Chancenungleichheit beim Zugang zu Bildung


Seminar Paper, 2001

19 Pages


Excerpt


Inhalt

1.) Einleitung

2.) Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung

3.) Die Bildungsdebatte der 60er Jahre

4.) Chancenungleichheit heute

5.) Lösungsvorschläge und Forderungen

6.) Schlußfolgerung

7.) Literatur

1.) Einleitung

In den vergangenen Jahren hat das Thema ‘Bildung’ in Deutschland eine Renaissance erlebt. Nachdem Mitte der 60er Jahre eine breite Diskussion um den Ausbau des Bildungssytems begann und diese eine wahre Bildungsexpansion zur Folge hatte, verschwand das Thema spätestens seit Beginn der 80er Jahre fast vollständig von der politischen Tagesordnung und aus dem öffentlichen Interesse.

Eine zentrale Forderung, die nun - wie auch schon vor 40 Jahren - von zahlreichen Wissenschaftlern und Politikern formuliert wird, ist die nach Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung. Dies impliziert, dass es nach wie vor Benachteiligungen im Bildungssystem gibt.

Nach Pierre Bourdieu (1973) ist die Chancenungleichheit sogar gewollt. Seiner Hypothese zufolge dient das Unterrichtssystem dem Machterhalt einer sozialen Oberschicht.

“Denn unter all den Lösungen, die im Laufe der Geschichte für das Problem der Übermittlung der Macht und der Privilegien gefunden worden sind, gibt es zweifellos keine einzige, die besser verschleiert ist und daher solchen Gesellschaften, die dazu neigen, die offenkundigsten Formen der traditionellen Übermittlung der Macht und der Privilegien zu verweigern, gerechter wird als diejenige, die das Unterrichtssystem garantiert, indem es dazu beiträgt, die Struktur der Klassenverhältnisse zu reproduzieren, und indem es hinter dem Mantel der Neutralität verbirgt, dass es diese Funktion erfüllt.”1

Folgt man dieser Argumentation, müssten Reformen, die initiert werden, um mehr Chancengleichheit zu schaffen, reine Makulatur sein. Sie wären nur der Verschleierung dienlich, und dürften real keine Auswirkungen haben. Interessant ist also zu überprüfen, ob die Forderung der 60er Jahre nach Chancengleichheit sowie die anschließenden Reformen tatsächliche Verbesserungen zur Folge hatten oder nicht.

Ich werde in meiner Arbeit die Debatte der 60er Jahre und die Probleme, um die sie sich drehte, kurz zusammenfassen. Dann werde ich einige empirische Untersuchungen vorstellen, die zeigen, dass schichtenspezifische Benachteiligungen nach wie vor vorhanden sind. Abschließend werde ich auf einige Forderungen und Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Chancengleicheit eingehen. Doch zunächst möchte ich den Begriff ‘Chancengleichheit’ im Zusammenhang mit der Bildungspolitik klären.

2.) Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung

‘Chancengleichheit’ ist ein normativer Begriff. Er beinhaltet die Forderung, dass alle Menschen oder Personen einer bestimmten Gruppe in einer Situation oder bezüglich eines Gegenstandes nicht nur das gleiche Recht, sondern eine gleiche Chance bekommen. Negativ formuliert:

“Chancengleichheit besteht nicht darin, daß jeder einen Apfel pflücken darf, sondern daß der Zwerg eine Leiter bekommt”2

Dies bedeutet für die Bildungspolitik, dass benachteiligte Personen aktiv gefördert werden müssen. Benachteiligungen können z.B. durch die Herkunft aus einer bestimmten Region, das Geschlecht oder durch die Angehörigkeit zu einer sozialen Schicht entstehen. Die soziale Schicht oder soziale Lage definiert sich über so genannte objektive Probleme. Dies liegen nach Habich & Noll (2001) z.B. vor, wenn die betroffene Person ein geringes Einkommen (im untersten Einkommensdezil) oder keinen beruflichen Ausbildungs- abschluss hat oder weniger als ein Wohnraum pro Person zur Verfügung steht.3 Als eine subjektive Problemlage wird dagegen gewertet, wenn jemand oft einsam oder gewöhnlich unglücklich oder niedergeschlagen ist oder immer wieder Ängste und Sorgen hat.

“Soziale Schichtung und soziale Lagen sind Begriffe, die sich auf die vertikale Gliederung und auf die Position von Personen in einer Statushierarchie beziehen. Soziale Schichtung bezeichnet eine strukturelle Ungleichheit zwischen sozialen Positionen, die sich z.B. in Einkommens-, Prestige- und Einflussdifferenzen manifestiert.”4

Die Forderung nach Chancengleichheit impliziert, dass der Staat die Voraussetzungen schafft, dass seine Bürger diese Problemlagen überwinden können und die gesellschaftlichen Hierarchien nicht manifestiert werden. Bei der Bildung kann eine staatliche Förderung, die das Ziel hat, Benachteiligungen abzubauen, in verschiedenen Etappen bzw. Wegen in der Ausbildung eines Menschen greifen: im Kindergarten, in der Schule oder Fachhochschule, während der Lehre oder des Studiums oder durch Weiterbildung, etc..

3.) Die Bildungsdebatte der 60er Jahre

Im Rahmen der Bildungsdebatte der 60er Jahre in Westdeutschland kam auch die Forderung nach Chancengleichheit auf. Einigen wie Georg Picht (1964) zufolge, war diese unabdingbar, um den Fortschritt der Gesellschaft zu garantieren. Sie verwiesen auf die ökonomischen Folgen einer unzureichenden Bildung bzw. auf die Vorteile einer gut gebildeten Bevölkerung. Picht (1964) befürchtete gar eine Katastrophe, so es nicht zu einer Verbesserung des Bildungssytems kommen sollte:

“Der bisherige Wirtschaftsaufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten kann. Wenn das Bildungssystem versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht.”5

Andere Bildungsforscher und Soziologen hoben die gesellschaftspolitische Bedeutung von Bildung hervor, wie z.B. Ralf Dahrendorf (1965) in seinem einflussreichen Buch “Bildung als Bürgerrecht”.

Doch auch Dahrendorf verwies auf die ökonomische Bedeutung von Bildung.

“Hier ist die einprägsame Kausalreihe zusammen, mit der sich auch heute noch Parlamente beeindrucken lassen: Die Wirtschaftsentwicklung hängt vom technischen Fortschritt, dieser von der Zahl der Akademiker, diese von den Bildungsinvestitionen ab.”6

Es entstand eine breite Diskussion um das Gut Bildung. Der anschliessende Reformschub hatte die so genannte Bildungsexpansion zur Folge. Doch sollte nicht nur das Bildungsniveau insgesamt angehoben werden. Ziel war es auch, Menschen aus unteren sozialen Schichten über die Bildung den Weg zum sozialen Aufstieg frei zu machen.

Als Paradebeispiel der Chancenungleichheit galt das Mädchen vom Lande, katholisch und aus armen Elternhaus. Es personifizierte die vier zentralen Unterscheidungs- merkmale, die zu einer Benachteiligung führten: geschlechts- und schichtenspezifische sowie regionale und konfessionelle Ungleichheiten.

Hansgert Peisert (1967) hob in seiner Untersuchung zur “Sozialen Lage und Bildungschancen in Deutschland” die Bedeutung dieser Benachteiligungen hervor und belegte sie anhand empirischer Daten. Darüber hinaus zeigte er, dass die Chancen für Menschen, die gleichzeitig mehreren sozial benachteiligten Gruppen angehörten, deutlich schlechter waren.

“Eine Ungleichheit hinsichtlich einer weiterführenden Schulbildung, die für die 18- und 19-jährigen bayerischen Jungen gegenüber den Mädchen zunächst ein Ausmass von 1,5:1 annimmt, dann für die Stadt-Jungen gegenüber den LandMädchen auf 3:1 anwächst, um schliesslich den Jungen in Erlangen gegenüber den Mädchen, die in rein katholischen Regionen geringer Bildungsdichte wohnen, einen Chancenvorsprung von 45:1 zu bieten.”7

Folglich sollte nun dem “katholischen Arbeitermädchen vom Lande” geholfen werden. Alle Menschen sollten beim Zugang zur Bildung die gleichen Rechte erhalten, doch dies nicht nur formal, sondern auch real. Die Politik müsse Menschen aus benachteiligten sozialen Schichten aktiv förden, forderte Dahrendorf. Nur so könne es geschafft werden, dass möglichst alle Bürger ihr Recht auf Bildung wahrnehmen.

“Daß jede Chance zwei Seiten hat, die der objektiven Möglichkeit - der Erlaubnis - und die der subjektiven Möglichkeit - der Fähigkeit -, ist ein Gedanke, der fast so alt ist wie die modernen Verfassungen, die dennoch immer wieder Menschen Dinge erlauben, ohne sie in die Lage zu versetzen, ihre Rechte auch auszunutzen. Das Recht aller Bürger auf Bildung nach ihren Fähigkeiten bliebe daher unvollständig ohne das Zerbrechen aller ungefragten Bindungen, also dem Schritt in eine moderne Welt aufgeklärter Rationalität. Um diese Bürgerrecht zu garantieren, reicht auch die beste Verfassung nicht; hier ist vielmehr Politik nötig. Darum begründet das Prinzip des Bürgerrechts auf Bildung eine aktive Bildungspolitik.”8

Da durch die Debatte das Thema Bildung einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft erlangte, folgten tatsächlich erhebliche bildungspolitische Aktivitäten, die durchaus positive Folgen hatten. So wurde beispielsweise die Schulzeit ausgedehnt. Das verpflichtende neunte Schuljahr an Hauptschulen plus ein weiteres je nach Bundesland verplichtendes oder freiwilliges Jahr eingeführt. Auch wurden durch die Einstellung neuer Lehrer die Lernbedingungen an den Schulen verbessert. Alles in allem erhöhte die Politik die Ausgaben für Bildung erheblich.

Im Ergebnis kamen deutlich mehr Menschen zu höheren Schulabschlüssen oder konnten eine Berufsausbildung in Anspruch nehmen. So erwarben bspw. 1960 sechs Prozent eines Jahrgangs die Allgemeine Hochschulreife, 1994 waren es im früheren Bundesgebiet 27 Prozent. Weitere 10 Prozent erlangten die Fachhochschulreife. In Westdeutschland ist der Anteil der Personen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen konnten von fast 30% in 1978 auf rund 15% in 1998 zurückgegangen.9

Die Bildungsexpansion setzte jedoch bereits früher ein. Die Debatte in den 60er Jahren und die folgenden Reformen haben den Prozess nur beschleunigt. Bereits von 1950 bis 1963 hatte sich die Studentenzahl in Westdeutschland fast verdoppelt.10 In den folgenden Jahrzehnten setzte sich die Bildungsexpansion fort. Sie kann also als ein kontinuierlicher Anstieg der Qualifikation der Bevölkerung angesehen werden, die in den 60er Jahren zusätzlichen Antrieb erhielt.

4.) Chancenungleichheit heute

Doch dass der Ausbau des Bildungssystems und die bessere Ausbildung der Bevölkerung nicht zwangsläufig zu einer größeren Chancengleichheit führten, zeigen alle vorliegenden empirischen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts (z.B. die Analysen von Köhler (1992), Block & Klemm (1997), Henz & Maas (1995), Müller & Haun (1994), Lehmann & Peek (1997)11, Lersch (2001) und Habich & Noll (2001)12 ).

Zwar sind geschlechtsspezifische Benachteiligungen stark zurückgegangen und mittlerweile kaum mehr vorhanden.13 Auch Ungleichheiten aufgrund der Konfession sind verschwunden. Doch gibt es in Deutschland14 neben regionalen Unterschieden nach wie vor starke Benachteiligungen von unteren sozialen Schichten.15

“Nur jedes 50. Kind eines Ungelernten beginnt mit einem Universitätsstudium im Vergleich zu 82 Prozent der Kinder von Freiberuflern (Ärzten, Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern etc.); die universitären Studienchancen der Letztgenannten sind also um das 41fache höher als diejenigen der Kinder von Ungelernten.”16

Schon beim Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen sind starke Diskriminierungen von Kinder aus sozial benachteiligten Familien feststellbar. Sie müssen im Durchschnitt eine wesentlich bessere Leistung erbringen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.17

Es ist jedoch nicht eindeutig zu klären, ob diese Chancenungleichheit im Laufe der

vergangenen Jahrzehnte konstant geblieben oder zurückgegangen ist oder eventuell sogar zugenommen hat.

So meint Lersch (2001) beispielsweise:

“Die sozialen Unterschiede in der Bildungsbeteiligung sind nicht nur nach wie vor erschreckend hoch, sondern die Benachteiligung der immer schon Benachteiligten gegenüber den immer schon Privilegierten ist sogar relativ gewachsen.”18

Lersch ist der Auffasung, dass zwar allen sozialen Schichten von der Bildungsexpansion profitiert hätten, jedoch die oberen Klassen stärker als die unteren. So sei z.B. der Anteil der Gymnasiasten unter den Beamtenkindern von 1972 bis 1989 um 12,6 Prozentpunkte gestiegen, unter den Arbeiterkindern nur um 4,4 Prozentpunkte.

Diese Interpretation der Daten ist jedoch trügerisch. Lersch vergleicht lediglich den jeweiligen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Betrachtet man jedoch den relativen Anstieg, so stellt man fest, dass 1989 immerhin rund 70 Prozent mehr Arbeiterkinder auf Gymnasien gingen als 1972 (10,7% im Vergleich zu 6,3%), dagegen aber nur knapp 28 Prozent mehr Beamtenkinder (58,3% zu 45,7%). Ausserdem besuchten deutlich mehr Arbeiterkinder eine Realschule als noch 17 Jahre zuvor (26,3% zu 16,3%). Bei den Beamtenkinder war dieser Anteil nur marginal gewachsen (24,2% zu 22,5%). Anders als Lersch könnte man auch sagen: der Anteil der Arbeiterkinder, die (nur) eine Hauptschule besuchen, ist um 14,9 Prozentpunkte gefallen (von 73,0% auf 58,1%), der entsprechende Anteil bei den Beamtenkindern um 15,4% (von 28,7% auf 13,3%). Folglich könnte man behaupten, beide Gruppen hätten in etwa im gleichen Maße von der Bildungsreform profitiert.

Prozentanteile des Schulbesuchs 13- bis 14-jähriger Kinder (Klasse 7)19

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

So widersprechen z.B Müller & Haun (1994) Lerschs Untersuchungsergebnis. Die beiden Autoren haben bei ihrer Analyse von verschiedenen Daten festgestellt, dass es im Laufe der letzten Jahrzehnte in Deutschland eine Abnahme der schichtspezifischen Benachteiligungen bei den in Anspruch genommenen Bildungsstufen und den Bildungsergebnissen gegeben hat.

Henz & Maas (1995) schreiben:

“Auch wenn der Grund für die Unterschiede nicht geklärt werden kann, so scheint uns doch vieles für eine langsame, relativ gleichmässige Abnahme der Herkunftseffekte auf den Übergang zu einer weiterführenden Schule zu sprechen […].”20

Vergleicht man die verschiedenen Analysen, stellt man also fest, dass die Frage nach einer Zu- oder Abnahme der schichtenspezifischen Benachteiligungen nicht eindeutig geklärt werden kann. Zwar nennen z.B. Hansen & Pfeiffer (1998:55) verschiedene Indikatoren für Chancen-(un)gleichheit im Bildungsbereich, wie z.B. Bildungszugang, Schulabschlüsse des allgemeinbildenden Schulsystems oder der Ausbildungserfolg. Jedoch sind Benachteiligungen objektiv schwer messbar.

Klar ist in jedem Fall, dass sozial bedingte Benachteiligungen im Bildungssystem nach wie vor existieren. Nach Lersch (2001:139) betrug Anfang der 60er Jahre die Chance, über die Beteiligung an “höherer Bildung” seine soziale Lage zu verbessern, maximal 0,7%.21 Auch heute dürfte die Situatution kaum besser aussehen.

5.) Lösungsvorschläge und Forderungen

Die Lösungsvorschläge oder Forderungen, die nun hervorgebracht werden, um den Bildungsstand in Deutschland zu verbessern und eine größere Chancengleichheit zu schaffen, ähneln denen, die bereits vor knapp vier Jahrzehnten formuliert wurden. Wie damals wird auch heute zumeist die ökonomische Bedeutung von Bildung (Humankapital) unterstrichen. Der Bedarf an qualifzierten Fachkräften in einer modernen Gesellschaft ist (immer noch) das zentrale Argument.

“Waren die beginnenden 90er Jahre noch gekennzeichnet von wachsender Arbeitslosigkeit der Hochschulabsolventinnen und -absolventen, haben sich inzwischen die Arbeitmarktsignale der Wirtschaft grundlegend geändert. Schon heute werden Fachkräfte gesucht, insbesondere technisch und naturwissen- schaftlich ausgerichtete Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Bildungspolitik und -planung stehen vor großen Herausforderungen, die sie zu einem stärker abgestimmtem Vorgehen mit Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zwingen.”22

Die Forderung nach mehr Chancengleicheit, die z.B. von der Expertengruppe des "Forum Bildung", einer von der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, 1999 angeregten Initiative, formuliert wird, ähnelt dem Ruf von Dahrendorf (1965) nach “Bildung als Bürgerrecht”:

“Das Bildungssystem hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle Menschen, unabhängig von ihrem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund, ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft und ihren individuellen Voraussetzungen, Bildungsangebote wahrnehmen können, die ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechen. Förderung von Chancengleichheit bedeutet insbesondere die Überwindung von Barrieren, die einer gleichberechtigten Teilnahme an Bildung und einer optimalen Förderung entgegenstehen. ”23

Konkrete Vorschläge und Forderungen zur Schaffung von Chancengleichheit sind nahezu identisch mit denen der 60er Jahre. Es wird für eine stärkere finanzielle Förderung von Schülern und Studenten, vor allem aus finanzschwachen Familien, plädiert, für eine multikulturelle Erziehung sowie für die Schaffung von Ganztagesschulen oder ganztägigen Betreuungssystemen zur Entlastung der Eltern; für die gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht-behinderten Kindern, die stärke Demokratisierung innerhalb des Bildungssystems und den Ausbau von Gesamtschulen.24

“Denn dass beispielsweise Gesamtschulen deutlich mehr Schüler aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu höheren Schulabschlüssen führen als das traditionelle Schulsystem, haben schon die Konstanzer Vergleichs- untersuchungen der 70er Jahre eindeutig erwiesen.”25

Wie dieses Zitat schön zeigt: alles nicht neu.

Die Verfasser der Potsdamer Erklärung (2000) fordern für die Bildungspolitik eine

“neue” Philosophie, die so formuliert jedoch bereits in Werken aus den 60er Jahren hätte gefunden werden können:

“Lernorganisation und Themenauswahl der Bildung müssen die Teilhabe aller Menschen an der Entwicklung der Bildungsgesellschaft sichern; zu vermitteln sind:

- Grundlagenwissen, bezogen auf die Schlüsselfragen der gegenwärtigen Gesellschaft,
- methodische Kompetenzen hinsichtlich der instrumentellen Bewältigung von Techniken - auch der Informationstechniken,
- soziale und personale Kompetenzen des Umgangs mit sich, mit anderen Menschen sowie zur aktiven Beteiligung an der Demokratie.

Diese Kompetenzen sind Grundlage einer Bildung für alle Menschen, die sie befähigt, selbstbestimmt Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen.”26

Neu erscheint zunächst die Forderung nach einer Vereinfachung des Zugangs zu den neuen Technologien wie dem Internet.

“Alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, sozialer, kutureller und regionaler Herkunft oder körperlicher Behinderung, müssen die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien umfassend nutzen können. Eine Voraussetzung dafür bildet die Vermittlung von Medienkompetenz, d.h. die Fähigkeit, sich mit einer geschickten Navigation in der Fülle der Internet-Angebote zurechtfinden und Informationen gezielt suchen, finden und bewerten zu können.”27

Doch neue Technologien fanden bereits schon oft den Weg in die Bildungsdebatte. Stets erhoffte man sich durch sie deutliche Verbesserungen, so z.B. bei der Einführung von Sprachlabors oder dem Schulfernsehen.

6.) Schlussfolgerung

Die deutsche Gesellschaft steht zu Beginn des neuen Jahrtausends vor den gleichen bildungspolitischen Problemen wie bereits 40 Jahre zuvor. Wieder geht es darum das Bildungsnivau allgemein zu erhöhen und gleichzeitig für mehr Chancengleicheit zu sorgen.

Nach Ansicht von z.B. Hansen & Pfeiffer (1998:57), Lersch (2001:152) und Negt (1994:277) ist die nach wie vor vorhandene Chancenungleichheit damit zu begründen, dass die Reformen der 60er Jahre nicht konsequent vollendet worden sind: “Die Bildungsreform ist ein unvollständiges Projekt.”28 Sie sind der Auffassung, dass der eingeschlagene Weg nur fortgesetzt werden muss.

“Zwar ist Chancengleichheit als Utopie zu betrachten, dennoch können und müssen Anstrengungen in Richtung Chancenvermehrung gemacht werden. [...] Wir kommen auf das eingangs benutzte Bild vom benachteiligten Zwerg zurück: ‘Der Zwerg braucht in der Tat eine Leiter, und zwar eine größere!’”29

Die aktuellen empirischen Untersuchungen zeigen aber, dass die Chancen der unteren sozialen Schichten nicht oder höchstens marginal verbessert wurden. Innovative Vorschläge zur Lösung dieses Problems sind nicht vorhanden. Pierre Bourdieus These wird also bestätigt. Scheinbar fehlt tatsächlich der echte Wille, die Situation zu ändern. Das Bildungssystem festigt die soziale Hierarchie.

7.) Literatur

Blossfeld, H.-P. & Shavit, Y. (1993): Dauerhafte Ungleichheiten. Zur Veränderung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen in dreizehn industrialisierten Ländern. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 39, S. 25-52.

Bourdieu, P. (1973): Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Kulturelle

Reproduktion und soziale Reproduktion (Teil 1 mit Jean-Claude Passeron), Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (2001): Pressemitteilung 08/2001 vom 18. Juni 2001 “Zukunft von Bildung und Arbeit. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im Fokus”, Bonn.

Dahrendorf, R. (1965): Bildung ist Bürgerrecht. Nannen, Hamburg.

Geissler, R. (2000): Bildungsexpansion und Bildungschancen. In: Informationen zur politischen Bildung, 269. Sozialer Wandel in Deutschland. http://www.bpb.de/info-franzis/info_269/body_i_269_8.html

Gesellschaft Chancengleichheit e.V. (Hrsg.) (2000): Potsdamer Erklärung „ Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21.Jahrhundert “ . http://www.zweiwochendienst.de/bildungundpolitik/Themen/erk.htm

Habich, R. & Noll, H.-H. (2001): Soziale Ungleichheit. In: W. Böttcher, K. Klemm, Th. Rauschenbach (Hg.): Bildung und Soziales in Zahlen. Juventa, Weinheim / München , S. 73-89.

Hansen, R. & Pfeiffer, H. (1998): Bildungschancen und soziale Ungleichheit. In: H.-G. Rolff, K.-O. Bauer, K. Klemm, H. Pfeiffer (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung, Band 10. Juventa, Weinheim / München, S. 51-86.

Henz, U. & Maas, I. (1995): Chancengleicheit durch Bildungsexpansion. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 4, S. 605-633.

Klemm, K. (2001): Bildungsexpansion, Erfolge und Mißerfolge sowie Bildungsbeteiligung. In: W. Böttcher, K. Klemm, T. Rauschenbach (Hrsg.): Bildung und Soziales in Zahlen. Statistisches Handbuch zu Daten und Trends im Bildungsbereich. Juventa, Weinheim / München, S. 331-342.

Köhler, H. (1992): Bildungsbeteiligung und Sozialstruktur in der Bundesrepublik. MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung, Berlin.

Lersch (2001): Bildungschancen in Deutschland. In: Die deutsche Schule 2, 2001, S. 139- 154.

Müller, W. & Haun, D. (1994): Bildungsungleichheit im sozialen Wandel. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 46, H. 1, S. 1-42.

Negt, O. (1994): Die zweite Gesellschaftsreform: 27 Plädoyers. Steidl, Göttingen.

Peisert, H. (1967): Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland. Piper, München.

Picht, G. (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe: Analyse und Dokumentation. Walter, Olten [u.a].

[...]


1 Bourdieu (1973:93)

2 R. Turre vom Diakonischen Werk, nach Frankfurter Rundschau, Rubrik ‘Aufgespiesst’ am 18.10.1997, zitiert nach: Hansen & Pfeiffer (1998:54).

3 Habich & Noll (2001:81ff..)

4 Habich & Noll (2001:73)

5 Picht (1964:9f.)

6 Dahrendorf (1965:19)

7 Peisert (1967: S.19 f.), zitiert nach Lersch (2001:140)

8 Dahrendorf (1965:24)

9 vgl. Habich & Noll (2001:84)

10 vgl. Dahrendorf (1965:10)

11 Die Untersuchungen von Block & Klemm (1997), Henz & Maas (1995) und Lehmann & Peek (1997) lagen mir nicht im Original vor. Ich beziehe mich auf die Zusammenfassungen in Hansen & Pfeiffer (1998).

12 Auf die Details, Stärken und Schwächen der einzelnen Untersuchungen und ihre unterschiedlichen Datensätze und Interpretationen werde ich nicht näher eingehen. Wichtig in dem Zusammenhang ist das einheitliche Ergebnis, dass nach wie vor starke schichtspezifische Benachteiligungen vorhanden sind.

13 Laut Lersch (2001:144) droht sogar eine Umkehrung der Verhältnisse. Er glaubt, dass in Zukunft Jungen benachteiligt sein werden. Die Abiturientenquoten würden darauf hin deuten. 1994 machten 25,0 % der Schülerinnen Abitur, während nur 22,7 % der männlichen Kollegen soweit kamen.

14 Ein internationaler Vergleich, ob in anderen Ländern mehr oder weniger Chancengleichheit besteht, wäre sicherlich interessant, aber würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Eine umfassende Arbeit zu diesem Thema liegt in der Analyse von Blossfeld & Shavit (1993) vor. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass in allen untersuchten Ländern eine Bildungsexpansion stattgefunden hat und diese dazu geführt hat, dass die Bildungschancen für spätere Geburtsjahrgänge verbessert werden konnten. Jedoch findet sich ihrer Analyse zufolge in keinem der Länder - bis auf Schweden und die Niederlande - eine Abnahme des Effekts der schichtenspezifischen Benachteiligung innerhalb eines Jahrgangs.

15 fuer eine kurze Zusammenfassung der Chancenverteilung siehe Klemm (2001:338ff.)

16 Geissler (2000:5)

17 vgl. Lehmann & Peek (1997), Geissler (2000)

18 Lersch (2001:147)

19 aus: Lersch (2001:147)

20 zitiert in Hansen & Pfeiffer (1998:74)

21 Über eine solche Prozentangabe kann man sicherlich streiten. Wichtig ist lediglich, dass die Chance ausgesprochen gering war.

22 Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (2001).

23 Bericht der Expertengruppe Forum Bildung, S. 4

24 vgl. z.B. Potsdamer Erklärung (2000) oder Lersch (2001)

25 Lersch (2001:144)

26 Potsdamer Erklaerung (2000:9)

27 Potsdamer Erklaerung (2000:15)

28 Negt (1994:277)

29 Hansen & Pfeiffer (1998:86)

Excerpt out of 19 pages

Details

Title
Chancenungleichheit beim Zugang zu Bildung
College
University of Hamburg
Author
Year
2001
Pages
19
Catalog Number
V105534
ISBN (eBook)
9783640038268
File size
440 KB
Language
German
Keywords
Chancenungleichheit, Zugang, Bildung
Quote paper
Christian Baars (Author), 2001, Chancenungleichheit beim Zugang zu Bildung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105534

Comments

  • guest on 6/5/2002

    unvollständig.

    Die Hausarbeit genügt kaum wissenschaftlichen Ansprüchen.

    Die Argumentationslinie ist mehrfach inkosistent (Lersch wird widerlegt und dann doch in der Schlußfolgerung verwendet?!).

    Es gibt keine Belege für die Schlußfolgerung (was nicht heißt, dass sie falsch ist, aber bestätigt ist sie auch nicht).

    Der Arbeit hätte einer besseren soziologischen und psychologischen Fundierung bedurft.

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