hier phallisch um den Hals baumelt. Nach einer Großaufnahme dieser Schachtel wird in das Zimmer einer Frau überblendet. Diese traumähnliche Überblendung stellt eine Verbindung zwischen dem Fahrradfahrer und der Frau dar. Diese schreckt auf und schaut aus dem Fenster, noch bevor der Fahrradfahrer zu Fall kommt.

Ein weiteres Symbol für den Geschlechtsakt ist nach Freud das Herauf- oder Heruntersteigen von Treppen.39 Dieses Symbol findet man in der Szene, in der die Frau die Treppen herunterläuft, um dem gestürzten Fahrradfahrer in Nonnenbekleidung zu Hilfe zu eilen. Neben diesem sexuellen Aspekt schwebt auch der Tod im filmischen Raum, denn der Fahrradfahrer liegt regungslos mit dem Kopf auf der Bordsteinkante. Im Angesicht dieses Vorkommnisses küsst sie den gestürzten Mann, als wolle sie ihn wiederbeleben.

[...]


1 Vgl. Buñuel (2004), S. 25.

2 Die Vermutung liegt nahe, dass die Dunkelziffer weit höher sein dürfte, denn die Autopsien wurden nur in Fällen von forensischem Interesse durchgeführt.

3 The Journal of Sexual Medicine (2017) (Internetquelle).

4 Sandra Tod (2019) (Internetquelle).

5 „Sowohl die auf fremde Objekte als auch die auf das eigene Ich gerichteten Sexualtriebe werden nun mit den Selbsterhaltungstrieben als Eros, Lebenstrieb, zusammengefasst.“ (Köhler (1995), S. 16).

6 „Der Todestrieb ist bestrebt die Einheiten zu zerstören, die ihm entgegen stehen um das Leben in den anorganischen Zustand zurückzuführen und damit einen Abbau jeglicher Spannungen zu erreichen. Der Todestrieb kann auf äußere Objekte gelenkt werden und sich als Aggressions-, Zerstörungs- oder Machttrieb äußern. Der Sadismus und Masochismus erklärt diesen Vorgang auf sexueller Ebene.“ (Ruffié (1990), S. 369).

7 Vgl. Benjamin (1990), S.83.

8 Die Filmanalyse basiert auf den Grundlagen des Buches Filmanalyse von Keutzer u. a.

9 Vgl. Bohn (2002), S. 125.

10 Ebd., S.130.

11 In Zürich entstand 1915 eine Bewegung aus Literaten, Bildhauern und Maler rund um Hans Arp, die sich Dadaisten nannten. In New York wurde die Bewegung von Marcel Duchamp angeführt. Ihr Ziel war es eine Anti-Kunst zu produzieren, die sich gegen die gängigen Konventionen richtete. (Vgl. Amann (2010) (Internetquelle)).

12 Vgl. Dupré (2012), S. 172.

13 Ebd., S. 173.

14 Vgl. Schneede (2002), S. 25.

15 Ebd., S.19.

16 Vgl. Bohn (2002), S. 130.

17 Ecriture automatique ist ein Vorgang, bei dem das Bewusstsein keine Kontrolle über das Schreiben ausüben soll. Man schreibt unter anderem in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ungefiltert Wörter und Gedanken auf. Die Gedanken fließen frei aus dem Unterbewusstsein und entziehen sich logischer Nachvollziehbarkeit.

18 Vgl. Dupré (2012), S.174.

19 Vgl. Dupré (2012), S. 174.

20 Vgl. Bohn (2002), S. 129.

21 Vgl. Kyrou (1963), S. 18.

22 Ebd.

23 Vgl. Köhler (1995), S. 12.

24 Vgl. Schneede (2006), S. 45.

25 Vgl. Fäh (2005), S. 68.

26 Vgl. Schneede (2006), S. 25.

27 Vgl. Köhler (1995), S. 67.

28 Ebd.

29 Zitat Köhler nach Freud (1920g; GW XIII: 21), S. 70.

30 Vgl. Hadda (2019), S. 77.

31 Vgl. Schwarze (1993), S. 33.

32 Vgl. Freud (2010), S. 375.

33 Ebd.

34 Yoni: Sanskritisch für weibliches Geschlecht.

35 Vgl. Caryad (2015), S.12.

36 Vgl. Freud (2010), S. 380.

37 Vgl. Amann (2011) (Internetquelle).

38 Vgl. Merschmann (2012) (Internetquelle).

39 Vgl. Freud (2010), S. 376.

Excerpt out of 15 pages

Details

Title
Die Bedeutung der Traumdeutung für den Surrealismus. Dialektik und Uniformität von Sex und Tod in dem Film "Un chien andalou"
College
Johannes Gutenberg University Mainz
Course
Film als Experimentierfeld der Sinne: Avantgarde und Underground
Grade
1,0
Author
Year
2021
Pages
15
Catalog Number
V1041973
ISBN (eBook)
9783346473417
ISBN (Book)
9783346473424
Language
German
Keywords
Luis Bunuel, Psychoanalyse, Sigmund Freud, Ein andalusischer Hund, Avantgardefilm
Quote paper
Maria Hansen (Author), 2021, Die Bedeutung der Traumdeutung für den Surrealismus. Dialektik und Uniformität von Sex und Tod in dem Film "Un chien andalou", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1041973

Comments

  • No comments yet.
Look inside the ebook
Title: Die Bedeutung der Traumdeutung für den Surrealismus. Dialektik und Uniformität von Sex und Tod in dem Film "Un chien andalou"



Upload papers

Your term paper / thesis:

- Publication as eBook and book
- High royalties for the sales
- Completely free - with ISBN
- It only takes five minutes
- Every paper finds readers

Publish now - it's free