Charta 77 - Der Weg der Tschechoslowakei von 1968 - 1989


Trabajo de Seminario, 2001

19 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Prager Frühling

2. Charta 77
2.1. Zeit vor der Charta 77
2.2. Entstehung der Charta 77
2.3. Inhalt der Charta 77
2.4. Die Arbeit und das Wirken der Charta 77

3. Die Sanfte Revolution
3.1. Der Ablauf der Sanften Revolution
3.2. Das Bürgerforum
3.3. Kritische Betrachtung der Sanften Revolution

Nachwort

Anmerkungen

Verzeichnis verwendeter Literatur

Vorwort

Als ich im Laufe dieses Seminars die Möglichkeit erblickte, mich mit dem Thema Charta 77 und der Tschechoslowakei auseinanderzusetzen, bekam ich ein emotionales, aber auch geistiges, Verlangen danach, Texte, Schriftstücke, ganze Bücher und jedwede Information hierzu zu studieren, auszuwerten und danach in einer wissenschaftlichen Arbeit zusammenzufügen. Mein anfänglicher Wissensdurst und meine Neugier zu diesem Thema waren enorm und ich blickte meiner Aufgabe mit Freuden entgegen. Dann kam jedoch der schwierigste Teil. Ich mußte zunächst meine emotional bedingte Subjektivität besiegen. Dies war nicht besonders leicht für mich, habe ich doch aufgrund meiner Abstammung eine ganz besondere Beziehung zur Tschechoslowakei. Erst als ich mich zum ersten Mal in diese Thematik einlas, wurde mir klar, daß mein bisheriges Wissen um die Geschichte meiner Heimat sehr einäugig und leider recht begrenzt war. Natürlich kannte ich die großen Schlagworte in der Nachkriegsgeschichte der Tschechoslowakei, aber eigentlich war das auch schon alles. Ich legte nun all meine geistige Kraft in dieses Projekt, nicht nur um diese Seminararbeit zu erstellen, sondern auch aus privaten Motiven. Dadurch konnte ich auch meinen Eltern und vielen tschechischen Bekannten Dinge und Geschichten entlocken, von denen ich nicht gedacht hätte, daß sie sie wußten oder sogar aktiv von ihnen erzählen konnten. All dies hat mich in der Wahl meines Seminararbeitsthemas nur bestärkt und mir auch die notwendige Motivation, dieses Thema so objektiv wie nur möglich anzugehen und schließlich meine Conclusio schriftlich festzuhalten. Diese Arbeit soll also über die Arbeit der Charta 77 berichten, ihre tragende Rolle in der Bürgerrechtsbewegung der Tschechoslowakei erörtern und ihren Anteil an der Sanften Revolution im Jahr 1989 und an der anschließenden Demokratisierung erklären.

1. Prager Frühling

Im Jahre 1968 spielte sich in der Tschechoslowakei ein völlig neues und gänzlich unbekanntes Experiment des Sozialismus ab. Es ist bis in unsere heutige Zeit unter dem Schlagwort „Prager Frühling“ bekannt. Dieses Experiment auf einen so kurzen Zeitraum einer Jahreszeit herunter zu reduzieren, kann der Sache nicht gerecht werden. Es war vielmehr ein langwieriger Prozeß, der langsam eine Transformation vom Sozialismus stalinistischer Ausformung zum so genannten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ vollzog. Dieses Experiment wurde vor allem in der Endphase, eben dem „Prager Frühling“, von den sozialistischen Bruderstaaten wie auch von der westlichen Welt sehr genau beobachtet. Der Unterschied lag nur darin, daß der Osten mit Argwohn und der Westen mit Neugier und einem gewissen Maß an Hoffnung auf die Geschehnisse in der Tschechoslowakei blickte. Die Tschechoslowaken sahen ihren „neuen“ Sozialismus als ein völlig neues Gesellschaftsmodell, einen dritten Weg neben dem kapitalistischen und dem stalinistischen System.1 Diese Liberalisierung wurde von den meisten Tschechen und Slowaken unterstützt:

„Es war eine Periode der Liberalisierung. Ich war nie in der kommunistischen Partei und in einer anderen Partei auch nicht. Und ich war ein Bürger, ein junger Mann, und es war sehr interessant, weil in dieser Periode von 63 bis 68 jeden Tag, jede Woche etwas Gutes passierte, ja. Also man konnte ins Ausland fahren, Bücher lesen, Filme sehen. Man konnte die Arbeit wechseln, zum Beispiel, und so weiter, ja. Und 1968 war ich natürlich wie fast alle Bürger für den Prager Frühling.“2

An dieser Aussage eines Zeitzeugen läßt sich die damalige Unterstützung für die Reformen, vielleicht sogar ein wenig die Euphorie der Menschen damals erkennen. Dieser ganze Prozeß war sehr wagemutigen und aufgeschlossenen Politikern zu verdanken. Sie lösten zu Beginn der 60er Jahre langsam die alten, noch von Stalin geprägten, Kader ab und brachten frischen Wind in den bereits damals angestaubten Parteiapparat. Daß solche umfangreichen Reformen überhaupt möglich waren, verdankten die Tschechoslowaken aber nicht nur der Hauptfigur des Prager Frühlings, Alexander Dubþek, sondern einer breiten Riege von reformwilligen Kommunisten. Da waren die hohen Funktionäre JiĜi Hájek, 1968 ýSSR-Außenminister, ZdenČk MlynáĜ, Vorstandsmitglied des ZK der KPý, Jaroslav Šabata, ebenfalls Mitglied des ZK der KPý, um nur einige zu nennen. Natürlich ist die Rolle von Alexander Dubþek nicht zu unterschätzen, da ohne ihn als höchstem Funktionär der Tschechoslowakei dies alles gar nicht möglich gewesen wäre.

Die Tschechoslowakei geriet aber innerhalb des Warschauer Paktes wegen des Reformkurses immer mehr unter Druck. Vor allem die Sowjetunion als Führer der sozialistischen Staaten blickte mit Sorge auf die Entwicklungen in der ýSSR. Die weitreichenden Demokratisierungsmaßnahmen, die Einführung der Rede-, der Versammlungs-, der Presse-, der Glaubensfreiheit sowie die Durchführung weitreichender Wirtschaftsreformen lösten in Moskau große Bedenken aus. Da half auch wenig, daß sich die Tschechoslowakei eindeutig zum Warschauer Pakt bekannte, die superiore Rolle der Sowjetunion innerhalb der sozialistischen Staaten anerkannte und auch den alleinigen Führungsanspruch der KPý im eigenen Land bekräftigte. Ein angeblicher Hilferuf tschechoslowakischer Politiker zur Unterdrückung einer Konterrevolution führte zur so genannten „Breschnew-Doktrin“. Dies war der Befehl, die antikommunistischen Bestrebungen in der Tschechoslowakei mit militärischer Gewalt zu beenden. Am 20. und 21. August marschierte eine große Zahl an Streitkräften, zusammengesetzt aus Truppen der Sowjetunion, der DDR, aus Polen, aus Ungarn und Bulgarien ein. Die ganze Welt blickte entsetzt auf die Ereignisse und verurteilte die Invasion. Nicht nur die westliche Welt, sondern auch viele kommunistische Länder beteiligten sich an der Kritik. Der Widerstand der Tschechen und Slowaken gegen diese Invasion war zu Beginn sehr groß, vor allem in den großen Städten des Landes kam es immer wieder zu Konfrontationen mit den ausländischen Truppenverbänden. Die Studenten und die Bürger stellten sich den rollenden Panzern immer wieder entgegen, mußten jedoch irgendwann einsehen, daß sie gegen eine solche Übermacht keine Chance hatten. Die führenden Funktionäre um den Vorsitzenden des ZK der KPý, Alexander Dubþek, wurden verhaftet und nach Moskau gebracht. Dort mußten sie sich in langwierigen Verhören für ihre Politik rechtfertigen. Aber nicht nur die hohen Funktionäre wurden verhaftet, auch die „kleineren“ Bürger mußten sich fürchten. Zunächst wurden zahlreiche Berufs- und Publikationsverbote für Schriftsteller, Universitätsprofessoren und andere Anhänger des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verhängt. Es folgten darauf noch viele Gefängnisstrafen für die so genannten „Konterrevolutionäre“. Die Moskauer Führung zwang die Prager Führung, die eingeführten Reformen wieder rückgängig zu machen, und dieser Prozeß wurde bis zum Ende des Jahres 1969 beendet. Im April 1969 wurde Alexander Dubþek durch Gustav Husák ersetzt und auch die anderen Reformkommunisten wurden ihrer Posten enthoben, zum Großteil aus der Partei ausgeschlossen und entweder mit niederen oder gar keinen Arbeiten versehen. Dieser Abschluß des Prager Frühlings markierte den Beginn einer neuen Zeit für die Tschechoslowakei, die „Normalisierungsphase“3.

2. Charta 77

2.1. Zeit vor der Charta 77

Nach dem gewaltsamen Beenden des Prager Frühlings und der Rückkehr zum alten kommunistischen System hatten viele der damaligen Anhänger ihre Hoffnung verloren:

„Die Normalisierung stellte für die Kinder des Prager Frühlings den Verlust ihrer liberalen und politischen Lebensbedingungen dar, die für unabsehbare Zeit erloschen, denn die normalisierte Gesellschaft war opportunistisch.“4

In den Jahren nach 1968 war die oppositionelle Arbeit nicht besonders stark ausgeprägt, jedoch bestanden einzelne, kleinere Gruppen, die sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen und den Berufs- und Publikationsverboten abfinden wollten. Im Untergrund entstanden zahlreiche Publikationen, die in einem so genannten Selbstverlag, dem Samisdat, gesammelt, vervielfältigt und illegal veröffentlicht wurden. Einige ehemalige und jetzt verbotene Universitätsprofessoren hielten im privaten Kreis Seminare und Diskussionsrunden ab:

„(...) I corporated with the son-in-law of professor Patoþka, and of course, through him and other people I started to move in the circles of Prague dissidents or later dissidents. And I was one of the co-founders of these unofficial seminars after 1969, so we started with these seminars about philosophy and culture and politics etc. (…)”5

In den Jahren von 1968 bis ungefähr 1976 war diese die normale Form oppositioneller Tätigkeiten. Es war jedoch so, daß diese Aktivitäten kaum politischen Hintergrund hatten und eigentlich auch nicht als regierungskritisch zu bezeichnen sind. Abgesehen davon, daß es den meisten Beteiligten nur um die Diskussion an sich ging, war auch das Interesse an poltischer Oppositionsarbeit nicht sehr hoch. Dies sollte sich aber mit der Unterzeichnung der KSZESchlußakte durch die Tschechoslowakei im Jahr 1975 in Helsinki ändern. Am 23.03.1976 wurden der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ und der „Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ in die tschechoslowakischen Gesetze aufgenommen und traten in Kraft.

Auszug aus der KSZE-Schlußakte:

„Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten.“6

Es ergab sich also mit dem Inkrafttreten dieser drei Bestimmungen eine neue Ausgangssituation für Widerstand7. Die tschechoslowakische Staatsführung selbst hatte einer neuen Oppositionsbewegung die Möglichkeit gegeben, auf politischer Ebene und mit der Legitimation durch das tschechoslowakische Recht tätig zu werden. Aus dieser Überlegung entstand die Charta 77.

2.2. Entstehung der Charta 77

Unter dem Gesichtspunkt und vor allem dem Inhalt der drei Bestimmungen formierte sich eine Gruppe von Intellektuellen, z. B. Schriftstellern, Professoren, ehemaligen Politikern des Prager Frühlings, Schauspielern, aber auch ganz gewöhnlichen Menschen, die sich mit der Idee identifizieren konnten, das herrschende Regime zu kritisieren und eine führende Rolle in der Oppositionstätigkeit zu übernehmen.

„Die Charta 77 stellte einen intellektuellen Versuch dar, unsere Lage mittels der Menschenrechte zu definieren. (...) Mittels dieser Sprache wollte man sich dem Rest Europas verständlich machen. Es handelte sich um eine ziemlich ungenaue Übersetzung unserer Verhältnisse in eine Fremdsprache.“8

Es handelte sich also bei der Charta 77 auch um einen Aufruf an die westliche Welt, sich Gedanken zu machen, wie die Zustände in den sozialistischen Ländern allgemein und speziell in der Tschechoslowakei waren. Man wollte eine Diskussion einerseits außerhalb und andererseits innerhalb des Landes anregen. Um dieses Ziel zu erreichen wurde am 01.01.1977 die Charta 77 veröffentlicht, die von 242 Menschen unterzeichnet war.

2.3. Inhalt der Charta 77

Der Verfasser der Charta 77, Prof. Dr. Jan Patoþka, Václav Havel und Prof. Dr. JiĜi Hajek bildeten die ersten Sprecher der Charta 77. Sie waren für den Inhalt, die Hauptansichten und Tätigkeiten zuständig.

Auszug aus der Charta 77:

„(...) Ihre Veröffentlichung ruft uns aber zugleich mit neuer Eindringlichkeit in Erinnerung, wie viele Grundrechte des Bürgers in unserem Land vorerst - leider - nur auf dem Papier gelten. Völlig illusorisch ist zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, das vom Artikel 19 des ersten Paktes garantiert wird: Zehntausenden von Bürgern wird es nur deshalb unmöglich gemacht, in ihrem Fach zu arbeiten, weil sie Ansichten vertreten, die sich von den offiziellen Ansichten unterscheiden. (...) Hunderttausenden Bürgern wird die „Freiheit von Furcht“ (Präambel des ersten Paktes) verweigert, (...) Im Widerspruch zu Artikel 13 des zweiten Paktes, der allen das Recht auf Bildung zusichert, werden zahllose junge Menschen nur wegen ihrer Ansichten oder sogar wegen der Ansichten ihrer Eltern nicht zum Studium zugelassen. (...) Die Bekenntnisfreiheit, nachdrücklich in Artikel 18 des ersten Paktes zugesichert, wird von machthaberischer Willkür systematisch eingeschränkt: (...) Das Instrument der Einschränkung und häufig auch der völligen Unterdrückung einer Reihe von bürgerlichen Rechten ist ein System faktischer Unterordnung sämtlicher Institutionen und Organisationen im Staat unter die politischen Direktiven des Apparats der regierenden Partei und unter die Beschlüsse machthaberisch einflußreicher Einzelpersonen. (...) Geraten Organisationen oder Bürger bei der Auslegung ihrer Rechte und Pflichten in Widerspruch zur Direktive, können sie sich an keine unparteiische Instanz wenden, weil keine existiert. (...) In Fällen politisch motivierter Strafverfolgung verletzen Ermittlungs- und Justizorgane die Rechte der Beschuldigten und ihre Verteidigung, die von Artikel 14 sowie von tschechoslowakischen Gesetzen gewährleistet werden. (...)“9

Dieser Auszug aus dem Dokument Charta 77 verdeutlicht klar, worum es den Verfassern und Unterzeichern ging. Sie stellten zum einen die Situation dar, die sich in den tschechoslowakischen Rechtsvorschriften wiederfand, und stellten dieser die tatsächliche Lage, die Alltagssituation, in der Tschechoslowakei gegenüber. Diese unterschieden sich in solch großem Maße, daß sich die Unterzeichner eben genötigt sahen, die Charta 77 zu veröffentlichen. Sie stützten die Rechtmäßigkeit des Inhalt und der Veröffentlichung auf die zugebilligten Rechte der KSZE-Schlußakte und der beiden internationalen Pakte, die in die tschechoslowakische Gesetzessammlung aufgenommen waren. Um besonders darauf hinzuweisen, begrüßten sie, daß die Tschechoslowakei den beiden internationalen Menschenrechtsabkommen beigetreten war. Sie kritisierten aber die Gegensätze zwischen den Rechtsvorschriften und den tatsächlichen Praktiken der politischen und staatlichen Organe - die Dichotomie zwischen Rechtsform und -wirklichkeit10.

Sie gestanden der Staatsmacht allerdings auch die, etwas eingeschränkte, Souveränität bei der Verantwortung für das Einhalten der Menschenrechte zu:

„Die Verantwortung für die Einhaltung der Bürgerrechte im Land obliegt selbstverständlich vor allem der politischen und staatlichen Macht. Aber nicht nur ihr. Jeder trägt sein Teil Verantwortung für die allgemeinen Verhältnisse und somit auch für die Einhaltung kodifizierter Pakte, die dazu übrigens nicht nur Regierungen, sondern alle Bürger verpflichten. Das Gefühl dieser Mitverantwortlichkeit, der Glaube an den Sinn bürgerlichen Engagements und der Wille dazu, sowie das gemeinsame Bedürfnis, dafür einen neuen und wirksameren Ausdruck zu finden, hat uns auf den Gedanken gebracht, „Charta ´77“ zu bilden, deren Entstehung wir heute öffentlich anzeigen.“11

Diese Aussage verdeutlicht erneut, wie sich die Charta 77 definiert. Sie sieht sich in der bürgerlichen Pflicht die politischen und staatlichen Institutionen in ihrer Arbeit und Ausübung der fixierten Rechtsvorschriften zu unterstützen. Nicht etwa, weil das ihr Wunsch sei, sondern einzig und allein aus dem Grund, weil sie dazu verpflichtet ist. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, daß sich die Charta 77 selbst als eine rechtmäßige Vereinigung deklariert. Jede Unterschrift sei ein moralisches Bekenntnis und stellt damit den moralischen Schritt in Richtung eines Lebens in Wahrheit dar12. Sie schlugen der Staatsmacht einen offenen Dialog über die angesprochenen Mißstände vor, worauf sich die Staatsorgane aber nicht einließen, ihn kategorisch ablehnten. Diese beiden Auszüge aus der Charta 77 stellen die ungefähren Zielvorstellungen und die Motive der Unterzeichner dar. Über die innere Struktur und die äußere Erscheinungsform wird erst zum Ende des Gründungsdokument der Charta 77 Aufschluß gegeben:

„Charta ´77“ ist keine Organisation, hat keine Statuten, keine ständigen Organe und keine organisatorisch bedingte Mitgliedschaft. Ihr gehört jeder an, der ihrer Idee zustimmt, an ihrer Arbeit teilnimmt und sie unterstützt. „Charta ´77“ ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit. Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele ähnliche Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens.“13

Diese Aussagen zum Wesen der Charta 77 sind mit besonderer Beachtung zu betrachten, machen sie doch von vornherein eindeutig klar, daß sich die Charta 77 nicht als Opposition sieht und auch nicht als solche verstanden werden möchte. Es ist eine klare Aussage gegenüber der Staatsführung, daß sie dieser nur helfen will und mit ihr in einen Dialog treten will. Der erste Satz verdeutlicht, daß es sich auf keinen Fall um eine Art Partei handelt, die der Kommunistischen Partei konkurrieren könnte. Diese Selbstbeschreibung entstand auch aus dem Motiv heraus, daß die tschechoslowakischen Staatsorgane es grundsätzlich ablehnten, autonom agierende Organisationen zu bewilligen. Jedoch machte diese Selbstdefinition bei den Mächtigen des Staates keinerlei Eindruck, und auch die Tatsache, daß sich die Charta 77 im Rahmen der gültigen Verfassungs- und Rechtsordnung bewegte, konnte nicht verhindern, daß sie als staatsfeindlich und antisozialistisch bezeichnet wurde. Der Verweis auf das Gemeininteresse und das Wesen einer Bürgerinitiative machte es Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen, Antikommunisten, Reformkommunisten, Künstlern, Trotzkisten und Humanisten möglich, sich unter der allgemeinen Klausel der Menschenrechte zu einer Gemeinschaft zu bekennen14. Der Verfasser und einer der ersten drei Sprecher der Charta 77, Prof. Dr. Jan Patoþka, drückt die Rolle der Charta 77 so aus:

„No society, no matter how good its technological foundation, can function without a moral foundation, without conviction that has nothing to do with opportunism, circumstance and expected advantage. Morality, however, does not exist just allow society to function, but simply to allow human beings to be human. Man does not define morality according to the caprice of his needs, wishes, tendencies and cravings; it is morality that defines man.”15

Diese Aussage der zentralen Person des Dissenz in der Tschechoslowakischei zeigt eindeutig nochmals die eindeutige Distanzierung der Charta 77 von jeglichem Oppositionscharakter und verweist wiederum auf das einzige Motiv, nämlich die Moral als Triebfeder der Charta 77. Auch Havel gibt dies als Beweggrund der Gründung an und schließt sich der Definition von Patoþka an16.

2.4. Die Arbeit und das Wirken der Charta 77

Nach dem grundlegenden ersten Dokument der Charta 77 erschienen zahlreiche weitere Dokumente17, die wiederum zahlreiche Artikel, offene Briefe, Aufrufe und andere diverse Schriftstücke enthielten. Die Staatsmacht ging natürlich entschieden und restriktiv gegen die Bürgerrechtler vor. Bereits kurz nach der Konstituierung der Charta 77 kam es zu zahlreichen Verhaftungen und Verhören. Als die drei Chartisten (Unterzeichner der Charta 77) Václav Havel, Ludvík Vaculík und Pavel Landovský den Text der Charta 77 mit sämtlichen 242 Unterschriften am 06. Januar 1977 an die Regierung der Tschechoslowakei, an die Bundesversammlung, an die Nachrichtenagentur ýTK und an alle Unterzeichner versenden wollten, wurden sie von Beamten der Staatssicherheit garan gehindert und verhaftet. Es folgten langwierige Verhöre für die drei Überbringer18. Die Unterzeichner waren härtesten Repressionen durch den Staat ausgesetzt. Sich ständig wiederholende Verhöre und Verhaftungen, Provokationen, permanente Observation, Berufsverbote, Isolierung von der Gesellschaft sind nur die härtesten Beispiele hierfür. Einen traurigen Höhepunkt dieser Maßnahmen bildete der Tod von Jan Patoþka nach Verhören der Polizei im Jahr 1977. Der erfolgreiche und bekannte Schriftsteller Pavel Kohout wurde im Jahr 1979 an der Wiedereinreise in die Tschechoslowakei gehindert und ihm wurde die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft entzogen. Der Herausgeber des Bulletins „Informationen über Charta“, Petr Uhl, wurde 1977 mit einem Berufsverbot belegt und 1979 zu 5 Jahren Haft verurteilt. ZdenČk MlynáĜ, 1968 noch hoher Funktionär der Kommunisten, mußte nach seiner Unterschrift nach Österreich emigrieren. Dies sind aber nur einzelne Fälle der prominenteren Chartisten, die beispielhaft für die „kleineren“ Menschen unter den Signataren stehen. Diese, und auch ihre Familien, wurden vom kommunistischen Regime schonungslos verfolgt, diffamiert oder zur Ausreise gezwungen. Nach 1977 emigrierten etwa 300 Unterzeichner19.

Die meisten der Bürgerrechtler aber ließen sich davon nicht beeindrucken und gingen den Weg der Charta 77 unbeirrt weiter. Jaroslav Šabata zum Beispiel wurde erst kurz vor Veröffentlichung der Charta 77 aus der Haft entlassen, unterzeichnete sie und wurde 1978 Sprecher der Charta. 1978 wurde er dann wieder verhaftet und zu zwei Jahren verurteilt. Sofort nach seiner Entlassung wurde er wieder Sprecher der Bürgerrechtsbewegung (vgl. Wagnerová). Der harte Kern der Chartisten um Václav Havel ließ sich dadurch nicht beeindrucken und hielt jeder Repression stand, auch lange Gefängnisstrafen ließen diese Gruppe nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen, sofort ausreisen zu können. Dies war nämlich eine weitere Maßnahme der Staatsmacht, die Solidarität unter den Chartisten zu stören und letztendlich die Charta 77 zu zerstören. Allerdings hatten auch die staatlichen Organe ihre Schwierigkeiten, die Aktivitäten der Charta genau zu orten. Die meiste Arbeit spielte sich in privater Umgebung ab, in Wohnzimmern und in Landhäusern, wie z. B. das von Havel. Dort wurden Diskussionsrunden geführt, neue Dokumente verfaßt und auch Briefe an ausländische Sympathisanten, ausländischer wie tschechoslowakischer Nationalität, aufgesetzt. Diese ganze Arbeit folgte dem im Gründungsdokument vorgegebenen Leitsatz der „unpolitischen Politik“20. Sie beschränkten sich auf einen rein geistigen Kampf mit den herrschenden Eliten der Tschechoslowakei. Diese Vorgabe hielt auch bis Mitte der 80er Jahre an, aber dann entschlossen sich vor allem jüngere Chartisten, auch einen physischen Kampf mit der Staatsmacht zu führen. Sie wurden ermutigt durch die Reformbestrebungen in der Sowjetunion, von Glasnost und Perestrojka. Dies gab ihnen den Mut, auch in der Tschechoslowakei bald etwas verändern zu können. Dies war ein eindeutiger Bruch mit den alten, von Patoþka und Havel, vorgegebenen Prinzipien, keine politische Opposition zu sein. Bestätigt werden diese Prinzipien auch von einem Zitat von J. A. Comenius: „Omnia sponte fluant, absit violentia rebus (Alles geschieht ohne Gewalt von selbst)“21 zu Beginn des Dokumentes Nr. 9 der Charta 77. Dieses Leitmotiv und das Existieren der Charta an sich bewegten bereits bis zum März 1977 nochmals ca. 380 weitere Menschen zu unterzeichnen, was am 09.März 1977 eine Gesamtzahl von 617 Bürgern ergab, wie das Dokument Nr. 822 beweist. Bis zum Jahr 1989 wuchs die Anzahl der Chartisten auf annähernd 2000.

Es wurden zahlreiche Publikationen im Ausland veröffentlicht, denn viele Schriftsteller, Essayisten und auch Professoren hatten keine Möglichkeit, ihre Schriftstücke in tschechischer Sprache in der Tschechoslowakei herauszugeben. Es lag teils an nicht vorhandenen Möglichkeiten und teils daran, daß das kommunistische Regime es verstand, Publikationen zu verhindern. Also wichen sie auf das Ausland aus und konnten dies auch machen, da zu westlichen Intellektuellen und Schriftstellern weitreichende, natürlich illegale, Kontakte bestanden. Mehrere Veröffentlichungen tschechoslowakischer Autoren gab es im „Spiegel“, sowie weiteren linksorientierten Magazinen und Zeitungen des Westens. Die Charta 77 fand jedoch im Rahmen ihrer selbstverlegten Zeitschrift „Samisdat“ eine Möglichkeit, einmal ihre eigenen Dokumente und zweitens auch tschechoslowakische Oppositionsliteratur zu veröffentlichen. Im Samisdat wurden die „Informationen über die Charta“ (Infoch) publiziert. Diese Zeitschrift ermöglichte es der tschechoslowakischen Untergrundliteratur, auf sich aufmerksam zu machen und nicht auszusterben. So blieb eine freie Literatur erhalten, die sonst gar nicht entstanden wäre.

Die Charta 77 blieb bis zum Ende des Jahres 1989 bestehen und leistete bis zu diesem Jahr einen entscheidenden Beitrag dazu, daß die westliche Welt über die tatsächlichen Verhältnisse in der Tschechoslowakei auf dem laufenden gehalten wurde. Ihrer überragenden intellektuellen Rolle ist es zu verdanken, daß die freie Diskussionskultur in jedem Bereich des tschechoslowakischen Lebens erhalten blieb und im Jahr 1989 wieder aufblühen konnte. Nicht zuletzt dem Verdienst der Charta 77 ist der Erfolg der „Sanften Revolution“ 1989 anzurechnen. Sie spielte dank ihrer immer fortdauernden Arbeit bei der politischen Transformation eine tragende Rolle und bildete auch den Grundstock des Bürgerforums. Zahlreiche Chartisten erschienen auf der offiziellen politischen Ebene und sind es zum Teil auch heute noch.

3. Die Sanfte Revolution

3.1. Der Ablauf der Sanften Revolution

Das Jahr 1989 brachte einen großen politischen Umbruch mit sich. Nahezu alle europäischen sozialistischen Länder erlebten einen Umsturz ihrer politischen Verhältnisse, mit der Folge, daß das alte kommunistische System zusammenbrach. In der Tschechoslowakei wird dieser Umbruch als „Sanfte bzw. Samtene Revolution“ bezeichnet. Der erste Grundstein für diese Ereignisse wurde ausgerechnet in der Sowjetunion durch Michail Gorbatschows Reformkurs gelegt. Ausgerechnet die Sowjetunion, Vorreiter bei der Einführung und Einhaltung eines sozialistischen Systems, sollte die Demokratisierungen der osteuropäischen Staaten erst ermöglichen, da sie sich im Jahr 1989 passiv verhielt.

In der Tschechoslowakei begann das Jahr 1989 mit einem Kräftemessen der Bürgerrechtler und der Regierung. Zum 20. Jahrestag von Jan Palachs Selbstverbrennung hatten einige Bürgerinitiativen, darunter die Charta 77, zu einer Demonstration auf dem Prager Wenzelsplatz aufgerufen. Diese Kundgebung wurde jedoch von der Polizei mit Gewalt verhindert. Aber die Bürger liessen sich nicht mehr wie in früheren Zeiten so leicht einschüchtern. So kamen in den folgenden Tagen immer mehr Menschen auf den Wenzelsplatz, um friedlich an den Studenten Palach zu gedenken und Blumen für ihn niederzulegen. Es war das erste längere Aufbäumen des Volkes seit der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings. Im Zusammenhang mit diesen Protestaktionen wurde der führende Kopf der Charta 77, Václav Havel verhaftet. Auf massiven Protest im Land selbst und aus dem Ausland mußte er jedoch im Mai 1989 wieder entlassen werden.

Im Juni erschien dann das Manifest „Einige Sätze“, das in seinen Forderungen wesentlich weiter ging, als dies die Charta 77 tat. Einige Forderungen waren die Freilassung der politischen Gefangenen, die Versammlungsfreiheit, die Glaubensfreiheit, eine größere Pressefreiheit, das Ende der Diskriminierung von unabhängigen Initiativen, mehr Umweltbewußtsein der Regierung und die freie Diskussion über die Vergangenheit, wie 1968, 1948 und die 50er Jahre23. „Einige Sätze“ entwickelte sich schnell zu einem bekannten und beliebten Dokument. Ende Juli hatten bereits 12000 Menschen das Manifest unterschrieben, im September waren es schon über 30000. Die Staatsmacht konnte nur noch sehr unbeholfen reagieren. Auch als am 21. August, dem 21. Jahrestag der Invasion der Bruderstaaten, eine große Demonstration in Prag stattfand, wußten sich die Machthaber nur mit gewaltsamen Polizei- und Miltäraktionen zu helfen. Doch der Niedergang des sozialistischen Regimes war hier bereits unaufhaltsam, denn die Tschechoslowaken konnten sehen, was sich in der DDR abspielte und auch direkt vor Ort in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag.

Am 17. November, dem 50. Jahrestag der Schließung tschechischer Hochschulen durch die Nationalsozialisten, kursierten zahlreiche Flugblätter, die zu einer Gedenkveranstaltung luden. Nach dem Ende dieser Kundgebung ergab sich eine spontane Demonstration der Studenten im Zentrum der tschechischen Hauptstadt. Die Polizei aber riegelte die gesamte Innenstadt ab, und ging gegen die Demonstranten mit aller Härte vor. Zahlreiche Beteiligte sprechen von einem Massaker, das aber in der Geschichte der ýSSR das letzte blieb. Tags darauf veröffentlichten Studenten ein Flugblatt:

„ Wir sehen keinen anderen Weg unsere Ablehnung und Entsetzen über die derzeitige innenpolitische Situation im Lande auszudrücken. Darum treten die Studenten der Prager Hochschulen in einen Streik, bis folgende Forderungen erfüllt sind:

1. Die völlige Aufklärung des brutalen Polizeieinsatzes gegen friedliche Demonstranten am 17. November.
2. Die Veröffentlichung der Namen der Verantwortlichen.
3. Die Einstellung jeglicher Strafverfolgungen von Teilnehmern der Demonstration.
4. Den Beginn eines Dialogs zwischen allen Schichten der Gesellschaft.“24

Am 19. November entstand in einem Prager Theater das Bürgerforum, das zahlreiche unabhängige Bürgerinitiativen, einzelne Bürger, Studenteninitiativen und auch die Charta 77 unter einem Dach verband. In den nächsten Tagen fanden zahlreiche friedliche Demonstrationen im ganzen Land statt und am 21. November trafen sich erstmals Vertreter des sozialistischen Machtapparates mit Verrtetern des Bürgerforums. Die Machthaber erklärten sich zu Veränderungen bereit, aber nicht zu einer Veränderung des sozialistischen Machtmonopols. Am 24. November ließ das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei um seinen Vorsitzenden Miloš Jakeš verlautbaren, daß sie ihre Posten zur Verfügung stellen. Am Wochenende des 25. und 26. Novembers fand auf dem Prager Letná- Hügel eine Massenkundgebung mit etwa 750.000 Menschen statt. Den endgültigen Stein ins Rollen brachte der zweistündige Generalstreik am Montag, dem 27.11. Das Parlament strich zwei Tage später den Führungsanspruch der KPý aus der Verfassung und am 03.12. wurde eine neue Regierung von Präsident Gustav Husák in ihr Amt eingeführt. Da aber dieses Kabinett aufgrund der Mehrheit der kommunistischen Mitglieder nicht akzeptabel war, mußte er am 10. Dezember erneut eine neue Regierung ausrufen, die „Regierung der Nationalen Verständigung“. Als das Parlament unter dem Vorsitz des rehabilitierten Alexander Dubþek am 29.12. den Schriftsteller Václav Havel zum neuen tschechoslowakischen Präsidenten wählte, war die Sanfte Revolution abgeschlossen.

3.2. Das Bürgerforum

Unter dem Dach des Bürgerforums (Obþanské Forum) vereingten sich viele unabhängige Bürgerinitiativen, Studenten traten bei, einzelne Bürger schlossen sich an. Die erste Sitzung fand am Sonntag, dem 19. November 1989, statt. Die Kerngruppe des Bürgerforums wurde von der politischen Elite der Charta 77 gebildet. Sie hatte als älteste Bürgerrechtsbewegung die meiste Erfahrung mit der Politik und wahrscheinlich auch die fähigsten Leute, um den Dialog mit den Machthabern aufzunehmen und sinnvoll zu führen. Besonders tat sich hier der spätere Staatspräsident Václav Havel hervor, der zum Sprachrohr des Bürgerforums wurde. In diesem Forum waren aber auch frühere Reformkommunisten wie Alexander Dubþek vertreten. Noch am ersten Tag legte das Bürgerforum seine Forderungen vor:

„1. Der Rücktritt der für die Invasion von 1968 verantwortlichen Politiker
2. Der sofortige Rücktritt der für das Massaker vom 17. November verantwortlichen Politiker inklusive des Innenministers
3. Die Gründung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Ereignisse vom 17. November
4. Die Freilassung aller politischen Gefangenen.“25

Diese Forderungen waren noch aus rein aktuellem Anlaß und glichen sehr denen der studentischen Flugblätter. Es zeichnete sich jedoch schon bald ab, daß das Bürgerforum eine Hauptforderung haben würde, nämlich die uneingeschränkte Demokratie. Waren die Forderungen der Charta 77 noch die nach Veränderungen im bestehenden politischen System, so zeigte sich hier bereits, daß man das alte System, egal wie reformiert es auch sein würde, nicht mehr wollte, und einen radikalen Umbruch zur Demokratie verlangte. Da standen auch die alten Reformkommunisten des Prager Frühlings auf verlorenem Posten, wie Alexander Dubþek, der noch immer dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ nachtrauerte. Dies zeigt sich auch in den Erfahrungen von ZdenČk MlynáĜ, 1968 hoher Parteifunktionär und danach nach Österreich zwangsexiliert:

„Als im November 1989 das Husak-Regime - das zu schützen sich Gorbatschow geweigert hatte - endlich stürzte, durfte Mlynar wieder nach Prag. Diese Rückkehr wurde zu seiner großen Enttäuschung: Er glaubte, dort fortsetzen zu können, wo er (und andere) im August 1968 gewaltsam unterbrochen worden war. Doch daran war in der Tschechoslowakei der Jahreswende 1989/90 niemand interessiert, niemand wollte einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, (fast) alle wollten Kapitalismus pur.“26

Diese Aussage macht deutlich, wie die Stimmung in dieser Zeit war. Die Jungen wollten kein „Neues 1968“ und auch keinen „Neuen Prager Frühling“ mehr. Sie sahen das als etwas altes an, das von den Alten zu Recht verehrt wurde, aber nicht mehr in die heutige Zeit paßt27. Aber auch zahlreiche Anhänger dieses „dritten Weges“28 verhielten sich während der Sanften Revolution opportunistisch und forderten die unumschränkte Demokratie. Darunter befanden sich der spätere Außenminister JiĜí Dienstbier, Chartist der ersten Stunde, und auch Václav Havel, wenn auch eingeschränkt, da er eine spezielle Form der Demokratie im Auge hatte:

„(...) Dessen Konzept einer Gesellschaft mündiger Bürger, die ihre politischen Aktivitäten nicht nur über das Korsett der Parteien, sondern auch in mannigfaltigen anderen Vereinigungen entwickeln, (...)“29

Diese Beschreibung wird auch durch das 1989 erschiene Buch Havels „Versuch in der Wahrheit zu leben“ belegt. Immer wieder wies er auf dieses „Leben in Wahrheit“ hin.

In den ersten Tagen des Bürgerforums war alles geprägt von einer gewissen Verwirrung und Uneinigkeit über die Zielsetzungen und Forderungen. Dazu der britische Historiker Timothy Garton Ash, Professor an der Oxford University:

„Das Forum war so demokratisch, wie es unter diesen Umständen nur sein konnte. Es war voller Humor. Es bewies einen Sinn für Improvisation, der ans Geniale grenzte. Dennoch, sie hatten Glück. In der zweiten Woche hatte es mehrere Momente gegeben, in denen man glaubte, nun hätten sie sich in dem Wirrwarr aus langfristigen, kurzfristigen, moralischen, symbolischen und politischen Forderungen verheddert. Aber die Gefühle, Stimmungen und die Winde von aussen waren so günstig, dass am Ende alles gut ging.“30

Diese internen Differenzen wurden am Ende des Jahres 1989 noch um der Sache willen nicht zu sehr aufgebauscht, jedoch zeigte sich später in den zahlreichen Abspaltungen und dem letzlichen Verschwinden des Bürgerforums, daß die politischen Akteure des Bürgerforums einfach zu unterschiedliche Vorstellungen hatten. Das Auseinanderbrechen des Bürgerforums war vorprogrammiert. Es kam schon bald zur ersten Abspaltung, die jedoch einen ethnischen Hintergrund hatte. Im tschechischen Teil blieb es bis zu den ersten freien Wahlen im April 1990 beim Bürgerforum und im slowakischen Teil die „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (VDN), die beide die Mehrheit in den beiden Parlamenten gewannen. Bereits kurz nach den Wahlen spaltete sich das Bürgerforum erneut auf, diesmal aber schon wegen unterschiedlicher politischer Ansichtsweisen. Es entstand die bürgerlich-konservative ODS, die den rechten Teil des Links-Rechts-Spektrums des Bürgerforums einnahm, und die liberal orientierte Bürgerbewegung OH. Dies war das Ende des Bürgerforums und in der Tschechoslowakei hatte sich die gleiche Erscheinung der westlichen Demokratien, nämlich eine breitgefächerte Parteienlandschaft gebildet.

3.3. Kritische Betrachtung der Folgen der Sanften Revolution

Die Tschechoslowakei befand sich im Jahr 1989 auf einer allgemeinen Welle der Euphorie, die noch lange nachklang und die Sanfte Revolution in herrlichem Glanz erschienen ließ. Jedoch kristallisierten sich schon bald erste Probleme heraus. Der Zusammenbruch des Bürgerforums als große gemeinsame Kraft der Demokraten gegen das alte Schreckgespenst des Kommunismus war ein Indiz für diese Entwicklung. Es folgten bald die ersten Streitigkeiten von Tschechen und Slowaken, die unweigerlich zur Teilung der ýSFR in die Tschechische und Slowakische Republik am 01. Januar 1993 führten.

Bei der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation wurden bereits enorme Leistungen vollbracht, denen die politischen Leistungen jedoch weit hinterher hinken. Das Konzept von Václav Havel, eine Gesellschaft von politisch motivierten und mündigen Bürgern zu formen, ist nicht aufgegangen. Es wurde zwar im Ausland hochgelobt, doch ließen die innenpolitischen Spieler dieses Konzept nicht zu. Zu unterschiedlich und unversöhnlich scheinen die politischen Gegner zu sein. Die Bürger resignieren angesichts der politischen Ohnmacht des Staates und auch die zahlreichen Versuche von Staatspräsident Havel, die politische Kultur und den Politikalltag zu beeinflußen, scheitern beständig.Dazu Havel in einer Diskussionsrunde:

„Es hat den Anschein, als ob wir für den Samt der Revolution tatsächlich in verschiedener Hinsicht bezahlen müssen. Dennoch bin ich der Ansicht, daß er diesen Preis wert ist.“31

Dieser letzte Satz läßt aber auch erkennen, daß er seinen politischen und ideellen Kampf noch nicht aufgegeben hat und alles versuchen wird, die derzeitigen Verhältnisse noch zu ändern und letztlich zu verbessern. Die Tschechische Republik befindet sich derzeit noch in einer inneren politischen Krise, die leider längst auch auf andere Bereiche des Staates, die Wirtschaft und die Gesellschaft, übergegriffen hat. Immer mehr Bürger sehen sich wieder in der Nähe der Kommunisten, nicht etwa weil sie ein vernünftiges Programm vorweisen können, sondern weil sie die einzige Partei sind, die geradlinig ihre Politik betreibt. Sollten sich die großen Parteien des Landes und auch die beiden großen Poltiker des Landes, Václav Havel und Václav Klaus, endlich auf eine einheitliche Marschroute des Staates einigen, wird sich auch dieses Problem durch den Konsens selbst lösen.

Nachwort

Nach dem Beenden dieser Arbeit muß ich sagen, daß ich mich in vielerlei Hinsicht erweitert fühle. Nicht nur das neu hinzugekommene Wissen, sondern auch die wissenschaftliche Ausarbeitung eines Themas, das „Hineinfühlen“ in eine Thematik, die zu schaffende Ordnung des aufgetragenen Materials sind ein besonderer Grund der geistigen Befriedigung, die ich durch diese Arbeit erfahren habe. Ich habe versucht aus einer riesigen Menge an Informationen die wichtigen herauszufiltern, sie an die richtige Stelle zu setzen und sie folgerichtig und sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Es war nicht immer ganz einfach die Zusammenhänge und die Hintergründe sofort zu erfassen und zu verstehen, jedoch bin ich überzeugt, daß ich mir ein sehr großes und richtiges Wissen über die Tschechoslowakei, die Charta 77 und die aktuelle Lage im Land angeeignet habe und dieses auch in meiner Arbeit verwendet habe. Ich denke, daß ich die Zusammenhänge und Vorgänge so objektiv wie notwendig und so verständlich wie möglich erklärt habe, ohne aus der gesamten Thematik eine schöne Erzählgeschichte gemacht zu haben. Mit gewissem Stolz freue ich mich sehr, diese Arbeit in dieser Form gefertigt zu haben und sie jetzt vorlegen zu können.

Anmerkungen

Verzeichnis verwendeter Literatur

1) Ash, Timothy Garton: Was bleibt von 1989? - Eine Debatte zwischen Vaclav Havel, Viktor Klima, Adam Michnik und Viktor Orban, in: www.eurozine.com/online/part...ransit/issues/1999-02--pdebatte.html, 13.09.2000

2) Bock, Katrin: Kapitel aus der tschechischen Geschichte, in: www.radio.cz/deutsch/Geschichtskapitel, 06.08.2000

3) Frank, Michael: Generalstreik in der Tschechoslowakei für freie Wahlen und Ende der KPHerrschaft, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.11.1989

4) Freiová, Michaela: Freiheit und Verantwortung - Menschenrechte in der sozialistischen Tschechoslowakei, in: www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/, 02.08.2000

5) Havel, Václav: Angst vor der Freiheit, Hamburg 1991

6) Havel, Václav: Sommermeditationen, Hamburg 1994

7) Hejdánek, Ladislav: Wahrheit und Widerstand - Prager Briefe, München 1988

8) Hermann, Rudolf: Zehn Jahre seit der Wende in Tschechien und der Slowakei - Ein langer Weg zu demokratischer Kultur - Wirtschaftliche Erfolge - poltische Defizite, in: www.interslavica.ch, 06.08.2000

9) Juchler, Jakob: Lädierter Musterknabe - Tschechien: Sanfte Transformation in die sanfte Krise, in: www.freitag.de, 02.08.2000

10) Kloth, Hans Michael: Wahrhaftig: Demokratie - Charta 77 und DDR-Bürgerrechtler diskutieren einstige Ansprüche und heutige Realitäten, in: www.berlinonline.de/wissen/berliner_zeitung/archiv

11) Lutz, Annabelle: Dissidenten und Bürgerbewegungen - Ein Vergleich zwischen DDR und Tschechoslowakei, Frankfurt am Main/New York 1999

12) Pelinka, Anton: Zdenek Mlynar - Wider den Strom, in: http://info.uibk.ac.at/c4/c402/per/mlzd.html, 06.08.2000

13) Riese, Hans-Peter (Hrsg.): Bürgerinitiative für die Menschenrechte, Frankfurt am Main 1977

15) Seibt, Ferdinand, Prof. Dr. Dr. h. c.: Erstmals ein tschechischer Nationalstaat, in: Deutschland und die Tschechen, München 1997

16) Vodiþka, Karel: Politisches System Tschechiens, Münster 1996

17) Wagnerová, Alena: Sanft und kompromisslos - Die tschechische Menschenrechtlerin Anna Šabatová, in: www.osteuropa.ch/art00_cz_sabatova.htm, 02.08.2000 18) unbekannter Autor: KP-Führung der CSSR trat zurück - Dubcek vor 300 000 Menschen in Prag begeistert gefeiert, in: Kölner Stadtanzeiger vom 25. November 1989 19) unbekannter Autor: Kommunistische Führung in Prag macht weitere Zugeständnisse, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.11.1989

Erklärung

Ich erkläre, dass ich die Arbeit selbstständig und nur mit den angegebenen Hilfsmitteln angefertigt habe.

(Ort) (Datum) (Unterschrift)

[...]


1 Lutz S. 49

2 Lutz S. 50

3 vgl. Lutz: Bezeichnung für die Zeit nach 1968

4 Lutz S. 51

5 Lutz S. 51

6 Riese S. 43

7 Lutz S. 52

8 Freiová, in: www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/

9 Charta 77, in: Hejdánek S. 271 ff.

10 Vodiþka S.43

11 Charta 77, in: Hejdánek S. 274

12 Lutz S.53 f.

13 Charta 77, in: Hejdánek S. 274 f.

14 Lutz S.53

15 Lutz S. 53

16 Lutz S. 54

17 Vodiþka S. 43 und Lutz S. 54

18 Charta 77 - Dokument Nr. 2, in: Riese S. 259

19 Lutz S. 55

20 Lutz S. 56

21 Riese S. 294

22 Riese S. 286

23 Bock, in: www.radio.cz/deutsch/Geschichtskapitel/

24 Bock, in: www.radio.cz/deutsch/Geschichtskapitel/

25 Bock, in: www.radio.cz/deutsch/Geschichtskapitel/

26 Pelinka, in: http://info.uibk.ac.at/c/c4/c402/per/mlzd.html

27 Lutz S. 95

28 Kloth, in: www.berlinonline.de/wissen/berliner_zeitung/archiv

29 Hermann, in: www.interslavica.ch

30 Bock, in: www.radio.cz/deutsch/Geschichtskapitel/

31 Havel, in: www.eurozine.com/online/

Final del extracto de 19 páginas

Detalles

Título
Charta 77 - Der Weg der Tschechoslowakei von 1968 - 1989
Universidad
University of Augsburg
Curso
Bürgerrechtsbewegungen in den ehemaligen Ostblockstaaten
Calificación
1,3
Autor
Año
2001
Páginas
19
No. de catálogo
V106351
ISBN (Ebook)
9783640046300
Tamaño de fichero
464 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Charta, Tschechoslowakei, Bürgerrechtsbewegungen, Ostblockstaaten
Citar trabajo
Thomas Franek (Autor), 2001, Charta 77 - Der Weg der Tschechoslowakei von 1968 - 1989, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106351

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