Die Mediennutzung von Ost- und Westberlinern nach dem Mauerfall im Vergleich. Zwei Ostberliner im Interview


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

54 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Mediennutzung und Ost-West-Identität im Berlin der Nachwendejahre

3. Theorie und Kategoriensystem

4. Methode

5. Ergebnisse
5.1. Kurzporträts: Lebenslauf, Mediennutzung in den 1990er Jahren
5.2. Vergleich

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen immer noch Thema der öffentlichen Diskussion, sowohl in der Politik als auch in der Forschung. Der Einfluss der zwei unterschiedlichen Heimaten DDR und BRD manifestiert sich unter anderem in der Mediennutzung. Der Medienkonsum von Ost- und Westberliner:innen weist selbst heute noch gravierende Unterschiede auf, die sich zur Wendezeit manifestiert haben. Ein bekanntestes Beispiel dafür ist die Verteilung der Tageszeitungen in den beiden Stadthälften Berlins.

Der Ausgangspunkt für den vorliegenden Forschungsbericht ist das Seminar „Ossis“ und „Wessis“ - 30 Jahre mediale Spaltung? Mediennutzung und Identität in Berlin. Das Seminar ist Teil des Moduls Perspektiven öffentlicher Kommunikation. Das Modul ist das letzte Pflichtmodul im Bachelorstudiengang Publizisik- und Kommunikationswissenschaft und damit Vorbereitung auf die Abschlussarbeit.

In dem Seminar zur Mediennutzung und Identität von „Ossis“ und „Wessis“ wurde die Perspektive und Herangehensweise der Mediennutzungsforschung auf das konkrete Fallbeispiel angewendet. Die Mediennutzungsforschung ist ein Teilbereich der Kommunikationswissenschaft. In dieser Wissenschaftssparte geht man von einem aktiven Publikum aus, dass sich die Medieninhalte nach seinen Bedürfnissen aussucht (Meyen, 2004, S.15). Der Ansatz heißt Uses-and-Gratifications-Approach.

Während des Seminars wurde sich mit den Gegebenheiten der Umbruchzeit der 90er-Jahre in Deutschland und speziell in Berlin auseinandergesetzt. Berlin ist als Medienstadt, Metropole und Hauptstadt besonders für die Untersuchung geeignet. Es kann vermutet werden, dass die Berliner Mauer den Berliner:innen die deutsch-deutsche Teilung in alltäglicher Konfrontation besonders stark vor Augen führte. In der Seminargruppe wurde der Frage nachgegangen, welche die prägenden Ereignisse der Zeit waren und inwiefern Identität und Mediennutzung einander bedingen. Die Grundlagen qualitativer, biografischer Forschung und die Herangehensweise an Leitfadeninterviews wurden diskutiert. Die Dozentin und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin erstellten die Leitfäden für die anstehenden Interviews. Im Seminar wurde ein Quotenplan zur Rekrutierung der Untersuchungsgruppe erarbeitet. In Kurzreferaten informierten sich die Kursteilnehmer:innen gegenseitig über die gängigen Medienangebote der Zeit.

Im Rahmen eines größer angelegten Forschungsvorhabens führten die Student:innen biografische Leitfadeninterviews. Die zu interviewenden Personen wurden nach einem Quotenplan rekrutiert. Da die Student:innen jeweils zwei Interviews in einem Forschungsbericht miteinander vergleichen sollten, wurde entschieden, dass beide Interviewpartner:innen im Idealfall von derselben Stadtseite stammen sollten. Die Aufnahmen von den Interviews wurden anschließend transkribiert. Es folgte die Auswertung des gesammelten Materials. Das im Kurs bearbeitete Kategoriensystem wurde genutzt, um die Einflussfaktoren für die Mediennutzung zu identifizieren.

Der nachfolgende Forschungsbericht ist die Synthese zweier Interviews mit einem Ostberliner und einer Ostberlinerin. Der Forschungsschwerpunkt liegt dabei auf den Mediennutzungmotiven der Befragten in der Wende- und Nachwendezeit. Die deutsche Wiedervereinigung brachte eine Vielzahl von Lebensumbrüchen mit sich. Ost- und Westberliner:innen nutzten Medien als Hilfsmittel, um mit der neuen Situation umzugehen. Es ging einerseits um die Bewältigung von Einschnitten, andererseits um das Sichern und die Bestätigung von Identitäten.

Die deutsche Teilung und Wiedervereinigung spielt selbst mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall gesellschaftlich noch eine große Rolle. In der Politik wird das Thema intensiv diskutiert, wenn es um die neuen Bundesländer und Lohnunterschiede in Ost- und Westdeutschland geht. In der Wissenschaft beschäftigt man sich je nach Disziplin mit unterschiedlichen Aspekten des Geschehenen. Die Kommunikationswissenschaft nimmt mit der Mediennutzungsforschung die Mediennutzung in den Fokus der Untersuchung. Im Folgenden wird sich mit den Aspekten der Mediennutzung und Identität beschäftigt. Diese sind als Abhängige, wenn nicht als Folge der deutsch-deutschen Teilung und Sozialisation zu verstehen.

Das, was der Interviewpartner Herr M. explizit äußerte, ist zugleich Antrieb für diese Forschung. Er sagte, er fände es großartig, dass es das Forschungsprojekt gibt. Die Frage nach der Sozialisation im Osten oder Westen Deutschlands sei nach wie vor maßgeblich für Identitäten. Die Forschung helfe sicher zu einem besseren Verständnis der Menschen (Interview M., 2021, S.17). Die Mediennutzung ist eine Facette menschlicher Kommunikation, die viel über die Identität von Personen verrate.

Im konkreten Anwendungsbereich der vorliegenden Forschungsarbeit wird sich mit der Mediennutzung von Berliner:innen in der Zeit nach dem Mauerfall und zur Zeit der Wiedervereinigung beschäftigt. Dabei soll auf identitätsbezogene Muster, Motive und Bewertungen geschlussfolgert werden. Wie haben sie sich verändert, sind sie erhalten geblieben oder haben sie sich neu entwickelt?

Zunächst wird in die Mediennutzung sowie Ost- und Westdeutscher Identitäten im Berlin der Nachwendejahre eingeführt. Die der Untersuchung zugrunde liegende Theorie und das Kategoriensystem wird vorgestellt. Im nächsten Schritt wird auf die Methode eingegangenen. Das Kernstück bildet der Gliederungspunkt Ergebnisse. Es werden Kurzporträts der Befragten vorgestellt, die Interviews miteinander verglichen und Erklärungen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede benannt. Abschließend wird ein Fazit gezogen. Der Aussagewert der Interviews für den Zusammenhang zwischen Mediennutzung und kollektiver Identität soll herausgestellt werden. Es folgt das Literaturverzeichnis. Im Anhang finden sich die Transkripte der Interviews.

2. Mediennutzung und Ost-West-Identität im Berlin der Nachwendejahre

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das besiegte Deutschland in die Besatzungszonen eingeteilt. Zunächst bemühten sich die vier Besatzungsmächte um eine gemeinsame Besatzungspolitik, doch schnell entwickelten sich Differenzen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. Aus den drei westlichen Besatzungszonen ging im Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland, kurz BRD, hervor. Im Oktober desselben Jahres wurde in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, gegründet. Es entstanden zwei neue Staaten, die sich beide als Fortführung des bereits existenten Deutschlands verstanden.

Die unterschiedliche Politik in den Besatzungszonen und später in der BRD und DDR resultierten in unterschiedlichen Lebensumständen und Lebenswelten für die Bevölkerung. Durch den Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 wurden die beiden Länder physisch und mit großer Symbolwirkung voneinander getrennt. Wiebke Ziegler (2021) schreibt das und die damit verbundene Politik hätte zu einer Konservierung der Unterschiede geführt. Die Lebensumstände der DDR- und BRD-Bevölkerung hätten sich weiter voneinander entfernt. Das rühre unter anderem aus den unterschiedlichen Gesellschaftsformen her. In der DDR hätte ein diktatorischer Sozialismus geherrscht. Während sich in der BRD eine Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft entwickelt hätte.

Nach dem heutigen Stand der Forschung gab es vor 1989 keine kollektive ostdeutsche Identität (Ganzenmüller, 2020). „Identitäten formieren sich immer dann besonders intensiv und werden wirkmächtig, wenn sie bedroht erscheinen und soziale Desintegration herrscht“ (ebd.). Das sei vor allem zur Zeit der Wiedervereinigung der Fall gewesen. Selbst- und Fremdwahrnehmung als Ostdeutsche hätten sich in der Umbruchzeit der frühen 90er- Jahre herausgebildet (ebd.).

Daniel Kubiak (2020) weist darauf hin, dass westdeutsche Identitäten weniger offensichtlich zutage treten würden. Die Identifikation und das Zuschreiben entstehe allein im Kontrast zu der ostdeutschen Identität. Der Westen und westdeutsche Identität würde als Norm erlebt und deshalb nicht explizit erkannt.

Ost- und Westdeutschland hatten aufgrund ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit viele Gemeinsamkeiten. Über die Zeit bildeten sich aber zahlreiche Spezifika heraus. Die unterschiedlichen politischen Systeme bestimmten das Medienangebot. In der DDR hätte sich das in Form eines politisch streng kontrollierten, zentralisierten Mediensystems ausgedrückt. Wohingegen im Westen Pressefreiheit und bunte Medienvielfalt dominiert hätten. Die Medien hätten die Grundlage für einen gegenseitigen Informationsaustausch gebildet (Bösch & Classen, 2015, S.449).

Über den Großteil der Ostdeutschen kann mit Gewissheit gesagt werden, dass sie regelmäßig westliche Fernseh- und Radiosendungen empfingen. Mit der Wiedervereinigung hätten westdeutsche Verleger:innen die meisten ostdeutschen Zeitungen und neu gegründeten privaten Sender übernommen. Neben den mit der Wiedervereinigung auftretenden Zusammenschlüssen bleiben aber bis heute auch viele Kontraste im Medienangebot und der Mediennutzung erhalten (ebd.).

In den 70er-Jahren hätte sich die mediale Interaktion intensiviert. Zuvor hätten nur die Radios grenzübergreifend gesendet. Eine Vollversorgung mit Fernsehgeräten ermöglichte die „audiovisuelle Anbindung der DDR an die Bundesrepublik“ (ebd.). Der Abschaltung der Störsender folgte die Tolerierung des Westempfangs. Es entwickelte sich ein Handel mit westlichen Fernsehprogrammen und -filmen. Das DDR-Fernsehen sendete Adaptionen westlicher Formate in Eigenproduktionen. Westdeutsche Journalisten wurden akkreditiert. In der BRD berichtete man über die DDR und richtete die Nachrichten immer auch an die DDR- Bürger:innen. Die BRD-Presse blieb allerdings in der DDR verboten. Die Printmedien wie auch Fernsehprogramme reagierten aufeinander und brachten Themen hervor (Bösch & Classen, 2015, S.450). Insgesamt hätten sich die DDR-Medien eher an der Bundesrepublik orientiert. Vonseiten der BRD hätte es wenig Adaptionen und Rezeption ostdeutscher Programme gegeben (ebd.).

Nach 1990 hätte sich die ostdeutsche Medienlandschaft radikal gewandelt und westliche Strukturen übernommen. Die SED-Bezirkszeitungen hätten jedoch eine erhebliche Prägekraft gehabt (ebd.). Lange Zeit wären DDR-Medien als uniforme und zentral gelenkte Propaganda betrachtet worden. Diese Annahmen würden auf der gut erforschten Medienlenkung der SED beruhen (ebd.). Prominent sei die wissenschaftliche Diskussion um die Wirkungslosigkeit der DDR-Medien wegen der Konkurrenz aus dem Westen. Doch journalistische Spielräume und Anpassungen hätten sich auch in der DDR vergrößert. Außerdem hätten Westmedien eine geringere Rolle für die DDR-Bürger gespielt, weil sie den Inhalten kritisch gegenüber standen und viele Medienformate mit ihrem Lebensalltag nichts zutun gehabt hätten (Bösch & Classen, 2015, S.451).

Für die vorliegende Untersuchung ist es sinnvoll, den geografischen Untersuchungsraum zu begrenzen. Berlin eignet sich dafür in vielerlei Hinsicht. Zusätzlich zu den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es einige Spezifika in Bezug auf das geteilte Berlin. In ihrer Funktion als Metropole, Medienstadt und Hauptstadt verkörperte Ostberlin die restliche DDR, genauso wie Westberlin repräsentativ für die BRD stand. Dabei konzentrierten sich die Eigenarten der beiden Systeme auf das begrenzte Stadtgebiet. Hermann Rudolph (2015) schrieb: „Berlin hatte die Ost-West-Teilung Europas wie kein anderer Ort versinnbildlicht, gelebt und erlitten“ (S.125). Es sei unübersehbar gewesen, dass Ostberlin die Problemzone der Wiedervereinigung sei. Mit der Wiedervereinigung seien Unterschiede vor allem in Bezug auf den angespannten Wohnungs- und Arbeitsmarkt deutlich geworden. Gerade Ostberliner:innen hätten in vielen Punkten das Nachsehen gehabt (ebd.). Die Faktoren eines Ballungsgebietes und der Hauptstadt steigern im Allgemeinen die Anzahl der lokalen Medienangebote. Spezifisch für Berlin sind neben der Auflage und Reichweite der Medien, die Eigenarten von Programmen. So repräsentierten Berliner Tageszeitungen wie auch Radiosender einen bestimmten Blickwinkel auf Geschehnisse. Vielfach bezogen sich Unterhaltungsformate auf die Lebensrealität der Ost- und Westberliner:innen. Viele Gegenstände der regelmäßigen Berichterstattung befanden sich in Berlin. Die Regierung der DDR war hier angesiedelt. Zudem waren viele Kunst- und Kulturschaffende in Berlin ansässig. Die Medienhäuser saßen zu großen Teilen auch in Berlin. Mit der Wende wurde die DDR-Hauptstadt zur gemeinsamen Hauptstadt und 1999 zum Regierungssitz.

Die Berliner:innen seien nach der Wiedervereinigung permanent mit der "Diskrepanz zwischen dem aufgerissenen, grauen Ost-Berlin und der bürgerlichen Selbstgewissheit West­Berlins“ konfrontiert gewesen (Rudolph, 2015, S.130). Die taz schrieb 1994 von der Radio­Mauer. In Ost- und Westberlin hätten sich eigene Hörergemeinschaften herausgebildet. Diese könnten mit dem gegenüberliegenden Radioprogramm nichts anfangen (AFP/AP, 1994). Ähnliches ließe sich bei den Printmedien festhalten. Diese blieben in beiden Staaten trotz gewisser Verflechtungen, getrennt (Bösch & Classen, 2015, S.487). Wohl am geringsten ausgeprägt, doch auch bei Fernsehprogramm hielten sich Unterschiede. So war der Erfolg des Privatfernsehens und die lokaler Kommerzsender, der Grund für Spott vonseiten des Westens über die DDR (Bösch & Classen, 2015, S.488).

3. Theorie und Kategoriensystem

Wie zuvor bereits erwähnt wird in der vorliegenden Arbeit mit der Theorie des Uses-and- Gratifications-Ansatzes gearbeitet. Der Ansatz „geht von einem aktiven Publikum aus, das Massenmedien nutzt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen“ (Meyen, 2004, S.15). Die Grundannahme dabei ist, dass das Publikum seine Bedürfnisse kennt und zielgerichtet handelt (Meyen, 2004, S.16). Nach einem Modell von Philip Palmgreen (1984) würden zusätzlich die Erwartungen an die Medien und die Bewertung der Inhalte die Mediennutzungsmotive einer Person beeinflussen. Medien würden zudem in Konkurrenz zu anderen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung stehen. Der Zweck, für den dasselbe Medium genutzt wird, könne von Person zu Person unterschiedlich sein (S.54-56, zitiert nach Meyen, 2004, S. 17).

Meyen (2004) ist der Meinung, dass die Begriffe Bedürfnis und Motiv in der Literatur unscharf verwendet würden. Beides seien Mangelzustände, die überwunden werden wollen. Die Begriffe könne man folgendermaßen in Relation setzen: Bedürfnisse seien allgemeine Mangelgefühle, wohingegen Motive auf einen bestimmten Zustand gerichtet sein (Meyen, 2004, S. 18). "Wenn Gratifikationen (Belohnungen) befriedigte Bedürfnisse sind, dann sind Motive gesuchte Gratifikationen“ (Huber 2004, S. 45f., zitiert nach Meyen, 2004, S. 18). In der Forschung gibt es Vielzahl von Arten Motive zu ordnen.

Keine Studie komme ohne die Eskapismusthese aus. Sie unterstelle den Menschen, dass sie der Realität entfliehen wollen. Zu diesem Zweck würden auch Medienangebote genutzt (1954, zitiert nach Meyen, 2004, S. 26). Identitätstheoretische Annahmen wie die Theorie sozialer Vergleichsprozesse von Leon Festinger erweitern die These um die Annahme, dass Menschen eigene Fähigkeiten und das eigene Verhalten bewerten wollen. Dazu würden Vergleiche mit anderen Menschen angestellt. Das Konzept der paarsozialen Beziehungen erklärt, dass auch fiktive Rollen aus Medienangeboten als Vergleich dienen können (ebd.).

Die Cultural Studies hätten gezeigt, dass Medien- und Mediennutzung nur in Anbetracht ihrer Wechselwirkung sinnvoll analysiert werden können. Zu einer sinnvollen Herangehensweise gehöre auch das Einbeziehen des Alltags der Menschen in die Analyse (Meyen, 2004, S. 46). Einflussfaktoren, die sogenannten Determinanten der Mediennutzung, lassen sich in drei Kategorien einteilen. Die Einordnung erfolgt bei Meyen in strukturelle, positionelle und in individuelle und soziale Merkmale (Meyen, 2004, S. 47).

Entscheidend für die vorliegende Forschung sind die Motive für die Nutzung von Medienangeboten. Der britische Kommunikationswissenschaftler Denis McQuail veröffentlichte 1983 eine Sammlung von Funktionen der Massenmedien. Die Funktionen teilt er in vier Bereiche: Informationsbedürfnis, Integration und soziale Interaktion, Bedürfnis nach persönlicher Identität und Unterhaltungsbedürfnis (McQuail 1983, S. 82f, zitiert nach Meyen, 2004, S. 23). Neben der Mediennutzung interessiert sich die vorliegende Forschung für die Identität der Berliner:innen. Dementsprechend werden identitätsbezogene Motive für Mediennutzung in den Blick genommen. Diese lassen sich in Motive unterhaltender Art, informationeller und sozialer Art unterteilen.

Neben identitätsbezogenen Motiven sind die Medienausstattung und die Nutzungsgewohnheiten von Interesse. In den transkribierten Interviews sollen im Verlauf der Hausarbeit Einflussfaktoren für die Mediennutzung anhand des im Seminar zusammengestellten Kategoriensystem identifiziert werden. Die unten stehende Abbildung stellt das Kategoriensystem dar.

Mediennutzung

Medienausstattung

Nutzungsgewohnheiten (Welche Angebote in welcher Situation in welchem sozialen Kontext?) Identitätsbezogene Motive:

- Unterhaltender Art (z.B. Entlastung von, Freude über, Ablenken von Wendeerfahrungen)
- Informationeller Art (z.B. Ratsuche im neuen Gesellschaftssystem, Umbruchsbewältigung durch Wissen, Gedächtnis auffrischen)
- Sozialer Art (z.B. Identifikation mit Ost/West, Soziales Vergleichen, Bestärkung persönlicher Werte, Kennenlernen Ost-/Westberlin, Gesprächsgrundlage mit Menschen aus Ost- /Westberlin, Verhaltensmodelle

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die drei Hauptkategorien von Determinanten sind in der ersten Zeile der Tabelle zu finden. Die individuellen Einflussfaktoren beziehen sich auf persönliche Aspekte der befragten Person. Wie der Name schon sagt, sind die Faktoren allesamt individuell für den oder die Befragte und abhängig von dem Wechselspiel zwischen Persönlichkeit und erfahrenerer sozialer Prägung. Hier finden sich beispielsweise Zugehörigkeitsgefühle zu DDR und BRD sowie Bindungen an bestimmte Medienangebote. Unter positionellen Einflussfaktoren sind Determinanten gelistet, die sich auf die Position der Person in der Gesellschaft beziehen. Darunter sind die klassischen statistischen Kennwerte sozialwissenschaftlicher Erhebungen wie Alter, Geschlecht und Bildungsstand. Der Tagesablauf und die Wohnsituation inklusive möglicher Umzüge zwischen Ost- Westberlin sind hier einzuordnen. An dritter Stelle finden sich die strukturellen Einflussfaktoren wie die Wirtschaftssituation, die Arbeitsbedingungen sowie Freizeit- und Medienangebote.

4. Methode

Die Interviews wurden mithilfe eines Leitfaden, als sogenannte Leitfadeninterviews geführt. Der Leitfaden besteht in einer Liste von Fragen und Interviewer-Anweisungen. Dieser wird von Interviewer:innen zur Orientierung genutzt. Trotz vorher festgelegter Fragen haben die Befragten die Möglichkeit, frei zu antworten. Der Leitfaden kann als Wissensstütze dienen und gibt dem Interviewenden damit Sicherheit.

Das Leitfadeninterview ist eine Methode der qualitativen empirischen Sozialforschung. Der Leitfaden selbst ist das Untersuchungsinstrument und vermittelt zwischen Theorie und Empirie. Der schriftliche Leitfaden behandelt mit seinen Fragen alle Themen, die zur Beantwortung der Forschungsfrage wichtig sind. Zusätzlich sichert der Leitfaden die Vergleichbarkeit mit allen anderen Interviews, die im Rahmen des Forschungsprojekts durchgeführt werden. Die Zusammenstellung des Leitfadens geschieht in Abhängigkeit zu dem Kategoriensystem. Einerseits wurden die Fragen so ausgewählt, dass Sie indirekt nach den Kategorien fragen. Anderseits sollen sich die Antworten der Interviewten im Nachhinein in das Kategoriensystem einordnen lassen.

Im Vorfeld der Interviews wurden zwei Leitfäden erarbeitet. Es gab für die ehemalige Ost- und Westberlinner:innen unterschiedliche Fragen. Es gilt, dass der Leitfaden in etwa 15 Hauptfragen bestehen sollte (Meyen et al., 2019, S. 93). Es empfiehlt sich ein narrativer Einstieg. Hauptfragen werden durch Stützfragen ergänzt. Die Fragen gehen vom Allgemeinen zum Speziellen. Gedächtnisstützen sind sinnvoll, genauso wie kreative Elemente und ein offenes Ende. Der Leitfaden für das Gespräch mit den Ostberliner:innen besteht in fünf Abschnitten und vier großen Themeneinheiten. Nach der Einleitung wird mit Fragen zum Lebenslauf und Einstellung zu DDR und BRD begonnen. Es schließt sich das Thema des Lebens in den 90ern an. Der umfangreichste Teil bildet das Thema Mediennutzung in der Wende- und Nachwendezeit. Es beinhaltet Auflistungen der gängigen Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsendungen und Radiostationen in DDR und BRD mit dem Fokus 90er- Jahre. Die Listen konnten im Interview als Gedächtnisstütze mit dem Befragten geteilt werden. Als Letztes ging es um Identität, Mediennutzung und -bewertung und Lebenssituation heute.

Die theoretische Auswahl bestand in einer Beschränkung der Geburtstagsjahrgänge. Die Befragten sollten bis 1973 geboren worden sein, um damit 1989 mindestens 16 Jahre alt gewesen zu sein. Diese Auswahl erschien sinnvoll, um zu gewährleisten, dass die Personen die Zeit der Wende und danach aktiv erlebt hatten und sich daran erinnern können. Da es in der Untersuchung um Berliner:innen geht, wurde festgelegt, dass die Teilnehmer:innen vor 1989 mindestens 5 Jahre in Ost- oder Westberlin gelebt sollten. Um unterschiedliche Varianten der Berliner Mediennutzung in den 90ern zu erfassen, wurden die Kriterien Alter, Geschlecht und Bildung mit aufgenommen.

Alle 25 Kursteilnehmer:innen sollten mindestens ein Interview führen. Es sollten 13 bis 1960 Geborene rekrutiert werden. Darunter sechs Frauen, wovon zwei mit Abitur und sieben Männer, wovon drei mit Abitur. Des Weiteren sollten zwölf zwischen 1960 und 1973 Geborene gefunden werden. Das sollten sowohl sechs Frauen als auch sechs Männer sein, wovon jeweils zwei ein Abitur absolviert haben sollten. Die Rekrutierung über Dritte gilt als Königsweg der Rekrutierung. Es hat den großen Vorteil der Verbindlichkeit und einen relativ geringfügigen Nachteil. Bei der Rekrutierung der Interviewpartner:innen für den vorliegenden Forschungsbericht konnte eine Rekrutierung über Dritte erfolgen.

Für biografische Interviews sei es von Vorteil, diese in der Wohnung des Befragten durchzuführen (vgl. Fuchs-Heinritz, 2009, S. 251, zitiert nach Schüngel, 1996, S. 40). Hier hätte die befragte Person gleich Belege für die lebensgeschichtlichen Erzählungen zur Hand (vgl. Fuchs-Heinritz, 2009, S. 251, zitiert nach Bajohr, 1980, S. 675). Besonders bei einer Befragung mit dem Augenmerk auf der Mediennutzung kann es von Vorteil sein, die Befragung in der Wohnung der Interviewten durchzuführen. So kann sich eher an Situationen in den Medien genutzt worden, erinnert werden.

Allgemein sind Offenheit und Neugier wichtig. Der freundliche und respektvolle Umgang ist die Grundlage für gelungene Vorgespräche und Interviews. Es lohnt sich, auf die eigenen non­verbalen Signale und die des Gegenüber zu achten. Indem der Entstehungskontext und der Ablauf erläutert wird, kann oft die Angst genommen werden. Nach einem Eisbrecher kann so gut in das Interview gestartet werden.

In Anbetracht der Corona-Pandemie konnten die Interviews nur per Videotelefonie stattfinden. Die Befragten sollten aber von zu Hause aus teilnehmen.

Ziel der qualitativen Auswertung sei die Verallgemeinerung über den Einzelfall hinaus (Meyen et al., 2019, S. 4). Es soll versucht werden, die Handlungsmuster und Einflussfaktoren zu verallgemeinern, ohne dabei das Material zu verdoppeln. Im Gegensatz zur quantitativen Forschung gibt es keine standardisierte Auswertungsverfahren. Die Auswertung besteht in einer Interpretation, die intersubjektiv nachvollziehbar sein soll (Meyen et al., 2019, S. 4). Dazu bedient der oder die Forschende den Strategien eines theoriegeleiteten Vorgehens, einer ausführlichen Beschreibung, Belegen aus dem Material und Illustration mittels von Fallbeispielen. Begonnen wird die Auswertung mit dem Close Reading, „der Rückbesinnung auf die theoretischen Vorannahmen“ (Meyen et al., 2019, S. 174). Es folgt die Verdichtung des Materials geht über in die Verallgemeinerung und endet mit der Kontextualisierung (ebd.).

5. Ergebnisse

5.1. Kurzporträts: Lebenslauf, Mediennutzung in den 1990er Jahren

Herr M. wurde am sechsten August 1959 geboren. Seine Eltern arbeiteten beide in der Landwirtschaft. Der Vater namens Heinz-Karl wurde erst Polizist und später Verkehrsingenieur. Die Eltern der Mutter starben beide mit 44 Jahren. Damit war sie früh auf sich allein gestellt. Die Eltern von Herrn M. lernten sich Ende der 40er-Jahre kennen. Die Mutter wurde Buchhalterin und studierte später Jura, um als Justiziarin zu arbeiten. 1954 kam Herr M.s älterer Bruder zur Welt und fünf Jahre später er selbst (Interview M, 2021, S.2). Die Geschwister wuchsen in der Stadt Neubrandenburg auf. Die Familie lebte in einem Neubauviertel. Da die Eltern viel arbeiteten, waren die beiden Söhne von früh an in einer Kinderbetreuung. Neubrandenburg wurde während Herrn M.s Kindheit zur Hauptstadt des Bundeslandes Neubrandenburg und wuchs in Folge stark (Interview M, 2021, S.3).

1966 wurde Herr M. eingeschult. Ab der dritten Klasse kam er in eine Russisch-Ehrenklasse für besonders leistungsstarke Schüler:innen. Da er das Gefühl hatte, auserwählt zu sein und die Eltern gute Leistungen erwarteten, entschied sich Herr M. für ein Gymnasium als Oberschule, damals EOS. Um ein Stipendium für sein Studium zu bekommen, ging Herr M. drei Jahre zur Armee. 1982 zog er nach Berlin, um an der Humboldt Universität Lehramt für Geschichte und Geografie zu studieren. Anschließend absolvierte er das obligatorische Schulpraktikum und finanzierte sich währenddessen durch ein Leistungsstipendium. Seine erste Wohnung in Berlin befand sich im Bezirk Friedrichshain (ebd.).

Mit dem Mauerfall wird Herr M. von seiner Frau und der gemeinsamen Tochter verlassen. Er zieht in den Prenzlauer Berg und lernt im März des folgenden Jahres seine spätere Ehefrau kennen. Die Trennung von seiner Frau und das Kontakthalten zu seiner ersten Tochter beschreibt er als mühevoll und schmerzvolle Erfahrung. Im Laufe der 90er-Jahre bekommt er mit seiner neuen Freundin und späteren Frau eine Tochter und Anfang der 2000er einen Sohn. Herr M. blieb bis zu seinem Renteneintritt vor zwei Jahren Lehrer und Oberstudienrat am Heinrich-Schliemann-Gymnasium in Berlin Prenzlauer Berg (Interview M, 2021, S.5).

Der Alltag in den 90er-Jahren als junger Lehrer begann mit dem Radiowecker seiner damaligen Freundin. Das Radio lief den ganzen Tag über. Der erklärte Lieblingssender von Herrn M. war rbb 88,8. Zu seinen Favoriten zählte aber auch DT64, RadioKultur und der Berliner Rundfunk. Radio Fritz war der Sender des Radioweckers. Als Musikfan stöberte Herr M. über alle Sender hinweg nach neuer Musik (Interview M, 2021, S.8). Als Politiklehrer versuchte er sich aber auch umfassend zu informieren. Wenn genug Zeit war, las Herr M., die von ihm abonnierte Berliner Zeitung noch beim Frühstück. Die Berliner Zeitung lag auch im Lehrerzimmer aus und lieferte sich mit dem Tagesspiegel einen regelrechten Kampf um künftige Leser. In Pausen las Herr M. regelmäßig im Tagesspiegel. Berufsbedingt, wie er sagt, las er auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung. Die Junge Welt las er, um bestimmte Perspektiven zu verstehen und Westdeutsche zu provozieren. Die Zeitschrift Eulenspiegel kaufte er, wann immer er sie am Kiosk sah. Um sich zu Veranstaltungen in der Stadt zu informieren, abonnierte er die ZITTY und für das Fernsehprogramm die HÖRZU (Interview M, 2021, S.9). Am Abend ging spätestens viertel Acht der Fernseher an, um mit der Tochter das Sandmännchen zu sehen. Nachrichtensendungen wie die Tages- und Abendschau gehörten zum Standardprogramm. Im Fernsehen waren alle politischen Magazine für ihn als Politiklehrer interessant. ORB und WDR waren die Lieblingssender von Herrn M. Es durfte keine Sendung von Elf99, Scheibenwischer, Aktuelle Kamera und Monitor verpasst werden (Interview M, 2021, S.12).

Frau F. kam am fünften April 1968 in Berlin zur Welt. Ihre Mutter war Sekretärin, erst bei der S taatlichen Zentralverwaltung für Statistik, dann im Kabelwerk Oberspree und letztendlich in der Parteileitung. Der Vater von Frau F. arbeitete zunächst im Ministerium für Volksbildung und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ministerium für Gesundheitswesen. Da beide Eltern neben regulären Arbeit in der Freizeit noch Parteiarbeit zu erledigen hatten, kam Frau M. schon im Alter von acht Wochen in eine Kinderkrippe. Die Familie wohnte im Plänterwald im Bezirk Treptow. Die Krippe war gegenüber vom Wohnhaus der Familie. Der Kindergarten, den Frau F. später besuchte, war nur ein kleines Stück weiter entfernt (Interview F, 2021, S.1).

1975 wurde Frau F. in eine POS, Polytechnische Oberschule, eingeschult und machte dort ihren Abschluss nach der zehnten Klasse. Im Anschluss absolvierte sie eine Ausbildung als Wirtschaftskauffrau im Werk für Fernsehelektronik in Oberschöneweide. Mit der abgeschlossenen Ausbildung arbeitete sie als Sekretärin und Sachbearbeiterin in der Büroabteilung des Zentrums für Aus-und Weiterbildung für Werktätige (Interview F, 2021, S. 2).

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Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Die Mediennutzung von Ost- und Westberlinern nach dem Mauerfall im Vergleich. Zwei Ostberliner im Interview
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,3
Jahr
2021
Seiten
54
Katalognummer
V1060940
ISBN (eBook)
9783346473721
ISBN (Buch)
9783346473738
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mediennutzung, ost-, westberlinern, mauerfall, vergleich, zwei, ostberliner, interview
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Die Mediennutzung von Ost- und Westberlinern nach dem Mauerfall im Vergleich. Zwei Ostberliner im Interview, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1060940

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