Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Hinführung zum Thema
2. Informelles Lernen - Begriffserläuterung in Abgrenzung zum formalen und non- formalen Lernen
3. Entwicklungsgeschichte des Informellen Lernens
3.1 Ausgangslage der Entwicklungsgeschichte des informellen Lernens
3.2 Entwicklungsgeschichtliche Ursachen und Hintergründe für die Problematik der Anerkennung informeller Lernergebnisse.
4. Die Zertifizierungsproblematik
4.1 Anerkennung im Rahmen einer Zertifizierung informeller Lernergebnisse
4.2 Entwicklung im Rahmen der Digitalisierung mit Bezug auf informelles Lernen
5. Konklusion
5.1 Resümee
5.2 Perspektive auf zukünftige Entwicklungen
VI. Literaturverzeichnis
1.0 Einleitung und Hinführung zum Thema
Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung und der einhergehenden Technisierung kommt dem informellen Lernen nicht nur im beruflichen Kontext immer mehr Bedeutung zu (Gaylor et al., 2015; Wienberg, 2017).
Durch den gesellschaftlichen Wandel werden Anforderungsprofile vieler beruflicher Tätigkeiten zunehmend vielschichtiger und anspruchsvoller. (Leimeister & David, 2019) Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, kommen vor allem auch nicht formalen - und informellen Lernprozessen eine tragende Bedeutung zu (Rohs, 2016); (Overwien, 2004); Münchhausen & Seidel, 2016).
Schließlich wird heute allein durch die schulische Grundbildung, oder der beruflichen Ausbildung, sowie durch ein Studium, welche in erster Linie in formal transportiertem Wissen und Kompetenzen münden und im ausbildungsspezifischen Kontext zu einer bestimmten beruflichen- und/oder Bildungstätigkeit qualifiziert, in den meisten Fällen nicht mehr ausreichen (Gnahs, 2003), „denn die Verwertung und Haltbarkeit von erlangtem fachspezifischen Wissen und Kompetenzen geht immer rasanter verloren“ (Kuhlmeier et al., 2014), um den stetig wachsenden Anforderungen an Wissen, Kompetenzen und konzeptuellen Veränderungen und Entwicklungen von Bildung und Beruf zukünftig gerecht zu werden (Dohmen, 2001).
Aus diesem Grund steigt auch der Bedarf an Bildungs- und Weiterbildung seit Jahrzehnten, weil Weiterbildungsangebote oftmals notwendige Bedingung darstellen und als feste Komponente im beruflichen Alltag integriert werden müssen (Leimeister & David, 2019).
Formale (und non formale) Lernergebnisse in den oben genannten Kontexten werden unter anderem in Form von Zeugnissen, Teilnahmebescheinigungen und Zertifikaten als verifizierte Leistungsbeurteilung und/oder als Nachweis für Wissen und Kompetenzen formal anerkannt und zertifiziert (Colardyn & Bj0rnavold, 2005).
Obwohl informelle Lernprozesse in privater, sowie in beruflicher Umgebung ständig und überall stattfinden können (Kahnwald & Täubig, 2017) und generell nachweislich ein Großteil aller erlernten Kompetenzen und Wissen auf diesen Lernprozessen basiert (Faure et al., 1972); (Overwien, 2016), ist die Anerkennung im Rahmen einer Zertifizierung informeller Lernergebnisse, gerade in Deutschland, immer noch ein bildungspolitischen und gesellschaftliches Problem (Böhm et al., 2010).
Aus diesem Grund wird sich im Folgenden bemüht, die Frage zu beantworten, warum die Anerkennung im Rahmen einer Zertifizierung von informellen Lernergebnissen problematisch ist und anschließend vor dem Hintergrund der Digitalisierung näher ausgeführt.
Dafür wird folgend im ersten Teil eine Begriffserläuterung des informellen Lernens in Abgrenzung zum formalen und nicht formalen Lernen unternommen. Dabei soll die Zertifizierungsproblematik bereits skizziert werden. Im zweiten Teil wird sich mit der Entwicklungsgeschichte des informellen Lernens beschäftigt und aufgezeigt welche bildungspolitischen und gesellschaftlichen Umstände, sowie relevante Akteure und Institutionen eine tragende Rolle spielen, um auch die Problematik aus dieser Perspektive besser nachvollziehen zu können. Darauf basierend wird im dritten Teil die aktuelle Zertifizierungsproblematik behandelt und in den Kontext der Digitalisierung eingebunden.
2.0 Informelles Lernen - Begriffserläuterung in Abgrenzung zum formalen und non- formalen Lernen
Die Frage nach einer eindeutigen Definition informellen Lernens lässt sich nicht beantworten, da es eine ganze Fülle an Definitionen gibt.
Es kommt darauf an, in welchem Kontext man sich bewegt und welchen theoretischen Verortungen man anhängt (Marsick & Watkins, 2001). Man spricht im Zusammenhang mit informellen Lernen auch vom einem individuellen und kontextbezogen Charakter (Geldermann et al., 2009) ,daher ist die Beschreibung von Kriterien, des Kontextes und die Abgrenzung von formalen und non-formalen Lernen bei der Erfassung informellen Lernens sinnvoll (Düx & Sass, 2005), darüber hinaus besteht ansonsten das Risiko, den Begriff informelles Lernen als Restkategorie zu betrachten, in dem beliebig Interpretiert werden kann. (Overwien, 2005)
Beim formalen Lernen handelt es sich im Kern um ein „planmäßig organisiertes, gesellschaftlich anerkanntes Lernen im Rahmen eines von der übrigen Umwelt abgegrenzten öffentlichen Bildungssystems“ (Dohmen, 2001), während es sich beim non-formalen Lernen (im weiteren Verlauf als nicht- formales lernen bezeichnet), um alle Formen von Lernen handelt, die außerhalb des formalen Bildungssystems stattfinden. (Dohmen, 2001).
Formal erworbene Lernergebnisse werden nach standardisierten Zertifizierungsmaßstäben mit hoher Verkehrsreichweite bewertet und anerkannt. Die Anerkennung und Zertifizierung nicht formaler Lernergebnisse ist möglich, jedoch auf eine geringe Verkehrsreichweite beschränkt. (Annen & Bretschneider, 2009); (Gutschow et al., 2010); (Gnahs, 2003). Im Gegensatz dazu werden die Lernergebnisse des im folgendem erläuterten informellen Lernens in der Regel nicht formal im Rahmen einer Zertifizierung anerkannt.
Laut Dohmen 2001 gibt es für den Begriff des informellen Lernens mehrere Definitionen beziehungsweise mehrere Begriffsbedeutungen, die sich charakteristisch ähneln, aber auch unterscheiden können, wobei „informelles Lernen“ als Oberbegriff verwendet wird.
Das informelle Lernen wird unter diesem Gesichtspunkt zusammenfassend als ein Lernen bezeichnet, das als „ungeplantes, beiläufiges, implizites und oft auch unbewusstes Lernen außerhalb von formalen Bildungssystemen und ohne Einfluss von externer Bildungsunterstützung zu verstehen ist“ (Dohmen, 2001).
Im Jahre 2009 im Rahmen einer Überarbeitung der Definitionen nicht- formalen und informellen Lernens des OECD wird darauf hingewiesen, dass die Definitionen für nicht formales und informelles Lernen, die im Memorandum über „lebenslanges Lernen“ (2000) festgehalten wurden, nicht mehr mit der aktuellen (2009) identisch ist (Gutschow et al., 2010). So geht aus dem „CEDEFOP 2009“ hervor, dass nicht formales Lernen beabsichtigt und in Tätigkeiten integriert ist, welche nicht explizit als Lernen bezeichnet werden, aber ein „ausgeprägtes Lernelement“ (CEDEFOP, 2009) beinhalten. Informelles Lernen hingegen wird nunmehr als eine Lernform definiert, die „im Alltag, am Arbeitsplatz im Familienkreis, oder in der Freizeit stattfindet.“ (CEDEFOP, 2009) „Es ist als Lernform nicht organisiert und strukturiert und in dem meisten Fällen unbeabsichtigt“ (CEDEFOP, 2009).
Informelles Lernen kann aber in Abgrenzung zur genannten Definition sehr wohl als ein vom Individuum selbstorganisiertes Lernen bezeichnet werden, dass in dieser Form strukturiert und mit der bewussten Zielorientierung etwas zu lernen eingesetzt werden kann. (Gutschow et al., 2010), was jedoch nur selten der Fall ist.
Allerdings gilt es als institutionell unabhängiges Lernen und ist in diesem Fall nicht fremd organisierbar, wodurch es sich maßgeblich vom formalen- und in Bezug auf den zweiten Aspekt auch vom nicht formalen Lernen unterscheidet (Werquin, 2016).
Informelles Lernen kann auch als „Lernen über Erfahrung“ verstanden werden, wobei die Erfahrungen zumindest theoretisch über zwei getrennte Verarbeitungsmechanismen erfolgen kann. Namentlich sind reflexives Lernen und implizites Lernen zu unterscheiden. Erfahrungslernen (reflexives Lernen) erfolgt als bewusste reflektierte Verarbeitung der gemachten Erfahrung, wobei implizites Lernen überwiegend unreflektiert und unbewusst stattfindet (Dehnbostel et al., 2003); (Molzberger, 2016). Während reflexives Lernen zu neuen Erkenntnissen führen kann, werden unbewusst und unreflektiert (implizite) verarbeitete Erfahrungen meist nur Teil des Erfahrungswissens, welches unterbewusst gespeichert wird und Kontextgebunden wiedergegeben werden kann.
Diese Verarbeitungsmechanismen kommen überwiegend in Situationen zum Einsatz, in denen das Individuum neue Herausforderungen und Probleme lösen muss. Das Lernen findet folglich als Nebenprodukt der Handlung statt (Dohmen, 2001) und steht zukünftig bewusst oder unbewusst als Handlungskompetenz oder Handlungswissen zur Verfügung (Overwien, 2004).
Dieser Versuch einer Abgrenzung und Begriffserläuterung des informellen Lernens bestätigt, dass es sich um ein hoch komplexes und vielschichtiges Unterfangen handelt. Es kann festgehalten werden, dass eine einheitliche Definition zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist (Overwien, 2004); (Düx & Sass, 2005), was unteranderem auch daran liegt, dass zuständige Organisationen im internationalen Vergleich den vielzähligen Facetten des informellen Lernens unterschiedlich gewichtete Bedeutungen und Bewertungen zu schreiben. So unterscheiden Sie sich maßgeblich im Bereich der zugeschriebenen Intentionalität, dem Grad des zufälligen und unbeabsichtigten Lernens und in dem Möglichkeitshorizont einer Erlangung von Qualifikationen im Rahmen eines informellen Lernprozesses. (Werquin, 2016)
Die Komplexität, allen voran die Unintentionalität und begriffliche Uneindeutigkeit informellen Lernens, können folglich als Gründe für die Problematik der Anerkennung im Rahmen der Zertifizierung informeller Lernergebnisse betrachtet werden. Wie soll man etwas zertifizieren, was man gar nicht einheitlich definieren, gar erfassen kann? Und wenn die allgemeinen Zertifizierungsmaßstäbe (vor allem in Deutschland) längst nur zur Beurteilung von formalen (ferner, auch nicht formale-) Lernprozessen eigenen und sich informelle Lernprozesse maßgeblich davon unterscheiden und als solche Lernform nicht für eine gleiche Validierungsgrundlage geeignet ist, wird eine Konzeption neuer Validierungsprozesse neben den existierenden unabdingbar (Münchhausen & Seidel, 2016).
Die oben genannte begriffliche Undeutlichkeit ist auch im Zuge der gestiegenen bildungspolitischen Bedeutung des informellen Lernens über die letzten Jahrzehnte entstanden (Rohs, 2016), dass die folgende Auseinandersetzung mit Fragmenten der Entwicklungsgeschichte des informellen Lernens notwendig macht.
3. Entwicklungsgeschichte des Informellen Lernens
3.1 Ausgangslage der Entwicklungsgeschichte des Informellen Lernens
Das Erfahrungslernen als Form des informellen Lernens wurde in seiner Fasson bereits im antiken Griechenland, in Aristoteles Schriften als Teil einer Unterscheidung zwischen formaler Unterweisung und Lernen durch Erfahrung erfasst und beschrieben. Diese Lernformen unterscheiden sich sowohl in der Art und Weise als auch vom Ort der Durchführung, nämlich einerseits in Alltagssituationen, andererseits in dafür geschaffenen Institutionen (Andresen et al., 2000).
Das Lernen durch Erfahrung hatte bis zum 19. Jahrhundert einen hohen Stellenwert, bis im Kontext der Schul-, Berufs- und Erwachsenenpädagogik im Laufe des 19. Jahrhunderts eine grundlegende Formalisierung des Lernens zu beobachten war.
An der Entwicklung beteiligt waren mitunter die Einführung der Schulpflicht im 18. Jahrhundert, die Einführung der Berufsausbildung in Verbindung mit der Freigabe von beruflichen Schulen und der Ausdehnung von formal organisierten Weiterbildungsangeboten für Erwachsene, wodurch das informelle Lernen im Zuge der Formalisierung und Institutionalisierung des Lernens zunehmend an Beachtung verlor (Rohs, 2016).
Darin sind die Wurzeln der fortwährenden Diskussion um das informelle Lernen in der Entwicklungsgeschichte skizzenhaft begründet. Im weiteren Verlauf liegt der Fokus auf den Ereignissen, die maßgeblich zur Klärung der Frage nach den Gründen der Zertifizierungsproblematik beitragen können und zum Leidtragen der Gesamterfassung der Entwicklungsgeschichte auch aus Umfangsgründen weitestgehend darauf beschränkt.
3.2 Entwicklungsgeschichtliche Ursachen und Hintergründe für die Problematik der Anerkennung Informeller Lernergebnisse
Die fehlende Beachtung der bis zu den 70er- Jahren vorwiegend in den USA und England geführten wissenschaftlichen Diskussion über informelles Lernen ist als Grund anzuführen, da es im stark formalisierten Bildungssystem in Deutschland bis in die 90er- Jahre kaum Beachtung fand (Gnahs, 2016) und damit keine wissenschaftliche und bildungspolitische Auseinandersetzung möglich machte. Während gerade in Amerika informell erworbene Kompetenzen (bis heute) bedeutungstragend für Qualifikationen einer beruflichen Tätigkeit waren, waren fast ausschließlich institutionell erworbenes Wissen und Kompetenzen in Deutschland von Bedeutung. Als Mitursache für das nicht Beachten, war die gängige Begriffsverwendung „informell education“ und die implizierte Bedeutung, die in Deutschland aufgrund von unklarer Übersetzung nicht den formalisierten Bildungstraditionen entsprachen (Rohs, 2016).
[...]