Ludwig Wittgenstein: Was heißt einer Regel folgen?


Trabajo de Seminario, 2001

10 Páginas, Calificación: unbenotete


Extracto


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung: Biographisches zum Text und Fragestellung

1. Wie beschreibt Wittgenstein Regeln? (PU §§ 81 - 85, 218)

2. Wie werden Regeln gelernt? (PU §§ 86, 199)

3. Was bedeutet es, Regeln zu kennen? (PU §§ 84, 197, 198, 201, 207)

4. Was heißt es, einer Regel zu folgen? (PU §§ 199 - 206, 219, 222, 227, 230, 231)
a) Regelgebrauch setzt Vereinbarungen voraus
b) Regelgebrauch ist Praxis und Technik
c) Regelgebrauch ist Zwang, ergibt aber Sicherheit
d) Regelgebrauch spart Kraft

5. Was charakterisiert Regeln? (PU §§ 215, 223 - 230)

6. Was geschieht, wenn nach Regeln gehandelt wird? (PU § 232)

7. Was begrenzt den Umfang von Regeln? (PU §§ 84, 85, 88, 217)

8. Wann wird nicht nach Regeln gehandelt? (PU § 232 - 234, 236)

9.Was geschieht bei Regelverstößen oder individuellen Regeln? (PU § 83)

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Biographisches zum Text und Fragestellung

Im Denken Wittgensteins nehmen die „Philosophischen Untersuchungen“ in der zweiten Phase seines Lebens einen hervorragenden Platz ein. Während er ursprünglich nach dem Schreiben des „Tractatus logico-philosophicus“(1918), den er innerhalb weniger Monate verfasste, glaubte, alles über Philosophie gesagt zu haben, änderte er seine Meinung einige Jahre später. Er nahm Kontakt zu Schlick und Carnap auf, die mit anderen (ohne Wittgenstein) den Wiener Kreis begründeten. 1929 promovierte er in Cambridge bei Russell und Moore mit dem „Tractatus“ und unterrichtete danach in Cambridge. Allerdings löste er sich mehr und mehr von seinen im „Tractatus“ vertretenen Ansichten. 1936 zog er sich nach Norwegen zurück und begann, den ersten Teil der „Philosophischen Untersuchungen“ zu verfassen. Den zweiten Teil schrieb er mehr als zehn Jahre danach. Diesmal benützte er die Abgeschiedenheit verschiedener kleiner Orte in Irland, um sich auf seine philosophisch- schriftstellerische Arbeit zu konzentrieren. Er lebte dort von 1947 bis 1949. Veröffentlicht wurden die „Philosophischen Untersuchungen“ erst posthum 1953.

Die Sprache, die Wittgenstein im „Tractatus“ als formales Element beschrieb, erhielt in den Philosophischen Untersuchungen eine andere Funktion: Nun soll sie nicht mehr nur die Scheinprobleme der traditionellen Philosophie entlarven, sinnvolle von sinnlosen Sätzen unterscheiden helfen, sondern auch sprachliche Missverständnisse aufklären, die z. B. durch oberflächliche Ähnlichkeiten der Sätze entstehen. Die Alltagssprache ist für Wittgenstein interessant geworden, als ein lebendiger, sich verändernder Teil der menschlichen Kommunikation. Auf dieser nicht idealen Ebene will er sich künftig bewegen.

„Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unserer Forderung. (Die Kristallklarheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.)... Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb nicht gehen können. Wir wollen gehen, dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden.“ (PU §§ 107)

In diesem Zusammenhang sieht er Regeln als wichtigen Teil des formalistischen Umgangs mit Sprache an und beschäftigt sich ausführlich mit ihnen. Er hält sie für notwendig, aber sie sollen flexibel gehandhabt werden.

Um Wittgensteins Verhältnis zu Regeln auf der Grundlage der angegebenen Paragraphen aus den „Philosophischen Untersuchungen“ darzustellen, stelle ich folgende Fragen:

1. Wie beschreibt Wittgenstein Regeln? (§§ 81-85, 218)
2. Wie werden Regeln gelernt? (§§ 86,199)
3. Was bedeutet es, Regeln zu kennen? (§§ 84, 197, 198, 201, 207)
4. Was heißt es, einer Regel zu folgen? (§§ 199 - 206, 219, 222, 227, 230, 231)
5. Was charakterisiert Regeln? (§§ 215, 223 -230)
6. Was geschieht, wenn nach Regeln gehandelt wird? (§ 232)
7. Was begrenzt den Umfang von Regeln? (§§ 84, 85, 88, 217)
8. Wann wird nicht nach Regeln gehandelt? (§ 232 - 234, 236)
9.Was geschieht bei Regelverstößen oder individuellen Regeln? (§ 83)

1. Wie beschreibt Wittgenstein Regeln? (PU §§ 81 - 85, 218)

a) Er verwendet Vergleiche

Wittgenstein vermerkt, Philosophen und Logiker verwenden Regeln zum Gebrauch der Wörter wie „Spiele“ oder „Kalküle“.

Wittgenstein spricht von einem von ihm inzwischen erkannten Irrtum und von dem fortdauerndem Irrtum bei einigen seiner Philosophie-Kollegen, den Logikern, bezüglich der Anwendung und des Gewichtes von Regeln. In früheren Jahren, als er den „Tractatus“ schrieb, war er der Meinung, um einen Satz zu verstehen, wende man Regeln an wie in der Mathematik, nämlich wie ein Kalkül oder Berechnungen. Jetzt sieht er darin höchstens noch eine Konstruktion einer idealen (d.h. künstlichen, aber dadurch nicht wertvolleren) Sprache. Diese hat aber mit der Alltagssprache, die mit dem Handeln verbunden ist, wenig zu tun. Für Wittgenstein ist die Sprache ein offenes, lebendiges, veränderbares System. Daher ist er kritisch gegenüber starren Regeln und bemüht sich stattdessen, das System aufzulockern und in Frage zu stellen. Er ironisiert die Ansicht der Logiker (die er früher auch vertrat), die meinen, den Menschen sagen zu können, wie sie zu sprechen haben. Dabei scheint ihnen nicht klar zu sein, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Alltagssprache die entsprechenden Regeln extrahiert wurden. In Umkehrung der Tatsachen meinen sie, die Sprache sei aus diesen Regeln entstanden und habe sich nach diesen Regeln zu entwickeln. Abweichungen oder Weiterentwicklungen der Sprache seien - weil Regelverstöße - nicht zulässig.

Für Wittgenstein hingegen ist die Regel nur die Hypothese, die den „beobachteten Gebrauch“ (PU §82) der Worte zufriedenstellend beschreibt. Dabei muss der Sprechende die Regel selbst nicht kennen und kann trotzdem die Bedeutung des Satzes erfassen.

Allerdings konzediert Wittgenstein, dass beim (wissenschaftlichen) „Reden über Sprache“, das er gegen den Gebrauch der Alltagssprache abgrenzt, unter bestimmten Bedingungen ein breiteres Bedeutungsspektrum erarbeitet werden kann.

Wittgenstein sagt: „Nur im Fluss des Lebens haben die Worte Bedeutung.“ (nach Krämer, 2001 S.123). Das zeigt die hohe Wertigkeit, die er der Sprachverwendung im Alltag zumisst.

b) Wittgenstein benutzt zur Beschreibung von Regeln auch Bilder oder bildhafte Metaphern: Regeln sind

I) „Wegweiser“(PU § 85) die nur die ungefähre Richtung angeben, nicht wie man wirklich läuft. Ein Wegweiser zeigt keine Kurven, Höhenunterschiede usw. an. Und, nicht zu vergessen, können Wegweiser auch in die Irre führen! Sie sind in ihrer Aussage bezweifelbar. Er verweist darauf, dass Regeln, da von Menschen gemacht, auch fehlbar sein können. Regeln sind also keinesfalls absolut zu setzen.

II) Regeln sind „Geleise(n)“ (PU § 218) vergleichbar, die ins Unendliche führen. Die Zahl der Anwendungsmöglichkeiten ist nicht begrenzt - die Richtung ist aber vorgegeben.

2. Wie werden Regeln gelernt? (PU §§ 86,199)

Wittgenstein nennt als Methoden hierfür Abrichtung, Wiederholung, Übung, Erfahrung. Der harte Begriff der „Abrichtung“ (PU § 86) zeigt allerdings den negativen Impetus, den Wittgenstein mit der starren Durchführung von Regeln verbindet. Lernen durch Abrichtung vermittelt kein Wissen im kognitiven, verstehenden Sinn, sondern ist reine, nicht hinterfragte Routine. Wiederholung und Übung sind die angewandten Methoden hierfür. Wir können uns heute in dieser Art und Weise gut den Unterricht „alter Schule“ durch Auswendiglernen, im Chor sprechen, rhythmisiertes Nachsprechen des vom Lehrer Vorgetragenen in einer Schulklasse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorstellen.

Erfahrung dagegen ist mehrfach besetzt. Erfahrung kann bedeuten, dass ich weiß, dass mir Sanktionen drohen, wenn ich gegen Regeln verstoße. Wenn ich dieses zu vermeiden versuche, indem ich Regeln einhalte, dann ist das nichts anderes als Konditionierung im Sinne der Abrichtung.

Aber Erfahrung bedeutet bei Wittgenstein eher Handeln in der Welt, Lernen durch Tun. So entsteht auch die Fähigkeit, sich im Alltag durch Sprache zu verständigen und flexibel mit ihr umzugehen.

Man lernt also eine Technik, eine Grammatik durch Handeln.

„Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache zu verstehen. Eine Sprache zu verstehen, heißt, eine Technik zu beherrschen.“ (PU § 199)

Wittgenstein gibt ein Beispiel (PU § 86): Abrichtungen führen zum Vorgehen nach bestimmten Vereinbarungen, wie das Lesen einer Tabelle von links nach rechts und/oder von oben nach unten. Aber er nimmt dieser gelernten, automatisierten Leseweise das Selbstverständliche. Er zeigt die Möglichkeit, Regeln zu brechen oder zu verändern. Wir brauchen dann allerdings eine Verständigung mit anderen darüber, auf welche Weise von der üblichen Vereinbarung abgewichen werden soll.

So ist die uns in der westlichen Kultur vertraute Ausrichtung der Schrift von links oben nach rechts unten in vielen anderen Schriftsprachen (z. B. Arabisch, Chinesisch, Hebräisch) anders vereinbart und geregelt. Die systematische Veränderung von Regeln durch Absprachen mit wenigen ist außerdem die Grundlage für Verschlüsselungen in Geheimsprachen. Dabei wird die exklusiv mit einigen Beteiligten vereinbarte Abweichung von den üblichen Regeln zum Ausschluss des Verstehens „Unbefugter“ genutzt. Das Verändern von Regeln ohne Absprachen mit dem Gegenüber führt zur Unverständlichkeit für Nichtinformierte.

Als Extremfall sind die Privatsprachen bei bestimmten Arten der Geisteskrankheiten zu beobachten. Dabei werden die üblichen Kommunikationsregeln außer Kraft gesetzt. Den Kranken ist nicht bewusst, dass sie bei der Schilderung ihrer Eindrücke oder Befindlichkeiten eines oder mehrere Glieder der gewöhnlichen Assoziationsketten überspringen oder auf andere Art die Regelhaftigkeit der Sprache verletzen. Dadurch wirkt ihre Sprache fremd und unverständlich für Außenstehende, weil diese die Gedankengänge nicht mehr linear, logisch und regelgeleitet nachvollziehen können. Die Umwelt erklärt sie für „verrückt“, weil sie auch wirklich aus den Gleisen der Alltagssprache und damit des gemeinsamen Lebens „herausgerückt“ sind. Therapeuten sind bei der Verständigung statt auf die unverständliche Sprache auf Tonfall, gezeigte Emotionen, Gestik, viel Empathie, Intuition oder andere nichtsprachliche Elemente des Verstehens angewiesen.

Andererseits werden in der Poesie häufig ähnliche Techniken von Schriftstellern und Dichtern angewandt. Dadurch können bei ihren Lesern völlig andere Gedankenverbindungen in Gang gesetzt werden, als sie bei der Verwendung der geregelten „Normalsprache“ assoziiert werden. Allerdings bleiben die ungewohnten Varianten meist auf der semantischen Ebene. Veränderungen der grammatischen Struktur wären zu verwirrend und verrätselt.

Wichtig ist, dabei im Auge zu behalten, dass bei Wittgenstein das sinnvolle Erlernen von Regeln immer durch Tätigkeiten im Alltag geschieht, also nicht abstrakt und theoretisch. Er kritisiert andere sprachphilosophische Auffassungen, die über Sprache in der künstlichen Sprache der Wissenschaft reden. Wenn also Sprachwissenschaftler aus dem lebendigen, das heißt auch fluktuierenden Sprachgebrauch zu einem bestimmten Zeitpunkt Regeln extrahieren, diese dann zementieren, indem sie sie als Ursprung der Sprache deklarieren, so sind sukzessive Abweichungen innerhalb der natürlichen Sprachentwicklung in diesem Denkmodell zwangsläufig Regelverstöße. Letztendlich versteinert eine rein an den Regeln entlang geformte Sprache zu einem Fossil. Sie ist somit lediglich ein Zeichen für das Sprachleben zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein starres Regelwerk schränkt eine angemessene, an die Wirklichkeit angepasste Sprachveränderung ein und macht Sprache unflexibel. Wandlungen der Sprache haben aber immer einen Bezug auf die sich ständig wandelnden Realitäten des aktuellen Lebens. So hinkt die stark regelgeleitete Wissenschaftssprache als konservatives Element der lebendigen Alltagssprache hinterher.

3. Was bedeutet es, Regeln zu kennen? (PU §§ 84, 197, 198, 201, 207)

Regelkenntnis bedeutet, Erfahrung über die Verwendung von Worten haben, sie deuten zu können. „Deuten...“ zu können, heißt „...einen Ausdruck der Regel durch einen anderen zu ersetzen.“ (PU § 201) Das alleine ist für Wittgenstein nicht ausreichend.

Zwar ist für ihn das Erlernen und Verstehen von Sprache nur möglich, wenn eine gewisse Regelmäßigkeit erkennbar ist. Aber das Erkennen von Regeln alleine genügt nicht. Die Bedeutung eines Wortes ist mehr als der Verweis auf die Regel. Die Anwendung eines Wortes darf nicht überall von Regeln begrenzt sein, weil sie sonst nicht mehr einer veränderten Wirklichkeit Rechnung tragen kann.

Wittgenstein setzt also Erfahrung, Anwendung, Flexibilität und geübte Praxis weit über die starre Befolgung eines theoretischen Konzepts, wie es eine Regel darstellt. Allerdings erkennt er an, dass ein grundsätzliches Erkennen von Regeln zum Erlernen von Sprachen nützlich, ja sogar notwendige Voraussetzung ist. Aber das wirkliche Beherrschen der Sprache erfordert auch das Überschreiten, Brechen und Verändern von Regeln.

4. Was heißt es, einer Regel zu folgen? (PU §§ 199 - 206, 219, 222, 227, 230, 231)

a) Regelgebrauch setzt Vereinbarungen voraus

Die Ausübung einer bestimmten Praxis zusammen mit anderen erfordert, Gepflogenheiten, Gebräuche, Traditionen, Vereinbarungen und Institutionen zu berücksichtigen. Regelgebrauch in der Sprache ist also immer an Vereinbarungen mit anderen gebunden. Eine Regel für mich alleine zu konstruieren oder zu brechen, ist sinnlos. Das führt letztendlich zum oben erwähnten Gebrauch von Privatsprachen als Krankheitssymptom.

b) Regelgebrauch ist Praxis und Technik

Regelgebrauch heißt aber auch: Die Anwendung bestimmt die Regeln, also die Praxis kann sie auch verändern. Regeln werden durch Handeln erschaffen, täglich im Gebrauch und in der Verständigung mit anderen.

Regelfolgen bedeutet auch einfach das Aneignen einer Technik, z.B. einer Grammatik. Eine Regel ist nicht beliebig, verantwortungslos, sondern leitet den Anwender, ohne Überraschungen bei ihm oder anderen hervorzurufen. Hier ist das Bild von den „Geleisen“ wieder sehr deutlich.

c) Regelgebrauch ist Zwang, ergibt aber auch Sicherheit

Wenn sich allerdings jemand entscheidet, einer Regel zu folgen, dann sind seine Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, denn einer Regel folgen ist das Gleiche, wie einem Befehl zu folgen. Die Regel zwingt, jedes Mal das Gleiche zu tun.

Es bleibt keine Wahl. Sie ist die letzte Instanz. „Ich folge der Regel blind.“ (PU §219). Das kann in Situationen, die schnelles Handeln und wenig Nachdenken erfordern (das ist eine Parallele zu „einem Befehl folgen“), sinnvoll und nützlich sein.

Die andere Seite der Regel ist die Sicherheit, die sie gibt. Sie lässt jeden - Sprecher wie Hörer - ein kleines Stück in die Zukunft planen, denn jedes Mal, wenn man ihr folgt, muss man das Gleiche tun.

Aber sie ist auch überschaubar: Man kann sie sich aneignen, sie erlernen. Es ist eine Technik, z. B. eine Grammatik, und damit ein Werkzeug, das man bei Bedarf sicher und ohne weitergehende Überlegungen einsetzen kann. Es gibt dann keine Unsicherheiten, denn es ist klar, was man damit tun kann - und was nicht. Das wiederum erleichtert und beschleunigt routinierte Verhaltensabläufe. Entscheidungsprozesse, die sonst viel Denkkapazität gebunden hätten, sind überflüssig.

d) Regelgebrauch spart Kraft

Striktes Regelbefolgen hat Auswirkungen auf das Verhalten des Anwenders: Seine Handlungsvariationen sind in diesem Bereich eingeschränkt. Wenn einer Regel wie einem Befehl gefolgt wird, wird nicht über den Sinn oder Unsinn des Tuns nachgedacht. Man handelt schnell ohne Prüfung, weitergehende Überlegung, quasi automatisiert.

Entscheidend dürfte sein, wie die freigewordene Kapazität genutzt wird: Man kann das Ausführen erlernter Routinen dazu nutzen, sich geistig oder körperlich „auf die faule Haut zu legen“ oder die freigewordenen Kräfte dazu verwenden, andere, wichtige Dinge parallel oder in der gewonnenen Zeit ausführen. So erlaubt das regelgemäße, routinierte Beherrschen einer (fremden) Sprache dem Sprecher oder Schreiber, sich ganz der Vermittlung wesentlicher Inhalte zu widmen, ohne sich ständig vergewissern zu müssen, ob Grammatik oder Wortwahl richtig oder missverständlich sind.

5. Was charakterisiert also Regeln? (§§ 215, 223 - 230)

Die Festlegung durch eine Regel bedeutet, dass sie immer dasselbe sagt, sie ruft keine Überraschungen bei irgendjemand, der die Regel kennt, hervor. Die Regelnutzer stimmen in der Handhabung überein. Dadurch erhalten die Regeln, aber auch die Handlungen, eine Linie, ein Gesicht, einen charakteristischen Zug.

Der Begriff der „Regel“ ist verwoben mit dem Begriff „gleich“. Gleichheit scheint man einfach erklären zu können: ein Ding ist mit sich selbst gleich. Beim Folgen einer Regel muss man jedes Mal das „Gleiche“ tun. Allerdings wird von Wittgenstein genau diese scheinbare „Gleichheit“ hinterfragt, die dadurch zu entstehen scheint, wenn festgelegte Regeln fordern, immer das Gleiche zu tun. So werden jegliche Varianten als Abweichungen diskriminiert und versucht zu verhindern.

Aber tut man wirklich jedes Mal das Gleiche, wenn man sein Tun zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen wiederholt? Wer das bejaht, konzentriert sich nur auf bestimmte, ausgewählte Aspekte seines Handelns und wendet den Blick ab von den variierten Kontexten.

In wissenschaftlichen Zusammenhängen ist die Wiederholbarkeit eines Experimentes oft sogar ein Qualitätskriterium für die Forschung nach den exakten Tatsachen. Allerdings überall, wo menschliche oder auch tierische Versuchsteilnehmer eine Rolle spielen, ist diese Wiederholbarkeit kaum möglich. Jedes erstmalig durchgeführte Experiment bewirkt einen verändernden Effekt (einen Lernzuwachs oder eine zusätzliche Erinnerung) auf die Teilnehmer, der beim wiederholten Versuch meist zu Abweichungen führt.

Es gilt die einzig sichere Regel: „Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss“. Immer verändern sich außerdem die sogenannten „Randbedingungen“ wie die Zeit, die Umgebung, die Befindlichkeit usw.. Die Tendenz, Versuche zu standardisieren und zu objektivieren, d. h. nach den immer gleichen Regeln ablaufen zu lassen, führt dazu, unerklärbare Abweichungen als Regelverstöße, Messfehler oder technisch bedingte Unschärfen zu deklarieren. Dies kann in streng naturwissenschaftlichen Disziplinen noch angehen - obwohl auch hier die Schwierigkeiten, beispielsweise in der Physik, zunehmen - ist aber in den Humanwissenschaften ziemlich, wie oben begründet, absurd, Eine Objektivität im exakten Sinne ist nicht herstellbar. Lediglich der Begriff der „`Identität` lässt sich als vollkommene, absolute Gleichheit eines Gegenstandes, eines Ereignisses oder einer Eigenschaft mit sich selbst bestimmen.“ (Pauen, 2001, S. 110) Diese Aussage ist aber trivial. Darüber sagt Wittgenstein schon im „Tractatus“: „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.“ (Tractatus, 5.5303).

Also existiert keine Gleichheit der Dinge, Situationen oder Ereignisse, die die strikte Regelanwendung voraussetzt.

Wittgenstein ist der Meinung, dass jeder, der automatisch und ohne zu hinterfragen einer Regel folgt oder beim Reden über Sprache behauptet, Sprechende gingen stets regelgeleitet vor, eigene Handlungsfreiheiten verliert oder, schlimmer noch, die anderer einschränkt.

Sprache ist dann wie eine Zwangsjacke. Das genau wirft Wittgenstein seinen sprachforschenden Kollegen vor. Daher plädiert er für einen pragmatischen und gegen einen dogmatischen Umgang mit Regeln in der Sprache.

Sprache bildet also auch in der Wissenschaft nie die „reinen Tatsachen“ ab, sondern vermittelt immer Intensionen, nimmt Erklärungen vor und bildet zumindest einen Teil des Denkkonzeptes des sprechenden oder schreibenden Wissenschaftlers ab. Sie ist also nicht „exakt“ im Sinne von streng objektiv, sondern immer kontextverhaftet. Wichtig ist, dass der Wissenschaftler sich dessen bewusst bleibt, damit er nicht seine Erkenntnisse und die Regeln, die er gefunden oder bestätigt zu haben glaubt, verabsolutiert

6. Was geschieht, wenn nach Regeln gehandelt wird? (PU § 232)

Natürlich weißWittgenstein auch aus seiner Tätigkeit als Lehrer und Dozent, dass regelgeleitetes Handeln durchaus sinnvoll sein kann.

Regelgeleitetes Handeln oder Reden ist erklärbar, durchschaubar und somit anderen vermittelbar. Es kann von anderen erlernt werden (wie z. B. in der Schule). Es beruht auf festen Definitionen und Zuordnungen. Es vermittelt das Gefühl, dass etwas Selbstverständliches getan wird.

Wenn die Regel von den Beteiligten anerkannt wird, ist sie stark und wirkmächtig. Die Regel zwingt jeden auf die Linie, die sie vorgibt. Aber sie ist - wenn von allen akzeptiert - auch unstrittig im Zusammensein mit anderen. Diskussionen sind überflüssig. Allseitig befolgte Regeln geben dem Anwender etwas von ihrer Macht ab und verleihen seinen Handlungen Autorität, die nicht ohne weiteres hinterfragt wird.

Aber: Regeln verlangen immer die Verbindung und Abstimmung mit anderen Menschen, es gibt keine Regeln privatim. Durch den dauernden Gebrauch und die alltägliche Nutzung werden sie plastisch, veränderbar und weniger starr. Der praktische Gebrauch schafft nämlich die Regel - nicht umgekehrt. Die Praxis sollte die Regel auch verändern und formen.

7. Was begrenzt den Umfang von Regeln? (PU §§ 84, 85, 88, 217)

Wittgenstein fordert ausdrücklich dazu auf, Regeln nicht absolut zu setzen, sondern plädiert für die sinnvolle Unexaktheit. Regeln sollen nur in so weit eingehalten werden, dass sie praktikabel bleiben. Auch Zweifel an der Regel müssen möglich sein.

Beispiel d. V.:

Fahrschullehrer: „Es ist nicht notwendig, die Richtungsänderung anzuzeigen, wenn es niemand anderes sieht.“ Fahrschülerin: „Aber wie kann ich wissen, ob bei sonst leerer Straße nicht jemand aus dem Fenster guckt und sich wundert, dass ich abbiege, ohne zu blinken?“

Präzisierung des Fahrlehrers: „Es ist nicht notwendig, den Blinker zu setzen, wenn kein anderer Verkehrsteilnehmer auf der Straße ist.“

So kann eine gewisse Unexaktheit sinnvoller sein als übertriebene Exaktheit - besonders im Alltagskontext, aber auch in der Wissenschaft. „Ist das unscharfe (Bild, d. V.) nicht oft gerade das, was wir brauchen?“(PU § 71) Jeder muss den Grad der notwendigen Exaktheit selbst bestimmen. Das kann schwer fallen, wenn man den absoluten Anspruch von Exaktheit im Kopf hat und als Wert an sich ansieht.

Beispiel d. V.:

Es ist sicher sinnlos, sich mit jemanden eine Verabredung zu treffen „Um 16.15 Uhr und 9 Sekunden auf dem Luisenplatz 5, 15 m von der Brunnenmitte 23 Grad Südsüdost.“

Bei bestimmten astronomischen oder geodätischen Messungen kann allerdings eine ähnliche Präzision sinnvoll sein.

Aber auch in der Wissenschaft gibt es Grenzen der Exaktheit.

Wenn man die Länge einer Inselküste vermisst, muss man einen gewissen Grad von Ungenauigkeit einhalten, um überhaupt eine messbare Länge festzustellen. Mäße man um jeden Kiesel, um jedes Sandkorn herum, käme eine gegen das Unendliche ausgedehnte Küstenlinie zustande.

Letzte Erklärungen, absolute Exaktheiten sind aber kaum im Alltag und nur selten in den Wissenschaften notwendig. Wittgenstein kritisiert die Suche der Wissenschaftler nach diesen Idealen. Er meint, Wissenschaft produziert mit ihren angeblich exakten Methoden „Scheingesimse“ - Karyatiden (muskelbepackte Steinfiguren unter Balkonen, die so tun, als ob sie eine wichtige Funktion hätten, aber lediglich Schmuckelemente an Häusern sind). Wissenschaft dekoriert sich also manchmal mit eindrucksvoll wirkender Exaktheit, die aber eigentlich funktionslos ist.

Jede Suche nach letzten kausalen Zusammenhängen muss irgendwann beendet werden. „So handle ich eben.“ (PU § 217) heißt es, wenn irgendwann mit allen Begründungen Schluss sein muss. Anders verstrickt man sich in Endlosschleifen (Regresse) und wird damit letztendlich handlungsunfähig.

8. Wann wird nicht Regeln gehandelt? ( PU §§ 232-234, 236)

Im Alltag handelt man nicht immer nach Regeln. Wenn man etwas intuitiv tut, also nach einer Eingebung, die einen plötzlich überkommt, ohne dass man erklären kann, wie es passiert, sind Regeln des Handelns für einen selbst und andere nicht erkennbar. Trotzdem kann das aber bei komplexen Problemen zu schnellen und sehr funktionalen Lösungen führen. Diese Art des Denkens ist nicht lernbar und nicht als Technik an andere vermittelbar. Der Faktor Zeit scheint eine Rolle zu spielen: auf Eingebungen muss man warten, man kann sie kaum beschleunigen. Man kann sich und anderen höchstens Techniken beibringen, die Situationen schaffen, in denen Inspirationen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Die kreative Leistung an sich ist aber nicht regelgeleitet erklärbar.

Ebenso wäre es, wenn jemand rechnen wie „zaubern“ könnte, ohne dass er wüsste, wie die Regel lautet und er dennoch seine Ergebnisse mit denen der anderen in Übereinstimmung brächte. Wittgenstein bringt hier das Beispiel der „Kunstrechner“(PU § 236), die in Windeseile komplizierteste Rechnungen erstellen können, ohne sagen zu können, wie sie es tun.

Beispiel d. V.:

„Harry Potter“, der jugendliche Zauberlehrling, fällt nicht in diese Kategorie - er lernt Zaubern nach strengen Regeln und harten Methoden in der Zauberschule! Allerdings: das Reiten auf dem Besen kann er intuitiv und wird deshalb von seinen vernünftigen Lehrern unter Umgehung bestehender Regeln gefördert.

Im übrigen gibt es viele Berichte von unerklärlichen Extrembegabungen und -Leistungen sogar bei sonstiger kognitiver Minderleistung in der psychiatrischen Literatur.

9.Was geschieht bei Regelverstößen oder individuellen Regeln? (PU § 83)

Wenn Regeln nicht eingehalten werden oder bewusst dagegen verstoßen wird, dann entsteht Unvorhergesehenes: Witze, Scherze, Komik, Nonsens, Unsinn und Unverständliches, aber auch Kreativität, Kunst, die ja oft das bewusste oder auch zufällige Überschreiten von Regeln beinhaltet.

Dies ruft dann oft Überraschung, Erstaunen, Lachen, Verwunderung, manchmal auch Abwehr gegen das Unerwartete hervor. So entsteht aber auch Lebendigkeit im Denken und Fühlen.

Auch langfristige Veränderungen in der Sprache können durch solche „Regelverstöße“ erfolgen. Beispiele sind die Einbeziehung und grammatische Anpassung von Fremdwörtern in eine Sprache, wie es bei den „neudeutschen“ Ausdrücke in der Computertechnik oder bei der Börse der Fall ist. Da wird „gemailt“ und man „dealt“ (mit Aktien). Deutlich erkennbare englische Verbstämme werden in deutsche Grammatikregeln eingespannt und damit im regulären Sprachgebrauch verwendbar. Ein anderes Verfahren wird bei „Verballhornungen“ angewandt. Unverständliche, fremdartig erscheinende Ausdrücke aus anderen Sprachen oder Dialekten werden zu regelgemäßer erscheinenden abgewandelt. Durch „Mimikry“ verwandeln sie sich in scheinbar Bekanntes, Geregeltes.

Beispiel d. V.:

Einem Urkundenschreiber, vermutlich aus dem bayrischen Sprachkreis, erschien der ursprüngliche Ortsname eines Dorfes im Odenwald „Schimmerde Woog“, unverständlich. Er bastelte daraus das ihm sinnvoll erscheinendere Schönmattenwag. Das war zweifellos eine kreative Leistung, die aber mit der ursprünglichen „schimmernden Woge“, dem hellen Wasser, von dem der Ort seinen Namen hatte, nichts mehr zu tun hat. Die Regel: „Wer schreibt, der bleibt“ löschte in Schriftstücken, dann auch im behördlichen und schließlich im offiziellen, hochsprachlichen Sprachgebrauch den alten Namen, der heute nur noch im Dialekt der Einheimischen überlebt hat.

Fazit:

Wittgenstein verweist auf die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, die Regeln in der Sprache ausmachen. Er versucht, die Festgelegtheit durch Regeln und Logik in der Sprachwissenschaft seiner Zeit (an der er pikanterweise in den Jahrzehnten zuvor mitbeteiligt war) aufzubrechen, um Freiheiten des Denkens und Handelns möglich zu machen. Er gibt dem Alltagssprachgebrauch seine Wichtigkeit zurück, da er letztendlich den Regeln vorausgeht. Damit will er Sprache und Denken, die er von Regeln zwar gestützt sieht, aber nicht eingeengt haben möchte, lebendig und veränderbar erhalten.

Er ist damit einer der wichtigen Wegweiser (sic!) für die Beschäftigung mit der „Ordinary Language“, die dann für Austin, Searls und andere im Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit gestanden hat.

Wittgensteins eher skeptische Haltung zu den Aufgaben und Wirkungen der Philosophie lässt sich aber aus folgendem Zitat aus den Philosophischen Untersuchungen (PU § 124) ablesen:

„Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben.

Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles, wie es ist„. ( PU § 124)

Zumindest den letzten Satz könnte man allerdings aus heutiger Sicht in Frage stellen.

Wittgenstein hat, wie jeder Sprechende und Schreibende, die Sprache verändert. Durch sein philosophisches Werk aber hat er zusätzlich bei vielen das Wissen über und das Verständnis für Sprache entscheidend beeinflusst.

Literaturverzeichnis:

HOERSTER, Norbert, Hrsg. (2001): Klassiker des philosophischen Denkens.

KRÄMER, Sybille(2001): Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Frankfurt am Main. Suhrkamp.

PAUEN, Michael (2001): Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Frankfurt am Main. Fischer.

WALL, Richard (1999): Wittgenstein in Irland. Klagenfurt und Wien. Ritter.

WITTGENSTEIN, Ludwig (2000): Philosophische Untersuchungen (PU). In: Tractatus logicophilosophicus. Werkausgabe Bd. 1. Tractatus-logico-philosophicus. Tagebücher 1914 -1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main. Suhrkamp.

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Detalles

Título
Ludwig Wittgenstein: Was heißt einer Regel folgen?
Universidad
Technical University of Darmstadt
Curso
Sprache und Handeln - Einführung in die Sprachpragmatik
Calificación
unbenotete
Autor
Año
2001
Páginas
10
No. de catálogo
V105113
ISBN (Ebook)
9783640034109
Tamaño de fichero
360 KB
Idioma
Alemán
Notas
Ich fand Wittgensteins knappen Stil und seine einfache Sprache, in der er seine komplexen Gedanken ausdrückt, sehr anregend. Möglicherweise merkt man meiner Arbeit an, dass ich Dipl. Psychologin bin. Ich übe noch, die philosophische und die psychologische Denkweise in meinem Kopf zusammen zu bringen - was zwar interessante Kombinationen, aber auch ein! ige Interferenzen ergibt.
Palabras clave
Ludwig, Wittgenstein, Regel, Sprache, Handeln, Einführung, Sprachpragmatik
Citar trabajo
Ute Meißner-Ohl (Autor), 2001, Ludwig Wittgenstein: Was heißt einer Regel folgen?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105113

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