Zur (Re-)Produktion heteronormativer Geschlechterverhältnisse im Kindesalter

Eine kritische Betrachtung von Kinderbüchern und die Rolle der sozialen Arbeit


Bachelor Thesis, 2020

71 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1. Einleitung

2. Theoretische Rahmung
2.1 Geschlecht und Geschlechterkonstruktion
2.1.1 Geschlecht als Differenzkategorie
2.1.2 Unterscheidung sex/gender
2.1.3 Doing Gender
2.2 Heteronormativität -eine Begriffsannäherung
2.2.1 Folgen von Abweichung der Heteronorm
2.3 Sprache und Geschlecht
2.3.1 Diskurse
2.3.2 Sprachhandlung(en)
2.3.3 Geschlechtergerechte Sprache
2.4 Geschlechterverhältnisse/Geschlechtersozialisation im Kindesalter

3. Kinderbuchliteratur
3.1 Zur Bedeutung von Kinderbüchern
3.2 Charakteristika von Bilderbüchern

4. Zur Analyse heteronormativer Geschlechterverhältnisse in Kinderbüchern
4.1 Aktueller Forschungsstand
4.2 Forschungsgegenstand/Forschungsfrage
4.3 Auswahl der Bücher
4.4 Methodisches Vorgehen
4.5 Auswertung
4.6 Ergebnisse

5. Vorurteilsbewusste Kinderbücher
5.1 Zur Relevanz vorurteilsbewusster Kinderbücher
5.2 Vorurteilsbewusste Kinderbücher -ein Beispiel

6. Konsequenzen für die Rolle der Sozialen Arbeit
6.1 Diversitätssensible Soziale Arbeit
6.1.1 Intersektionalität als diversitätssensibler Ansatz
6.2 Geschlechterbewusste Soziale Arbeit

7. Fazit

8. Anhang

9. Literarturverzeichnis

Abstract

Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit heteronormative Vorstellungen von Geschlecht im Kindesalter durch Kinderbücher (re-)produziert werden. Die Thematik wird zunächst in einem wissenschaftlichen Kontext um Geschlecht, Heteronormativität, Diskurs, Sprache und den damit anknüpfenden Machtstrukturen beleuchtet. Anhand der vorliegenden Analyse, welche 16 aktuelle und (teils) populäre Bilderbücher in Anbetracht verschiedener Aspekte auf ihre Darstellungen von Geschlecht untersucht, wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese einem heteronormativen Schema verhaftet bleiben. Hinsichtlich der Ergebnisse der vorliegende Arbeit und der Erkenntnisse bisheriger Studien, welche klar erkennbar machen, dass sich Bilderbücher nach wie vor an heteronormativen Vorstellungen von Geschlecht orientieren, wird danach gefragt, wie die Soziale Arbeit einen adäquaten Umgang finden kann, um mit Diversität und Differenz umzugehen und welche Kompetenzen von Professionellen der Sozialen Arbeit dabei im Hinblick auf geschlechtergerechte Pädagogik erwartet werden.

1. Einleitung

Obgleich wir uns in einem ständigen Wandel von Digitalisierung und neuen Lehr- und Lernmethoden befinden, scheinen Bücher sich nach wie vor als konstantes Medium in der Welt der Kinder zu erhalten. Wenn wir zurück an unsere Kindheit denken, sind wir möglicherweise noch immer fasziniert von den Figuren, die wir bewundert haben und wir schreiben ihnen noch heute eine wichtige Bedeutung zu. Dies zeigt, dass (Kinder)Bücher als Medium eine besondere Rolle einnehmen: Sie werden nicht einfach nur konsumiert, sondern klingen in uns nach, prägen bestimmte Vorstellungen über uns, die Familie, die Menschen und die Welt um uns herum. Dazu gehören auch Vorstellungen über Geschlecht, Identität oder Sexualität. (Kinder)Bücher sind fantasieanregend und können uns in unglaubliche Welten und andere Universen versetzen. Dennoch spiegeln sie auch immer einen Teil der Gesellschaft wider. Sie sind nicht frei von normativ geprägten Vorstellungen, da auch die Fantasien und Ideen der Autor*innen nicht frei von gesellschaftlichen Normen und Werten sind. Das Hinterfragen von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen, welche durch jene Normen und Werte bedingt werden, war schon immer Teil meiner Motivation im Studium. Dies hat mich stets zu der Frage zurückgeführt, inwieweit eine Unterbrechung oder ein Umdenken solcher Strukturen und verfestigten Vorstellungen von Geschlecht, Identität und Sexualität möglich ist. In alltäglichen Situationen als auch in Situationen pädagogischer Arbeit, in dem Geschlecht eine relevante Bedeutung gespielt hat, habe ich mir oft die Frage gestellt, ob und inwieweit Aufklärung und Sensibilisierung von geschlechterspezifischen Situationen dazu beitragen können, mehr Gleichberechtigung auf realer Ebene herzustellen. Inwieweit besteht die Möglichkeit, als Professionelle innerhalb eigener Grenzen und Vorstellungen über Geschlecht gesellschaftliche Zustände zu hinterfragen, um so eine Veränderung hinsichtlich gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse anzustreben?

Das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit gilt insbesondere dem Bilderbuch, welches als sozialisierender Faktor der Kindheit angesehen wird. Das Thema Geschlecht und Geschlechterkonstruktion rückt in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Wissenschaft und spielt zudem in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen eine bedeutende Rolle. Die Tendenz geht dazu, traditionelle Vorstellungen von weiblich und männlich aufzubrechen, um so Chancengleichheit auf realer und nicht nur auf rechtlicher Ebene herzustellen. Zudem geht es nicht (mehr) nur um die binäre Sicht von Geschlecht, sondern auch darum Menschen, die sich nicht innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit verorten, mitzudenken und diese auch auf sprachlicher Ebene sichtbar zu machen. In der heutigen pluralistischen und diversen Gesellschaft sind unzählige Lebensrealitäten und Identitäten denkbar. Die Frage ist - werden diese auch (öffentlich) gesellschaftlich repräsentiert? Werden diese in Medien, wie etwa dem Bilderbuch, welches viel genutzt und besonders in der frühen Kindheit in vielen Bildungseinrichtungen und Familien eine tragende Rolle spielt, mitgedacht? Werden verschiedene Geschlechteridentitäten und Lebensweisen tatsächlich sichtbar gemacht? Können alle Kinder sich und ihre Lebensrealität in Bilderbüchern wiederfinden? Oder nur solche, die innerhalb einer klassischen Vater-Mutter-Kind Familie großwerden? Und welche Verantwortung kommt der Sozialen Arbeit dabei hinsichtlich diverser Konzepte von Geschlecht und Sexualität zu?

Die Arbeit soll der Frage nachgehen, inwieweit Bücher normative Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität transportieren und ob diese nach wie vor (ausschließlich) heteronormative Lebensformen abbilden.

Zunächst soll dazu eine Annäherung an den wissenschaftlichen Begriff von Geschlecht stattfinden. Der erste Bestandteil der Arbeit basiert auf den Ergebnissen der umfangreichen Literaturrecherche zum theoretischen Wissen um Geschlecht, Geschlechterkonstruktion, Geschlechtersozialisation, Heteronormativität und dessen Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben. Außerdem soll der Diskursbegriff kurz umrissen und die Bedeutung von Sprache und Sprachhandlungen hervorgehoben werden, um die damit verbundenen Macht- und Ungleichverhältnisse, sichtbar zu machen, welche in Bezug auf Geschlecht in der Gesellschaft vorherrschend sind.

Nachfolgend soll die Bedeutung von Kinderbüchern als Medium der frühen Kindheit thematisiert und die besonderen Charakteristika von Bilderbüchern hervorgehoben werden.

Der analytische Teil der Arbeit umfasst eine Untersuchung von 16 ausgewählten Bilderbüchern. Eine kurze Zusammenfassung der bisher durchgeführten Studien, bezüglich der Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern, soll zunächst einen Überblick des aktuellen Forschungsstandes schaffen. Anschließend soll der Forschungsgegenstand, die Begründung der Auswahl der Bücher sowie das methodische Vorgehen näher erläutert werden. Daraufhin werden in Anbetracht der Auswertung der untersuchten Kriterien, die Ergebnisse der Analyse aufgeführt. Anknüpfend wird die Frage beantwortet, inwieweit die untersuchten Bilderbücher an heteronormativen Vorstellungen verhaftet bleiben. Ausgehend von den Ergebnissen soll die Bedeutung vorurteilsbewusster Kinderbücher hervorgehoben werden, welche unter Anderem den Anspruch verfolgen explizit gegen heteronormative Vorstellungen zu steuern und stattdessen vielfältige(re) Bilder von Geschlecht, Sexualität und Familie zu transportieren.

Der letzte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle der Sozialen Arbeit, welche sich im Hinblick auf Heteronormativität fragen muss, inwieweit diversitätssensible Pädagogik ihren Teil dazu beitragen kann, verschiedene Geschlechter und Identitäten sichtbar zu machen. Dazu soll eine intersektionale Perspektive hinzugezogen werden, welche als diversitätssensibler Ansatz Macht- und Ungleichheitsverhältnisse in einem komplexen Zusammenhang zu hinterfragen versucht. Anknüpfend daran wird hinsichtlich geschlechtersensibler bzw. geschlechtergerechter Pädagogik danach gefragt, welche Kompetenzen und Fähigkeiten Professionelle mitbringen müssen, um einen adäquaten Umgang innerhalb pädagogischer Praxis mit Geschlecht und insbesondere mit Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern zu finden.

In einem abschließenden Fazit soll Bezug auf die erarbeitete Forschungsfrage genommen sowie die vorliegenden Ergebnisse der Untersuchung und die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit zusammengefasst werden.

2. Theoretische Rahmung

Nachfolgend werden grundlegende Begrifflichkeiten und theoretische Hintergründe geklärt, die bedeutsam für den Kontext der vorliegenden Arbeit sind. Teil der Arbeit ist das Infragestellen und Problematisieren von normgeleiteter Sprache. Sprache wird dabei unter anderem als eine Handlung verstanden, welche in unserem täglichen Leben eine hohe Wirkungsmacht besitzt1. Um den Mechanismen, welche bewusst und unbewusst dazu verwendet werden, Menschen in Sprache auszuklammern und unsichtbar zu machen, entgegen zu steuern, soll trotz der Selbstverständlichkeit von gegenderter Sprache in wissenschaftlichen Texten darauf hingewiesen werden, welche Bedeutung den hier verwendeten gegenderten Schriftzeichen zukommt. Die vorliegende Arbeit verwendet den Gender*Stern2. Dieser soll die Binarität von Geschlecht in Frage stellen und auf die Vielfältigkeit und Dynamik von Geschlecht hinweisen. Im Folgenden wird Geschlecht in einem wissenschaftlichen Zusammenhang und als soziale Kategorie betrachtet und der damit einhergehende Diskurs um Heteronormativität und Binarität thematisiert. Die hier dargestellten Annahmen über Geschlecht und Sexualität bilden die Grundlage der vorliegenden Arbeit und dienen zur Orientierung und Einordnung von wichtigen Begrifflichkeiten. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da dies in dem Umfang der Bachelor-Arbeit nicht gewährleistet werden kann.

2.1 Geschlecht und Geschlechterkonstruktion

Das folgende Kapitel soll einen Überblick darüber verschaffen, was unter Geschlecht in einem wissenschaftlichen Kontext verstanden wird, wodurch Geschlecht hergestellt wird und welche Wirkungsmacht Geschlecht als soziales Konstrukt im Alltag und im gesellschaftlichen Zusammenleben besitzt. Ausgehend davon wird Bezug auf die normativen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität genommen. Abschließend soll für das Vorgehen der weiteren Arbeit einen Überblick geschaffen werden, inwieweit Geschlechterverhältnisse im Kindesalter wirken und welche entwicklungspsychologischen Kenntnisse hierbei vorliegen.

2.1.1 Geschlecht als Differenzkategorie

Eine der vielen Antworten auf die sehr komplexe Frage, was Geschlecht ist kann zunächst als eine Frage der Identität beantwortet werden und beschreibt demnach eine Zugehörigkeit anhand dessen Menschen unterschieden werden. Diese Unterscheidung wird in unserem Alltag als etwas Selbstverständliches und vor allem natürliches, nicht hinterfragbares Wissen betrachtet. Dieses Wissen geht mit der Zuweisung an das eine oder das andere Geschlecht einher, welches von Geburt an festgelegt wird. Demnach ist nicht nur die Geschlechtszugehörigkeit eine „nicht weiter begründungsbedürftige[] Selbstverständlichkeit[] unseres Alltagswissens“ (Wetterer 2010: 126) sondern auch die Zweigeschlechtlichkeit, welche die Binarität der Geschlechter betont und das Vorhandensein von ausschließlich zwei Geschlechtern postuliert (vgl. ebd.: 126). Welche Auswirkungen die binäre Sichtweise auf Geschlecht hat soll im Kapitel 2.2 um Heteronormativität thematisiert werden.

Neben der von Geburt an zugeschriebenen Geschlechtszugehörigkeit und der damit einhergehenden Vorstellung, dass Geschlecht unmittelbar mit Identität zusammenhängt bzw. dass Identität auf Geschlecht basiert wird gender insbesondere in einem soziologischen Verständnis als eine Analysekategorie gewertet. Diese basiert ähnlich wie die Kategorien class oder race 3 auf keiner natürlichen oder biologischen Gegebenheit. Die Kategorien, welche in sozialwissenschaftlichen Kontexten als Differenzlinien bezeichnet werden, sind demnach sozial konstruierte Wirklichkeiten, „entlang derer Individuen sozial positioniert werden bzw. sich selbst entlang dieser Kategorien positionieren“ (Mecheril / Plößer 2018: 286) Sie erhalten durch die Mechanismen der Differenzierung einen realen Charakter, welcher uns im gesellschaftlichen Zusammenleben als naturgegeben und unveränderbar erscheint und somit soziale Ungleichheiten legitimiert (vgl. Degele 2008: 97).

Das Zusammenwirken dieser und weiterer sozial relevanter Kategorien wird im Konzept der Intersektionalität sichtbar. Dieses wurde erstmals von der Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt und verweist auf die wechselseitigen Aspekte von Mehrfachdiskriminierung. Dabei wird auf eine rein additive Sichtweise von Diskriminierung verzichtet, da der Fokus der Analyse auf den Verwob enhei ten ‘ oder ,Überkreuzungen‘ (intersections) [Hervorhebung im Original]“ (Walgenbach 2017: 55) verschiedener sogenannter Differenzkategorien liegt, welche in ihrer Komplexität zueinander untersucht werden.

Hervorgebracht durch die Autorinnen des Combahee River Collective, kann das Konzept der Intersektionalität historisch in den Frauenbewegungen der 1970er und 1980er Jahren verortet werden. Hier wurde insbesondere die Kritik am Mainstream Feminismus laut, welcher ausschließlich „die Interessen weißer [Hervorhebung im Original], westlicher, heterosexueller Frauen aus der Mittelschicht“ (ebd.: 56)4 vertrat und somit viele andere Lebensrealitäten exkludierte (vgl. ebd.: 54-57). Die Benachteiligung von Frauen und die Ungleichheitsverhältnisse von Geschlecht wurden so zwar sichtbar gemacht, aber Schwarze5 sowie queere Frauen fanden sich hierin nicht wieder, da sich ihre Betroffenheit von Diskriminierung nicht ausschließlich auf ihr Frau-sein oder Schwarz-sein bezog, sondern auf ihr Schwarzes Frau-sein (vgl. Crenshaw 2019: 159). Diese Perspektive setzt ein komplexes Verständnis von Diskriminierung voraus und zeigt den besonderen Bedarf der Betrachtungsweise einer mehrdimensionalen Analyse.

Neben gender werden am häufigsten race und class als Kategorien der Analyse hinzugezogen. Die folgende Arbeit thematisiert hauptsächlich gender als Kategorie, dennoch soll betont werden, dass diese nie unabhängig von anderen sozialen Kategorien ist, welche innerhalb gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsverhältnisse wirksam werden. Die Kategorisierung von Geschlecht als Identitäts- und Differenzmerkmal dient nicht nur „der Einordnung und Klassifizierung“ (Rendtorff / Moser 1999: 16) von Menschen, sondern sie gibt ferner an welche „gesellschaftliche[n] Aspekte und Bedeutungen“ (Rendtorff / Moser 1999: 17) mit der Zuschreibung an das jeweilige Geschlecht verbunden und mit welchen Erwartungen diese verknüpft sind.

2.1.2 Unterscheidung sex/gender

Erwartungen, welche mit der Vorstellung von einer vermeintlich natürlichen Gegebenheit von Geschlecht einhergehen, werden vielfach in konstruktivistischen Ansätzen diskutiert und kritisch betrachtet. Es gibt eine Vielzahl an6 Studien und Auseinandersetzungen, welche sich anhand unterschiedlicher Zugänge mit dem Thema der sozialen Konstruktion des Geschlechts beschäftigen. Aufgrund der Fülle und der innerhalb der konstruktivistischen oft kontrovers geführten Diskurse, ist nach Wetterer (2010: 129) eine „einheitliche[] Theorie der Geschlechterkonstruktion“ nur schwer ersichtlich. Allerdings ist allen die Frage gemein, in welchem Verhältnis Natur und Kultur7 zueinanderstehen und wodurch sie sich wechselseitig bedingen. Hierin spiegelt sich die „seit den 1960er-Jahren [.] entwickelnden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschlecht“ (Villa 2019: 23) und der Debatte darum, ob eine Abgrenzung von sex und gender möglich ist. sex meint hierbei den „biologischen Rohstoff des Weiblichen/Männlichen“ (ebd.: 23) und steht damit in Abgrenzung zu dem Begriff gender, welcher verdeutlichen soll, dass die Vorstellungen an Geschlecht und Sexualität kulturell erlernt und in Sozialisationsprozessen internalisiert worden sind. Durch diese Unterscheidung der Begrifflichkeiten sollen naturalisierende Vorstellungen von Geschlecht problematisiert und infrage gestellt werden (vgl. ebd.: 23). Demnach fungieren die Begriffe als eine Abgrenzung und wurden nach der Philosophin Judith Butler zunächst dazu genutzt, um „die Formel ,Biologie ist Schicksal‘ anzufechten“ (Butler 2019: 23f, Erstauflage 1991). So soll der Vorstellung entgegen gewirkt werden, dass männlich und weiblich konnotierte Verhaltensweisen eine natürliche biologische Voraussetzung erfüllen. Die Entkopplung der beiden Begrifflichkeiten schien für die Frauenbewegung zunächst als sehr gewinnbringend zu sein, da sich vermeintlich geschlechterbezogene Verhaltensweisen „nun als Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse deuten [ließ] (Degele 2008: 101). Dennoch stellte sich in feministischen Debatten anknüpfend daran die Frage, ob nicht bereits die Unterscheidung sex und gender eine vermeintlich natürliche biologische Gegebenheit des Geschlechts betont bzw. die Unterscheidung der vermeintlichen biologischen binären Geschlechter.

Judith Butler hat hierbei eine nicht unbedeutende Rolle in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sex und gender gespielt, in dem sie die bis zu diesem Zeitpunkt nicht angezweifelte Vorstellung sex sei der biologische, klar definierte Geschlechtskörper zu hinterfragen versuchte. In ihrer wissenschaftlichen Ausarbeitung „das Unbehagen der Geschlechter“8 grenzt sie die beiden Begrifflichkeiten nicht voneinander ab und postuliert, dass „sich dieses Konstrukt namens ,Geschlecht‘ vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht [erweist] wie die Geschlechtsidentität“ (Butler 2019: 24). Begründet sieht sie diese fehlende Unterscheidung darin, dass „die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts [.] in Wirklichkeit diskursiv produziert [werden]“ (ebd.: 23). In der Konsequenz dieser diskursive Herstellungsleistung gibt es nach Butler keine natürliche Geschlechtsidentität, zumindest keine die nicht diskursiv zu verorten ist.

Butler bezieht sich bei dem Begriff des Diskurses auf Michel Foucault, welcher den Diskurs Begriff geprägt hat9 und meint damit, die „Systeme des Denkens und Sprechens“ (Villa 2012: 20) und betont, dass diese immer in einen Machtkontext eingebettet sind. Der Diskurs als schaffender, produktiver Charakter wird immer in einem Gesamtkontext und nicht „als bloßes Abbild an sich bestehender Tatsachen“ (ebd.: 20) betrachtet. Sprache ist hierbei in einem größeren Zusammenhang zu denken, nämlich als ein Werkzeug, welches uns eine „symbolische Ordnung ermöglicht“ (ebd.: 21) , innerhalb dessen Bezeichnungen „intelligibel, also sinnvoll, verständlich sind“ (ebd.: 21). Butler geht der Frage nach, warum diese zunächst nicht hinterfragt werden bzw. nicht hinterfragt werden müssen. Sie betont, dass „die Geschlechtsidentität [...] nicht zur Kultur wie das Geschlecht [.] zur Natur [gehört]“ (Butler 2019: 24)., sondern dass das vermeintlich natürliche Geschlecht „vordiskursiv“ hergestellt wird und demnach die Geschlechtsidentität prägt (vgl. ebd.: 23f).

Diese vordiskursive Herstellungsleistung obliegt einem Machtkontext und bezieht sich auf „performative Sprechakte“ (Villa 2012: 28), welche sich einerseits auf bestehende, der Gesellschaft angehörige Konventionen beziehen und sich andererseits geschichtlich hervorbringen. Innerhalb dieser geschichtlichen Komponente werden Sprechakte konstituiert, weil sie nicht (nur) in diesem Moment wirksam sind, sondern durch ihren historischen Zusammenhang an Bedeutung gewinnen. Betont wird hierbei insbesondere, dass diese Bedeutung durch eine Wiederholbarkeit und Ritualisierung zustande kommt, welche sich sowohl auf die Vergangenheit beziehen als auch auf die Zukunft verweisen kann. Diese „eigene gesellschaftliche Zeitlichkeit“ (Butler zit. nach Villa 2012: 28) wie sie Butler nennt, beziehen sich nicht nur auf „juristische Systeme, bürokratische Organisationen, Bildungseinrichtungen, normativen Traditionen, Ideologien“ (ebd.: 28) sondern werden durch diese hervorgebracht und durch ihre ritualisierten Praktiken an bestehende Verhältnisse gefestigt. Performativität in Bezug auf Geschlecht ist nach Butler eine „permanentes Werden“ (ebd.: 74) welches sich im „Tun“ von Geschlecht äußert. Demnach ist „die Geschlechtsidentität ein Tun“ (Butler 2019: 49), „welches versucht den Anschein einer Substanz herzustellen und zu wahren“ (Villa 2012: 74). Der Substanz obliegt einer Vorstellung der vermeintlichen Natürlichkeit von Geschlecht und wird in diesem Kontext permanent durch performative Akte eingeübt (vgl. ebd.: 27-29).

2.1.3 Doing Gender

Das was Butler als Performativität bezeichnet, wird unter dem Konzept des „Doing Gender“ schon seit den 1960er Jahren untersucht und ist unter diesem Stichwort erstmalig 1987 von West und Zimmermann publiziert worden. Ausgangspunkt der Forschung war ähnlich wie bei Butler, eine „explizite[] und programmatische^ Abgrenzung zur gängigen ,sex-gender- Unterscheidung‘ [Hervorhebung im Original]“ (Gildemeister 2010: 137) zu schaffen. Das Konzept beschreibt Geschlecht nicht etwa als „Eigenschaft oder Merkmal von Individuen“ (ebd.: 137), sondern betont, dass die Geschlechtsidentität „im Zuge sozialer Interaktionsprozesse“ (Babka / Posselt 2016: 57) immer wieder neu hergestellt, reproduziert und verfestigt wird. Demnach beruht Geschlecht oder Geschlechtsidentität nicht auf natürlichen Unterscheidungen, sondern resultiert in „routinemäßiger und ritualisierter Selbstdarstellungs-, Interpretations- und Zuschreibungsprozesse[n]“ (ebd.: 57). Konkret sind damit alle Prozesse gemeint, die im Alltag Geschlecht hervorbringen wie „Kleidungs-, Ornamentierungs-, Konsum-, Betätigungs-, Verhaltens- und auch Sprechweisen [Hervorhebung im Original]“ (Kotthoff / Nübling 2018: 14).

Ihren Ursprung findet das Konzept in den „soziologischen Analysen zur Transsexualität“ (Gildemeister 2010: 137) von Harold Garfinkel. Er untersuchte im Rahmen seiner Studie „Agnes“ wie „komplexe ineinander verwobene und aufeinander verweisende Muster von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ [.]“ (ebd.: 139) eingeübt werden müssen, um als Frau oder Mann gelesen zu werden10. Dass die Geschlechtsidentität nicht aus dem bei Geburt zugeschriebenen Geschlecht resultiert, sondern aus einem Herstellungsprozess sozialer Praktiken wird erst dann sichtbar, wenn wie im Falle von „Agnes“ das Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität eingeübt werden muss, um als Frau wahrgenommen und anerkannt zu werden. Dieser Herstellungsprozess von Geschlecht wird im Alltag nicht als solcher erkannt und obliegt dem ritualisierten Charakter des „Doing Gender“ also den Routinen, die im Alltag als selbstverständlich erscheinen (vgl. ebd.: 139f).

Die Differenzen, welche sich aus den scheinbar naturgegebenen Unterschieden von Geschlecht ergeben, zeigen sich dann in den Erwartungen und Rollenvorstellungen, die an das eine oder das andere Geschlecht, welches entweder als männlich oder weiblich konstruiert wird, verknüpft sind. Innerhalb dieser binären Vorstellung von Geschlecht dienen die sozialen Praktiken und Interaktionen nicht nur als ein Ordnungsprinzip in der Welt, sondern werden auch durch jene hervorgebracht und verfestigt.

Im nächsten Abschnitt soll dargelegt werden, welche Funktionen sich innerhalb dieser zweigeschlechtlichen Ordnung ergeben, welche (Macht)Mechanismen für deren Aufrechterhaltung verantwortlich sind und welche Konsequenzen sich hieraus für das gesellschaftliche Zusammenleben ergeben.

2.2 Heteronormativität - eine Begriffsannäherung

Wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, stellt Heteronormativität ein Ordnungsprinzip unserer Welt dar und die binäre Einteilung von Geschlecht dient dementsprechend zunächst der Vereinfachung und Kategorisierung von Menschen, welche innerhalb unserer Lebenswelt eine hohe Wirkungsmacht besitzt. Die Vorstellung davon, dass es nur zwei Geschlechter gibt und diese bei Geburt anhand biologischer Merkmale klar identifizierbar sind, geht gleichzeitig auch davon aus, dass diese zwei Geschlechter „sich in ihrer Sexualität aufeinander beziehen“ (Degele 2005: 19). Vorausgesetzt wird dabei auch, dass alle Menschen sich in dieser binären Logik wiederfinden (müssen) und heterosexuelle Beziehungen als Idealzustand anstreben bzw. anstreben müssen. Demnach beschreibt Heteronormativität eine in der Gesellschaft wirksame Norm, welche einerseits eine klare Zuordnung von männlich oder weiblich verlangt und gleichzeitig deren sexuelles Begehren ausschließlich auf das jeweils andere richtet. Die heterosexuelle Lust wird hierbei als „natürlich und normal“ (Hartmann / Klesse 2007: 9) konstruiert, welche in ihrer Folge alle anderen sexuellen Begehren als Abweichung markiert. Hieraus ergeben sich eine Reihe an gesellschaftswirksamen Konsequenzen die sowohl im Alltag als auch in „Institutionen, Denkstrukturen und Wahrnehmungsmuster“ (Degele 2005: 19) sichtbar werden und über den Zugang von Privilegien entscheiden. Eine hierarchische Anordnung, die innerhalb dieses zweigeschlechtlichen Systems entsteht, bietet keinen Platz für andere Lebensweisen und Identitäten wie beispielsweise für intersexuelle, trans* oder queere Menschen11 (vgl. Degele 2005: 19). Sich als heterosexuell zu positionieren bedeutet demnach auch im Rahmen dieser gesellschaftlichen Ordnung einen Platz zu finden und als „gesellschaftliches Subjekt“ (Villa 2012: 69) wahrgenommen zu werden. Nach Butler findet diese Positionierung schon statt, bevor überhaupt andere Formen des Begehrens in Betracht gezogen werden können und beschreibt „Heterosexualität als einen ,äußere[n]‘ [Hervorhebung im Original] Zwang“ (ebd.: 69), welcher schlussendlich erst dazu führt, in der Gesellschaft als Individuum wahrgenommen und somit angenommen zu werden. Den Ausgangspunkt hierfür bildet „das Ideal der Reproduktion“ (ebd.: 70) welcher als naturalisierender Aspekt konstruiert wird, um die „Zwangsheterosexualität“ wie sie Butler nennt zu rechtfertigen bzw. zu legitimieren. Dieser naturalisierende Aspekt basiert auf der Vorstellung, dass Reproduktion ausschließlich auf natürliche Art und Weise innerhalb heterosexueller Lust und nur aufgrund von Zweigeschlechtlichkeit funktionieren kann (vgl. ebd.: 70).

Auf dieser Grundlage werden im Laufe des Lebens „soziale geschlechtertypische Rollenverläufe [.] zugewiesen“ (Haidle 2018: 16). Die Erwartungen, welche damit an die Verhaltens- und Handlungsweisen des jeweiligen Geschlechts verbunden sind, werden unter der Annahme von vermeintlich natürlichen Unterschieden und unter dem Deckmantel biologischer Erklärungen legitimiert. Viel eher sind die Unterschiede aber kulturell hergestellt und können in unterschiedlichen Lebensabschnitten sehr wirkungsmächtig sein und „weite Teile des sozialen Miteinanders bestimmen“ (ebd.: 16). So wird von Frauen erwartet, dass sie die tragende Rolle in der Erziehung der Kinder spielen, sowie Fürsorgetätigkeiten und Hausarbeit(en) übernehmen. Diese Art von Tätigkeit wird in einem kapitalistischen System allerdings nicht als Arbeit angesehen, da sie aufgrund des reproduktiven Charakters im Gegensatz zur produktiven und entlohnten Arbeit als weniger wertvoll für die Gesellschaft und deren Fortbestehen erachtet wird (vgl. Degele 2008: 63). Dass reproduktive Arbeit nach wie vor überwiegend von Frauen ausgeübt wird, mündet in der Vorstellung Frauen seien eher „verständnisvoll und emotional“ (Eckes 2010: 178) und somit für diese Art der Tätigkeit geeignet. Männern hingegen werden, aufgrund ihrer vermeintlichen Zielstrebigkeit und Dominanz, eher Kompetenzen im Außen zugeschrieben, welche in produktiver Lohnarbeit zum Tragen kommen (vgl. ebd.: 178). Demnach wird das männliche Geschlecht, innerhalb der heteronormativen Logik und gestützt durch das kapitalistische System, über das weibliche Geschlecht gestellt und privilegiert.

Geschlechterstereotype, wie etwa die der emotionalen und fürsorglichen Frau oder des rationalen und ökonomisch orientieren Mannes, bilden nach Eckes (2010: 178) „den Kern eines konsensuellen [Hervorhebung im Original], kulturell geteilten Verständnisses von den je typischen Merkmalen der Geschlechter.“ Hierin finden sich „traditionelle Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sind [.] [aber auch] darüber, wie Frauen und Männern sein sollen“ (ebd.: 178).

Innerhalb solcher Stereotype zeigt sich ebenfalls eine binäre Logik der Geschlechter, weil diese immer ein „entweder-oder“ voraussetzen, welches sich einerseits darauf bezieht, dass Geschlechtsidentität ausschließlich als Mann oder Frau denkbar ist und diese andererseits in ihren Rollenzuschreibungen und Geschlechterstereotype komplementär zueinanderstehen. (Abweichende) Identitäten müssen in diesem System der zweigeschlechtlichen Logik soziale Benachteiligung und Diskriminierung erfahren. Im Folgenden soll näher darauf eingegangen werden, welche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse mit der Ordnung von Heteronormativität verbunden sind und welche Folgen das für jene Menschen hat, die sich abseits der gesellschaftlich normativen Vorstellungen von Geschlecht und/oder Sexualität verorten.

2.2.1 Folgen von Abweichung der Heteronorm

Infolge der Vorstellung, dass Geschlecht eindeutig als männlich oder weiblich zuordbar sein muss und dies der Natürlichkeit des Körpers entspricht, wird alles was davon abweicht „diskriminiert, verfolgt oder ausgelöscht“ (Wagenknecht 2007: 17). Besonders sichtbar wird dies „in der medizinischen Vernichtung der Intersexualität“ (ebd.: 17). Diese Vernichtung zeigt sich in dem Wunsch, intersexuelle Menschen, also Menschen „die nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können“ (von Wahl 2018: 118) medizinisch so anzupassen, dass sie in das binäre System der Zweigeschlechtlichkeit passen. Ausgehend der Annahme, dass „Kinder sonst schwer unter ihrer Uneindeutigkeit zu leiden haben würden“ (ebd.: 124), wurde diese Praxis der sogenannten „Vereindeutigung des biologischen Geschlechts“ (ebd.: 125) von intersexuellen Neugeborenen und Kindern in den 1950er Jahren entwickelt und „seitdem in vielen Industriestaaten routinemäßig vorgenommen“ (ebd.: 116). Ausgerechnet die zu diesem Zeitpunkt aufkommenden feministischen Diskurse um das soziale Geschlecht (gender) in Abgrenzung zu dem biologischen Geschlecht (sex), lieferten einen scheinbar legitimen Grund, intersexuelle Menschen in ihrem angeblich unnatürlichen Körper zu verändern. Das biologische Geschlecht sollte dem des sozialen Geschlechtes entsprechen, allen voran „das äußerlich sichtbare [Hervorhebung im Original] Genital“ (ebd.: 124). Um mögliche Diskriminierungserfahrungen der Kinder zu umgehen, sollten sie „in das dominante System der Zweigeschlechtlichkeit hineingepasst werden“ (ebd.: 125). Neben der Anpassung des Körpers an die biologischen Vorstellungen von männlich oder weiblich wurden die operativen Eingriffe auch „mit dem Ziel, heterosexuellen Geschlechtsverkehr ausführen zu können [entwickelt]“ (ebd.: 125). Hierbei zeigt sich wieder die Mehrdimensionalität von Heteronormativität, welches die „zweigeschlechtlich und heterosexuell organsierte[n] und organisierende[n] Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema“ (Degele 2008: 19) der Gesellschaft verdeutlicht, innerhalb dessen heterosexuelle Lebensweisen und Identitäten privilegiert werden. Dieses Privileg geht nicht nur damit einher heterosexuell zu sein, sondern auch damit, sich mit dem einen oder anderen Geschlecht identifizieren zu können und die dazugehörigen, vermeintlich natürlichen biologischen Merkmale zu besitzen. Obgleich die medizinische Anpassung intersexueller Menschen mittlerweile stark kritisiert wird und „intersexueller Menschen [gegen die] medizinische[] Pathologisierung und Ausgrenzung“ (von Wahl 2018: 130) von Intersexualität kämpfen, zeigt die Thematik, dass die Medizin nicht zwangsläufig auf die vermeintlich natürlich gegebene Binarität von Geschlecht reagiert (hat), sondern viel eher, dass sie als aktiver Teil eine tragende Rolle bei der Reproduktion von Vorstellungen um die Naturalisierung von Geschlecht spielte und spielt. Denn, dass die Eindeutigkeit der Geschlechter auf der Biologie des Körpers beruht und es mithilfe dieser scheinbar handfesten Beweise die Tatsache bestätigt, dass es nur zwei klar eindeutig identifizierbare Geschlechter gibt, ist nicht nur hingehend mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse in Biologie und Medizin problematisch.12 Mit dieser Vorstellung geht auch einher, dass es die Möglichkeit gebe „einen ,objektiven‘ [Hervorhebung im Original], sozial unverstellten Blick auf den Körper [zu] werfen“ (Wetterer 2010: 130). Es zeigt sich allerdings, dass der Blick auf den Körper maßgeblich wie im Beispiel der Intersexualität von „medinizsch-soziale[n] Diskurse“ (von Wahl 2018: 129) geprägt wird und die Möglichkeit, den Körper als etwas Objektives, nicht bereits diskursives zu betrachten, angezweifelt werden kann (ebd.: 129f).

Diskriminierung aufgrund abweichender Geschlechtsidentität zeigt sich nicht nur in der Thematik um Intersexualität. Auch trans*13 Menschen erfahren angesichts ihrer Geschlechtsidentität mehr soziale Benachteiligung und sind eher von Diskriminierung betroffen als cis Menschen14. In einer Expertise der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2010 berichten die Autor*innen, „dass Trans* Personen in allen Bereichen des täglichen Lebens [...] massiven Diskriminierungen ausgesetzt sind“ (Franzen und Sauer 2010: 5). Dies betrifft insbesondere das Arbeitsleben sowie den Zugang zu angemessener medizinischer Beratung und Versorgung. Folgen dieser Benachteiligung zeigen sich insbesondere darin, dass „trans*Personen [.] überdurchschnittlich oft von Arbeitsverlust, Arbeitslosigkeit sowie Armut betroffen [sind]“ (ebd.: 5). Außerdem wird von hoher Gewalterfahrung innerhalb aber auch außerhalb des Arbeitslebens aufgrund von transphoben Einstellungen und Verhaltensweisen berichtet (vgl. ebd.: 5).

Bis heute wird trans* als „Störungen der Geschlechtsidentität“ im ICD (International Classification of Diseases) aufgeführt und trägt somit durch die Pathologisierung weiterhin zur Stigmatisierung und strukturellen Diskriminierung von trans*Menschen bei. Wie stark die zweigeschlechtliche Ordnung innerhalb der Gesellschaft wirkt zeigt sich demnach nicht nur in alltäglichen Formen der Diskriminierung, sondern auch auf struktureller Ebene, welche beispielsweise durch medizinische oder juristische Systeme gestützt werden (vgl. Rauchfleisch 2008).

Es wird deutlich, dass die geführten Diskurse wie die im Falle der Intersexualität einen großen Einfluss darauf haben, wie unser gesellschaftliches Zusammenleben organisiert und strukturiert wird. In Anknüpfung daran soll näher auf den Diskursbegriff eingegangen und dessen Rolle im Kontext der Reproduktion von normativen Geschlechtervorstellungen geklärt werden. Im Zusammenhang soll insbesondere auf die Wirkungsmacht von Sprache und Sprachhandlungen eingegangen werden, da dies im weiteren Verlauf der Arbeit, insbesondere im Hinblick auf eine geschlechtergerechte bzw. diversitätssensible Sprache in Kinderbücher von Bedeutung sein wird.

2.3 Sprache und Geschlecht

2.3.1 Diskurse

Die heteronormative Ordnung, die uns im Alltag als so selbstverständlich und natürlich vorkommt, ist nicht nur eingebettet in einen Diskurs, um Sexualität und Geschlecht, sondern sie bestimmt auch maßgeblich darüber wie dieser Diskurs geführt wird, wann wer in welchem Umfang sprechen darf und welche Denk-,Verhaltens- und Handlungsmuster durch diese Ordnung hervorgebracht und aufrecht erhalten werden. Dahingehend wirken heteronormative Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität insbesondere durch Sprache bzw. finden hier ihren Ausdruck. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie Sprache auf Macht- und Ungleichheitsverhältnisse wirkt, bzw. wie diese durch Sprache bestimmt werden. In einem weiteren Schritt ist dies für die vorliegende Arbeit von elementarer Bedeutung, da auch das Kinder bzw. Bilderbuch als Medium von Sprache fungiert und demnach als Repräsentation aktueller Diskurse betrachtet werden kann.

Der Diskursbegriff wurde maßgeblich durch Michel Foucault geprägt, der innerhalb seiner machtkritischen Analysen Diskurse nicht als bloße Tatsachen oder Gegenstände beschreibt, sondern betont, dass diese erst durch Diskurse hervorgebracht werden und damit schon immer einer Bedeutung anhaften. Das bedeutet, dass „uns die Gegenstände immer schon und ausschließlich als diskursive Gegenstände [...] entgegentreten“ (Nonhoff 2014: 55) und demnach bereits vordiskursiv mit Sinn behaftet sind. Diskurse sind demzufolge „nicht nur Hüllen, welche die ,eigentlichen‘ Dinge umgeben, sondern sie bringen hervor, wovon sie handeln“ (Landwehr 2009: 78). In dieser Wechselseitigkeit treten uns Diskurse als „wirkmächtig und wirklichkeitskonstitutiv“ (ebd.: 78) entgehen und bedürfen aufgrund dessen, dass sie uns als selbstverständlich entgegentreten, keiner weiteren Erklärung oder Rechtfertigung (vgl. ebd.: 78).

Unter der Annahme, dass Diskurse eine hohe Wirkungsmacht innerhalb der Gesellschaft haben, wurden sie in feministischen Positionen „als ein entscheidender Schlüssel für die Analyse patriarchaler und heterosexuellere Machtregime entdeckt“ (Babka / Posselt 2016: 119). Die Auseinandersetzung mit der vorliegenden Thematik der Heteronormativität zeigt auf, dass auch unter dessen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität wirkungsmächtige Diskurse eine Rolle spielen, die (soziale) Ungleichheiten legitimieren können, ohne, dass diese zunächst als solche aufgedeckt werden. Dies wird am Beispiel der Intersexualität sehr deutlich, da vermeintlich medizinische Gründe als Rechtfertigung dienen, die zweigeschlechtliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Infolgedessen und nach dem Diskursbegriff zu urteilen, sind die Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit immer schon vordiskursiv geprägt und ausschlaggebend, wenn es um Norm und Abweichung geht. Nach Degele (2005: 18) „[wurzeln] sexuelle Identitäten [.] in Diskursen bzw. kulturell erzeugten Kategorien“ und bestimmen somit über Zugehörigkeit bzw. Abgrenzung. Eine Abgrenzung zur Homosexualität wird beispielsweise erst durch eine Zugehörigkeit von Heterosexualität (oder andersherum) bestimmt15 (vgl. ebd.: 18).

2.3.2 Sprachhandlung(en)

Gemaßregelt werden Zugehörigkeit und Ausgrenzung, Norm und Abweichung insbesondere über Sprache. Sprache wird dabei im Folgenden nicht (nur) als ein Mittel, welches zur Kommunikation dient, betrachtet, sondern als eine Handlung. Im Folgenden soll auf die Bedeutung von Sprache innerhalb eines Macht- und Diskriminierungskontextes eingegangen werden, um danach zu fragen, welche Wirkungsmacht Sprachhandlungen innerhalb von Kinderbüchern haben können, wenn es um diskriminierende, sprachliche Aspekte von Geschlecht geht.

Sprache kann innerhalb eines Machtkontextes analysiert werden, da durch unsere sprachlichen Handlungen normative Denkstrukturen transportiert und „automatisch (bewusst oder unbewusst) soziale Normen aufgerufen [werden]“ (AG Feministisch Sprachhandeln 2015: 8), welche einerseits aufgrund von Sprache existieren und sich andererseits (erst) durch Sprache konstruieren und durch diese immer wieder reproduziert werden. Innerhalb dieses „wechselseitige[n] (Konstruktions-)Verhältnis)“ (Dirimi / Mecheril 2018: 51) werden Verhaltens- Denk und Handlungsweisen, die in unserer Lebensrealität eine Rolle spielen, als selbstverständlich erachtet und müssen nicht hinterfragt werden. Sprache wirkt hierbei „sowohl [als] Vorrausetzung [als auch als] Mittel für die Konstruktion von Differenzordnungen“ (ebd.: 51)16.

Durch Sprache beschreiben wir also nicht nur die Welt und was in ihr passiert, wir erschaffen Realität und bestimmen darüber, wer dieser Realität zugehörig ist oder nicht. Die Entscheidung über (Nicht)Zugehörigkeit legitimiert bestimmte gesellschaftliche Vormachtstellungen und Ungleichheitsverhältnisse, ohne dass uns dies immer (sofort) bewusst ist. „Sprachhandlungen sind damit nie neutral“ (AG Feministisch Sprachhandeln 2015: 7) und können beispielsweise auch historisch betrachtet „eine lange Bedeutungsgeschichte habe“ (ebd.: 7), welche dann bestimmte diskriminierende Aspekte mit sich ziehen und Menschen entlang dieser Sprachhandlungen sozial positionieren. Sprache als ein Machtinstrument zu analysieren ist insbesondere dann wichtig, wenn Menschen durch Sprache und Sprachhandlungen diskriminiert und in ihrer Lebensrealität beeinträchtigt werden. Dabei kann die Sprachhandlung sehr eindeutig und explizit exkludierend wirken, als auch sehr subtil und implizit zum Beispiel durch Nicht­Benennungen. Nicht-Benennungen können diskriminierend wirken, da diese eine Vorstellung davon aufmachen, was als normal und somit als Norm und was als nicht normal und somit als Abweichung zählt (vgl. AG Feministisch Sprachhandeln 2015: 7-10).

[...]


1 S. Kapitel 2.3.2 Sprachhandlung(en).

2 Die Bedeutung geschlechtergerechter Sprache wird ausführlich in Kapitel 2.3.3 thematisiert.

3 Englische Begrifflichkeiten werden auch im deutschsprachigen Raum verwendet, da sich ihre Ursprünge in der US-amerikanischen Debatte um Intersektionalität befinden (s.u.). Die Kategorien race, class und gender werden innerhalb erziehungswissenschaftlicher Kontexte am häufigsten zur Analyse von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen hinzugezogen. Dies lässt sich teilweise historisch begründen. Allerdings gibt es viele weitere Differenzkategorien, wie beispielsweise Alter, Gesundheit, Sprache, Religion etc. Inwiefern diese in eine Analyse miteinbezogen werden und welche Gewichtung welcher Kategorie dabei zukommt, wird innerhalb erziehungswissenschaftlicher Forschung kontrovers diskutiert. Dabei steht immer die Frage im Raum, welche Kategorien relevant sind bzw. relevant gemacht werden und welche nicht (vgl. Walgenbach 2017: 68f). Die kursive Schriftweise soll verdeutlichen, dass es sich einerseits um soziologische Analysekategorien handelt, welche jeweils für sich stehen und andererseits, dass diese nicht auf biologischen Tatsachen beruhen, sondern sozial und interaktiv hergestellt werden.

4 weiß wird nachfolgend klein und kursiv geschrieben. Dies soll kein Verweis auf die Hautfarbe sein, sondern auf die soziale Positionierung und die damit einhergehenden Privilegien von Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind (vgl. Walgenbach 2017: 56).

5 Schwarz wird im Folgenden groß geschrieben. Der Begriff soll auch hier kein Verweis auf Hautfarbe sein. Er dient als politischer Begriff und als eine Eigenbezeichnung von Menschen, die von Rassismus betroffen sind und soll auf die der weißen westlichen Mehrheitsgesellschaft hervorgebrachten Macht- und Ungleichheitsverhältnisse aufmerksam machen (vgl. Walgenbach 2017: 56).

6 Die kursive Schreibweise soll die soziale Konstruktion von sex und gender hervorheben und darauf hinweisen, dass die Begrifflichkeiten innerhalb feministisch geführter Debatten um die soziale Konstruktion von Geschlecht für sich stehen.

7 Natur meint hier das (vermeintlich) biologische Geschlecht. Der Kulturbegriff wird verwendet, um daraufhin zuweisen, dass das Geschlecht kulturell, also in sozialen und interaktiven Herstellungsprozessen, hervorgebracht und erlernt wird.

8 Im Original „Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity“ (1990)

9 Der Diskursbegriff wird im Kapitel 2.3.1 näher erläutert.

10 Geschlecht lesen, im engl. Passing genannt, bedeutet, „dass eine Person als das Geschlecht gelesen bzw. anerkannt wird, als das x gelesen bzw. anerkannt werden möchte“ (Queer Lexikon 2017).

11 Nähere Erläuterung zur Intersexualität und zur Problematik der Diskriminierung von trans* Menschen s. Kapitel 2.2.1; Queer - positive Selbstbezeichnung für Menschen, die ihre geschlechtliche und/oder sexuelle Identität jenseits gesellschaftlicher Normen verorten (vgl. Queer Lexikon 2017).

12 Es gibt bisher keine eindeutigen wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Geschlecht aus biologischer Sicht ausschließlich männlich oder weiblich sei. Im Gegenteil erweist sich Geschlecht eher als ein Spektrum bzw. als ein Kontinuum und nicht wie weit verbreitet angenommen als binäre Gegensätze. Dabei kann „Geschlecht in seinen physischen, psychischen, sozialen und sexuellen Dimensionen [definiert werden]“ (Baltes-Löhr 2015: 33) (vgl. Baltes-Löhr 2015: 31-33).

13 Trans* dient als „ein Oberbegriff, der verschiedene Menschen [...], die sich nicht beziehungsweise nicht nur mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes).

14 Cis als Gegensatz zu trans* soll verdeutlichen, dass eine Person sich mit dem bei Geburt zugewiesene Geschlecht identifizieren kann (vgl. Queer Lexikon 2017).

15 Der Begriff der Heterosexualität (von 1880) wurde erst geprägt, nachdem es den Begriff der Homosexualität (von 1869) gab. Dies zeigt, dass „erst Abweichung Normalität als Tatbestand schafft“ (Degele 2008: 86).

16 Mehr zum pädagogischen Umgang mit Differenz- und Differenzkategorien s. Kapitel 6.1 zu diversitätssensibler Sozialer Arbeit.

Excerpt out of 71 pages

Details

Title
Zur (Re-)Produktion heteronormativer Geschlechterverhältnisse im Kindesalter
Subtitle
Eine kritische Betrachtung von Kinderbüchern und die Rolle der sozialen Arbeit
College
University of Education Freiburg im Breisgau  (Erziehungswissenschaft)
Grade
1,0
Author
Year
2020
Pages
71
Catalog Number
V1066585
ISBN (eBook)
9783346477316
ISBN (Book)
9783346477323
Language
German
Keywords
Heteronormativität, Kinderbücher, Geschlechterverhältnisse, Soziale Arbeit, Gender, Diversität, Sprache, Sprachhandlungen
Quote paper
Kathrin Dorner (Author), 2020, Zur (Re-)Produktion heteronormativer Geschlechterverhältnisse im Kindesalter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1066585

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