Die Methodenlehre Savignys


Seminar Paper, 2002

18 Pages, Grade: 16 Punkte


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Gliederung

1. Einleitung

2. Historisch-politscher Kontext

3. Die Methodenlehre Savigny
3.1 Das Frühwerk - Gesetzespositivismus und Historische Schule
3.2 Der Kodifikationsstreit - Savigny versus Thibaut
3.3 Die Methodenlehre - Die Elemente der Auslegung
3.3.1 Rechtsbegriff und Gegenstand Savignys
3.3.2 Die Doppelnatur des Rechts
3.3.3 Die Elemente der Auslegung
3.4 Die "wahrhaft historische Methode"

4. Savignys Bedeutung für die Folgezeit - Kritiker und Schüler

5. Würdigung und Schluß

1. Einleitung

Friedrich Carl von Savigny dürfte wie kaum ein anderer Jurist seiner Zeit Einfluss genommen haben auf die (Weiter-)Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft wie mit seinen dogmatischen Lehren auch auf die Rechtsprechung. Ferner liegt nicht zuletzt in seiner Lehre, die mit all ihren Veränderungen und Fortschreibungen enorme Wirkungsmacht im deutschen Rechtsdenken, in Forschung und Lehre entfaltet hat, auch ein Stück weit der deutsche Sonderweg der Rechtswissenschaft begründet. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, zunächst in aller Kürze den politischen und geschichtlichen Rahmen, in dem Savigny wirkte zu beschreiben und dann sein Werk hinsichtlich der Methodenlehre näher zu beleuchten. Da Savignys Gesamtwerk einen nicht unerheblichen Wandel im Laufe seines Schaffens erfährt, vor allem hinsichtlich des seiner Dogmatik zu Grunde liegendem Rechtsverständnis, erscheint es notwendig, bei der Darstellung gesondert auf das Frühwerk einzugehen, welches noch starke (gesetzes-)positivistische Züge trägt. Auch der Streit um eine einheitliche Gesetzgebung ähnlich dem französischen Code Civil, in dem Savigny eine vehemente Contra-Position vertrat wird behandelt, um einen breiten Überblick erstens über die politischen, historischen und rechtlichen Zeitbezüge einerseits und Savignys persönlicher Verortung andererseits zu bieten.

Schließlich soll ausführlicher auf die Methodenlehre, vor allem die Elemente der Auslegung, die seinerzeit eine groß angelegte rechtswissenschaftliche Debatte entfachte, eingegangen werden.

2. Historisch-politischer Kontext

Bereits seit der Rechts- und Gesetzeskritik des frühen 18. Jahrhunderts war die Sichtweise auf das ältere Vernunftsrecht als relatives, "historisches" Recht gegeben, die empirisch-historischen Bedingungen von Kultur, Landesverfassungen und rechtlichen Zuständen rückte immer mehr in den Blickpunkt wissenschaftlichen Interesses.1 Vor allem in Göttingen bildete sich im Zeichen dieses Empirismus eine pragmatisch orientierte Geschichts- und Verfassungswissenschaft heraus, wobei im Lauf dieser Entwicklung sich schon ein Gegensatz zwischen der rationalistischen Hauptströmung des Vernunftrechts und der historischen Rechtswissenschaft abzeichnete.

Im Rahmen einer sich vertiefenden Kulturphilosophie und der Entdeckung der geschichtlichen Zyklen der Menschheitskultur steigerte sich in Deutschland der praktisch-moralisierende Pragmatismus des älteren Historismus zu einer idealistisch-enthusiastischen Kulturphilosophie. Herder verfocht sein Geschichtsverständnis vom ins Unendliche fortschreitenden, kontingenten Entwicklungsprozess, aus der sprach- und volksgebundenen Poesie vernahm Herder die "Stimmen der Völker".2

Staat und Gesellschaft waren geprägt von der Restaurationsphase3, der Zeitgeist wurde bestimmt von der politischen Zersplitterung Deutschlands in die Kleinstaaten sowie durch das historische Bewußtsein, das die Notzeiten der napoleonischen Herrschaft und Romantik gebildet hatte.4 Hierdurch beeinflußt wie durch eigene Überzeugung auch stützend und fortschreibend, entwickelte Savigny nun seine neue Konzeption des Rechtsverständnisses und der Methodenlehre als Entgegnung zu den philosophischen Naturrechtsschulen. Gewohnheitsrecht hatte stets Vorrang vor dem Gesetzesrecht und so widersetzte er sich selbst als Leiter des restaurativen Gesetzgebungsministeriums in Preußen noch jeder Überarbeitung des ALR5 und entfaltete statt dessen getreu seiner Schule legislatorische Bemühungen nur auf Teilgebieten der Rechtsordnung.

3. Die Methodenlehre im Werk Savignys

3.1 Das Frühwerk - Gesetzespositivismus und Historische Schule

Bereits im Winter 1802/03 verfaßt Savigny in der Nachschrift zu einem von ihm an der Marburger Universität gehaltenen Kolleg ein Methoden-lehre, welche von seinem später vor allem als Germanisten bekannt gewordenen Schüler Jakob Grimm erhalten wurde. Hierin wird, ohne dass Savigny dies explizit ausführt, nur das gesetzte Recht als Rechtsquelle anerkannt. Die vermeintlichen Übergriffe der Praktiker hinsichtlich der Rechtsfortbildung begründet Savigny mit der Passivität des Gesetzgebers und übernimmt - bei aller Kritik am Naturrecht- so dennoch dessen Grundposition. Wenn auch die Besinnung auf die "Geschichte des Rechts" zumindest mitschwingt in seinem Ansatz der philologisch-systematischen Ausgestaltung, so steht diese nicht in vergleichbarer Weise zu seiner späteren Auffassung im Mittelpunkt.6 Aufgabe der Interpretation des Rechts nun sei die "Rekonstruktion des Gedankens, der im Gesetz ausgesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz selbst erkennbar ist"7, wobei sich die Interpretation auf die einzelnen Textstelle im Speziellen wie auf die Bedeutung für das "Ganze" im Allgemeinen zu beziehen habe.

Savigny entwickelte die Idee der "historischen Rechtsschule", wobei sich die positive Rechtswissenschaft als "geschichtliche Strömung" der Erschließung der historischen Dimension des Rechts annahm. Dabei verstand er mit diesem wissenschaftlichen Neuansatz Recht jedoch keineswegs nur als Geschichte, sondern sah den Gegenstand der Rechtswissenschaft durch die Geschichtlichkeit des gegenwärtigen Rechts vorwegbestimmt, nicht etwa durch die Abstraktion des Vernunftrechts oder die Setzungen des aufgeklärten Gesetzgebers.8 Dennoch, so Savigny, sei die "Gesetzgebungswissenschaft" -schon in der Bezeichnung kommt sein frühes Rechtsverständnis deutlich zum Ausdruck- "erstens eine historische und zweitens eine philosophische Wissenschaft".9 Mit dieser Annäherung an die kritisierten philosophischen Schulen des späten Naturrechts fordert Savigny eine Rechtswissenschaft, die "vollständig historisch und philosophisch zugleich" sein müsse. Allerdings bedeute die Einbeziehung des philosophischen Elementes nicht die Übernahme naturrechtlicher Lehrsätze, sondern ziele vielmehr auf eine von der Rechtswissenschaft selbst vorausgesetzte immanente Einheit ab. So ist auch das Streben nach der "Enthüllung und Vollendung der dem Stoff innewohnenden Einheit"10 zu verstehen, durch welches die Verwandheit der Philosophie zur Rechtswissenschaft hervortrete:

"Das Recht dient der Sittlichkeit , aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen innewohnenden Kraft sichert."11

Die volle Entfaltung des historischen Bewußtseins dagegen ermögliche erst die vollständige Erfassung dieser Immanenz in den geschichtlichen Erscheinungen. Nicht ungewöhnlich für die Zeit dürften als ideen- geschichtliche Vorläufer Savignys hierbei vor allem Herder und Schelling gelten, dessen Geschichtsverständnis als "Offenbarung des Absoluten", in der die Epochen Stufen im sukzessive verlaufenden, organischen Entwicklungsprozess darstellen, einen wesentlichen Anteil haben. Die Rechtsgeschichte blieb nicht als abgetane Vergangenheit Gegenstand unbeteiligter Erkenntnis, sondern "konstituiere statt dessen den der Rechtswissenschaft aufgegebenen lebendigen Stoff."12 Wurde bereits im 18. Jahrhundert die Methode einer geschichtlichen Betrachtung des Rechtsgeschehens verfolgt, so hauptsächlich von dem Göttinger Professor Gustav Hugo, der bereits "die römischen Institutionen aus dem Geist ihrer Zeit heraus verstanden wissen wollte"13, so wird dies dennoch eher als Vorläufertätigkeit zu Savignys systematischer Bearbeitung verstanden.

Wesentliche Neuerung, die ebenfalls nur im Zusammenhang mit den allgemeinen wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zu verstehen ist, bleibt die der Grunderfahrung des Historismus verpflichtete Orientierung auf die Geschichtlichkeit des eigenen Volkes: die Hervorbringung des Volksgeistes als Gegenstand rechtswissenschaft- licher Betrachtungen.14 Stellte von je her der Historismus auf die Völker als Protagonisten der Entwicklung der Kulturen ab, nahmen sie spätestens seit Montesquieus Vergleich von Recht und Sprache15 auch erheblichen Einfluß auf die Rechtswissenschaft. Kulturschöpfungen jeglicher Art verstanden die aufsteigenden Bildungseliten als Hervorbringungen jenes Volksgeistes, so war auch das Recht nicht bloß Produkt des staatlichen Gesetzgebers, sondern als Teil der Gesamtkultur aus dem kollektiven Unbewußten der Völker entstanden.16 Savigny erkannte wohl in diesem Sinne das Recht als einen naturnotwendigen Bestandteil der Volkskultur, glitt jedoch nicht ab in eine reine "Volksgeistlehre", wie Kritiker es ihm vorwarfen. Er bekannte sich zur "strengen historischen Methode der Rechtswissenschaft"17, die nach seiner Ansicht allein dazu geeignet war, die Brauchbarkeit und Tauglichkeit des geltenden Römischen Rechts und der zahlreichen Partikularrechte wieder herzustellen.18 Die Erforschung des römischen und des deutschen Rechts war das Ziel der von ihm gegründeten "Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft".

3.2 Der Kodifikationsstreit - Savigny versus Thibaut

Mit seiner grundlegenden Schrift "Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" aus dem Jahr 1814 setzte sich der angesehene Heidelberger Rechtslehrer A.F.J. Thibaut für eine Kodifikation des gesamten bürgerlichen Rechts in Deutschland ein, worunter zum damaligen Zeitpunkt auch Straf- und Verfahrensrecht fiel. Er kritisierte die Zersplitterung und Widersprüchlichkeit der Partikular-rechte als verworren und sah darin nur den Grund für die Trennung der Deutschen einerseits und der wachsenden Rechtsunsicherheit anderer- seits.19 Thibaut trat für eine Versammlung von Rechtsgelehrten aus allen deutschen Ländern ein, um einen Entwurf für die zu erstellende Kodifikation auszuarbeiten. Nicht zuletzt wegen des durch die Befreiungs- kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts gestärkten nationalen Bewußt- seins gelang es ihm, erstmalig ein breites, in der Bevölkerung verankertes Interesse an einer allgemeingültigen Rechtsetzung zu wecken. Thibauts Ideen wurzelten im Rationalismus der Aufklärung, seine Sympathien galten der französischen Revolution und der napoleonischen Gesetz- gebung.

Sehr schnell antwortete Savigny noch im gleichen Jahr mit seiner Programmschrift "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft", in der er eine entschiedene Ablehnung und grundsätzlich andere Rechtsauffassung als Thibaut vertrat. Das bereits ausgeführte Konzept der "Geschichtlichkeit" unter Berufung auf den "Volksgeist" sollte die bestimmende Alternative zu "Vernunft" als Grundlage einer allgemeinen Kodifikation im 19. Jahrhundert werden. Präzisiert wurde sein wissenschaftliches Programm in der im darauf folgenden Jahr erscheinenden Einleitungsaufsatz zur "Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft". Eine einheitliche Kodifikation wäre für Savigny als Produkt des unhistorischen Naturrechts schlichte Spekulation der Vernunft geblieben.20 Die Methode der deutschen Vertreter des Naturrechts bezeichnete er als "pseudo-deduktiv", da man in Wahrheit das, was man beweisen wolle, zuvor aus dem positiven Recht der Zeit entnommen habe.21 Recht war die Emanation des "in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebenden und wirkenden Volksgeistes"22, weshalb nicht der Wille des Gesetzgebers ihm, dem Recht, historische Geltung verleihen könne. Eine Kodifikation bedeute nichts anderes als die Aufzeichnung der Theorie im Zeitpunkt der Gesetzgebung und damit Stillstand. Seiner Auffassung nach war bei einer vollkommenen Theorie die Aufzeichnung aber entbehrlich, bei einer unvollkommenen jedoch sogar schädlich.23 Gesetzesrecht konnte bestenfalls das durch die Kodifikation formulierte, redigierte Gewohnheitsrecht sein24 und lohne sich überhaupt nur als Abschluss einer Epoche in der deutschen Zivilrechts- geschichte. Bis dahin genüge völlig die Einzelgesetzgebung im Falle eines als dringlich eingestuften identifizierten gesetzgeberischen Problems.

3.3 Die Methodenlehre - Die Elemente der Auslegung

Eine ausführliche Auslegungslehre legte Savigny im ersten Band des "System des heutigen römischen Rechts" von 1848 vor. Auslegung in rechtswissenschaftlichem Sinn sollte als "Anfang und Grundlage"25 auf jedes "Gesetz, wenn es in das Leben eingreifen soll" angewandt werden. Die zwei der Rechtswissenschaft vorgegebenen Arten der Auslegung, die "authentische" und die "usuelle" stellten jedoch keine Auslegungen im eigentlichen Sinne dar, schließen sie doch die "einzig wahre, nämlich die doktrinelle" Auslegung aus.26 Tatsächlich verböte die "legale", also die zusammengefaßte authentische und usuelle, gerade die "geistige Erfassung des Gesetzes", um die es bei der doktrinellen schließlich gehe.27 Diese jedoch sei nunmal das Geschäft jedes Rechtswissenschaft- lers, Theoretiker wie Praktiker, alle seien der doktrinellen Auslegung verpflichtet und müßten in der Lage sein, "mit Begriffen rechnen" zu können.28

3.3.1 Rechtsbegriff und Gegenstand Savignys

Savignys Gegenstand war das ganze römische und rezipierte Recht der Tradition des Corpus Iuris aus dem Jahr 533, wobei er den Kodex und speziell die Pandecten nicht als eigentliches Gesetz ansah, sondern vielmehr eine umfängliche Darstellung und Sicherung des vorhandenen Rechtszustandes der Römer.29 Wesentlich ist die Unterscheidung, dass Römisches Recht für ihn nicht mit der Summe der Römischen Gesetze gleichzusetzen war. Das Zentrum der Rechtsbildung habe eben nicht bei Staat oder Herrscher gelegen, sondern bei den Betroffenen des Rechts, dem Volk selbst. Entscheidend ist die Vorstellung, das die Rechts- verhältnisse schon vor dem Erlass der Gesetze existieren, ja diese Ausfluss der Erstgenannten sind:

"Alles positive Recht entsteht aus einer inn'ren historischen Noth- wendigkeit, Gewohnheitsrecht; historische oder genetische Methode. Die Einwirkung der Gesetzgebg weder als factum noch als Recht wird hierbei geläugnet. Aber ein positives Recht war vorhanden vor der Handlg der gesetzgebenden Gewalt, sie entwickelt, schützt, hilft nach."30

Gesetzesauslegung bezieht er demnach nicht auf den Gegenstand "Gesetz" in heutigem Verständnis, die "Rechtsverhältnisse" sind ihm stete Rechtsquelle. Somit wird die Auslegung des gesetzten Rechts nicht der einzige, sondern ein Fall unter mehreren Möglichkeiten der Erfassung der vorhandenen Rechtsverhältnisse. Konkretisiert heißt dies, dass die Auslegung Gesetze ebenso wie "Schriften von Juristen" und Rechtsge- schäfte fokussiert.31 Mit der Auslegung seien Rechtswissenschaftler, Richter und Einzelne in der Ausübung von Rechtsgeschäften gleichermaßen befaßt, allen liege "als Gemeinsames zum Grunde eine bestimmte Weise, den Inhalt der Rechtsquellen aufzunehmen".32

Folglich liegt das Ziel der Auslegung nun nicht darin, möglichst exakt das Wort bzw. den Willen des Gesetzgebers nachzuvollziehen, sondern in der Ermittlung vorhandener Rechtsverhältnisse. Bei Savignys Definition vom Gesetz als dem vom Gesetzgeber geschaffenen schriftlichen Ausdruck der bestehenden Rechtsverhältnisse bzw. positiven Rechts bedeutet dies die Hinwendung zum Träger des Rechts durch Auslegung anhand des Gesetzes.33 Auch hier gilt, dass Gesetzesauslegung im Wortsinn nur ein Unterfall einer allgemeinen Suche nach vorhandenem Recht in seinen verschiedenen Ausprägungen ist.

3.3.2 Die Doppelnatur des Rechts

Mit seiner Konzeption wendet sich Savigny gleichermaßen gegen die rein naturrechtliche Position, wonach Recht kraft Übereinstimmung mit der Vernunft gilt, und der rein positivistischen Position, welche die Geltung ausschließlich auf beliebige Setzung zurückführt. Seinem Verständnis von der "Natur des Rechts" nach führe nur die Synthese beide Stränge -das individuelle, jedem Volke angehörende Element und das allgemeine, auf der menschlichen Natur beruhende Element- weg von den Abwegen zu kurz greifender, schädlicher Auffassungen hin zum einzig richtigen, umfassenden Rechtsverständnis. Die Gültigkeit des Rechts beruht auf dessen "gewordenen Geltung"34, in der Bewältigung der geschichtlichen Aufgabe insgesamt. Dem gesetzten recht dürfe aber keine bestimmende Rolle bei der Entwicklung eingeräumt werden, genauso wenig wie die Vernunft bzw. Natur des Menschen alleine ausreiche, die Rechtsverhält- nisse zu beschreiben.

Savigny bestimmt diese Doppelnatur des Rechts nicht näher, eine positive Abgrenzung wird nicht vorgenommen, obwohl durch die negative seine Konzeption schon hinreichend deutlich hervortritt. Erfaßbar wird der Doppelcharakter aber erst in der konkreten geschichtlichen Lösung, in der Betrachtung der rechtlichen Realität zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einerseits und in der Idealität als Ausdruck der menschlichen Natur im Recht andererseits.

3.3.3 Die Elemente der Auslegung

Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich die Notwendigkeit einer vom jeweiligen Interpreten bzw. dessen Tätigkeit unabhängigen Methode der Auslegung, welche Savigny in vier Elemente35 kategorisiert: die grammatische (grammatikalische), die logische, die historische und die systematische Auslegung.

Um den "Gedanken" eines Gesetzes erfassen zu können, bedürfe es zunächst hinreichender Kenntnisse über den historischen Kontext seiner Entstehung. Dabei solle die historische Bearbeitung die Jurisprudenz immer als fortschreitenden Prozess verstehen und als systematischen Rahmen immer die Geschichte der Jurisprudenz im "Ganzen" annehmen, um dem o.e. Erfordernis der Anwendbarkeit auf Teilstelle und Gesamt- körper gerecht werden zu können.36 Die systematische Bearbeitung, quasi der philosophische Teil der Betrachtung, suche nach der Entwicklung der Begriffe, der Darstellung der Rechtssätze nach ihrem "inneren Zusam- menhang und auch nach der Ausfüllung von Gesetzeslücken." Die eingeschränkte Zulassung der Analogie beruht auf der Vorstellung, dass es sich bei einer fixierten Norm um eine spezielle Regel handelt, welche auf eine "höhere Regel" reduziert bzw. abstrahiert wurde, in der Anwendung jedoch immer wieder speziell geregelte Fälle nach der höheren Norm entschieden werden. Die Auslegung dürfe jedoch weder zu einer extensiven noch restriktiven Interpretation führen, d.h. weder eine den Wortlaut erweiternde noch einschränkende Auslegung sei erlaubt, und zwar deshalb nicht, weil im Gesetz selbst nicht der Zweck des Gesetzes zum Ausdruck gebracht worden ist. Dieser müsse vom Interpreten "künstlich" gefunden und herbeigeführt werden.37 Der Grund sei niemals allgemeine Regel, sondern diene -wenn er schon angegeben ist- nur zur Erläuterung der aus ihm erfolgenden Norm.

Im Gegensatz zur Frühschrift stellt Savigny durch die Stärkung des systematischen Elements viel mehr auf den "Gedanken" als auf den Wortlaut des Gesetzes ab. Er orientiert auf die "geistige Tätigkeit", welche der Gesetzesfindung vorausgegangen ist und rückt vom strengen Gesetzespositivismus weit ab. Besonders deutlich wird diese Abkehr in seinen Ausführungen über den Zweck bzw. den Grund des Gesetzes. Nach wie vor müsse dieser vom Inhalt getrennt bleiben, jedoch sei "mit großer Vorsicht"38 seine Verwendung dann zulässig, wenn im Falle der Unbestimmtheit eines vom Gesetz verwandten Ausdrucks der "innere Zusammenhang der Gesetzgebung" herangezogen werden könne, sofern er aus dem Gesetz selbst nachweisbar sei. Ist dabei ein spezieller Zweck nicht nachweisbar, so könne auch ein allgemeinerer Grund angenommen werden. Auch hierin findet sich ein Wandel in Savignys Verdikt über die sehr enge Auslegung am Wortlaut des Gesetzes wieder. Zur Berichtigung eines mangelhaften Ausdrucks dürfe zunächst auf historischem Weg der Gedanken des Gesetzgebers nachvollzogen werden, um im zweiten Schritt mit dem "inneren Zusammenhang" den speziellen Grund des Gesetzes zu erörtern. Sei nun auf diese Weise der "wirkliche Gedanke des Gesetzes"39 erkannt, so könne der mangelhafte Ausdruck danach berichtigt werden. Sinn der Berichtigung ist die Verhinderung der ihrem ursprünglichen Zweck entgegenstehende Anwendung der Norm, und so wird ferner die "wahre Grenze der Norm zu finden" sein.40 Dennoch will Savigny dem Ausleger nicht grundsätzlich gestatten, die Frage nach der ratio legis zu stellen, weil die Kenntnis des Gesetzesgrundes ihrerseits mehr oder weniger gewiß sei.41 Dennoch müsse ein Gesetz auch dann ausgelegt werden können, wenn es jeglicher ratio entbehre, denn deren Fehlen könne den Geltungsgrund der Norm nicht schwächen. Eine in unserem Sinne teleologische Auslegung verwarf Savigny auch weiterhin trotz der angeführten "Aufweichungen" dieser positivistisch motivierten harten Haltung als unzulässig, da sie in gewissen Sinne auch im Widerspruch zu seiner "Volksgeistlehre" stünde. Savigny, der keinem der vier Elemente einen Vorrang einräumt, unterscheidet aber zwischen der Auslegung bei "gesundem Zustand" und "mangelhaftem Zustand" des Gesetzestextes. Der "gesunde Zustand" beschriebt den Fall der Eindeutigkeit und absoluten Klarheit des im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Rechtsverhältnisses, wodurch kein Hinderungsgrund denkbar sei, den wahren Inhalt des Gesetzes anzuer- kennen.42 Ausdruck und Gedanke stehen in perfekter Harmonie, so dass kein Problem für die vollständige und sichere Einsicht in den Inhalt entstehen kann. Ergo können alle vier Elemente der Auslegung in vollem Umfang zum Einsatz gebracht werden.

Der schon beschriebene "mangelhafte Zustand", die Unbestimmtheit also, zieht eine etwas andere Methodik bei der Auslegung nach sich: die Kriterien heißen jetzt "innerer Zusammenhang der Gesetzgebung", "Zusammenhang des Gesetzes mit seinem Grunde" und "innerer Wert des aus der Auslegung hervorgehenden Resultats."43 Der Unterschied zum Erstgenannten Verfahren besteht nun -abgesehen von der schon ausgeführten bedingten Heranziehung des telos - in der hierarchischen Stufenfolge der Elemente gegenüber der vorherigen Gleichrangigkeit. Savigny läßt die Methode sogar für die Auslegung von Rechtsquellen im ganzen zu (womit er sich auf widersprüchliche Textklassen des Corpus Iuris bezieht).

3.4 Die "wahrhaft historische" Methode

Mit der Aufstellung der Auslegungsprinzipien und der Verbindung der empirischen Faktizität der (Rechts-)Geschichte mit der abstrakten Philosophie und Rechtsphilosophie entwickelte Savigny also, was er letztlich als "wahrhaft historisches" Recht bzw. Methode bezeichnete. Erst dieser Schritt ließ seiner Auffassung nach die Gesetzeskunde zur echten, ebenbürtigen Wissenschaft aufsteigen auf der Suche nach dem nach im Kant'schen Sinne eigenen "Prinzipien geordneten Ganzen".44 So schafft er die Verbindung der cognitio ex datis mit der cognitio ex pricipiis zu einem neuen Geschichtsverständnis. Gleichzeitig stellt seine mit der Auslegungslehre entwickelten Dogmatik eine Abkehr von der "alten" Rechtsgeschichte dar, die bei allen Abwandlungen noch heute den Rahmen der Interpretationsdogmatik gibt, wobei doch festzuhalten ist, dass eine dogmatische Ordnung nach den Prinzipien eines positiven Rechts keine Ordnung nach eigenen Prinzipien, sondern nach denen eines Gesetzgebers ist.45

4. Savignys Bedeutung für die Folgezeit - Kritiker und Schüler

Der maßgeblich von Savigny mitbestimmte Prozess des Erwachens der Reflexion auf die Geschichtlichkeit leitete eine Entwicklung ein, welche heute noch nicht ihr Ende gefunden hat: Erstmalig trat die Beziehung des Sollens auf das geschichtliche Sein , der Rechtsnorm auf die Wirklichkeit ins Bewußtsein der Rechtswissenschaft.46 Nahezu alle wesentlichen Begriffe und Strömungen des 19. Jahrhunderts nehmen Bezug auf diese Entwicklung, neben Savignys eigener Volksgeistlehre auch Puchtas Juristenrecht, Beselers Volksrecht, Jherings Zweck im Recht und Gierkes Genossenschafts- und Sozialrecht. Allesamt verbindet sie der Entwurf für die Rückgewinnung der Identität und des rechtlichen und rechtswissenschaftlichen Bewußtseins mit der nun entdeckten Geschichtlichkeit und der Gesellschaftlichkeit im nationalen oder sozialen Zusammenhang.

Die Pandektistik oder Pandektenwissenschaft als Ergebnis der umfassenden Historisierung des Rechts schuf einen neuen Wissenschaftsstil auf dem theoretischen Fundament der historisch- systematischen Methode47 und mit dem Ziel, ein dogmatisch widerspruchsfreies, neues Rechtssystem zu formen, welches den rechts- politischen Programmen und Bedürfnissen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des 19. Jahrhunderts entsprach. So hat die Pandektistik als die Partikularrechte übergreifende Rechtsdogmatik des gemeinen Rechts auch Wirkung auf das Rechtsdenken im europäischen Ausland entfalten können, insbesondere in der Schweiz, Österreich, Italien und England.

Die Folge der Überbetonung des Römischen Rechts war eine Distanz des Rechts zur Praxis, da das Römische Recht, wie es von Vertretern der Historischen Schule gelehrt wurde, nur sehr bedingt den Bedürfnissen des Rechtsalltages entsprach. Fraglich ist, ob Savigny durch die Vereinigung von historischer und systematischer Methode nicht im Grunde eine Erneuerung der naturrechtlichen Begriffsbildung und Systematik bewirkt hat,48 welches er ursprünglich überwinden wollte. Oder handelt es sich um eine konservative Variante der positivistischen Recht-Setzungsideologie, wo doch auch Savignys geschichtlich bewährtes Recht bloß eine beliebige Setzung darstellt.49

Jedenfalls wandelt sich die Rechtslehre in der unmittelbaren Folgezeit Savignys erheblich, so dass Windscheid wenige Jahre nach dessen Tod formulieren kann, der Traum des Naturrechts sei ausgeträumt.50 Natürlich fehlte es auch zu Lebzeiten nicht an Kritikern: Neben dem erwähnten Thibaut protestierte vor allem Hegel gegen seinen "gesetzgeberischen Quietismus" und Marx tat die Volksgeistlehre als rein antiquarischer Bemühen ab ("Sie mute dem Schiffer an, nicht auf dem Strome, sondern auf der Quelle zu fahren.").

Direkte Wirkung entfaltete der Systemgedanke Savignys auf jeden Fall in der Bedeutung des aus den Rechtsbegriffen gebildeten "wissenschaftlichen" Systems und bildete damit den Ansatz zur "Begriffsjurisprudenz", die von seinen Schülern entwickelt wurde.51

5. Würdigung und Schluß

Savigny war von Anfang an für die Forderung nach einer Verknüpfung von "historischer" und "systematischer" Methode und damit der Erste, der eine systematisch-umfassende Methodik entwickelte, die die Entstehung jedes Gesetzes gerade in einer bestimmten historischen Situation erfaßte. Damit erweitert er das Verständnis der historisch orientierten Rechts- wissenschaft um ein entscheidendes Merkmal der Betrachtung der Rechtsverhältnisse, löst sie aber gleichzeitig aus dem Rahmen der "bloßen" geschichtlichen Wissenschaft heraus und begründet eine Trennung, auf deren Eigenständigkeit die Rechtswissenschaft als Disziplin noch immer basiert. Der Vorteil besteht unmittelbar in der Möglichkeit der Untersuchung der Besonderheit von Rechtsverhältnissen aus verschiedenen Blickwinkeln heraus, von denen Savigny sagen würde, dass sie erst in der Gesamtschau das tiefere Verständnis für die Norm in Speziellen bzw. die Rechtsverhältnisse im Allgemeinen ermöglichen.

Das anfängliche Fehlen einer auf den Zweck einer Norm abstellenden Gesetzesauslegung, bedingt durch den strengen Positivismus im Früh- werk Savignys, behebt er durch die Aufnahme der Regeln zur Auslegung von Gesetzen bei "mangelhaftem Zustand" nun weitgehend selbst, lässt dabei sogar in weitem Rahmen Analogie zu, ohne dies jedoch so klar und explizit schriftlich niederzulegen. Trotz aller Weiterentwicklungen hat er damit den Grundstein und immer noch gültigen Rahmen für die heutige Auslegungsdogmatik gelegt.

Umstrittener ist seine Volksgeistlehre: Erscheint es doch sinnvoll, die gesetzte Rechtsordnung nicht als völlig zufällige Setzung zu bezeichnen und sich des Umstandes bewußt zu werden, dass sie zumindest in Teilen Ausfluss der lebendige Kultur ist, so legt er mit der Schärfe und Entschiedenheit seiner Ablehnung einer durchaus möglichen "prägenden" Rolle des normierten Rechts einen Steuerungsnihilismus an den Tag, der zu Recht Kritik erfuhr. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich auch der Gesetzgebungsprozess auch zur Zeit Savignys als Aushandlungs- prozess darstellt, wobei sich nicht der "pure Volksgeist" im Verlauf herauskristallisiert, sondern Interessen durchgesetzt werden. Letzten Endes findet sich aber auch dieser Gedanke in der von ihm verfochtenen doppelten Verankerung des Rechts in Idee und Wirklichkeit wieder.

Literaturverzeichnis

1. Quellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2. Sekundärliteratur:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S.354.

2 ebd., S.357.

3 Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, S. 123.

4 Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S.345.

5 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794.

6 Wesenberg, Neuere Deutsche Privatrechtsgeschichte, S.139f.

7 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.12.

8 Wieacker, a.a.O., S. 353.

9 Kollegschrift, zitiert nach Larenz, S.10.

10 Savigny, Das System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, S.46.

11 Savigny, a.a.O., S. 331.

12 Wieacker, a.a.O., S.356.

13 Wesenberg, a.a.O., S.141.

14 Wieacker, a.a.O., S.357.

15 im "De l'esprit des loix" von 1748.

16 Wieacker, a.a.O., S.358.

17 Savigny, Vom Berufe unserer Zeit, S.117.

18 Eisenhardt, a.a.O., S.348f.

19 Eisenhardt, a.a.O., S.343f.

20 Schlosser, a.a.O., S.121f.

21 Wesenberg, a.a.O., S.142.

22 Savigny, System I, S.14.

23 Wesenberg, a.a.O., S.143.

24 Schlosser, ebd.

25 Savigny, System, S.206f.

26 Hattenhauer, Zur Rechtsgeschichte und Dogmatik der Gesetzesauslegung, S.141.

27 Savigny, System, S.296.

28 Savigny, Beruf, S.28f.

29 Rückert, Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, S.33.

30 Savigny, Pandektenvorlesung 1824/25, S.3.

31 Rückert, a.a.O., S.34f.

32 Savigny, System I, S.206.

33 Rückert, ebd.

34 Rückert, a.a.O., S.37.

35 Die Bezeichnung "Elemente der Auslegung" findet sich bei J.Rückert, der ausführt, das alle vier Bestandteile der einen Auslegungsmethode sind. Andere (H.Schlosser oder H.Hattenhauer z.B.) sprechen von vier Auslegungsmethoden. Rückert jedoch führt führt Savigny selbst an, wonach alle vier Komponenten miteinander "vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll" (Savigny, System I, S.215).

36 Larenz, a.a.O., S.12.

37 ebd.

38 Savigny, System I, S.220.

39 Savigny, System I, S.233.

40 Savigny, a.a.O., S.234.

41 Hattenhauer, a.a.O., S.142

42 Savigny, a.a.O., S.222.

43 Rückert, a.a.O., S.50.

44 Rückert, a.a.O., S.39.

45 Hattenhauer, a.a.O., S.143.

46 Wieacker, a.a.O., S.358f.

47 Schlosser, a.a.O., S.125.

48 ebd.

49 Rückert, a.a.O., S.37.

50 zitiert nach Wesenberg, a.a.O., S.146.

51 Larenz, a.a.O., S.18, der vor allem G.F.Puchta nennt.

Excerpt out of 18 pages

Details

Title
Die Methodenlehre Savignys
College
Justus-Liebig-University Giessen
Course
Seminar Methodenlehre in der Rechtswissenschaft
Grade
16 Punkte
Author
Year
2002
Pages
18
Catalog Number
V106574
ISBN (eBook)
9783640048533
File size
430 KB
Language
German
Notes
Vorl. Arbeit gibt eine kurze Einführung in die Methodenlehre Savignys, unterscheidet zw. Frühwerk und späten Schriften und versucht eine Einordnung in den historischen Kontext.
Keywords
Methodenlehre, Savignys, Seminar, Methodenlehre, Rechtswissenschaft
Quote paper
Thomas Winhold (Author), 2002, Die Methodenlehre Savignys, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106574

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