Zur feministischen Rekonstruktion des Urzustandes bei Moller Okin


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2003

10 Pages, Note: 5 (CH!)


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG
1.1 GEGENSTAND DES PROSEMINARS
1.2 ALLGEMEINE FRAGESTELLUNG
1.3 ZIELE

2 HAUPTTEIL
2.1 URZUSTAND NACH RAWLS
2.2 FEMINISTISCHE REKONSTRUKTION DES URZUSTANDES
2.3 KRITIK AN DER FEMINISTISCHEN REKONSTRUKTION DES URZUSTANDES

3 SCHLUSS

4 BIBLIOGRAPHIE

1 EINLEITUNG

1.1 GEGENSTAND DES PROSEMINARS

Das Hauptanliegen der Politischen Philosophie ist die Frage nach dem, was wir tun sollen, um gut und richtig miteinander zusammenleben zu können. Diese normative Grundfrage zog sich als roter Faden durch das Proseminar.

Die weiterführende Frage, die das eigentliche Kernanliegen des Proseminars trifft, ist die Frage nach der Legitimität von politischer Herrschaft: Wie muss Herrschaft gedacht werden, damit sie für alle legitim, gerecht und gut ist? Wie soll die staatliche Souveränität aussehen? Braucht es ein festgesetztes Recht, und welche Tatsachen und Prozesse müssen in einem solchen Gesetz festgelegt werden? Wie steht die Gemeinschaft mit ihren Kollektivinteressen dem Individuum und seinen Eigeninteressen gegenüber?

Die meisten gegenwärtigen Philosophen und Philosophinnen beschäftigen sich primär nicht mit der Frage nach der Legitimierung von politischer Herrschaft. Sie gehen über die Frage nach der Legitimität politischer Autorität hinaus und wollen Prinzipien finden, denen eine gerechte gesellschaftliche Grundstruktur genügen muss. Sie fragen sich, wie die Institutionen eines Staates gedacht werden müssen, um gerecht zu sein. Doch hier tauchen die ersten Probleme auf: Wer ist befugt, diese gerechten Prinzipien zu bestimmen und festzulegen? Sind dies, wie nach Rawls, die Familienoberhäupter? Oder sollten hier nicht alle Menschen mitbestimmen können? Warum sind Männer in unserer Gesellschaft heute noch einflussreicher als Frauen? Antworten auf diese Fragen zu finden, ist das Hauptanliegen von Okin. Sie kritisiert Rawls Theorie aus einem feministischen Standpunkt.

1.2 ALLGEMEINE FRAGESTELLUNG

Haben wir das Frauenbild, welches von Platon bis Freud vorherrschte, überwunden? Wie sieht die feministische Rekonstruktion des Rawls’schen Urzustandes nach Okin aus? Welche Kritikpunkte bringt Okin an? Ist eine feministische Rekonstruktion des Urzustandes nötig, um eine Gesellschaft zu erreichen, in der Mann und Frau gleichgestellt sind? In meinen Ausführungen beziehe ich mich auf die beiden Werke ‚Gerechtigkeit und die soziale Institutionalisierung des Geschlechterunterschiedes‘ (Okin) und ‚Warum keine feministische Theorie der Gerechtigkeit?‘ (Putnam).

1.3 ZIELE

Den Gesamtzusammenhang, in welchen meine Fragestellungen eingebettet sind, zeige ich auf, indem ich zuerst den Urzustand nach Rawls erläutere. An ihm werde ich Okins Kritik anbringen. In einem letzten Teil versuche ich die Frage zu beantworten, ob eine feministische Rekonstruktion des Urzustandes notwendig ist, um eine Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen.

2 HAUPTTEIL

2.1 DER URZUSTAND NACH RAWLS

Rawls benutzt den Urzustand als ein Darstellungsmittel. Das Gedankenexperiment des Urzustandes abstrahiert staatliche Gewalt und menschliche Vernunft. Die Bürger befinden sich im Urzustand hinter einem Schleier des Nichtwissens. In diesem Zustand weisen sie nach Rawls folgende Eigenschaften auf: „Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. (...) Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Das gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird.“1 Die Menschen agieren in diesem Zustand also so, weil sie nichts von Bevorzugung und Diskriminierung bezüglich der Verteilung der gesellschaftlichen Grundgüter halten. Zwar kennen sie eine Palette von Bedürfnissen und Positionen, wissen jedoch nicht, welche auf sie zutreffen werden. Im Urzustand sind die Menschen alle gleich. „Das heisst, sie haben bei der Wahl der Grundsätze alle die gleichen Rechte; jeder kann Vorschläge machen, Gründe für sie vorbringen.“2 Zudem sind die Menschen auch im Urzustand zweckrationale Eigennutzmaximierer. Sie sehen ein, dass es am günstigsten ist, alle Positionen gleich auszustatten, da niemand weiss, in welche Position er geraten wird. Dieses Eigeninteresse dient dank dem Schleier des Nichtwissens der Allgemeinheit.

Der Urzustand dient dazu, ein Überlegungs-Gleichgewicht zu erreichen. Aus wohlüberlegten moralischen Überzeugungen werden allgemein akzeptierte und möglichst schwache Bedingungen hergeleitet, aus denen sich ein System von Grundsätzen gewinnen lässt. Widerspricht dieses System den wohlüberlegten Überzeugungen, so können weder diese noch das System als gültig erklärt werden.

2.2 FEMINISTISCHE REKONSTRUKTION DES URZUSTAND

„Eine Annahme geht davon aus, dass Frauen, sei es wegen ihres liederlichen Wesens, ihrer sklavischen Unterworfenheit gegenüber der Natur, ihrer privaten und partikularistischen Neigungen oder ihrer ödipalen Phase nicht fähig seien, einen Sinn für Gerechtigkeit zu entwickeln.“3 Dieses alte Frauenbild beweist, dass Frauen über Jahrhunderte hinweg als Personen zweiter Klasse betrachtet wurden. Oft wurde unter den obigen Annahmen der Schluss gezogen, dass Frauen nicht mit der Eigenschaft, ethisch gerecht handeln zu können, ausgerüstet seien. Deshalb hätten sie es auch nicht verdient, nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit behandelt zu werden.

Oberflächlich gesehen haben wir in unseren Breitengraden dieses alte Frauenbild dank rechtlichen Normen, in denen für Mann und Frau die gleichen Rechte gelten, überwunden. Doch bei genauerem Hinschauen ist eine absolute Gleichstellung von Mann und Frau noch nicht erfolgt, da eine Gleichberechtigung in sozialen Normen noch nicht durchgesetzt ist. Um dies zu beweisen untersucht Okin den Rawls’schen Urzustand und stellt an ihm einige Mängel fest.

Zum einen verwendet Rawls in seinen Ausführungen durchgehend Begriffe wie ‚men‘, ‚he‘ oder ‚his‘. Geschlechtsneutrale Ausdrücke wie ‚menschliche Wesen‘ oder ‚Personen‘ benutzt er nicht.4 Der Leser oder die Leserin stellt sich nun berechtigt die Frage, ob sich die Theorie der Gerechtigkeit auch auf Frauen bezieht. Diese Frage wird von Rawls in seinen Texten nie explizit beantwortet, da er nie erwähnt, ob die Personen im Urzustand ihr Geschlecht kennen. Rawls verschlimmert dieses Dilemma dadurch, indem er die Menschen des Urzustandes nicht als Einzelmenschen, sondern als Familienoberhäupter ansieht. „Rawls (...) hat stets vorausgesetzt, dass Psyche, Vernunft, moralische Entwicklung des Menschen von den männlichen Wesen der Gattung vollständig repräsentiert werden.“5

Okin verlangt nun, um eine Gerechtigkeit in der Geschlechterfrage zu erreichen, dass alle, egal ob Mann oder Frau, in den Urzustand eintreten können. Die Geschlechtsidentität soll ihnen unbekannt sein. Daraus würden sich Konsequenzen in der Freiheit der Berufswahl, in der Chance für politische Partizipation, sowie in der sozialen Voraussetzung der Selbstachtung ergeben. Das Geschlecht kann aber nicht einfach abgelegt werden, da es eine kontingente und moralisch relevante Eigenschaft ist. Deshalb verlangt Okin, dass Mann und Frau in den Urzustand eintreten können und ihnen ihr Geschlecht bekannt ist. „In einer Gesellschaft, in der Geschlecht eine Ordnungskategorie bildet, gibt es so etwas wie den eigenständigen weiblichen Standpunkt. (...) Die Idee eines weiblichen Standpunktes weist, obwohl er nicht unproblematisch ist, darauf hin, dass eine wirklich menschliche moralische und politische Theorie nur bei wirklicher Beteiligung beider Geschlechter entwickelt werden kann.“6

2.3 KRITIK AN DER FEMINISTISCHEN REKONSTRUKTION DES URZUSTANDES

„Es versteht sich von selbst, dass Frauen in unseren wirklichen philosophischen Überlegungen nicht totgeschwiegen werden sollten und dass ihnen eine gleichberechtigte Mitwirkung an unserem wirklichen politischen Leben, wenn es um die Überleitung der Prinzipien der Gerechtigkeit in eine wirksame Gesetzgebung geht, nicht verwehrt werden darf. Jedoch scheint mir die Forderung, Frauen als Frauen in einen hypothetischen Urzustand einzugliedern, irreführend.“7 Denn, wenn beide Geschlechter im Urzustand vertreten sind und ihre Geschlechtszugehörigkeit kennen, hat dies zur Folge, dass die Parteien auch ihre Rasse, Religion und Vorlieben kennen müssten. Die Personen würden sich nur noch für ihre Einzelinteressen einsetzen. Es gäbe nur eine partikularistische Moralphilosophie, eine Universalistische würde in die Ferne rücken.8 Drei weitere Gründe sprechen dagegen, dass die Personen im Urzustand ihr Geschlecht kennen sollten. Einerseits macht Okin einen individualistischen Fehlschluss. Nicht alle Feministinnen vertreten dieselben Meinungen und bekämpfen dieselben Ungerechtigkeiten. Es besteht die Gefahr der Subjektivität. Andererseits kämen wir nicht zu irgendeiner den Begriff der Gerechtigkeit betreffenden Übereinkunft. Drittens würden andere Minoritäten die Forderung stellen, in den Urzustand treten zu können und ihre Minderheit vertreten zu dürfen. Dabei ist es offensichtlich, dass sie ihre Gruppierung auch im Urzustand kennen möchten. „Ich glaube, dass ein kleiner Riss im Schleier des Nichtwissens dazu führen würde, ihn völlig zu zerreissen.“9

Putnam vertritt die Meinung, und ich schliesse mich dieser an, dass alle Menschen, egal ob Mann oder Frau, schwarz oder weiss, jüdisch oder reformiert, in den Urzustand eintreten dürfen. Sie wissen weder um ihre Gruppierung, noch um ihr Geschlecht. Nur so können universalistische Gerechtigkeitsprinzipien hergestellt werden.

Weiter meint sie, dass Rawls Theorie der Gerechtigkeit die beste ist, die wir heute besitzen.

Sie muss jedoch als provisorisch betrachtet werden. Und wir müssen jederzeit bereit sein, unser Verständnis dieser Konzeption zu vertiefen und zu erweitern.10

3 SCHLUSS

Warum muss die Weltgesundheitsorganisation melden, dass in vielen Ländern die Mädchen weniger zu essen erhalten, weniger lange gestillt und weniger oft zum Arzt gebracht werden und dadurch eher an Unterernährung sterben oder körperlich und geistig verhungern? Warum wurden in Jamaika 1989 1088 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Misshandlung gemeldet? Warum ist Vergewaltigung in diesem Land keine Straftat mit rechtlichen Folgen? Warum wird in den USA alle 15 Sekunden eine Frau geschlagen?

Warum werden die meisten Regierungs- und Managerposten von Männern eingenommen?

Das Bild ist eindeutig: Weltweit werden Frauen geschändet und brutal behandelt. Eine Achtung, wie sie der Mann geniesst, wird vielen Frauen noch nicht gewährt. Deshalb braucht unsere Politik und die Philosophie Frauen, wie Okin und Putnam, die ihre kritischen Gedanken kommunizieren. Unsere Aufgabe besteht darin, die Schreie aller Frauen aufzunehmen, hinzuschauen und zu versuchen Verbesserungen zu erreichen.

Das folgende Gedicht soll uns ermutigen, Ungerechtigkeiten zu erkennen, miteinander nach Lösungen zu suchen und gemeinsam Schritte zu wagen.

Wunderst du dich, dass ein Sturm braut in einer Frau, die so sanft erscheint? Beunruhige dich nicht!

Noch nicht einmal jetzt, ohne deine Solidarität, haben wir vor, den Sturm zu durchschreiten, der unser Kampf für die Freiheit ist. Es gibt so viel alten Dreck in deinem und meinem Kopf.

Komm, räumen wir auf und gehen wir weiter. Wir sollten uns nicht mehr bekämpfen.

Zusammen müssen wir das Böse zu Guten wenden in dieser Welt. Aber...

Sollten deine Füsse noch immer auf meinen Händen stehen, so mach du den Schritt. Subadhra11

4 BIBLIOGRAPHIE

- Benhabîb, Seyla (1989): Der verallgemeinerte und der konkrete Andere, in: List, Elisabeth/Studer, Herlinde (Hrsg.), Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main, 454-487.

- Bunch, Charlotte (1991): Woman’s Rights as Human Rights: Toward a Re-Vision of Human Rights, in: Gender Violence: A Development and Human Rights Issue, Centre for Woman’s Global Leadership, Rutgers University (USA).

- Gnanadason, Aruna (1993): Die Zeit des Schweigens ist vorbei, Luzern.

- List, Elisabeth (1990): Theorieproduktion und Geschlechterpolitik, in: Nagl-Docekal (Hrsg), Feministische Philosophie, Wien/München, 158 - 183.

- Okin, Susan Moller (1989): Justice, Gender and the Family, New York.

- Okin, Susan Moller (1995): Gerechtigkeit und die soziale Institutionalisierung des Geschlechtsunterschiedes, in: Van den Brink, Bert/Van Reijen, Willem (Hrsg.): Bürgergesellschaft , Recht und Demokratie, Suhrkamp, 281-322.

- Putnam, Ruth Anna (2000): Warum eine feministische Theorie der Gerechtigkeit? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48/2, 171-205.

- Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main.

[...]


1 Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, 29.

2 Ebd., 36.

3 Okin, Susan Moller (1995): Gerechtigkeit und die soziale Institutionalisierung des Geschlechterunterschiedes, 282.

4 Vgl. ebd., 284.

5 Ebd., 316.

6 Okin, Susan Moller (1989), Justice, Gender and the Family, 106 f.

7 Putnam, Anna (2000), Warum keine feministische Theorie der Gerechtigkeit?, 184.

8 Vgl. ebd., 184.

9 Ebd., 184.

10 Vgl. Putnam, Anna (2000), Warum keine feministische Theorie der Gerechtigkeit?, 203.

11 Gnanadason, Aruna (1993), Die Zeit des Schweigens ist vorbei, 121.

Fin de l'extrait de 10 pages

Résumé des informations

Titre
Zur feministischen Rekonstruktion des Urzustandes bei Moller Okin
Université
University of Zurich
Cours
Proseminar
Note
5 (CH!)
Auteur
Année
2003
Pages
10
N° de catalogue
V106069
ISBN (ebook)
9783640043484
Taille d'un fichier
413 KB
Langue
allemand
Mots clés
Rekonstruktion, Urzustandes, Moller, Okin, Proseminar
Citation du texte
Rahel Müntener (Auteur), 2003, Zur feministischen Rekonstruktion des Urzustandes bei Moller Okin, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106069

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