Alfred Krupp und "seine" Arbeiter. Analyse der Unternehmenspolitik


Term Paper (Advanced seminar), 2020

27 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Fragestellung und methodische Grundlagen

3. Entwicklung der Firma Krupp-Gussstahlfabrik unter Alfred Krupp
3.1 Ursprung der Krupp-Gussstahlfabrik
3.2 Unternehmensentwicklung unter Alfred Krupp
3.3 Integration der Arbeitskräfte in komplexe Arbeitsabläufe
3.4 General-Regulativ

4. Patriarchalismus im Deutschen Reich
4.1 Der Patriarchalismus von Alfred Krupp

5. Sozialpolitik und Wohltaten von Alfred Krupp
5.1 Werkswohnungsbau
5.1.1 Die restriktive Seite der Werkswohnungen
5.2 Krankenkasse
5.2.1 Unternehmenspolitische Motivation Alfred Krupps
5.3 Alters- und Invalidengesetz
5.3.1 Die kritische Seite der Pensionsregelungen

6. Krupp als der ,„Herr im Haus“

7. Alfred Krupp und die Arbeiterbewegung in der Gussstahlfabrik
7.1 Die Entwicklung der Arbeiterschaft bis Ende der 1860er Jahre
7.2 Das Verhältnis Krupps zu seinen Arbeitern bis Anfang der 1870er Jahre
7.3 Die Dynamik des Arbeitskampfes in den 1870er Jahren
7.4 Die Krupparbeiterschaft ab Ende der 1870ger Jahre

8. Zusammenfassung

9. Resümee

10. Literaturverzeichnis

11. Quellenverzeichnis

12. Onlineliteratur

13. Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

Das 19. Jahrhundert zeigte sich als ein Jahrhundert des Umbruchs im Deutschen Reich. Eine der entscheidenden strukturverändernden Kräfte war neben der Liberalisierung und Demokratisierung die Industrialisierung (Mattheier 1973, S. 18). Technische Neuerungen und organisatorische Veränderungen ermöglichten einen fundamentalen Wachstums- und Strukturwandlungsprozess. Diese sozioökonomische Dynamik hatte Einfluss auf alle Lebensbereiche (Kocka 2001, S. 44-45). An die Stelle kleiner Werkstätten traten jetzt große Fabriken mit einem zunehmenden Grad an Automatisierung. Neu an diesen Großfabriken war ihre Doppelfunktion als Produktionsstätte und soziales Handlungsfeld (Osterhammel 2009, S. 977). D.h., der Unternehmer musste nicht nur die Produktion auf die neuen Dimensionen einstellen, sondern sich zugleich mit sozialen und politischen Problemen auseinandersetzen. Die im Zuge der Industrialisierung entstandene „industrielle Unterschicht“ (Mattheier 1973, S. 18-19) wuchs an und entwickelte zugleich ein eigenes Klassenbewusstsein. Viele Arbeiter begannen, sich zu organisieren, gegen schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen zu protestieren und Forderungen zu stellen. Diese Entwicklung gefährdete die Position und den Machtanspruch der Unternehmer und der etablierten bürgerlichen Gesellschaft. Aus Angst vor dem Einfluss der erstarkenden organisierten Arbeiterbewegung wurden sowohl von staatlicher Seite als auch von Seiten der Unternehmer verschiedene Maßnahmen eingeleitet bzw. Versuche unternommen, um die alten Strukturen und Machtpositionen zu sichern. Neben Repressalien und Drohungen eigneten sich hierfür in besonderer Weise Systeme betrieblicher Wohlfahrt. Damit konnten nicht nur gut qualifizierte Stammarbeiter als loyale Mitarbeiter an den Betrieb gebunden werden, sondern die Wohlfahrtseinrichtungen ließen sich zugleich auch als , Wohlfahrtsfessel' nutzen, mit deren Hilfe Disziplinierung und Kontrolle möglich war, um die Rolle des Unternehmers als den „Herrn im Haus“ zu stärken (Weber 2010, S. 416f). Gleichzeitig wurde hiermit die Gesundheit und Arbeitskraft der Arbeiter (als wichtige Ressource im Produktionsprozess) gefördert und erhalten.

Die Gesamtheit der Maßnahmen zeigte zunächst nur mäßigen Erfolg und es kam immer wieder zu Konflikten innerhalb der Betriebe. Die Arbeiterbewegung wurde dadurch zum Teil noch gestärkt, denn aus den Konflikten ergaben sich oft Anstöße zur Herausbildung eines gemeinsamen Klassenbewusstseins (Paul 1987, S. 11). Letztendlich gelang es jedoch einzelnen Unternehmen, durch Wohlfahrts- bzw. Fürsorgemaßnahmen und -institutionen und gleichzeitig durch Drohungen, Druck und Kontrolle, die Arbeiter weitestgehend loyal an die Firma zu binden und Arbeitskämpfe zu vermeiden.

2. Fragestellung und methodische Grundlagen

In der vorliegenden Arbeit soll diese Unternehmenspolitik am Beispiel der Krupp-Gussstahlfabrik in Essen in der Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Tod Alfred Krupps im Jahr 1887 dargestellt und analysiert werden. Die Firma Krupp-Gussstahlfabrik wurde als Beispiel gewählt, weil dieses Unternehmen mit seiner Geschichte für „[...] ein ausgeprägtes deutsches Verständnis unternehmerischer Tätigkeit [stand], das Analytiker rückblickend als „Rheinischen Kapitalismus“ charakterisiert haben.“ (Albert 1992, zitiert nach: James 2011, S. 8). Gleichzeitig betrieb Alfred Krupp wie kaum ein anderer Unternehmer seiner Zeit eine so umfangreiche betriebliche Sozialpolitik.

Bei der Bearbeitung der Thematik soll zunächst ein kurzer Abriss der Firmenentwicklung unter Leitung von Alfred Krupp und eine Beschreibung der Integration der Arbeiter in die neu entstandenen Arbeits- und Lebenswelten gegeben werden.

Im Fokus dieser Arbeit stehen die Darstellung des Verhältnisses Alfred Krupps zu „seinen“ Arbeitern, die dahinter stehende Motivation und die Auswirkungen der Mitarbeiterpolitik Krupps auf die Arbeiter und die Arbeiterbewegung in der Krupp-Gussstahlfabrik und darüber hinaus auch in Essen. In diesem Zusammenhang soll die sich daraus entwickelnde Dynamik des Verhältnisses zwischen dem Unternehmer Krupp (Kapitalist) und den Arbeitern bzw. der Arbeiterbewegung betrachtet werden. Zum Abschluss soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die Marxistische Theorie von der Unversöhnlichkeit der beiden Klassen in der betrieblichen Praxis der Krupp­Gussstahlfabrik bestätigen lässt.

Für die Bearbeitung dieser Thematik steht eine Vielzahl detaillierter, fundierter und aktueller Forschungsliteratur von renommierten Historikern wie Jürgen Kocka, Klaus Tenfelde, Johann Paul, Lothar Gall u.a. zur Verfügung. Dabei findet sich umfangreiches Material sowohl zur Entwicklung der Gussstahlfabrik Alfred Krupps als auch zur Entwicklung der deutschen Arbeiterklasse bzw. Arbeiterbewegung. Auch die Quellenlage ist recht umfangreich, da Alfred Krupp viel niederschrieb und vieles davon im Historischen Archiv der Friedrich Krupp GmbH in Essen bewahrt worden ist. Zudem bearbeitete und archivierte der von der Firma Krupp 1909 eingestellte „geschichtswissenschaftliche Mitarbeiter“ Wilhelm Berdrow (1867-1954) Unterlagen und Briefe der Firma und ihres Inhabers (Schröder 1960, S. 180-181). In seinem 1928 verlegten Buch „Alfred Krupps Briefe 1826-1887 findet sich eine Fülle von Aussagen und Ansichten Alfred Krupps wieder.

3. Entwicklung der Firma Krupp-Gussstahlfabrik unter Alfred Krupp

3.1 Ursprung der Krupp-Gussstahlfabrik

Die Firma Friedrich Krupp wurde 1811 von Friedrich Krupp gegründet. Dabei handelte es sich um ein kleines, hochspezialisiertes Handwerksunternehmen zur Herstellung von Gussstahl nach englischem Vorbild. Das Unternehmen finanzierte sich aus dem Privatvermögen der Familie und war zunächst wirtschaftlich wenig erfolgreich. Die finanzielle Lage war ständig angespannt (Gall 2000, S. 19-23).

3.2 Unternehmensentwicklung unter Alfred Krupp

Nach dem frühen Tod Friedrich Krupps im Jahr 1826 übernahm dessen Sohn Alfred Krupp als 14jähriger gemeinsam mit seiner Familie die Geschäfte der Firma. 1848 wurde Alfred Krupp zum Alleineigentümer der Krupp­Gussstahlfabrik (Wolbring 2000, S. 13). Zu diesem Zeitpunkt war die finanzielle Situation der Firma noch immer prekär, oft kurz vor dem Bankrott. Dennoch gelang es ihm, vor allem aufgrund verbesserter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, den Betrieb weiter auszubauen. Insbesondere der Abbau der Zollschranken und der Ausbau der Eisenbahn führten zu einem ersten deutlichen Expansionsschub. Alfred Krupp erkannte schnell die Bedeutung der Eisenbahn und den sich daraus ergebenden Bedarf an dem damals sogenannten Puddeleisen (schmiedefähiges Eisen A.L.) und Flusseisen (heute als Stahl bezeichnet A.L.) (Kocka 1990, S. 415). Der entscheidende Aufstieg begann mit dem Erfolg der Firma Krupp auf der Weltausstellung 1851, der, wie Krupp in einem Gedenkblatt an seine Arbeiter im Jahr 1887 schrieb, den Weltruf der Firma für immer begründete (FAH 2 G 5, 10, zitiert in: Wolbring 2000, S. 335). Die hier gezeigte Gussstahlkanone wurde bereits ab 1856 nach einer ersten größeren Kanonenbestellung aus Ägypten gewinnbringend produziert. 1859 folgte ein preußischer und 1863 ein umfangreicher russischer Rüstungsauftrag. Mit dieser Auftragslage konnte das Unternehmen seine Vormachtstellung in der deutschen Industrie konsolidieren. Der Deutsch-Französische Krieg 1870 / 71 führte dann zu einem weiteren Anstieg der Aufträge und einer damit verbundenen stetigen Expansion der Firma (Paul 1987, S. 20).

3.3 Integration der Arbeitskräfte in komplexe Arbeitsabläufe

Besonders deutlich zeigt sich der Umfang und das Tempo der Expansion der Firma an der kontinuierlich ansteigenden Zahl der Mitarbeiter der Gussstahlfabrik. Beschäftigte Krupp im Jahr 1835 noch 80 Mitarbeiter, so war die Anzahl im Jahr 1857 auf über 1000 gestiegen. Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 beschäftige Krupp dann bereits 10.000 Mitarbeiter (Wolbring 2000, S. 27-33). Am Ende des 19. Jahrhunderts zählte Krupp zu den großindustriellen Riesen (Gall 2000, S. 111).

Das schnelle Wachstum der Gussstahlfabrik von einem kleinen Handwerksbetrieb zu einem großindustriellen Riesen erfolgte nicht systematisch nach einem umfassenden Plan. Zwar hatte sich Alfred Krupp mit der Problematik der Organisation der Arbeit und der Frage des inneren Zusammenhalts schon zu Beginn der Wachstumsphase auseinandergesetzt, aber insgesamt betrachtet wurde anfangs eher mit vielen ad-hoc- Entscheidungen improvisiert. Doch je mehr die Fabrik wuchs, umso unübersichtlicher wurde sie, und es bestand permanent die Gefahr von Betriebsstörungen oder Unterbrechungen. Aus diesem Grunde war eine Organisationsstruktur erforderlich, die den neuen Dimensionen und Erfordernissen gerecht wurde. Die Stellung und Einbindung des Einzelnen im Betrieb musste ebenso festgelegt werden wie die Arbeitsabläufe und die Arbeitsdisziplin. Nur so konnten die Unternehmensstrukturen und -abläufe gesichert, optimiert und gefestigt werden (Gall 2000, S. 101-103).

In der Fabrik trafen Massen von Arbeitskräften aufeinander, die zu koordinieren und disziplinieren waren, denn die neuen Arbeitsstrukturen und - abläufe erforderten neue Arbeitsgewohnheiten und -rhythmen (Osterhammel 2011, S. 977). Die Arbeiter der ersten Generation waren in der Regel zugewanderte, arbeitsuchende Landarbeiter. Sie trafen in der Krupp­Gussstahlfabrik auf eine gänzlich andere Welt mit neuen Dimensionen. Hier mussten sie sich an eine für sie vollkommen neue, ungewohnte Arbeitsdisziplin gewöhnen bzw. diese musste ihnen erst einmal nahe gebracht werden. Beispielsweise mussten sich die Arbeiter an regelmäßige, normierte Zeitgefüge anpassen und meist in geschlossenen Räumen arbeiten. Die bei der Landarbeit gewohnte Koppelung der Arbeitsrhythmen an natürliche Abläufe (Tag / Nacht, Jahreszeiten, Wetter, Saat- und Erntezeiten) spielte in den Fabriken keine Rolle mehr. Hier gab der Anspruch einer maximalen Auslastung der Maschinen und der Arbeitskräfte den Lebenstakt an. Der Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Unternehmen und die systemimmanenten Rentabilitätsansprüche erforderten eine effektive Nutzung der vorhandenen Ressourcen (Kocka 1990, S. 482). Um einen reibungslosen Ablauf der ineinandergreifenden Abläufe in der Fabrik gewährleisten zu können, war es notwendig, die Arbeitsrhythmen genau zu koordinieren und die Beschäftigten zuverlässig daran anzupassen. Koordinierte Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Arbeiter waren dabei unabdingbar. In immer neuen, zuweilen sehr detaillierten Arbeits- und Fabrikanordnungen, begleitet von zahlreichen Ansprachen an seine Arbeiter, versuchte Krupp, die vielen neuen Menschen in deren neuer Umgebung zu organisieren und zu disziplinieren. Die Arbeitsanordnungen enthielten auch umfassende Disziplinierungs- (Straf-) maßnahmen bei Abweichungen, Unbotmäßigkeiten, Ausschussproduktion oder Unpünktlichkeit (Tenfelde et al. 1987, S. 83). Trotz plakativer Arbeitsanordnungen sah der tatsächliche Alltag jedoch oft anders aus. Viele Arbeiter hielten trotz der Disziplinierungsmaßnahmen noch lange an traditionalen Verhaltensweisen (z.B. Unpünktlichkeit oder der „blaue Montag“) fest. Das Arbeitsverhalten war stärker auf die unmittelbare Befriedigung tagesaktueller Bedürfnisse (ausreichende Nahrung, Schlafplatz usw.) als auf zukunftssichernde Lebensplanung gerichtet (Kocka 1990, S. 481f), so dass anfangs bei vielen Arbeitern die Sicht auf die in der Fabrik notwendigen Verhaltensweisen nicht im Vordergrund stand.

In der ständig wachsenden Fabrik war eine effektive Aufsicht und Kontrolle nicht mehr mit den herkömmlichen Methoden aus den alten, überschaubaren Handwerksbetrieben möglich (Tenfelde et al., 1987, S. 83). Der Anspruch der persönlichen Beziehungen des Unternehmers zu seinen Arbeitern ließ sich mit der wachsenden Größe des Unternehmens immer schwieriger durchsetzen und die Entpersönlichung dieser Beziehungen erforderte deshalb neue allgemeine und für alle Arbeiter gültige Regeln bzw. Verhaltensnormen.

3.4 General-Regulativ

Schon 1866 sah Alfred Krupp v.a. aufgrund der vorbeschriebenen Situation die Notwendigkeit eines schriftlichen Reglements für Fabrikarbeiter. Nach jahrelangen Vorarbeiten wurden dann von Alfred Krupp im sog. „General­Regulativ“ von 1872 entsprechende Hierarchien, Rechte und Pflichten aller Beteiligter explizit beschrieben (Gall 2000, S. 114-116) und an jeden Mitarbeiter verteilt. In diesem gesetzesähnlichen Text wurden in 72 Paragraphen die zentralen Werte und Ziele des Unternehmens, der Wirkungsbereich und die Adressaten sowie die Rechte und Pflichten eines jeden Mitarbeiters festgelegt (Ebert 1991, S. 570). Dabei zeigte sich das Führungsverständnis Krupps. Einerseits motivierend fürsorglich, z.B. Arbeitserleichterungen (§ 7), Wohlfahrtsleistungen der Firma (§ 20 - § 23) und andererseits die Forderung von Treue und voller Hingabe gegenüber der Firma (§ 4, § 9) sowie die Strafandrohung bei Treuebruch (§ 24, § 69) (Krupp 1872). Das General- Regulativ fungierte für lange Zeit als das „Grundgesetz“ des Unternehmens (James 2011, S. 82) und spiegelt deutlich den patriarchalistischen Führungsstil Krupps wider.

4. Patriarchalismus im Deutschen Reich

Schon die zeitgenössischen linksliberalen Sozialwissenschaftler Lujo Brentano (1844-1931) und Max Weber (1864-1920) beschreiben den Grundcharakter des Arbeitsverhältnisses in industriellen Großunternehmen in der Mitte des 19. Jahrhunderts als patriarchalistisches Herrschaftsverhältnis (Paul 1987, S. 30). Die Regeln des Arbeitsverhältnisses wurden allein von den Fabrikbesitzern vorgegeben, da deren Position aufgrund asymmetrischer Machtverhältnisse unanfechtbar war. Denn trotz formal bestehender Rechtsgleichheit im Rahmen eines individuell abgeschlossenen Arbeitsvertrags standen sich in der Realität der Fabrikbesitzer als Eigentümer der Produktionsmittel und der Arbeiter als Besitzloser, der nichts weiter als seine Arbeitskraft anzubieten hatte, ungleich gegenüber (Borgmeyer 1994, S. 10). Das Nachwirken feudaler Herrschaftsformen schien die fast uneingeschränkte patriarchale Unternehmermacht im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts zu legitimieren. Diese Macht wurde zugleich gestützt durch das als autoritär von oben und gehorsam von unten militärisch geprägte Milieu der Gesellschaft. Hinzu kam, dass Machtvakua seit der Frühindustrialisierung Raum für die Ausbildung neuer Machtansprüche boten (Ritter / Tenfelde 1992, S. 406). Die wirtschaftliche Liberalisierung und ein noch nicht ausreichend entwickelter gesetzlicher Rahmen machten es möglich, dass Unternehmer autoritär entschieden, wie der Herrschaftsraum „Fabrik“ zu gestalten war. Einmischung (insbesondere politische) von innen und außen in das Betriebsleben wurde entsprechend dem damaligen wirtschaftlichen Liberalismus als Eingriff in persönliche Angelegenheiten des Fabrikbesitzers bewertet (Mattheier 1973, S. 30).

Der industriebetriebliche Patriarchalismus funktionierte u.a. als eine unternehmerische Strategie, mit deren Hilfe der Unternehmer versuchte, seine Herrschaft über die Belegschaft unter Rückgriff auf traditionale Herrschaftsformen zu stabilisieren sowie nach außen und innen hin zu legitimieren. Dabei wurden gewohnte Herrschaftsformen aus der traditionalen Form übernommen und allmählich an die neuen Dimensionen unter Erprobung neuer Herrschaftstechniken und Organisationsformen angepasst. Ein wesentlicher Nutzen dieser Strategie lag in der ihr innewohnenden Möglichkeit der sozialen Disziplinierung, d.h. um so die Arbeiter an die Erfordernisse der Industriearbeit, deren Rhythmus, Rationalität, Fremdbestimmtheit und Anonymität zu gewöhnen (Ritter / Tenfelde 1992, S. 410ff). Der Arbeitgeber beanspruchte das Recht auf Bevormundung „seiner“ Arbeiter, was mitunter auch mit dem Hinweis auf die „natürlichen Unfähigkeit“ der Arbeiter, selbstständig Entscheidungen zu treffen, begründet wurde. Hiermit verband sich aber auch die Verpflichtung, für das Wohl der Arbeiter zu sorgen.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Patriarchalismus die in Deutschland am weitesten verbreitete Betriebsverfassungsform (Mattheier 1973, S. 30).

4.1 Der Patriarchalismus von Alfred Krupp

Die Krupp-Gussstahlfabrik war ein typisches Beispiel für diese Art der Betriebsverfassungsform. Krupp sah in der Vertragsbeziehung mit seinen Arbeitern nicht allein die Zahlung eines Entgeltes für eine erbrachte Arbeitsleistung, sondern nach seinem Verständnis war es ein Beitritt des Arbeiters in die Firma als sozialer Verband und, mehr noch, als Beitritt zu (s)einer Herrschaftsordnung. Bei Eintritt in die Fabrik hatten sich die Arbeiter dem Fabrikherrn unterzuordnen und dessen Herrschaft zu akzeptieren, Krupp als Fabrikherr wiederum sah sich zur Fürsorge für die ihn anvertrauten Arbeiter verpflichtet (Paul 1987, S. 30-33). Diese Koppelung war eins der wichtigsten Merkmale der Kruppschen Unternehmenspolitik. Das Arbeitsverhältnis glich einem feudalen Lehnsverhältnis. Das Verständnis gegenseitiger Treue und Unterordnung gegen materielle Fürsorge war für Krupp Grundlage der Zugehörigkeit des Arbeiters zu seinem Werk (Wolbring 2000, S. 176-178). Dieses Verständnis zog eine im Laufe der Zeit zunehmende Gängelung und immer schärfer werdende Kontrolle und Disziplinierung der Arbeiter nach sich.

Nach dem Willen Alfred Krupps beruhte alles auf persönlichen Beziehungen, die über das Materielle hinausgingen, sowie auf individuellen Verpflichtungen und wechselseitiger Loyalität. Krupp sah die Belegschaft nicht nur als Arbeitsgemeinschaft, sondern zugleich als Lebens- und Wertegemeinschaft; als eine „große Familie“. Sich selbst sah er als Patriarchen, der für das Wohl seiner Mitarbeiter sorgte (Gall 2000, S. 114-116).

5. Sozialpolitik und Wohltaten von Alfred Krupp

Kaum ein anderer Unternehmer hat eine so umfassende Sozialpolitik betrieben wie Krupp. Die hinter diesen Maßnahmen stehende Motivation war vielfältig. Ein Stück weit handelte er uneigennützig und orientierte sich hierbei am alten Modell des patriarchalischen Fürsorgeprinzips innerhalb einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft (Gall 2000, S. 120). Eine große Rolle spielten jedoch auch betriebswirtschaftliche und personalpolitische Überlegungen. Krupp sah schon frühzeitig die Notwendigkeit, die Belegschaft langfristig und loyal an das Unternehmen zu binden. Gerade in Anbetracht der zunehmenden Technisierung und Automatisierung in seiner Fabrik war der Aufbau einer qualifizierten Stammarbeiterschaft unabdingbar (Berner 2009, S. 62). Ein geeignetes Mittel, Arbeiter loyal an das Unternehmen zu binden, sah Krupp in der Gewährleistung von über die Lohnzahlung hinausgehenden Leistungen (Gall 2000, S. 216).

Insgesamt umfasste die Kruppsche Sozialpolitik sehr viele Bereiche. Exemplarisch sollen nachfolgend drei Bestandteile vorgestellt werden: der Werkwohnungsbau, die Krankenkasse sowie die Alters- und Invalidenversorgung.

5.1 Werkswohnungsbau

Mit dem sehr raschen Anwachsen der Fabrik konzentrierten sich Produktionsanlagen und viele Arbeitskräfte an einen Ort. Die Entwicklung urbaner Strukturen folgte dieser industriellen Agglomeration jedoch nur sehr zögerlich, denn systematische Stadtentwicklungskonzepte fehlten ebenso wie öffentliche Investitionen. Der vorhandene private Wohnungsmarkt war meist zu teuer, schlecht bewohnbar oder beides (Langewiesche 1981, S. 143). In den entstandenen Elendsquartieren kam es zwischen 1865 und 1871 zu verheerenden Seuchen. Auf all das reagierte die Stadt nicht, sondern erklärte diese Problematik als Angelegenheit des Unternehmens, da es sich ja um deren Arbeiter handele (Paul 1987, S. 114).

Um Arbeitskräfte zu gewinnen, zu halten und damit seine Produktion sichern zu können, war also Krupp als Fabrikbetreiber gezwungen, eine geeignete Siedlungspolitik zu konzipieren. Allein Menagen reichten nicht mehr aus, da viele Arbeiter bereits Familien hatten. So entstanden planvoll angelegte Quartiere mit kleineren und mittleren Häusern und Gärten zu relativ günstigen Mieten. Bereits 1861 / 62 wurden die ersten Häuser mit 10 Meisterwohnungen gebaut. Mit dem wachsenden Umfang der Fabrik wurden dann jedoch andere Dimensionen erforderlich. 1863 entstand die erste Arbeiterkolonie „Alt- Westend“ mit 144 Wohnungen, der bald darauf weitere folgten. 1876 verfügte die Krupp-Gussstahlfabrik über 3277 Wohnungen, 2502 davon in Werkskolonien (Paul1987, S. 114-118). Krupp plante hier längerfristig, indem er Wohnungen bevorzugt an kinderreiche Familien vergab. Er ging davon aus, dass die Kinder der Krupparbeiter wieder Arbeiter werden würden und das möglichst als treue Untertanen in seiner Fabrik (Wolbring 2000, S. 182).

Nach Krupps Vorstellung sollte dem Werk eine kolonieartige Arbeiterstadt vorgelagert sein, die dem Arbeiter ein Kontrastprogramm zu seinem Arbeitsleben bietet. Aber auch dieser Bereich sollte vom Unternehmen gestaltet werden (Langewiesche 1981, S. 163-164).

5.1.1 Die restriktive Seite der Werkswohnungen

Mit der Wohnungspolitik zeigte sich sehr deutlich die zweischneidige Bedeutung der Kruppschen Sozialpolitik. Angesichts des Mangels an Wohnungen ließ sich der Wohnungsbau gut als Wohltätigkeit darstellen und damit ließ sich die Forderung nach Loyalität von Seiten der Arbeiter legitimieren. Dieser Aspekt spielte eine große Rolle im Zusammenhang mit Krupps ständiger Umsturz- und Sozialistenfurcht. Die Werkswohnungen boten die Möglichkeit der sozialen Kontrolle (Gall 2000, S. 216). Konkret bedeutete das, dass ein Kontrollapparat in Gestalt von Wohnungskontrolleuren aufgebaut wurde. Den Kontrolleuren stand der Zutritt zu allen Räumen der Wohnung jederzeit frei und sie hatten die Anweisung, täglich Wohnungen zu begehen und Unregelmäßigkeiten zu melden. Unterstützt wurden sie von Polizisten, die vom Unternehmen eingesetzt wurden und auch in den Siedlungen wohnten. Die Nutzung der Wohnung war vertraglich mit der Beschäftigung im Werk verbunden und der Mieter hatte am Tag der Entlassung / Kündigung die Wohnung zu verlassen (Paul 1987, S. 120). Auf diese Weise konnten der Gehorsam und die Unterordnung der Arbeiter erpresst werden, denn Konflikte und Aufbegehren konnten zur Obdachlosigkeit des Arbeiters und seiner Familie führen (Kastorff-Viehmann 1981, S. 79). Damit bot sich auch die Möglichkeit der indirekten Erpressung der Männer, denn die Ehefrauen bzw. die Familien wirkten, aus Angst vor dem Wohnungsverlust, auf den Arbeiter ein, auf Arbeitswechsel oder Streik zu verzichten (Langewiesche 1981, S. 167).

Diese Restriktionen hatten im Übrigen zur Folge, dass zunächst nur wenig Arbeiter in die ersten Werkswohnungen einziehen wollten. Offensichtlich lehnten die Arbeiter die damit verbundene ständige Kontrolle ab. Daraufhin wurde den Beschäftigten von der Geschäftsführung mitgeteilt, dass denen, die eine Kruppsche Wohnung ablehnten, die Kündigung drohe (Gall 2000, S. 220).

5.2 Krankenkasse

Bereits 1836 hatten die Arbeiter der Krupp-Gussstahlfabrik die „Hülfskrankenkasse in Fällen von Krankheit und Tod“ als Selbsthilfeeinrichtung gegründet. Diese hatte nur wenige Mitglieder, welche die Mitgliedsbeiträge weitestgehend selbst trugen. Von Seiten Krupps wurde zu dieser Zeit ein geringfügiger Zuschuss zu den Arzthonoraren geleistet, was jedoch an (von ihm definierte) Bedingungen geknüpft war. Diese Taktik Krupps erkannten schon Zeitgenossen als strategisches Denken, um größtmögliche Entscheidungsfreiheit gegenüber seinen Arbeitern zu behalten. So bemerkte der Landrat von Duisburg / Essen 1854 in einem Bericht, dass Krupp die Leistungsvergabe (d.h. die Zuschüsse) abhängig davon mache, ob es sich im jeweiligen Fall um einen „treuen“ oder um einen „weniger achtenswerten“ Arbeiter handele (Paul 1987, S. 98f). Da die Absicherung im Krankheitsfall für die Arbeiter und ihre Familien eine große Rolle spielte, hatte er damit ein wichtiges Disziplinierungsinstrument in der Hand.

Mit dem Beginn der rasanten Expansion der Gussstahlfabrik wurde von Krupp 1855 die „Kranken- und Sterbekasse“ der Gussstahlfabrik“ gegründet. Diese arbeitete streng reglementiert nach einem detaillierten Statut, in dem u.a. die Mitgliedschaft, die Beiträge und die Leistungen geregelt waren. Die Leistungen erweiterten sich u.a. auf die Zahlung von Krankengeld, Honorarzahlungen für den Fabrikarzt, Ausgaben für Medikamente und Sterbegeld. Um dies finanzieren zu können, stieg die Höhe der Beitragszahlungen, von denen Krupp ab 1858 die Hälfte der Kosten übernahm (Gall 2000, S. 216-217).

5.2.1 Unternehmenspolitische Motivation Alfred Krupps

Das Interesse Krupps an der Einrichtung einer dauerhaften Krankenkasse lässt sich nicht allein mit der Selbstverpflichtung der Fürsorge für seine Arbeiter oder mit der steigenden Produktion und den damit zusammenhängenden Risiken erklären. Vielmehr musste sich Krupp an die Erfordernisse der Zeit anpassen und an der Entwicklung der staatlichen Gesetzgebung orientieren. Denn genau zu dieser Zeit wurde bereits sehr intensiv an der Fortentwicklung des staatlichen Krankenkassengesetzes gearbeitet (Paul 1987, S. 99). Nach Inkrafttreten dieses Gesetzes hätte Krupp eine betriebliche Krankenkasse nicht mehr als freiwillige Leistung seinerseits deklarieren können und hätte ein wichtiges strategisches Steuerungsinstrument verloren. Krupp erkannte dies frühzeitig. Er kam deshalb der staatlichen Gesetzgebung, die 1883 eingeführt wurde, nicht nur zeitlich zuvor, sondern er bot zudem weit umfänglichere Leistungen als gesetzlich gefordert wurde (Gall 2000, S. 217).

5.3 Alters- und Invalidengesetz

Bereits in den 1850er Jahren wurde in der Gussstahlfabrik, wenn auch unsystematisch und minimal, Unterstützung bei der Altersversorgung geleistet. Finanziert wurde dies aus Überschüssen der Krankenkasse. 1858, wurden dann von Krupp formelle Pensionsansprüche in Rentenform festgelegt. Diese waren zwar zunächst auch nur sehr gering, steigerten sich jedoch kontinuierlich. Auch hier argumentierte Krupp, dass er gut sorge für seine Arbeiter, wenn diese denn „brav“ seien:

Es ist im Kreise meiner Unternehmungen dem braven, ordentlichen Arbeiter die Gelegenheit geboten, nach einer mäßigen Arbeitsfrist im eigenen Haus seine Pension zu verzehren - in einem so günstigen Maße wie nirgendwo anders in der Welt.“ (Alfred Krupp: „An die Arbeiter der Gussstahlfabrik“ vom 24.6.1872, zitiert nach: Berdrow 1928 (Hrsg.), Alfred Krupp Briefe, S. 279f).

5.3.1 Die kritische Seite der Pensionsregelungen

Die Bedingungen zur Erlangung der Betriebsrente waren im „Pensionsreglement der Firma Krupp-Gussstahlfabrik“ vom 24.4.1858 festgelegt worden. Demzufolge hatte der Arbeiter erst dann Anspruch auf Altersversorgung bzw. auf Versorgung bei Invalidität, wenn dessen Arbeitsunfähigkeit durch 2 Fabrikärzte festgestellt worden war. Eine weitere Voraussetzung war eine Beschäftigungsdauer von mind. 20 Jahren bzw. bei körperlich besonders schwerer Arbeit 15 Jahre (ausgenommen waren Arbeitsunfälle ohne eigenes Verschulden, was allerdings der Arbeiter selbst nachweisen musste). Die Rentenhöhe richtete sich nach Dauer der Betriebszugehörigkeit und der Höhe des Lohns. Dabei wurden Unterbrechungen der Beschäftigungszeit (z.B. auch wegen Auftragsmangels) nicht mit angerechnet. Kündigten Arbeiter vor Ablauf der 20 bzw. 15 Jahre oder wurden sie entlassen, verloren sie, auch bei jahrelangen Einzahlungen, jeglichen Anspruch auf Auszahlung. In diesem Zusammenhang wurde das Entlassungsverhalten Krupps nicht nur von der Arbeiterbewegung, sondern auch von den Lokalbehörden stark kritisiert. Denn v.a. die „Feuerarbeiter“ waren nach relativ kurzer Zeit schnell verbraucht und es kam häufig vor, dass alte und kranke / verunglückte Arbeiter nach Krankengeldzahlung entlassen wurden. In der Folge kamen alternde, verbrauchte Arbeiter oft in die Zwangslage, trotz gesundheitlicher Einschränkungen weiter zu arbeiten, um den Anspruch auf Alterssicherung nicht zu verlieren (Paul 1987, S. 101-104).

6. Krupp als der ,„Herr im Haus“

Der Sozialwissenschaftler Lujo Brentano kam bei der Einschätzung der großindustriellen Arbeitsverhältnisse zu der Erkenntnis, dass sich die Macht der Fabrikbesitzer über ihre Arbeiter weit über das Arbeitsverhältnis hinaus in deren gesamtes soziales, religiöses und politisches Leben erstreckte. Aufgrund dieser Machtkonstellationen seien Gebiete innerhalb des Reichs entstanden, in denen nicht der Wille des staatlichen Gesetzgebers gelte, sondern der Firmeninhaber der Gesetzgeber sei (Paul 1987, S. 30).

[...]

Excerpt out of 27 pages

Details

Title
Alfred Krupp und "seine" Arbeiter. Analyse der Unternehmenspolitik
College
University of Hagen  (Historisches Institut)
Grade
1,7
Author
Year
2020
Pages
27
Catalog Number
V1042553
ISBN (eBook)
9783346433817
ISBN (Book)
9783346433824
Language
German
Keywords
alfred, krupp, arbeiter, analyse, unternehmenspolitik
Quote paper
Antje Lüth (Author), 2020, Alfred Krupp und "seine" Arbeiter. Analyse der Unternehmenspolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1042553

Comments

  • No comments yet.
Look inside the ebook
Title: Alfred Krupp und "seine" Arbeiter. Analyse der Unternehmenspolitik



Upload papers

Your term paper / thesis:

- Publication as eBook and book
- High royalties for the sales
- Completely free - with ISBN
- It only takes five minutes
- Every paper finds readers

Publish now - it's free