Besessenheit und Exorzismus


Seminar Paper, 2001

19 Pages


Excerpt


1. Einleitung

Besessenheit und Exorzismus waren bis in das 19. Jahrhundert hinein Bestandteil der medikalen Alltagskultur, obwohl man Besessenheit nicht als Krankheit im medizinischen Sinne bezeichnen kann. Besessenheit ist eine aus einem religiös-mythologischen Weltbild entstandene Interpretation von bestimmten psychischen Krankheitsbildern. Dennoch war sie, genau wie die Therapie durch einen Exorzismus, für die Menschen, die an sie glaubten, durchaus real. Auch heute noch hält sich dieser Glaube in bestimmten Regionen und gesellschaftlichen Schichten, ist aber im allgemeinen aus der medikalen Alltagskultur verschwunden, da vor allem im Zuge der Aufklärung und des medizinischen Fortschritts ab dem 19. Jahrhundert die religiös dominierte Diagnose der Besessenheit von einer wissenschaftlich-medizinischen abgelöst wurde. Im folgenden soll nun geklärt werden, wie der Glaube an Besessenheit in der christlich-abendländischen Kultur entstand und wie sich Besessenheit und Exorzismus im Alltag darstellten. Hierbei kommt der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung zu, da in dieser Phase Exorzismen besonders häufig vollzogen und diese auch ausführlich dokumentiert wurden. Außerdem sollen der Verlauf einer Besessenheit und eines Exorzismus dargestellt, sowie die wissenschaftlichen Erklärungen für das Phänomen Besessenheit aufgezeigt werden.

2. Definitionen und Grundlagen

Geistige Ausnahmezustände werden in nahezu allen Kulturen zu allen Zeiten mit dem Wirken von Geistern, die in den Körper gefahren sind, erklärt. Besessenheit ist [...] Ausdruck einer kulturell begründeten Vorstellung, welche ungewöhnliche Erscheinungen dadurch erklärt, daß ein Geist von dem betroffenen Menschen Besitz ergriffen habe1 . Man unterscheidet zwei Arten von Besessenheit. Zum einen die gewollte Besessenheit durch Geister als Teil von kultischen Handlungen. Auch im westlichen Kulturkreis ist die Praxis des Kontaktaufnehmens mit Geistern von Verstorbenen durch ein Medium in spiritistischen Kreisen durchaus üblich. Zum anderen das ‘gewaltsame’ Eindringen eines in diesem Falle bösen Geistes in den Betroffenen. Wenn man im christlichen Kontext von Besessenheit spricht, so ist in den meisten Fällen diese zweite Erscheinungsform gemeint. Nach der christlichen Mythologie handelt es sich hierbei um Dämonen und Teufel, die von Menschen unter bestimmten Umständen Besitz ergreifen können. Die Existenz dieser Teufel und Dämonen wurde bis in das 18. Jahrhundert in weiten Teilen der Bevölkerung als Realität angesehen. Auch heute lebt diese Vorstellung in christlich-fundamentalistischen Kreisen fort. Da also Besessenheit keine Krankheit ist, die wissenschaftlich bzw. medizinisch behandelt werden kann, basiert die Therapie ebenfalls auf einem religiösen Fundament. Zum Vertreiben der Dämonen wird ein Exorzismus vollzogen, in dessen Verlauf ein Priester den Dämonen durch einen Befehl Gottes zwingt, aus dem Körper des Besessenen zu fahren. Die notwendige Voraussetzung für Besessenheit und Exorzismus ist der Glaube an die Möglichkeit der Besessenheit beim Patienten und seiner Umwelt. Besessenheit ist ein Theater, bei dem das Publikum mitspielt. So betrachtet ist der Exorzismus in gewisser Hinsicht Teil dieses Theaters.2

3. Die Geschichte von Exorzismus und Besessenheit im christlichen Glauben

3.1. Neues Testament

Der christliche Glauben basiert auf dem Judentum. Da beides monotheistische Religionen sind, ist die Existenz von weiteren übernatürlichen Wesen eigentlich nicht in den Glaubensgrundsätzen verankert. Der Glaube an Engel und Teufel entstand im Judentum durch den Kontakt mit dem chaldäisch-iranischen Glauben während der babylonischen Gefangenschaft im 6. Jahrhundert v.Chr. Im Zuge dieses Kulturtransfers finden auch antidämonische Riten Eingang in den jüdischen Glauben. In der Folge schwindet immer mehr [...] die altisraelitische Scheu vor dem Exorzismus, in hellenistischer Zeit sind Juden gesuchte Exorzisten.3 So befinden sich auch bereits im Alten Testament vereinzelt Exorzismusformeln, wenngleich diese nicht spezifisch auf das Heilen Besessener angelegt sind, sondern böse Geister im Zusammenhang mit Krieg, Segen und Fluch, Krankenheilungen, Totenauferweckungen und dem Streben nach ritueller Reinheit vertreiben sollen. Im Neuen Testament wird der Glaube an Dämonen und an den Exorzismus zementiert. In den Evangelien wird häufig berichtet, dass Jesus Exorzismen vornimmt. Neben den eigentlich (psychisch kranken) Besessenen werden auch Krankheiten / Behinderungen wie Blindheit,

Stummheit, Lähmung, Aussatz und Fieber durch einen Exorzismus geheilt. Der Hintergrund hierfür ist der Glaube daran, dass auch die meisten körperlichen Leiden ihren Ursprung im Wirken eines Krankheitsdämons haben. Der bekannteste neutestamentarische Exorzismus ist der des besessenen Gadareners (Mk.5, 1-20), der eine Art Archetyp des Exorzismus darstellt. Er ist prägend für die Tradition des Exorzismus in der christlich-abendländischen Kultur. Hier werden die Symptome einer Besessenheit und die wichtigsten Elemente eines Exorzismus in der Form beschrieben, wie sie in den folgenden Jahrhunderten immer wieder auftauchen und Eingang in den offiziellen kirchlichen Ritus finden: der Besessenen ist in Aussehen und Verhalten stark verändert, besitzt übermenschliche Kräfte und verfügt über dämonisches Wissen. Die Austreibung erfolgt durch die Namensnennung der Dämonen, ihre Bedrohung und den Befehl zur Ausfahrt im Namen Gottes durch den Exorzisten. Diese Grundelemente des Exorzismus sind bis heute Bestandteil der Lehre der katholischen Kirche und so auch im Rituale Romanum von 1614 (s. 4.1.) schriftlich festgelegt. Sie wurden allerdings im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ergänzt und spezifiziert. Genügte in der direkten Folgezeit nach Jesus Tod noch ein einfacher Befehl im Namen Christi an die Dämonen, um sie zum Ausfahren zu zwingen, so entwickelten sich schon in der christlichen Urgemeinde sekundäre Hilfsmittel zur Zurückdrängung von bösen Mächten und Gewalten. Zu diesen gehörten Rituale wie Segnungen, Fasten und Exorzismusformeln, sowie geweihte und heilige ‘Gegenstände’, wie Reliquien, Weihwasser oder Hostien. Hatte zunächst noch jeder Christ durch seine Taufe, die im übrigen auch ein exorzistisches Ritual darstellte, die Macht, im Namen Christi einen Exorzismus durchzuführen, so wurde der Exorzismus im 3.Jahrhundert durch die Schaffung eines Exorzistenamts innerhalb der Kirche institutionalisiert. Nur noch Priester mit bestimmten zusätzlichen Weihen waren in der Lage, einen Exorzismus durchzuführen. Zu diesen gehörten auch die Missionare, die die christliche Lehre in die heidnischen Gebiete trugen. Dem Exorzismus kam bei dem Erfolg der urchristlichen Mission eine entscheidende Bedeutung zu. Durch die Vertreibung der Schadensmächte veranschaulichten die frühen Missionare den Siegüber die Dämonen. Als Dämonenbeschwörer sind die Christen in die groß e Welt eingetreten, und die Beschwörung war ein sehr wichtiges Mittel der Mission und der Propaganda.4

Es ist festzustellen, dass in dieser noch ganz im dämonistischen Weltbild der Antike eingebundenen Frühphase des Christentums die Vorstellung von Besessenheit und die Heilung durch Exorzismen zur medikalen Alltagskultur gehörten. So wurden auch die meisten körperlichen Erkrankungen auf das Wirken böser Geister zurückgeführt. Waren Exorzismusritual, Anwendungsgebiete und auch die grundsätzliche Fähigkeit zum Exorzieren zunächst sehr allgemein gehalten, so setzte im Lauf der ersten Jahrhunderte n.Chr. eine immer weitergehende Reglementierung, Spezifizierung und Vereinnahmung durch die sich institutionalisierende Kirche ein.

3.2. Mittelalter

Auf die Geschichte von Exorzismus und Besessenheit im Mittelalter werde ich nur kurz

eingehen, da sich die diesbezügliche Situation bis in das 18. Jahrhundert nicht grundlegend ändert und die Hochphase des Hexen- und Besessenheitswahns vom 16. bis 18. Jahrhundert einer sehr genauen Betrachtung unterzogen wird.

In der mittelalterlichen Kirche gewinnen der altertümliche Teufels- und Dämonenglauben und exorzistische Praktiken stark an Bedeutung. Es wird ein spezielles Wissen zur Teufelsaustreibung vorausgesetzt, da die Exorzismen im Lauf der Jahrhunderte immer komplizierter werden. Es etablieren sich Rituale, die unter der Verwendung von komplexen Formeln sowie Reliquien und Weihwasser vonstatten gehen. Somit erhält sich die Kirche ihr Exorzismus-Monopol, da sie als einzige Institution das (von ihr selbst) geforderte Wissen vermitteln kann. Die damit verbundene Deutungshoheit ist für die Sicherung der kirchlichen Macht überaus wichtig, da der Vorwurf der Besessenheit immer häufiger auch gegen „Heiden“ und Verbreiter christlicher „Irrlehren“, also sogenannte „Ketzer“ erhoben wird. Eine thematische Auseinandersetzung wird so mit dem Verweis auf das Wirken böser Mächte unterbunden, Abweichler vom Glaubenskonsens können unter Druck gesetzt werden, da der Vorwurf von Besessenheit und ein anschließender Exorzismus durchaus in folterähnliche Situationen ausarten kann. Neben dieser Funktion des Exorzismus zur Machterhaltung der Kirche und zum Schutz der eigenen Anschauungen spielen Besessenheit und Exorzismus natürlich auch nach wie vor im medikalen Alltagsleben gerade in den unteren Bevölkerungsschichten eine bedeutende Rolle. Mit diesen Aspekten wird sich das folgende Kapitel befassen.

3.3. Die Zeit des Hexen- und Besessenheitswahns (16. - 18. Jahrhundert)

3.3.1. Die allgemeine Situation

Um die weite Verbreitung des Glaubens an Besessenheit und Exorzismus, sowie dessen Einwirken auf verschieden Lebensbereiche deutlich zu machen, sollen zunächst einige grundsätzliche Elemente der Lebensumstände und Vorstellungen in dieser Zeit aufgezeigt werden.

Die Menschen lebten in einer Zeit der Willkür und fehlenden Organisation in allen Lebensbereichen, in einer Zeit, die geprägt war von Seuchen, von den in der Folge der Reformation immer wieder auflodernden Glaubenskriegen und von einem durch Reformation und später durch die Aufklärung hervorgerufenen weltanschaulichen Wandel. Das medizinische Wissen basierte auf der hippokratisch-galenischen Säftelehre, die Krankheiten neben mehr oder weniger wirksamen Medikamenten durch Aderlass oder Klistier behandelte. Die Praxis des Impfens entstand erst im ausgehenden 18. Jahrhundert und so stand man den immer wieder auftretenden Seuchen weitgehend schutzlos gegenüber. Psychische Erkrankungen wurden ebenfalls entweder genauso wie körperliche Krankheiten nach der Säftelehre behandelt oder man prognostizierte eine Besessenheit, die dann durch einen Exorzisten ‘geheilt’ werden konnte, umgekehrt führte man häufig auch körperliche Leiden auf das Wirken böser Geister zurück.

Neben den Schrecken der Kriege boten auch Friedenszeiten der Bevölkerung keine Sicherheit. Basierend auf Gewohnheitsrechten übten die Herrschenden ihre Macht nach eigenem Gutdünken aus. Es existierte kein Strafgesetz und selbst für geringere Vergehen wurden drakonische Strafen verhängt. Vielerorts drohte beispielsweise bei Diebstahl, Ehebruch oder Gotteslästerung die Todesstrafe. Es existierte keine Polizei im heutigen Sinne, es gab somit auch keine Tatbestandsermittlung, als Beweise für Verbrechen galten Geständnisse, die den Tatverdächtigen häufig durch Folter aufgezwungen wurden. In dieser Zeit der Willkür und der fehlenden Organisation in allen Lebensbereichen kam der Kirche eine herausragende Bedeutung zu.

3.3.2. Die Stellung der Kirche

Religiosität und die Kirche als Repräsentant dieser Religiosität durchdrangen den gesamten Alltag. So waren alle wichtigen Ereignisse des eigenen Lebens, von der Namengebung über die Eheschließung, die Testamentsverfassung bis hin zur Beerdigung religiöse Akte.

Allerdings war das Verständnis für diese religiösen Bräuche und die nach wie vor in Latein gehaltenen Messen gerade in der Landbevölkerung kaum vorhanden. Es zählte weniger die Botschaft des christlichen Glaubens, als vielmehr seine spirituellen und magischen Momente. In deren Vermischung mit Elementen des Volksglaubens trieb die Religiosität eigenartige Blüten. Angst und Unheil abwendende Formeln oder Psalme hatten eine wichtige Bedeutung, Visionen vom Teufel, von Heiligen oder Marienerscheinungen wurden häufig verbreitet, fast täglich gab es Berichte von seltsamen Zeichen und Wundern, die Gottes Wirken zeigten oder das Jüngste Gericht ankündigten. Es gab eine sehr intensive Verehrung für Heilige, die im weitverbreiteten Kult um Reliquien gipfelte: von Stofffetzen bis Fingerknochen schrieb man Gegenständen (und Körperteilen), die angeblich einem bestimmten Heiligen gehört hatten, magische, schützende Kräfte zu. Die Beliebtheit einzelner Heiliger unterlag starken Schwankungen. Galten die Reliquien eines Heiligen in einer bestimmten Gegend heute als unglaublich wundertätig und erfreuten sich einer großen Nachfrage, so hatten sie schon kurze Zeit später ihren Wert wieder verloren. Ähnlich verhielt es sich mit Wallfahrtsorten. Orte, an denen scheinbar Wunderbares geschehen war, an denen Menschen Visionen hatten, konnte binnen kürzester Zeit zu vielbereisten Plätzen werden, genauso schnell gerieten sie aber auch wieder in Vergessenheit. Cécile Ernst berichtet in ihrem Buch „Teufelsaustreibungen“ beispielsweise davon, dass sich in der Nähe von Konstanz plötzlich die Fundstelle einer unbekannten Wasserleiche zu einem Wallfahrtsort entwickelte, was das Einschreiten des zuständigen Bischofs provozierte, der die Wallfahrt zu diesem Ort verbot5. Dieses Ereignis macht auch deutlich, dass die sich im Alltag manifestierende Religiosität mit der offiziellen christlichen Lehre oftmals wenig zu tun hatte, ja sogar von dieser unterbunden wurde. Trotzdem besaß die Kirche in einer Zeit, in der die Weltanschauung, ja quasi das gesamte Leben religiös dominiert war, eine herausragende, sinnstiftende Stellung.

3.3.3. Besessenheit und Exorzismus

Die oben beschriebenen Lebensbedingungen und das weltanschauliche Gemisch aus Christentum und Volksglaube war ein Hauptgrund für das gehäufte Auftreten von Besessenheit in der Zeit zwischen dem 16. und 18.Jahrhundert. Die Menschen lebten in einer Welt ohne Organisation zum Schutz gegen Tod, Krankheit, sozialen Abstieg und Willkür.6 Es gab gerade für die einfache Landbevölkerung keine Perspektiven und positiven Zukunftsaussichten, ihr Leben wurde stark von Unzufriedenheit und Leid geprägt und gerade dies kann zu Hysterien führen, die allgemein als Haupterklärung für das Phänomen Besessenheit gelten (s. 5.3.). Der Leidende wandte sich direkt an seine Umwelt und demonstrierte [..] seine Not. Er wurde hysterisch. Je weniger Organisation sich zwischen die Menschen stellt, je direkter, spontaner, distanzloser und unberechenbarer ihre Beziehungen zueinander sind, desto häufiger werden Hysterien auftreten.7 Die diffuse Wahrnehmung von Leid und Unzufriedenheit, gepaart mit der Unfähigkeit diese zu analysieren und zu kommunizieren konnte also zu hysterischen Ausbrüchen führen. Und das um so mehr, als eine als Besessenheit gedeutete Hysterie dem Betroffenen einen Ausweg aus seiner unbefriedigenden, die Hysterie auslösenden Situation bieten konnte. Denn Exorzismen waren dramatische Ereignisse, die ganze Kirche füllen konnten. Ein Exorzismus bot große Unterhaltung, der Besessene spielte die Hauptrolle im Schauspiel Exorzismus und konnte so aus der Bedeutungslosigkeit ausbrechen. Dass bei großen Exorzismen häufig weltliche und geistliche Prominenz anwesend war, tat dabei sein übriges. Die von Cécile Ernst untersuchten Fälle zeigen darüber hinaus, dass auch nach erfolgreichen Exorzismen beim Besessenen in bestimmten zeitlichen Abständen häufig kleinere Rückfälle von Umsessenheit („Circumsessio“, s. 4.2.) auftraten, bei denen die Symptome der Besessenheit in abgeschwächter Form erneut ausbrachen und wiederum das Hinzuziehen von geistlichem Beistand erzwangen, wodurch sich so die sich verlierende öffentliche Aufmerksamkeit erneuerte. Der Grad zwischen echter Hysterie und Vortäuschung scheint demnach fließend gewesen zu sein. Dafür spricht auch, dass es immer wieder Fälle gab, in denen der Besessene die besondere Aufmerksamkeit für eigene Interessen ausnutzte. Beispielsweise in der überlieferten Geschichte, nach der die Frau eines in den Krieg gezogenen Soldaten ein Verhältnis mit dem Dorfpfarrer beginnt und nach der Rückkehr ihres Mannes in der Kirche einen Besessenheitsanfall vortäuscht. Der aus ihr sprechende Geist schickt diesen zur Genesung seiner Frau auf eine länger andauernde Wallfahrt, während der sie und der Dorfpfarrer wieder ungestört ihr Verhältnis pflegen können.8

Aber nicht nur Besessene nutzten die große Öffentlichkeit eines Exorzismus aus, auch die Kirche wusste diese zu nutzen. So bedeutete ein stattfindender Exorzismus meistens eine stark besuchte Kirche, in welcher sich die gut unterhaltenen Besucher häufig zu größeren Spenden hinreißen ließen. Ein Exorzismus war ein Spektakel mit einem hohen Schauwert, den auch Betrüger zu nutzen versuchten. So boten Schauspieler in der Rolle von Exorzisten und Besessenem der begeisterten Masse einen spannenden, wenn auch vorgetäuschten Kampf zwischen Gut und Böse, den sie sich vom Publikum großzügig entlohnen ließen. Natürlich ging die Kirche gegen diese Form des Mißbrauchs der kirchlichen Riten vor, forcierte aber andererseits den Besessenheits- und Hexenwahn, um das eigene Weltbild in einer Zeit des geistigen Umbruchs zu verteidigen. Wie bereits erwähnt weitete sie den Besessenheitsvorwurf auch auf Abweichler und Reformer aus. Diese wurden dann teilweise unter der Verwendung von Gewalt und Folter ‘exorziert’, was auf Gleichgesinnte durchaus abschreckend gewirkt haben dürfte.

Trotzdem wurde Besessenheit in erster Linie als Krankheit angesehen. Sie war ein Bestandteil der magisch-religiös geprägten Weltanschauung. Es herrschte ein Konsens zwischen dem Kranken, seinen Umfeld und dem Exorzisten über Ursache, Art und Behandlung der Besessenheit. Dementsprechend blieben Besessene gewöhnlich fest in ihr soziales integriert. Ganz im Gegenteil zu den meisten anderen psychisch Kranken, deren Leiden nicht erklärt werden konnte und über deren Behandlungen die Ärzte nur wage Vermutungen hatte. Im übrigen wurden bei Besessenen gewöhnlich keine Mediziner hinzugezogen, man wandte sich sofort an einen Exorzisten, wenn sich Symptome einer Besessenheit zeigten. Besessenheit gehörte also zur medikalen Alltagskultur. Daneben bot sie neben ihrer Instrumentalisierung für persönliche und politische Zwecke die Möglichkeit der Schuldzuschreibung für das Böse, für das Unglück, für den unverschuldeten Schicksalsschlag und für alles Bedrohliche und Unerklärliche.9

Die Verbindung von Besessenheit und Hexenwahn Parallel zum Besessenheitswahn fand auch der Hexenwahn in der Zeit zwischen 16. und 18. Jahrhundert seine weiteste Ausbreitung. Zwischen beiden Phänomenen gab es eine enge Beziehung. Die Grundlage für den Glauben an das Wirken von Hexen war ebenfalls der nach wie vor weit verbreitete Volksglaube. Wurden Kräuter- und Zauberkundige bis in das Mittelalter hinein von Teilen der Bevölkerung geschätzt und in Anspruch genommen, so setzte sich in der Verbindung mit dem wachsenden Einfluss der Kirche immer mehr die Meinung durch, es handele sich hierbei um strafbare Magie. Ab dem 13. Jahrhundert wurden Zauberer und Wahrsager zu den Häretikern gezählt. Im Zuge der ersten Hexenverfolgungen im 15. Jahrhundert wurden Hexen häufig mit dem Wirken des Teufels in Verbindung gebracht. Es entstand die Vorstellung einer von Hexen gebildeten Antikirche, der sogenannten Synagoge. Auch die Existenz von Hexen bot die Möglichkeit der Schuldzuweisung für das nicht erklärbare Übel, das das eigene Leben heimsuchen konnte. Hexen wurden für Missernten, Unwetter, Fehlgeburten und eben auch für Besessenheiten verantwortlich gemacht. Bereits 1486 widmete sich das gesamte 10. Kapitel des als „Hexenhammer“ bekannten Werkes „Malleus Melaficarum“ dem Entstehen von Besessenheit durch Zauberei bzw. durch das Wirken von Hexen. Auch in der im „Rituale Romanum“ festgelegten Form des großen Exorzismus ist die Frage, ob die Zauberkunst einer Hexe die Ursache für die Besessenheit ist, ein festgeschriebener Grundsatz. Ab dem 17. Jahrhundert galten Hexenzauber als die Hauptursache für Besessenheiten. Die Besessenen denunzierten während des Exorzismus die Person, die sie angeblich verzaubert hatte. Hierbei konnten durchaus persönliche Motive des Besessenen ausschlaggebend sein, häufig traf es aber auch Frauen in Außenseiterpositionen oder solche, die in den Augen der Allgemeinheit einen wenig sittsamen Lebenswandel führten. Mit Sicherheit bedeutete die Denunzierung eines Dritten als Ursache für die Besessenheit aber eine Entlastung. Nicht man selbst war für die Besessenheit verantwortlich und hatte sich womöglich verbotenen Dingen hingegeben, sondern die Besessenheit kam durch Einflussnahme von Außen. Der Hexenwahn und die vor allem im 16. und 17. Jahrhundert auf ihrem Höhepunkt angekommene Hexenverfolgung boten hier einfache und allgemein akzeptierte Erklärungsmuster.

Ganz in der Tradition des damaligen Rechtssystems ging man der Denunzierung einer Hexe nicht weiter auf den Grund. Ein Geständinis sollte auch in diesen Fällen Klarheit bringen. Eine als Hexe denunzierte Frau wurde also von der Inquisition der Folter unterzogen, bis sie ihre Tat gestand. In der Logik der damaligen Zeit bedeutete das Leugnen der Vorwürfe, dass die Hexe unter dem Einfluss des Teufels stand, der nur durch den Schmerz der Folter zurückgedrängt werden konnte. Nach dem Geständnis übergab man die Hexe dann schließlich den ‘reinigenden Flammen’.

Die enge Verbindung von Hexen- und Besessenheitsglauben führte auch zu Veränderungen beim Exorzismus, der nun häufiger ebenfalls unter Verwendung von Gewalt und Folter erfolgte.

Wie der Glaube an Besessenheit gehörte auch der Glaube an das Wirken von Hexen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert zum Alltagsleben. In einer von Krieg, Not und Unsicherheit geprägte Zeit bedeutete der Hexenwahn eine Möglichkeit der Schuldzuschreibung für das scheinbar unverschuldet zu ertragende Leid, die Hexen fungierten als Sündenböcke. Demzufolge gab man ihnen auch die Schuld an Besessenheiten, weshalb die häufigste Erklärung für das Wirken von Teufeln und Dämonen in dieser Zeit die Einflussnahme von Hexen war.

3.4. Vom 18. Jahrhundert bis heute

Ab dem 18. Jahrhundert wurden der Glaube an Besessenheit und das Ausüben von Exorzismen mehr und mehr aus der medikalen Alltagskultur zurückgedrängt. Die Gründe sind vielfältig. Durch die Aufklärung und die Verdrängung des kirchlich-religiös dominierten Weltbildes wurde dem Wirken böser Geister immer weniger Glauben geschenkt. Zudem machte die Medizin große Fortschritte. Durch neue Methoden in Diagnose und Therapie wurden viele Krankheiten und Seuchen heilbar. Die Vorstellung, dass Krankheiten durch böse Geister hervorgerufen werden, wurde durch die medizinische Praxis widerlegt. Dies traf auch auf psychische Leiden zu, die ab dem 19. Jahrhundert mit dem Entstehen der Psychotherapie auf wissenschaftlicher Grundlage behandelt werden konnten. Dennoch gab es auch weiterhin Fälle von Besessenheit. Diese waren aber hauptsächlich auf bestimmte Milieus beschränkt. Sie traten normalerweise kaum in Städten und in höheren Bildungsschichten auf, sondern beschränkten sich weitgehend auf ländliche Gegenden, deren Leben nach wie vor von einem starken Glauben geprägt war. Auch an der Praxis des Exorzismus wurde im Zuge der Aufklärung zunehmend Kritik geübt, da die teilweise mit Gewalt durchsetzten Rituale einem humanistischen Weltbild in jeglicher Hinsicht widersprachen.

Seit 1968 enthalten die offiziellen liturgischen Bücher der römisch-katholischen Kirche keinen Exorzismus mehr, es wird aber dennoch an der Existenz von wirklicher Besessenheit festgehalten. Diese ist zwar kein förmlich erklärter Glaubenssatz, aber sie ist [...] als ein geoffenbartes Dogma [...] zu qualifizieren.10 Dementsprechend finden sich weiterhin im katholischen Taufritus exorzistische Formeln und jeder katholische Priester erhält auch heute noch bei seiner Weihe die offizielle Gewalt zur Dämonenbeschwörung. Auch wenn der Glaube an Besessenheit aus der medikalen Alltagskultur verschwunden ist, so hält in den Volkskirchen immer noch eine große Minderheit an Dämonenglauben und Exorzismus fest. Gerade in konservativen, fundamentalistischen Kreisen beider Konfessionen ist diese Hinwendung zu den spiritistischen Elementen des christlichen Glaubens, vermutlich in Opposition zur kritischen Theologie und den starken Okkultismus-/Sekten-Bewegungen der Gegenwart, zu beobachten. So haben beispielsweise in einer nicht mehr ganz aktuellen Umfrage unter evangelischen Pfarrern von 1982 35% der Befragten angegeben, an echte Besessenheit zu glauben, und jeder vierte behauptete immerhin, selbst schon mit solchen Fällen zu tun gehabt zu haben11.

Auch wenn heute [...] das magische System der Kirche die Krankheiten aus sich entlassen [hat] 12 und der Glaube an Besessenheit und Exorzismus aus dem Alltagsleben nahezu vollständig verschwunden ist, existieren also immer noch größere Gruppierungen, die eine echte Besessenheit und dementsprechend auch die Wirksamkeit eines Exorzismus für möglich halten. Diesen Gruppierungen ist das Festhalten an einem fundamentalistisch und/oder spirituell geprägten, starken Glauben gemein. Ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten finden Exorzismen nicht mehr in der Öffentlichkeit statt, da die Ausübenden vielerorts mit Sanktionen rechnen müssen. Als Beispiel kann man hier den letzten offiziellen Exorzismus in Deutschland vorbringen. Im Fall der Anneliese Michel aus Klingenberg vollzogen zwei von der katholischen Kirche offiziell beauftragte Priester einen mehrere Monate andauernden Exorzismus, dem die scheinbar Besessene dann schließlich wegen Unterernährung und Entkräftung erlag. Fand dieser Vorfall unbemerkt von der Öffentlichkeit im Haus der strenggläubigen Familie statt, so war das Aufsehen am Prozess gegen die Priester und die Eltern um so größer. Das Unverständnis und die Empörung in weiten Teilen der Bevölkerung führten zu einer Diskussion um ein Verbot von Exorzismen in der römisch-katholischen Kirche, in dessen Folge zumindest kein weiterer Exorzismus mehr bekannt wurde.

4. Der Exorzismus nach dem „Rituale Romanum“

4.1. Vorbemerkung

Wie in Kapitel 3 bereits dargestellt, war das Ritual des Exorzismus in der christlich- abendländischen Kultur einem ständigen Wandel unterzogen. Hatte in der Urkirche noch jeder Christ das Recht, im Namen Christi zu exorzieren, so entstand im 3. Jahrhundert das Exorzistenamt. In der darauffolgenden Zeit wurde die Ausführung des Exorzismus immer komplexer. Es entstanden Formeln und Rituale, die aber erst im „Rituale Romanum“ vereinheitlicht und schriftlich fixiert wurden. Das „Rituale Romanum“ ist das für die gesamten katholische Kirche grundlegende liturgische Handbuch, welches die wichtigsten Riten, darunter eben auch den Exorzismus, formal festlegte und schriftlich fixierte. Es wurde 1614 durch Papst Paul V. der Öffentlichkeit übergeben. Anlass zu dieser Kodifizierung der Riten war die Auseinandersetzung mit der Reformation und ihrer Lehren. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass zwar auch Luther am Taufexorzismus festhielt, allerdings noch im 16. Jahrhundert die protestantische Lehre die Anwendung von Exorzismen bei Krankheitserscheinungen ablehnte. Dementsprechend war die Besessenheit in der medikalen Alltagskultur hauptsächlich ein Phänomen in katholisch geprägten Regionen. Allerdings gibt es auch immer wieder Fälle von Besessenheiten und sogar Exorzismen in der evangelischen Kirche13, denn wie bereits erwähnt gab es doch größere Unterschiede zwischen den von der Kirche vermittelten Glaubensgrundsätze und der in der Bevölkerung gelebten Religiosität.

4.2. Vorgang der Besessenheit

Nach dem „Rituale Romanum“ nimmt eine Besessenheit immer einen bestimmten Verlauf. Der richtigen Besessenheit vorgelagert ist der Zustand der Umsitzung oder Umsessenheit („Circumsessio“). Hierbei wird das Opfer von den Dämonen belagert, die auf einen günstigen Zeitpunkt zur Einfahrt warten. Der Betroffene leidet dann häufig unter Halluzinationen, handfestere ‘ Belästigungen ’ schließ en sich manchmal an: Die Opfer fühlen sich körperlich attackiert, verletzt und geschwächt.14 Weitere mögliche Symptome der Umsessenheit sind Verhaltensstörungen, extreme Stimmungsschwankungen und Depressionen, außerdem kann der Betroffene Leidtragender unglücklicher ‘Zufälle’ sein. Zur Veranschaulichung will ich auf den Fall der Nicole Obri aus Laon aus dem Jahr 1565 eingehen. Das Stadium der Circumsessio dauerte hier mehrere Jahre an. Ausschlaggebend für diese war ein Abend, an dem Nicole zum Tanz ging, anstatt auf ihre kleine Schwester aufzupassen, dabei einen Rosenkranz verlor und anschließend von ihrer erzürnten Mutter verflucht wurde. Anschließend passierten die erwähnten unglücklichen Zufälle. Mit dem mütterlichen Fluch begann die Circumsessio: der Teufel liess das Mädchen am Fluss stolpern, um sie zu ertränken [...und...] ließ sie die Kellertreppe hinunterstürzen.15 In der Folge hatte sie des häufigeren Halluzinationen in Form eines Mannes in einem Leichentuch, der sich als ihr verstorbener Großvater ausgab. Kurz vor der Besessenheit verschlechterte sich ihr Zustand weiter und sie legte seltsame Verhaltensweisen an den Tag:

Bald sass die junge Frau auf dem Bett und sagte nachher, sie habe einen schwarzen Mann gesehen, bald tobte und schrie sie. [...] Manchmal ‘ entführte ’ sie der Teufel; sie war plötzlich im Schweinestall oder lag ‘ starr wie ein Scheit ’ auf dem Estrich.16

Nach der Circumsessio erfolgt die Einfahrt des Teufels in den Körper seines Opfers. Dies geschieht häufig, wenn der Besessene isst oder trinkt. Man hatte also eine sehr körperliche Vorstellung dieser Einfahrt. Viele Bilder stellen dieses Ereignis dar, indem sie den Dämonen oder Teufel als eine Mücke zeigen, die während der Nahrungsaufnahme dem Opfer unbemerkt in den Mund fliegt.

Die Symptome der eigentlichen Besessenheit (‘Posessio’ oder ‘Obsessio’) sind dann um einiges heftiger und vielfältiger als dies bei der Umsessenheit der Fall ist. Der dem Körper innewohnende Dämon kontrolliert diesen, was sich in auffälligen körperlichen Veränderungen, extremen Verhaltensweisen und parapsychologischen Phänomenen zeigt. So kann der Besessene eine außergewöhnliche Steigerung der Körperkräfte aufweisen, es kommt zu Veränderungen von Gesicht und Stimme, zu Schwellungen, Verrenkungen und Krämpfen; der Besessene schreit, erbricht sich, fällt in tiefe Bewußtlosigkeit und fügt sich selbst Verletzungen zu. Er kann plötzlich über Fähigkeiten wie Hellsicht, Telepathie, Levitation oder Xenoglossie17 verfügen, außerdem zeigt sich immer eine starke Abneigung und Aggression gegen alles Heilige und Geweihte. Im Fall von Nicole Obri stellte sich die Besessenheit wie folgt dar:

Nicole tobt und grimassiert, das Gesicht ist blaurot, die Zunge hängt weit aus dem Mund, die Augen quellen hervor, und man hört ihr Geschrei ‘ wie von einem Stier ’ im ganzen Dorf. In klassischer Weise verstärkt sich das Toben, wenn Geweihtes (Reliquien oder Weihwasser) in ihre Nähe gebracht wird. Wie das Rituale es vom Besessenen fordert, ist sie imstande, Verborgenes zu offenbaren, d.h. sie nennt den zahlreichen Zuschauern deren ‘ verborgene ’ Sünden.18

Nach einem erfolgreichen Exorzismus kommt es zur Ausfahrt des Dämonen, die normalerweise sehr spektakulär verläuft. Das Opfer erleidet noch einmal heftige Krampfanfälle, erbricht sich oder blutet stark aus der Nase. Auch während der Besessenheit aufgetretene Leiden (v.a. Lähmungen) sind plötzlich nicht mehr vorhanden, außerdem tritt nach der Ausfahrt beim Opfer oft eine stundenlange Erschöpfung ein. Neben diesen den Besessenen betreffenden Folgen der Vertreibung des Dämons, kommt es auch im Umfeld zu ungewöhnlichen Phänomenen. So können beispielsweise Kerzen ohne ersichtlichen Grund erlöschen oder Scheiben zerspringen. Bei Nicole Obri sah die Ausfahrt des Teufels wie folgt aus:

Nun fuhr der Teufel [...] unter zwei Donnerschlägen und in einem Nebel, der Gewölbe und Türme umgab, endgültig aus. Das Mädchen hob den bisher gelähmten linken Arm in die Höhe, faltete die Hände und schaute ‘ mit rosigem Gesicht und schönen, klaren Augen ’ um sich, so dass alles vor Rührung weinte.19

4.3. Verlauf des Exorzismus

Der sogenannte Große Exorzismus, also der Exorzismus zum Vertreiben von Dämonen, die von Personen Besitz ergriffen haben, kann nur im Auftrag des zuständigen Bischofs durchgeführt werden. Hierzu muss zunächst die Echtheit der Besessenheit eingehend geprüft werden. Dies geschieht anhand der oben bereits beschriebenen und im „Rituale Romanum“ aufgeführten typischen Symptome für eine Besessenheit. Je mehr dieser Merkmale ein scheinbar Besessener aufweist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit einer wirklichen Besessenheit. Wird die Besessenheit schließlich für echt befunden, so beauftragt der Bischof einen oder mehrere Priester mit dem Exorzismus. Der Priester sollte insgesamt erfahren sein und sich vor allem mit der Materie des Exorzismus gut auskennen. Vor der Durchführung des Rituals muss er bestimmte geistliche Voraussetzungen erfüllen, so sind das Bekenntnis der eigenen Sünden in der Beichte und der Besuch der Messe Pflicht.

Zum Vollzug eines Exorzismus gehören dann im „Rituale Romanum“ festgehaltene Gebete, das Vorlesen bestimmter Bibelstellen, das Abendmahl und das Verhör der einwohnenden Dämonen. Während dieses Verhörs sollen die Dämonen ihre Namen, ihre Anzahl und die Ursache der Besessenheit nennen. Außerdem muss die Frage gestellt, ob sie aufgrund der Zauberkunst einer Hexe oder eines Hexenmeisters in der Körper gefahren sind (s. 3.3.4.). Ein Exorzismus endet mit der Bedrohung der Dämonen durch den Exorzisten und dem Befahl zum Ausfahren, wobei häufig auch geweihte Gegenstände benutzt werden. Die Zeit eines Exorzismus ist variabel, er kann mehrere Stunden dauern. Da die Dämonen Widerstand leisten, kann sich der gesamte Gebetskampf über Monate hinziehen, die von Teilbefreiungen und Rückfällen geprägt sind.

Die im „Rituale Romanum“ fixierten Gebete, Formeln und Anweisungen basieren auf verschiedenen Bibelstellen, in denen Jesus oder die Apostel Exorzismen vornehmen. Eine zentrale Bedeutung hierbei besitzt die Dämonenaustreibung, die Jesus in Gadara vornahm (Mk.5, 1-20 / s.3.1.). Neben diesen Elementen wird in der Praxis auch häufig auf Überlieferungen erfolgreicher Exorzismen zurückgegriffen, aus denen bestimmte Formeln und Methoden zur Teufelsaustreibung übernommen werden und den Kanon des „Rituale Romanum“ ergänzen.

5. Wissenschaftliche Erklärungen des Besessenheit

5.1. Vorbemerkung

Anhand der Überlieferung von Besessenheitsfällen aus den unterschiedlichsten Epochen, sowie aus Untersuchungen von Besessenheiten in der Gegenwart und in der jüngeren Vergangenheit lassen sich bestimmte Muster den ‘Krankheitsverlaufs’ eines Besessenen feststellen (s.4.2.). Bei der Analyse dieser Muster lassen sich auffallende Parallelen zu verschiedenen psychischen Krankheiten feststellen, die so das Phänomen ‘Besessenheit’ weitgehend erklären können. Eine zwar naheliegende aber umstrittene ärztliche Prognose für die Symptome der Besessenheit ist die Schizophrenie, also eine Bewußtseinsspaltung, bei der ein Teil des Bewußtseins die Rolle des Dämons übernimmt. Dies würde zwar die unterschiedlichen Persönlichkeiten des Besessenen und seines innewohnenden Dämons sowie die Tatsache begründen, dass sich der Besessene häufig nicht an die Taten des Dämons erinnern kann, es bietet aber keine Erklärung für viele andere Symptome, wie z.B. die körperlichen Auffälligkeiten. Auch sind die der Besessenheit häufig vorgelagerten Halluzinationen so nicht zu erklären. Für die Schizophrenien sind ja auch gerade nicht Visionen typisch, sondern höhnende oder schimpfende oder kommentierende ‘ Stimmen ’ , und von solchen ist nie die Rede. Einen Privatwahn, der von der Umwelt nicht geteilt wird und nicht [...] zeitbedingtes Allgemeingut ist, schildert keines der Protokolle.20 Weitaus zutreffender bei der wissenschaftlichen Analyse der Besessenheit sind die Krankheitsbilder des Tourette-Syndroms und der Hysterie.

5.2. Das Tourette-Syndrom

Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch Tics charakterisiert ist. Tics sind unwillkürliche, rasche, meistens plötzlich einschieß ende und mitunter sehr heftige Bewegungen, die immer wieder in gleicher Weise einzeln oder serienartig auftreten können.21 Einfache Tics äußern sich beispielsweise in Form von Augenblinzeln, Kopf- und Schulterzucken, Grimassieren oder, bezüglich der Lautäußerungen, als Räuspern, Fiepen, Quieken, Grunzen oder Schnüffeln. Komplexere Tics können sich zeigen durch Springen, Berührung anderer Leute oder Gegenstände, durch Körperverdrehungen, selbstverletzendes Verhalten, Koprolalie (das Herausschleudern obszöner Worte), Kopropraxie (das zeigen obszöner Gesten) oder durch das Wiederholen von gehörten oder selbstgesprochenen Lauten/Worten. Mit den Tics sind oftmals weitere Symptome wie zwanghafte Verhaltensweisen, Aufmerksamkeitsprobleme, Schlafstörungen und Depressivität verbunden. Tics können zwar in bestimmten Maße unterdrückt werden, dies führt aber abhängig davon, wie lange sie unterdrückt werden, zu mehr oder weniger schweren Tic-Entladungen. Einige der für das Tourette-Syndrom typische Symptome (Koprolalie, Kopropraxie, Grimmasieren, Körperverdrehungen, Autoaggresivität) lassen durchaus die Vermutung zu, dass in früheren Zeiten bei Menschen mit TS eine Besessenheit diagnostiziert werden konnte. Gerade auch deshalb, weil das eigene Verhalten dem Kranken nicht anders erklärbar und unheimlich erscheinen musste, eine Unterdrückung der Symptome zu starken Entladungen führte und Tics gerade auch unter Stress gehäuft auftreten.

5.3. Die Hysterie

Als Haupterklärung für das Phänomen Besessenheit gelten hysterische Psychosen. Unter Hysterie versteht man die Sucht nach Krankheit, um Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Anteilnahme der Umgebung zu erhalten. So sind alle hysterischen Erscheinungen durch einen ichsüchtigen Zweck hervorgerufen, nämlich durch den Wunsch, die Aufmerksamkeit der Umgebung auf sich zu lenken, sich interessant zu machen oder das Mitleid der Nebenmenschen zu erregen und sich pflegen zu lassen, oder durch die Absicht, einer unangenehmen Lage oder Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen [...] - kurz, die hysterische Störung ist die Ausdrucksform des Menschen, der sich in den Mittelpunkt zu stellen sucht oder mit den Anforderungen des Lebens nicht fertig wird.22 Die Symptome einer hysterischen Psychose sind vielfältig. Es kann zu Un- oder Überempfindlichkeit der Haut kommen, zu Lähmungen, zu Zuckungen, Krampfzuständen, Erbrechen und Ohnmachten. Die Sinnesorgane können beeinträchtigt werden, Sinnestäuschungen und Dämmerzustände sind möglich, die minuten- bis tagelanger Dauer sind, wobei der Kranke durch Selbstsuggestion sich in eine Traumwelt oder in die Kindheit versetzt oder bestimmte aufregende Ereignisse aus früherer Zeit von neuem erlebt. Dabei kann er wirkliche Gestalten sehen, die mit ihm reden.23 In jedem Fall interpretiert der Kranke die Symptome nicht als Teil einer Psychose, sondern setzt andere Ursachen voraus, wie körperliche Krankheiten oder eben auch Besessenheit. Außerdem kann es im Rahmen einer Hysterie in seltenen Fällen zu einer alternierenden Persönlichkeit kommen. Davon spricht man, wenn sich im Verhalten der gleichen Person neben dem ‘ normalen ’ Alltagscharakter zeitweise ein zweiter, vollständig verschiedener Charakter zeigt, wobei nachträglich an diese Zeiten jeweils keine Erinnerung vorhanden ist.24 Auslöser für eine Hysterie können abnorme Persönlichkeitszüge sein, wie beispielsweise eine übersteigerte Religiosität, eine starke Empfänglichkeit für Suggestion oder eine unerfüllte Sexualität. Darüber hinaus können auch ausgeprägte Schuldgefühle und starke Gewissenskonflikte verantwortlich für eine hysterische Psychose sein.

Vergleicht man nun die Symptome der Hysterie mit denen einer Besessenheit (s. 4.2.), so stellt man sehr viele Übereinstimmungen fest. Dies um so mehr, wenn man bedenkt, dass Besessenheiten tatsächlich ausschließlich in einem stark religiös ausgeprägten Umfeld vorkommen. Wie bereits in Kapitel 3.3. beschrieben, waren die Menschen in einer unsicheren, unaufgeklärten, von religiös-spiritistischen Gedankengut geprägten Zeit besonders anfällig für Hysterien. In Sinne dieser Zeit wurden dann natürlich auch die hysterischen Symptome gedeutet, man sah in ihnen das Wirken eines im Körper des Kranken innewohnenden Dämon. Die hysterischen Dämmerzustände bewegten sich ebenso im Rahmen der christlichen Mythologie wie die alternierenden Persönlichkeiten, die dann den Charakter des Dämonen annahmen. Die Individualität dieses Dämons ergab sich aus dem Wechselspiel zwischen Selbstinterpretation und den Erwartungen eines dämonengläubigen Milieus. Der Dämon passt sich also den Erwartungshaltungen des Umfeldes an. Im Fall der Nicole Obri stellte sich dies wie folgt dar: Nicole Obri sah während der Circumsessio zunächst die Gestalt ihres verstorbenen Großvaters. Dieser schien in der Folge von Nicole Besitz zu ergreifen und aus ihr zu sprechen. Als nun ein hinzugezogener Mönch der Überzeugung war, dass es sich bei dem Geist um einen Dämon handelte, der nur vorgab, Nicoles Großvater zu sein, passte sich Nicoles Verhalten dieser Möglichkeit an. Die Umwelt suggerierte der jungen Frau, sie sei besessen; die aus dieser Suggestion entstandenen Verhaltensweisen bestärkten wiederum den Verdacht auf Besessenheit bei Familie, Nachbarn und Geistlichen, bis Nicole, infolge dieser Wechselwirkung, alle wohlbekannten Zeichen der Besessenheit zeigte.25

Neben einem streng religiösem Umfeld ist häufig eine unterdrückte Sexualität Auslöser für eine Hysterie. So scheinen besonders sexuell abstinente Frauen, die in einem streng religiös geprägten Umfeld aufgewachsen sind, anfällig für diese Art Hysterie zu sein. Auslöser sind hierbei zum einen Schuldgefühle durch eine übertrieben strenge Erziehung nach christlich- fundamentalen Grundsätzen, zum anderen die damit verbundenen Gewissenskonflikte zwischen den Geboten eines strengen Glaubens und dem eigenen ‘sündigen’ Fehlverhalten, zwischen dem Ideal der sexuellen Abstinenz und den eigenen erotischen Bedürfnissen.26

6. Schlussbemerkung

Besessenheit und Exorzismus stellten bis in das 18. Jahrhundert hinein einen wichtigen Bestandteil der medikalen Alltagskultur dar. Allerdings handelte es sich bei der Besessenheit um keine Krankheit im rein medizinischen Sinne. Vielmehr wurden verschiedene Krankheitssymptome aus einem religiös-magischen Weltbild heraus in einer bestimmten Art und Weise gedeutet. Ausgehend von den Dämonenvertreibungen, die im Neuen Testament beschrieben sind, ergänzt durch Überlieferungen späterer Besessenheiten und Exorzismen bildete sich im Laufe der Jahrhunderte eine genaue Vorstellung der Besessenheit. Dementsprechend sind ihr Verlauf und ihre Symptome in fast allen Fällen identisch. Man kann also wohl sagen, dass bei der Besessenheit ein geschichtlich gewachsenes Modell einer akuten seelischen Störung vorliegt.27 Die Kranken, die nach heutiger medizinischer Sicht zumeist unter einer hysterischen Psychose litten, passten sich diesem Modell unbewusst an. Autosuggestion und die Erwartungshaltung des von der Besessenheit überzeugten Umfeldes fürhrten dann zu der bekannten Symptomatik.

Da man die Ursache einer Besessenheit auf einer spirituellen Ebene sah, wurde zur Therapie kein Arzt, sondern eben ein Geistlicher hinzugezogen. Der Erfolg eines Exorzismus basierte auf der Überzeugung von Opfer, Umfeld und Exorzisten, den Dämonen mit Gottes Hilfe Vertreiben zu können.

Die Grundlage der Besessenheit ist der Glaube an ihre Existenz. Auch heute noch lebt in stark religiös geprägten Gegenden und Schichten der Glaube an das Wirken dämonischer Mächte fort. Aus der medikalen Alltagskultur unserer säkularisierten Gesellschaft sind Besessenheit und Exorzimus allerdings verschwunden.

[...]


1 Pfeiffer: Besessenheit, normalpsychologisch und pathologisch (1972), S.25.

2 www.shpinx-suche.ch/besessen.htm

3 Theologische Realenyzklopädie Bd.10 (1982), S.748.

4 Theologische Realenyzklopädie Bd.10 (1982), S.750.

5 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.16.

6 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.16.

7 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.17.

8 s. Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S. 27f.

9 v. Baeyer-Katte: Das Theorem von der Besessenheit als Symbol für gesellschaftliche Aktionsmuster (1972), S.57.

10 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1987), S.1106f.

11 Theologische Realenzyklopädie (1982), S.758.

12 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.125.

13 Hier ist vor allem der Fall der Gottliebin Dittus zu erwähnen, die von Pfarrer J.C. Blumhardt exorziert wurde. Die Geschehnisse ereigneten sich von 1840-44 und wurden von Blumhardt ausführlich dokumentiert.

14 www.psi-infos.de/hauptteil_besessenheit_und_exorzismus_-_.html

15 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.37.

16 Ebd. S.36.

17 Xenoglossie: das Sprechen und Verstehen von Sprachen, die man nicht erlernt hat.

18 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.36.

19 Ebd. S.45.

20 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.117.

21 www.tourette.de/wasist/wasist.htm

22 Lechler: Seelische Erkrankungen und ihre Heilung (1948), S.72.

23 Ebd. S.73.

24 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.118.

25 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.36.

26 Theologische Realenzyklopädie Bd.10 (1982), S.757.

27 Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.124.

Excerpt out of 19 pages

Details

Title
Besessenheit und Exorzismus
College
Johannes Gutenberg University Mainz
Author
Year
2001
Pages
19
Catalog Number
V105774
ISBN (eBook)
9783640040568
File size
460 KB
Language
German
Keywords
Besessenheit, Exorzismus
Quote paper
Marc Thomé (Author), 2001, Besessenheit und Exorzismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105774

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