Der "criollismo" von Jorge Luis Borges unter besonderer Berücksichtigung seines Essays "el tamaño de mi esperanza" und der historischen Entwicklung des Begriffs


Trabajo Escrito, 2001

14 Páginas, Calificación: 2


Extracto


0. Einleitung

Ziel meiner Hausarbeit ist es, den „criollismo“ von Jorge Luis Borges zu analysieren. Zuerst gehe ich auf den Begriff des „criollo“ und des „criollismo“ im Allgemeinen und auf seine Entwicklung im Laufe der Zeit ein (1.-1.8), danach erläutere ich kurz den „criollismo“ in der argentinischen Literatur (2.). Als nächsten Punkt zeige ich den „criollismo“ von Borges auf (3.) und schließlich mache ich den Höhepunkt in „El tamaño de mi esperanza“ (3.1) fest. Obwohl Borges ab ca. 1935 als Kosmopolit galt, der allen Nationalismus hasste, ist seine erste Periode, von ca.1923 bis 1930, ohne Zweifel als „nacionalista“ zu bezeichnen.

I. Hauptteil

1. Der Begriff des „criollo“ und des „criollismo“ und seine Entwicklung

1.1 Schwierigkeit der Definition

Schlägt man im „Diccionario de la lengua española“ das Lemma „criollo” nach, findet man folgende etymologische Angabe:

„criollo, lla. (Del port. Crioulo, y este de criar).1

„Criar“ kommt aus dem Lateinischen „creare“ und bedeutet „schaffen, erschaffen, hervorbringen.

Da es nicht möglich ist, den „criollismo“ von Borges isoliert zu betrachten, ohne sich vorher darauf zu beziehen, was der Begriff in Amerika, Argentinien und in der argentinischen Literatur bedeutet hat, werde ich im Folgenden aufführen, wie sich der Begriff des „criollismo“ im Laufe der Zeit verändert hat.

„No puede negarse que ese ‘criollismo’ es peculiarísimo de nuestro país… Pero, de fomentarlo, llegará un momento en que los argentinos de abolengo, los que son criollos por los cuatro costados- pero que no son orilleros, compadritos, o de otras layas análogas- necesitarán bonitamente un diccionario del tal idioma nacional para entender esa ‘Literatura criolla’!”2

Ebenso wie sich die „literatura criolla” verändert, gibt es auch keine allein gültige und präzise Definition der Vokabeln „criollo“ und „criollismo“, da es sich nicht um unbewegte Wesenheiten, sondern um historische Begriffe handelt, die sich wandeln:

„El criollismo es un concepto histórico, un fenómeno social y una modalidad literaria”.3

1.2 Die „Comentarios reales“ (1609) von Inca Garcilaso de la Vega

Der Begriff „criollo” taucht erstmals in Perú bei Inca Garcilaso de la Vega in den „comentarios reales“, auf. Er lebte von 1539 bis 1616 und ist in Anlage 1 zu sehen. Seine Mutter war Indianerin. Die „comentarios reales“, die im ausgehenden 16. Jahrhundert verfasst wurden, sind das Gründungswerk der Kolonialliteratur. Sie erschienen 1609, wie in Anlage 2 zu sehen ist. Darin heißt es:

„Es así que al español o española que va de acá llaman español o castellano, (…). A los hijos de español y de española nacidos allá dicen criollo o criolla, por decir que son nacidos en Indias. Es nombre que lo inventaron los negros, (…). Quiere decir entre ellos negro nacido en Indias; inventáronio para diferenciar los que van de acá, nacidos en Guinea, de los que nacen allá, porque se tienen por más honrados y de más calidad por haber nacido en la patria, que no sus hijos porque nacieron en la ajena, y los padres se ofenden si les llaman criollos (…). De manera que al español y al guineo nacidos allá les llaman criollos o criollas. Al negro que va de acá, llanamente le llaman negro o guineo.”4

Die Spanier benutzten „criollo“, um zwischen den in Europa („acá“) geborenen Spaniern, die sie als „español“ oder „castellano“ bezeichneten, und den in Amerika („allá“) geborenen Spaniern, die sie „criollos“ nannten, zu unterscheiden. Die Schwarzen benutzten den Begriff, um zwischen den in Amerika („allá“) geborenen Schwarzen, den „criollos“, und den in Afrika („acá“) geborenen Schwarzen, zu unterscheiden. Das sind zwei unterschiedliche Bezeichnungen, einmal für die Schwarzen und einmal für die Weißen. Dadurch wurden die „españoles europeos o peninsulares“ höher als die „españoles americanos o criollos“ gestellt. Ebenso hatte der Begriff „criollo“ bei den Schwarzen eine negative Färbung. Die „negros o guineos“ waren, sozial betrachtet, höher gestellt.

1.3 Allgemeine Definition des Begriffs „criollo“ im 16. Jahrhundert und seine Konnotationen

In dieser Epoche wurde in historischen Büchern, Wörterbüchern und in Vokabularien ein „criollo“ als „Individuum, das in Amerika geboren wurde, aber von spanischen Eltern“ stammt, offiziell definiert. Das Wort „criollo“ besaß zwei Konnotationen: einerseits hatte es, wenn „nicht-criollos“ es benutzten, eine herabsetzende, abwertende Bedeutung und bezeichnete „die anderen“. Andererseits verlieh aus der Sicht der „criollos“ gerade dieses „anders sein“ dem Wort eine positive Bedeutung, da es für sie eine Unterscheidung von den europäischen Spaniern ermöglichte und damit die Identifizierung mit dem Amerikanischen bedeutete.

1. 4 17. Jahrhundert

Im 17. Jahrhundert nahmen die Amerikaner den Begriff „criollo“ an, um zwischen „criollos“ und den Spaniern der Halbinsel in ihren Beschwerden über deren maßlose Kontrolle der öffentlichen Verwaltung in den Kolonien zu unterscheiden. Der Begriff des „criollo“ war positiv geprägt aufgrund des unabhängigen wirtschaftlichen und kulturellen Lebens in Amerika. Im Gegensatz dazu war aus amerikanischer Sicht der Begriff des „español peninsular“ negativ besetzt aufgrund der Tatsache, dass diese den Kolonien eine eigenständige, das heißt eine kulturell und wirtschaftlich von der Halbinsel unabhängige Entwicklung, absprachen.

1.5 18. Jahrhundert

Gegen Ende des 18. Jahrhundert bezeugten verschiedene Dokumente wie z.B. Karten oder Bittschriften mit Klarheit, dass die „criollos“, vom kulturellen und wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, das Beste vertraten, das in Amerika geboren wurde, obwohl sie europäischen Ursprungs waren. Es gab folglich eine starke Identifizierung zwischen dem „criollismo“ und dem Amerikanischen:

„ser criollo es ser americano, matiz que no puede reclamar para sí el peninsular, aunque comparta con el criollo su origen europeo; es decir, el discurso criollista es a la vez un discurso de identificación y de diferenciación.“5

Dies brachte eine komplexe Identität des „criollos“ hervor, der zwar auf der einerseits sein Erbe aus Europa anerkennt, aber andererseits auch sein „natürliches“ Recht auf den Besitz der amerikanischen Identität fordert.

Die „criollos“ pflegen folgende Definition zu verwenden:

„Para nosotros, los hijos del Nuevo Mundo, criollismo equivale a decir americanismo más o menos auténtico”6

Diese Definition umgeht zum einen, sich auf historisch-kulturelle Umstände zu beziehen, wo ein Zusammenfluß von „criollismo“ und „americanismo“ möglich war. Zum anderen schließt sie aus, dass auch andere authentische Elemente des Amerikanischen von den Indios oder Afrikanern stammen können. Schließlich unterschlägt diese Definition auch, dass der „criollismo“ nicht in allen Nationen Amerikas dieselbe Bedeutung hat.

1.6 Erste Hälfte des 19. Jahrhundert

Die Identifizierung bzw. Gleichstellung des „criollismo“ mit dem Amerikanischen erfuhr im 19. Jahrhundert mit den Unabhängigkeitsbewegungen gegen die alten Kolonien eine Verschiebung. Sie führten zuerst zur Trennung zwischen dem spanischen Mutterland und den Kolonien und schließlich zur Bildung der hispanoamerikanischen Nationen.

Die „élite criolla“ führte die Unabhängigkeitsbewegungen. Die „ciudad letrada“, die intellektuelle Funktionen ausführt, wie z.B. Politiker, Schriftsteller, Professoren, Historiker, nehmen eine aktive Position bei der Gestaltung nationalistischer Reden ein. Das Vorherrschen dieser ethnischen Gruppe beim Bilden der Reden rief die Identifizierung des „criollo“ mit dem Nationalen hervor:

„Criollo, en su sentido traslatico, significa lo nacional, lo autóctono, lo propio y distintivo de cada uno de nuestro países”7

Hier handelt es sich wieder um eine Definition, die danach strebt, die Komplexität einer Nation auf ein dominantes Element zu reduzieren.

Insgesamt wurden dem Begriff „criollo“ in verschiedenen geschichtlichen Instanzen die Konnotationen des „americano“ und des „nacional“ zugeschrieben. Für eine große Anzahl von Argentinier bedeutet, als Adjektiv benutzt, „criollo“ zu sein:

„...la más alta virtud a la que puede aspirar el caballero en cuanto a un número de virtudes no sólo referidas a la destreza deportiva y a las aptitudes físicas, sino también a las cualidades éticas como el coraje, la prudencia, la hospitalidad, el cumplimiento de la palabra empeñada, la amistad desinteresada, en fin, lo que el equivalente criollo practicó sin cálculos en la ‚gauchada’ “8

Der „caballero criollo“ glänzt demnach nicht nur durch ausgezeichnete physische Eigenschaften, sondern auch durch psychische Vollkommenheit, die sich z.B. in Mut, Klugheit, Gastfreundschaft, Zuverlässigkeit etc. äußern. „Caballero“ ist ein elitärer Begriff und bedeutet „Herr, Kavalier, Ritter“. Die vorzüglichen Eigenschaften des „caballero“ werden den höheren sozialen Schichten, der „clase alta/ burguesa“ zugeschrieben, niedere Schichten sind davon ausgeschlossen. In der mündlichen Rede hat „criollo“ eine positive Bedeutung, ist allgegenwärtig und bezeichnet das eigene, das nationale. So spricht man z.B. von der „lengua criolla“, dem „vestido criollo“, oder von „montar a caballo como buen criollo“. „Gringo“ dagegen nimmt eine negative Bedeutung an und bezeichnet das Fremde und Unbrauchbare, es bezieht sich auf die Unfähigkeit verglichen mit „criollo“.

1.7 Zweite Hälfte des 19 Jahrhundert

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kristallisierte sich eine neue Wertung des Begriffs „criollo“ heraus. Die Freidenker sehen im „criollo“ ein Hindernis, um die Stadt zu modernisieren. Die „voz criollo“ beginnt sich im Hinblick auf den Fortschritt mit negativen Konnotationen zu beladen.

Im Gegensatz dazu wird der Begriff „gringo“, d.h. der Einwanderer, aufgrund seines Beitrags zum Fortschritt, aufgewertet.

1.8 Fazit: Die identitätsstiftende Funktion des Begriffs „criollo“

Insgesamt wurden dem Begriff „criollo“ vom 16. bis zum 19. Jahrhundert überwiegend positive Eigenschaften zugeschrieben.

Eine Ausnahme bilden die „comentarios reales“ (1609) von Inca Garcilaso de la Vega wo die „españoles europeos“ sowie die „negros guineos“ höhergestellt wurden als die „criollos“. Im 16. Jahrhundert hatte „criollo“ zwar einerseits eine herabsetzende Bedeutung, andererseits hatte es eben für diese einen positiven Sinn, da es die Identifizierung mit dem Amerikanischen bedeutete.

Im 17. Jahrhundert hatte „criollo“ im Gegensatz zu den „españoles europeos“ eine positive Bedeutung aufgrund des wirtschaftlich und kulturell unabhängigen Lebens. Letztere gerieten eher in Verruf, da sie die Kolonien unterdrückten. Im 18. Jahrhundert bedeutete “criollo” zu sein zugleich, Amerikaner zu sein, was von den Spaniern der Halbinsel nicht behauptet werden kann, obwohl beide europäischen Ursprungs sind. Der „criollo“ erkennt zwar sein Erbe aus Europa an, fordert aber auch sein Recht auf den Besitz des Amerikanischen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte man „criollo“ mit dem Nationalen gleich, da die „élite criolla“ die Unabhängigkeitsbewegungen führte und bei der Gestaltung nationalistischer Reden eine maßgebliche Rolle spielte. Außerdem bedeutete für die meisten Argentinier, „criollo“ zu sein, die höchst mögliche zu erreichende Tugend. Der „criollo“ zeichnet sich durch physische und psychische Vollkommenheit aus. „Caballero criollo“ ist ein elitärer Begriff der „clase alta“. Dem „criollo“ werden im Hinblick auf „gringo“ positive Eigenschaften zugeschrieben.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren diese Begriffe eine Umkehrung. Freidenker sehen im „criollo“ im Gegensatz zum „gringo“, ein Hindernis um die Stadt zu modernisieren.

Eine exakte Definition des Begriffs „criollo“ war bis zum 20. Jahrhundert und auch währenddessen schwierig.

2. Der „criollismo“ in der argentinischen Literatur

Die Studie „El criollismo en la literatura argentina“ von Ernesto Quesada, die 1902 erschien, datiert wann der Zusammenfluß zwischen „criollismo” und nationaler Literatur unterbrochen wurde. Das Gedicht „Nostalgia“ von Soto und Calvo begründet die Reaktion Quesadas. Er betrachtet dieses Werk als national und entdeckt einen eigenen „criollismo“ in der „poesía gauchesca“. Dennoch sind die Autoren keine „gauchos“, ihr Ziel ist vielmehr:

„Su mérito grande está en haber representado fielmente lo que pensaba, lo que sufría, lo que ambicionaba la masa enorme del paisanaje.”9

“La cautiva” von Esteban Echeverría ist ein Beispiel für ein nationales Werk, das ohne den Gebrauch von „fraseología gauchesca“ auskommt, die in „Nostalgia“ vorkommt. Außerdem gebraucht Echeverría eine zeitgenössische „lengua criolla“. Borges bemerkte:

„Hay escritores que perduran en la historia de la literatura; otros, los menos, en la propia literatura. Echeverría corresponde a ambas categorías.“10

Über das Gedicht „Martín Fierro“ von José Hernández, das 1872 erschien und in Anlage 3 zu sehen ist, äußert sich Ricardo Gullón folgendermaßen:

„Esa obra, considerada el momento más admirable de la poesía gauchesca ,…“11 Das Gedicht bedeutet die „Geburt“ der „literatura criolla“. Borges sagte :

„En cenáculos europeos y americanos he sido muchas veces interrogado sobre literatura argentina e, (…) he respondido que esa literatura (…) existe y que comprende, por lo menos, un libro, que es el Martín Fierro. “12

Hernández benutzte die Formeln der „tradicción gauchesca“ wie z.B. achtsilbischer Vers, ländliche Sprache für eine politische Botschaft.

„Juan Moreira“, der feulletonische Roman von Eduardo Guitérrez, der 1879 einige Monate nach „La vuelta de Martín Fierro“ von Hernández erschien, enthält die Merkmale der „literatura gauchesca“. Der Roman bewahrt ein zentrales Thema von Hernández: die politische Verfolgung des „gaucho“. „Juan Moreira“ ist der Prototyp des „gauchos“, er ist mutig und treu. Die Sehnsucht der Leser gegenüber dem „criollo“ und seiner Landschaft, Persönlichkeiten und Eigenheiten werden im Roman präsentiert. Aufgrund der Bebauung des Landes und des Kosmopolitismus in den Städten, bestand der Wunsch, einen Raum zu haben, in dem das ländliche Ambiente als nationale Identität gewahrt wurde. Um 1890 wurden „Centros criollos“ gegründet:

„Leían, recitaban, componían textos; pero también cantaban, bailaban, se vestían, comían de acuerdo con las pautas de esa particular versión del tradicionalismo nativista.“13 Laut Quesada stammt die Klassifizierung der Sprache als „criolla“ von der Tatsache, dass das „criollo“ kein identischer Ausdruck des Nationalen sein kann, da sich „andere“ den Begriff angeeignet haben und ihn dadurch verändert haben. Das heißt, wenn in der argentinischen Gesellschaft eine soziale Gruppe aufkommt, die die Identifizierung des „criollo“ mit dem Nationalen vermeidet oder anfechtet, kommt die Notwendigkeit einer Neudefinierung der Begriffe, die mit dem Nationalen assoziiert werden, auf.

3. Der „criollismo“ von Borges

Wie schon in der Einleitung erwähnt, war Borges’ erste Periode von ca.1923 bis 1930 „criollista“; und zwar im Sinne von „nacionalista“:

„En el siglo XIX la literatura se concibió no sólo como instrumento de protesta social sino también como medio para modelar la conciencia nacional y crear un sentimiento de tradicción.”14

Die lateinamerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts begreift sich nicht mehr nur als Mittel des sozialen Protests, sondern auch als Mittel, um ein neues nationales Bewusstsein und um ein Traditionsgefühl zu erschaffen.

Nachdem sich Borges von 1914 bis 1921 in Europa aufhielt, kehrte er im Jahre 1921 nach Argentinien zurück. Auf der Suche nach einer „eigenen Stimme“ praktizierte Borges zwei Gattungen: Poesie mit den Werken “Fervor de Buenos Aires“ (1923), “Luna de enfrente“ (1925), “Cuaderno de San Martín“ (1929) und Essays mit den Werken “Inquisiciones” (1925), “El tamaño de mi esperanza” (1926), “El idioma de los argentinos” (1928).

Die nationalistische Tendenz, die sich im „criollismo“ äußert, bemerkt man deutlich in den Gedichten und vor allem Essays:

„Mi argumento de hoy es la patria: lo que hay en ella de presente, de pasado y de venidero.“15,,Creo que deberían nuestros versos tener sabor de patria”16

Für den jungen, 22-jährigen Borges, der in Anlage 4 zu sehen ist, bedeutete die Rückkehr in sein Vaterland ein psychischer Schock. Er stellte die europäische und die argentinische Wirklichkeit in scharfem Kontrast nebeneinander. Da Borges sich zum Teil in seiner Jugend und als junger Erwachsener im Ausland aufhielt, verlangte seine Rückkehr nach Argentinien eine Neudefinierung seiner Beziehungen zu seinem Heimatland.

Da er zudem mit dem aufbrausenden Nationalismus, der aufgrund des „Centenario“ von Lugones verkörpert wurde, konfrontiert wurde, scheint es nicht überraschend, dass sich Borges ebenfalls der Aufgabe widmete, eine Neudefinierung der „nacionalidad“ zu versuchen.

Bis Mitte 1920 arbeitete Borges eine „teoría criollista“ aus, der man in einigen der Essays von „Inqusiciones“ von 1925 und stärker in großen Teilen von „El tamaño de mi esperanza“, das drei Jahre später erschien, begegnet. Einige Texte in „Inquisiciones“ sind den Autoren des „criollismo“ Ipuche, Ascasubi und Silva Valdés gewidmet. Dadurch zeigt sich Borges’ echtes Interesse am Ausdruck „criolla“. Er betreibt sozusagen eine Archäologie der „literatura criolla“ und beleuchtet die argentinischen Typen.

„Se perdió el quieto desgobierno de Rosas (...), de que nuestra ciudad se llama Babel.“17

Mit der Benennung „Babel“ spielt Borges darauf an, dass er die Einwanderer verurteilt, das „criollo“ ersetzt zu haben, da sie zum großen Teil die spanische Sprache nicht benutzen bzw. annehmen.

Das Oxymoron „el quieto desgobierno de Rosas“ impliziert, dass Borges diese Epoche vermisst, da in ihr noch nicht das Prinzip des Fortschritts vorherrschte. Er schreibt dem Begriff „progreso“ ausschließlich negative Konnotationen zu. Borges lehnt alle Ergebnisse der Modernisierung in Argentinien, die die Liberalen verursachten, ab. In „Queja de todo criollo“ nimmt er eine offen antimoderne Haltung ein, die sich mit den nationalistischen und antimodernen Bewegungen deckt:

„Ya que la República se nos extranjeriza, se pierde. Fracasa el criollo, pero se altiva y se insolenta la patria“18

Die Anspielung, dass die Einwanderer das Vaterland zerstören, beinhaltet gleichzeitig den Begriff der Reinheit: er billigt den Einwanderern kein Recht zu, im „reinen“ Vaterland zu sein.

3.1 Der Höhepunkt von Borges’ criollismo in „el tamaño de mi esperanza“

Borges’ Essays zeigen noch mehr als seine Gedichte die Tendenz zum „criollismo“. Borges’ „criollismo“ erreicht seinen Höhepunkt in den Essays von „El tamaño de mi esperanza“. Der gleichnamige Essay ist der zentrale des Buches; er enthüllt Borges’ heftigen Glaube an den „criollismo“ und er appelliert in direktem, agressivem Ton an seine Empfänger, die er als die „wahren criollos“ bezeichnet:

“A los criollos les quiero hablar: a los hombres que en esta tierra se sienten vivir y morir, no a los que creen que el sol y la luna están en Europa. Tierra de desterrados natos es ésta, de nostalgiosos de lo lejano y lo ajeno: ellos son los ‘gringos’ de veras, autorícelo o no su sangre, y con ellos no habla mi pluma. Quiero conversar con los otros, con los muchachos querencieros y nuestros que no le achican la realidá a este país. Mi argumento de hoy es la patria : (…)”19

Er richtet sich an die wahren „criollos“, die nicht glauben, dass „die Sonne und der Mond in Europa sind“; denn diese bezeichnet er als die wahren „gringos“. Er kritisiert diejenigen, die sich nach dem Fernen und Fremden sehnen. Die direkte Appellation impliziert, dass die wahren „criollos“ eine Aufgabe haben. Borges’ Hoffnung ist, dass die „criollos“ dazu fähig sind, den „criollismo“ wieder zu erarbeiten. Sein Appell richtet sich an die jungen Intellektuellen, die „muchachos querencieros y nuestro“, denen er die Gründung eines neuen „criollismo“ vorschlägt, der aktiv in der Kultur der Epoche sein soll.

Die Definition des „criollo“ mehr wie ein Wille und eine Handlung als ein rassisches und kulturelles Erbe macht den „criollismo“ von Borges einzigartig, er trennt sich radikal von Vorgängern wie Quesada, der ein Konzept des „criollismo“, das nur auf Rasse basiert, konstruiert. Die Legitimität der Rasse tritt zurück, wenn die „criollos“ diejenigen sind, die nicht das Weite und Entfernte sehen, sondern das nahe und eigene. Deshalb beschuldigt Borges einige „criollos“ („autorícelo o no su sangre“), dass sie die wahren „gringos“ seien. Das heisst, dass man aus rassischer Perspektive „criollo“ sein kann, ohne es grundlegend zu sein, deshalb gibt es laut Borges keine „criollos por los cuatros costados“ wie bei Quesada.

Borges unterzieht den „criollismo“ von Lugones einer Kritik und unternimmt eine Neudefinierung. Da Borges in „el tamaño de mi esperanza“ Forderungen für die Zukunft mit der Absicht, einen neuen „criollismo“ zu bilden stellt, drückt es eine positive Haltung im Hinblick auf die Möglichkeiten des „criollismo“ aus. Der „criollismo“ von Borges ist also keine nostalgische, rückwärts gewandte Haltung, sondern blickt auf die Zukunft. Der jetzt praktizierte „criollismo“ wird abgelehnt, da er sich mehr in nostalgische Vergangenheit und Pose verwandelt hat als eine aktive Teilnahme an der Realität ist. Die schlaffe Lust nach dem Lande und die Sehnsucht, sich „Moreira“ zu fühlen, sind für Borges bloße Masken des „criollismos“:

„No quiero ni progresismo ni criollismo en la acepción corriente de esas palabras. El primero es un someterse a ser casi norteamericanos o casi europeos, un tesonero ser casi otros; el segundo, que antes fue palabra de acción (burla de jinete a los chapetones, pifia de los muy de a caballo a los muy de a pie), hoy es palabra de nostalgía (apetencia floja del campo, viaraza de sentirse un poco Moreira20

Die hier ausgedrückte Ablehnung gegenüber dem Fortschritt ist ähnlich wie in „Inquisiciones“. Er hält weder den Fortschritt noch den „criollismo“ in ihrer geläufigen Bedeutung für wünschenswert. Die Forderung „fast anders“, das heisst, nordamerikanisch oder europäisch zu sein, ist für Borges nicht akzeptabel, da sie die Unterwerfung gegenüber dem Fremden impliziert und einen Verzicht auf die eigene Identität bedeutet.

Der mit Klarheit wahrnehmbare „criollismo“ in Borges’ ersten Gedichten und Essays ruft unterschiedliche Reaktionen seiner Leser hervor.

Sergio Piñero kritisiert, dass der „criollismo“ von Borges künstlich sei:

„Casi me atrevo a asegurar que constituye en su vida un recuerdo heredado. Luego, dice de memoria. Noto algo artificial imaginativamente en el criollismo del poeta.”21 Er kritisiert, dass es keine Übereinstimmung zwischen dem „criollistischem“ Vorhaben des Autors und seiner ästhetischen Verwirklichung gibt. Andere Leser begüßen Borges’ „criollismo“ begeistert. Aus Francisco Luis Bernárdez’ Sicht spiegelt Borges’ „El tamaño de mi esperanza“ die Hoffnung und das Bestreben aller „criollos“ wieder:

„para radicarse definitivamente en su patria, que es la nuestra, en su esperanza, que es la de todos los criollos de hoy, y en su ambición, que también compartimos los que formamos en su generación“.22

Aus einer ähnlichen Sicht hält Leopoldo Marechal Borges’ Werk für äußerst interessant und vielversprechend:

„un criollismo nuevo y personal, un modo de sentir que ya estaba en nosotros y que nadie había tratado…“.23

„Nosotros“ impliziert die Klasse der „bien nacida“, der kulturellen Elite Argentiniens. Der „criollismo“ ist hier wieder wie bei 1.6 ein elitärer Begriff. Néstor Ibarra, der eine umfassende Arbeit über Borges verfasste, definiert den „criollismo“ als etwas, was sich ständig neu bildet und stellt dadurch eine Aufrechterhaltung einer vorbestimmten Definition des Begriffes in Frage:

„El criollismo es un proceso, algo en formación: examinar a tal o cual autor con relación al criollismo ¿no es invertir los factores? Más de lo que lo criollo pueda informar nuestra literatura, nuestra literatura costantemente enriquece, plasma, engendra lo criollo. Casi es absurdo deplorar que tal o cual gran espíritu argentino no responda a nuestra concepción de lo criollo…”24

Borges versucht in seinen Essays, den „criollismo“, den er sich für die Zukunft wünscht, zu definieren. Er tritt für einen „criollismo“ ein, der auf einer tiefsinnigen Haltung gegenüber der Realität basiert und nicht auf dekorativen und nostalgischen Elementen, beruht.

Borges will einen „criollismo“, der erhalten bleibt:

„Criollismo pues, pero un criollismo que sea conservador del mundo y del yo, de dios y de la muerte…25

Für ihn gibt es zwei Seiten des „criollosmo“:

„¿Autorizan alguna conclusión estas fragmentarias y atropelladas razones ? Pienso que sí : la de que hay espíritu criollo, la de que nuestra raza puede añadirle al mundo más alegría y un descreimiento especiales. Ésa es mi criollez. Lo demás- el gauchismo, el quichuísmo, el juanmanuelismo- es cosa de maniáticos.”26

Borges unterscheidet eine „wahre“ und eine „falsche“ Seite des „criollismo“. Die falsche Seite ist der vermeintliche „criollismo“, der aufgrund seiner Nostalgie und seinem Regionalismus abzulehnen ist. Die „wahre“ Seite verlangt eine Neugründung für die Zukunft.

II. Schlussbemerkung

Von seiner ersten Periode, die „criollista“ bzw. „nacionalista“ war, die sich vor allem in seinen drei Essaybänden „Inquisiciones“ von 1925, „El tamaño de mi esperanza“ von 1926, aber auch in „El idioma de los argentinos“ von 1928, zeigt, nahm Borges später Abstand. Er konfiszierte die drei Bände und versuchte alles darin gesagte zurückzunehmen. Den „reifen“ Borges störten vor allem die exzessive Betonung des Nationalen und die „criollo“- Schreibweise. Als ihn 1971 ein Student anrief und ihm mitteilte, dass er ein Exemplar von „El tamaño de mi esperanza“ gefunden hatte, reagierte Borges mit den Worten:

¿Que vamos a hacer, María? ¡Estoy perdido!”27

Dennoch veröffentlichte María Kodama nach seinem Tode 1993 die oben genannten Essays.Wenn sie es nicht getan hätte, hätten wir nie einen Einblick in Borges’ „criollismo“ gewinnen können.

Mein Ziel war, dem Leser einen Überblick über den Begriff des „criollismo“ und seine Wandlung in der Zeit vom 16. bis 19. Jahrhunderts zu verschaffen. Außerdem wollte ich Borges’ frühe Phase beleuchten, da es mir interessant erscheint, dass er nicht immer ein Kosmopolit, ein Weltbürger, war, sondern erst eine Entwicklung durchlief.

III. Bibliographie

Primärliteratur:

Jorge Luis Borges, El tamaño de mi esperanza, , Ed. Seix Barral, Barcelona, 1994 Jorge Luis Borges, Inquisiciones, Seix Barral, Barcelona, 1994

Sekundärliteratur :

Rafael Olea Franco, El otro borges. El primer borges, colegio de México, México, 1993

Víctor Farías, Las actas secretas. Inquisiciones y El idioma de los argentinos, los otros libros proscritos de Jorge Luis Borges, Anaya & Mario Muchnik, Madrid 1994 José Hernández, Martín Fierro- the Argentine gaucho epic, Ed. University of New Mexico, Albuquerque, 1948

Marcos-Ricardo Barnatán, Borges- Biografía total, Ed. Temas de Hoy, Madrid, 1995 Real Accademía Española, Diccionario de la lengua española, Madrid, 1992 http: //www.uni-mainz.de/~lustig/texte/ antología.htm

http: //www.elbuenlibro.com/ martin fierro.htm

http://www.nacion.co.cr/viva/1999/ agosto/ 14/ cul2.htm http://www.ucm.es/BUCM/exposiciones/borges/5a.htm

Esteban Echeverriá, “El matadero”, en El matadero, la Cautiva, Ed. Cátedra, Madrid, 1990

Ricardo Gullón, Diccionario de la literatura española e hispanoamericana, Alianza, Madrid, 1993

[...]


1 Real Accademía Española, Diccionario de la lengua española, Madrid, 1992, p.596

2 Ernesto Quesada, “El criollismo en la literatura argentina”, en Alfredo V.E. Rubione (comp.), En torno al criollismo, Centro Editor de América Latina, Buenos Aires, 1983, p. 143

3 Ernesto Monegro, „Aspectos del criollismo en América”, en El criollismo, Ed. Universitaria, Santiago de Chile, 1956, p. 57

4 Inca Garcilaso de la Vega, „Nombres nuevos para nombrar diversas generaciones“, en Comentarios Reales, Lissabon, 1609, Libro IX, Capítulo XXXI, www.uni-mainz.de/~lustig/texte/ antología.htm

5 Rafael Olea Franco, „Borges nacionalista: el criollismo”, en El otro borges. El primer borges, colegio de México, México, 1993, p.79 Ernesto Monegro, „Aspectos del criollismo en América”, en El criollismo, Ed. Universitaria, Santiago de Chile, 1956, p. 57

6 Ernesto Monegro, „Aspectos del criollismo en América”, en El criollismo, Ed. Universitaria, Santiago de Chile, 1956, p. 58

7 Juan José Arrom, Criollo, definición y matices de un concepto, Rev. Columbiana de Folklore, 1953, núm. 2, p.51

8 Juan Carlos Neyra, Introducción criolla al Martín Fierro, Librería Huemul, Buenos Aires, 1979, p.16

9 Ernesto Quesada, “El criollismo en la literatura argentina”, en Alfredo V.E. Rubione (comp.), En torno al criollismo, Centro Editor de América Latina, Buenos Aires, 1983, p. 143

10 Esteban Echeverriá, “El matadero”, en El matadero, la Cautiva, Ed. Cátedra, Madrid, 1990, p.68

11 Ricardo Gullón, Diccionario de la literatura española e hispanoamericana, Alianza, Madrid, 1993, p.701

12 http: //www.elbuenlibro.com/ martin fierro.htm

13 Adolfo Prieto, El discurso criollista en la formación de la Argentina moderna, Ed. Sudamericana, Buenos Aires, 1988, p.145

14 Jean Franco, La cultura moderna en Américana Latina, Ed. Grijalbo, México, 1985, p. 23

15 Jorge Luis Borges, „El tamaño de mi esperanza“, in El tamaño de mi esperanza, Ed. Seix Barral, Barcelona, 1994, p.11

16 Jorge Luis Borges, „La traducción de un incidente“, in Inquisiciones, Seix Barral, Barcelona, 1994, p. 21

17 Jorge Luis Borges, „Queja de todo criollo“, in Inquisiciones, Seix Barral, Barcelona, 1994, p. 139

18 Jorge Luis Borges, „Queja de todo criollo“, in Inquisiciones, Seix Barral, Barcelona, 1994, p. 140

19 Jorge Luis Borges, „El tamaño de mi esperanza“, in El tamaño de mi esperanza, Ed. Seix Barral, Barcelona, 1994, p.11

20 Jorge Luis Borges, „El tamaño de mi esperanza“, in El tamaño de mi esperanza, Ed. Seix Barral, Barcelona, 1994 p.14

21 Sergio Piñero, „Inquisiciones , por Jorge Luis Borges“, en Martín Fierro, núm. 18, 1925, p.4

22 Francisco Luis Bernárdez, „Un Borges entrecasa“, in Martín Fierro, núm. 33, 1926, p.8

23 Leopoldo Marechal, „Luna de enfrente, por Jorge Luis Borges“, en Martín Fierro, núm.26, 1925, p.4

24 Néstor Ibarra, La nueva poesía argentina. Ensayo crítico sobre el ultraísmo, 1921-1929, Ed. Viuda de Molinari, Buenos Aires, 1930, p.129

25 Jorge Luis Borges, „El tamaño de mi esperanza“, in El tamaño de mi esperanza, Ed. Seix Barral, Barcelona, 1994, p.14

26 Jorge Luis Borges, „Las coplas acriolladas“, in El tamaño de mi esperanza, Ed. Seix Barral, Barcelona, 1994, p.79

27 http://ucm.es/BUCM/exposiciones/borges/5a.htm

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Detalles

Título
Der "criollismo" von Jorge Luis Borges unter besonderer Berücksichtigung seines Essays "el tamaño de mi esperanza" und der historischen Entwicklung des Begriffs
Universidad
University of Tubingen
Curso
Proseminar II
Calificación
2
Autor
Año
2001
Páginas
14
No. de catálogo
V104627
ISBN (Ebook)
9783640029457
ISBN (Libro)
9783640139248
Tamaño de fichero
393 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Jorge, Luis, Borges, Berücksichtigung, Essays, Entwicklung, Begriffs, Proseminar
Citar trabajo
Sofie Renner (Autor), 2001, Der "criollismo" von Jorge Luis Borges unter besonderer Berücksichtigung seines Essays "el tamaño de mi esperanza" und der historischen Entwicklung des Begriffs, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104627

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