Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk -Moral und Hypermoral-


Term Paper (Advanced seminar), 1998

45 Pages, Grade: 1


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens

3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
3.1.1 Das historische Argument: Humanismus als Symptom der Dekadenz
3.1.2 Das politische Argument: Humanismus als Gefahr fur die Staatstugenden
3.1.3 Das anthropologische Argument: Humanismus als überdehntes Familienethos
3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
3.2.1 Vorüberlegung zu Gehlens Methode: Entlarvungstech­nik und empirische Ethik
3.2.2 Kritik des historischen Argumentes
3.2.3 Kritik des politischen Argumentes
3.2.4 Kritik des anthropologischen Argumentes

4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vor­wurf der Moralhypertrophie
4.1 Die Unzulünglichkeit von Gehlens pluralistischer Ethik
4.2 Die bedingte Berechtigung von Gehlens Vorwurf der Moralhy­pertrophie
4.3 Die Grenzen des Vorwurfs der Moralhypertrophie

5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanitat als Pri- martugend

6 Schluß

1 Einleitung

In dieser Arbeit soll die Kritik, die Arnold Gehlen in seinem Werk „Moral und Hypermoral“1 am Humanismus übt, dargestellt und kritisch durchleuchtet werden. Gehlens Kritik am Humanismus zielt vor allem auf dessen ethische Seite, wenn er auch die andere Seite des Humanismus, das humane Ideal als Ziel der Selbsterziehung, als ubermaßige menschliche Selbstbezogenheit ebenfalls ablehnt. Deshalb konzentriert sich diese Arbeit auf die Erörterung der ethischen Fragen, zumal die Diskussion eines Ideals andere Methoden und Fragestellungen erfordern wurde als die Klörung ethischer Streitfragen.

In einem gewissen Rahmen ist es dabei notwendig, unmittelbar auf einige Fragen der Ethik einzugehen. Hierbei weicht diese Arbeit von den „Vorgaben“ Gehlens ab: Wöhrend Gehlen in seinem Werk die Fragen der Ethik vornehm­lich auf einer metatheoretischen Ebene behandelt, werden in dieser Arbeit die ethischen Fragen unmittelbar angegangen, d.h. im Vordergrund steht (bei­spielsweise) die Frage „Was ist Gerechtigkeit?“ und nicht „Wie entsteht der Begriff der Gerechtigkeit?“. Diese Herangehensweise wird zu Beginn des kriti­schen Teils dieser Arbeit (Kapitel 3.2) gerechtfertigt. Ihr liegt die Vorstellung zu Grunde, daßes nicht die Aufgabe der Philosophie ist, ihre Zeit in Gedan­ken zu fassen oder ihre eigene Geschichte zu reflektieren, sondern daßsie die Antworten auf ganz bestimmte Fragen suchen soll ( Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was ist der Sinn des Lebens?“ etc.). Zur Beantwortung dieser Fragen braucht die Philosophie ihre eigene Geschichte nicht zu kennen; hoöchstens kann eine Kenntnis der im Laufe der Geschichte zu diesen Fragen gegebenen Antworten hilfreich sein. Deshalb liegt in dieser Arbeit der Akzent auch nicht auf der historischen Erarbeitung des Ursprungs und der Herkunft von Gehlens Gedanken sondern auf der Behandlung der ethischen Sachpro- bleme, die Gehlens „ethischer Pluralismus“ aufwirft. Dies spiegelt sich auch in der Verwendung der Sekundaörliteratur wieder. Wenig Gebrauch wurde von Sekundaörliteratur gemacht, die lediglich den Inhalt von Gehlens Philosophie darstellt oder die geistesgeschichtliche Position von Gehlens Philosophie auf­hellt. Statt dessen wurde höufiger auf Werke zuräckgegriffen, die sich den einzelnen Sachbereichen widmen, die von Gehlens Ausfuöhrungen miterfaßt sind.

Die Arbeit ist so aufgebaut, daßnach einer kurzen Skizze der Grundposi­tionen von Gehlens Philosophie zunaöchst Gehlens kritische Einwaönde gegen die humanistische Ethik zusammenhaöngend dargestellt werden. Darauf folgt eine eingehende Kritik der einzelnen Argumente Gehlens. Ausgehend von dieser Kritik wird Gehlens Ansatz einer pluralistischen Ethik grundsätzlich in Frage gestellt. Da die reine Kritik niemals ganz überzeugend bleibt, so­fern nicht auch positive Möglichkeiten aufgezeigt werden, wird zum Abschlußder Arbeit umrißhaft eine humanistische Ethik konstruiert, die die Einwönde Gehlens gegen den Humanismus beriicksichtigt, soweit diese berechtigt sind.

2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens

Arnold Gehlen (geb. 1904 in Leipzig, gest. 1976 in Hamburg) studierte Phi­losophie in Köln und Leipzig. Dort promovierte er 1927 bei Hans Driesch und wurde 1934 Nachfolger auf dessen Lehrstuhl. In seinen friiheren Schrif­ten zeigt sich Gehlen vor allem der Lebensphilosophie und dem Deutschen Idealismus, insbesondere Fichte, zugeneigt.2 Weisen diese Schriften, bei de­nen, wie im Bereich der akademischen Philosophie ublich, vor allem andere Philosophen (und weniger bestimmte philosophische Probleme) im Zentrum stehen, noch eine relativ große Spannbreite auf, ohne allzu deutlich schon irgend eine Festlegung erkennen zu lassen, so hat Gehlen in seinem 1940 erschienen Hauptwerk „Der Mensch“ sein eigentliches Thema mit der philo­sophischen Anthropologie gefunden. Gehlens Werk „Der Mensch. Seine Na­tur und seine Stellung in der Welt“ stellt einen vorlöufigen Höhepunkt der im 20.Jahrhundert mit den bahnbrechenden Werken Schelers und Plessners neu erwachten philosophischen Anthropologie dar.3 Wahrend Schelers Werk sowohl hinsichtlich der uöberwiegend geisteswissenschaftlichen Methode als auch in der Denkweise und Begriffswahl (Geist-Seele Dualismus, metaphysi­sche Sonderstellung des Menschen) noch durchaus traditionell gehalten ist, loöst sich Gehlen von solchen uöberkommenen Bindungen, indem er unter wis­senschaftspragmatischer Umgehung eingefahrener Fragestellungen und syste­matischer Heranziehung der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Biologie und Zoologie ein integrierendes Gesamtbild des Menschen zu entwerfen versucht, welches die Ergebnisse der verschiedenen humanen Einzelwissenschaften zu- sammenföhrt und philosophisch ausdeutet. Gehlen legt dabei ein Konzept von Philosophie zu Grunde, das er als empirische Philosophie“ bezeichnet, ein Ansatz fur den Schopenhauers System das Vorbild abgibt. Nach dieser Vorstellung von Philosophie kann das Allermeiste, was wir uber das Wesen des Menschen oder auch das Wesen der Welt wissen können, nur aus der Erfahrung bzw. einer philosophischen Deutung der Erfahrung entnommen werden. Ein Ruckgriff auf die Transzendentalphilosophie erschiene demge­genüber wenig hilfreich, denn was lehrt schon die Transzendentalphilosophie beispielsweise über die Triebstruktur des Menschen? Was die Philosophie da­bei von den Erfahrungswissenschaften, auf die sie sich stutzt, unterscheidet, ist das Ziel, ein umfassendes Bild zu gewinnen, und dieses Bild philosophisch zu deuten.4 In „Der Mensch“ deutet Gehlen den Menschen mit einem von Her­der ubernommenen Begriff als „Mangelwesen“, welches anders als die Tiere nicht an eine bestimmte Umwelt angepaßt ist, durch die es von seinen In­stinkten sicher geleitet wird, sondern das sich durch Kulturbildung erst seine Umwelt und seine eigene Natur schaffen muß. In seinen spateren Schriften schreitet Gehlen auf dem Wege der empirischen Philosophie und Anthropo­logie fort, wobei er sich vermehrt auch der Soziologie zuwendet. Er erweitert seine anthropologische Theorie dabei um die Lehre von den Institutionen, mit der er die Struktur und Funktion der Kultur als gesellschaftliches Ord­nungssystem zu ergrunden versucht.

Der Mensch ist nach Gehlen im Gegensatz zum Tier wesentlich „handeln­des Wesen“. Anders als beim Tier nümlich ist das menschliche Verhalten nicht bereits durch eine artspezifische Instinktstruktur festgelegt. Dem Mangel an festgelegten Instinkten entspricht koürperlich das Fehlen von spezialisierten Organen, wie Klauen, Pelz oder Giftstacheln, die den Tieren das Uberleben in ihrer Umwelt müglich machen. Wie kann aber der Mensch als Naturwesen uüberleben, wenn er weder bei der Nahrungssuche von Instinkten geleitet wird noch dabei wie die Tiere von einer geeigneten Organausstattung unterstützt wird? Dies erreicht der Mensch, indem er im Prozeßder Kulturbildung sich eine Lebensweise schafft und auf Dauer stellt, die ihm das Bestehen in der Welt ermöglicht. Die Kultur mußbeim Menschen für den Zusammenhang von gattungsmaßig festgelegter Instinktstruktur und artspezifischer Umwelt, wie er bei den Tieren besteht, Ersatz schaffen. Dies geschieht dadurch, daßim Prozeßder Kulturbildung aus der Welt eine faßbare Menge von Bedeu­tungsgehalten ausgesondert wird, mit denen sich der Mensch die Welt als nunmehr verstöndliche Umwelt zu eigen macht. Zugleich erfahren die Aussi­gen Instinkte des Menschen eine Verfestigung zu Verhaltensregulationen. Die­se Verhaltensregulationen funktionieren ahnlich wie die Instinkte beim Tier nach einem Reiz-Reaktions-Schema, nur können beim Menschen die Reiz­Reaktionsketten entkoppelt und durch Einschiebung von „Phantasmen“ fast beliebig verlöngert werden. Dies erklart auch, warum der Mensch öber Geist verfugt. Der Geist umfaßt die Symbolgehalte, mit denen der Mensch sich in seiner Umwelt orientiert, und die Phantasmen, die dem Menschen anstellte außerer Reize als Handlungsziele vor das (innere) Auge treten.5

Solcherart verfestigte Verhaltensregulationen und Bedeutungsgehalte we­rden nach Gehlen in den gesellschaftlichen Institutionen gespeichert. Dies gilt sowohl för die allergrundlegensten Institutionen, wie Sprache und Sitten, als auch för darauf aufbauende Institutionen, wie z.B. die Herrschaftsinstitutio­nen. Die Institutionen erfullen eine mehrfache Funktion för den Menschen. Sie geben Orientierungen vor und entlasten damit den Einzelnen vom stöndi- gen Improvisationsdruck, sie leisten eine Abstimmungsfunktion innerhalb der Gesellschaft, d.h. sie ermoöglichen ihren Mitgliedern ihr Verhalten gegenseitig zu deuten und geben Reaktionsmöglichkeiten vor, von denen jeder Handeln­de sicher sein kann, daßsie vom Anderen verstanden werden. Schließlich speichern die Institutionen das gesamte Wissen bzw. die Weisheit einer Kul­tur. Hierzu gehoört nicht nur theoretisches Wissen von der Welt, sondern jede funktionierende Institution enthaölt in sich ein wertvolles Wissen daruöber, wie Leben möglich ist - ein Leben, daßsich der von Natur aus „unfestgelegte“ Mensch erst erfinden muß, wobei es unzahlige Gefahren des Scheiterns gibt. Der hohe Wert, der jeder Institution schon als solcher zukommt, wird beson­ders deutlich, wenn man sich vor Augen halt, daßdie meisten Institution in einem uberaus langwierigen und mühsamen Prozeßder Kulturbildung ent­standen sind.6

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Lehre?

In Bezug auf die Freiheit des Menschen ergibt sich die Konsequenz, daßnur die Gattung Mensch frei (oder genauer: unbestimmt) ist. Für das Indivi­duum kann es Freiheit nur innerhalb aber niemals jenseits der Institutionen oder gar gegen die Institutionen geben. Der Versuch, Freiheit außerhalb der Institutionen zu verwirklichen, wäre so absurd, als wollte man eine Geschich­te erzählen, ohne sich der Sprache zu bedienen. Ein sinnvolles und erfulltes Leben kann es nur im Konformismus zu den Institutionen geben. Emanzi- patorische Bestrebungen sind ebenso wie die aufklärerische Kritik an den Institutionen ein riskantes Unterfangen, denn leicht (und gerne) werden In­stitutionen zerstärt, aber schwer sind sie zu errichten. Gehlens Philosophie muändet so in einen formalen Konservativismus, der das Bestehende um seiner selbst willen heiligt.

Dieser Konservativismus ist auch für Gehlens politischen Standpunkt cha­rakteristisch. Es gibt in seinen späteren Veröffentlichungen keine Hinweise darauf, daßGehlen die Demokratie direkt abgelehnt hätte. Allerdings sah er Ende der 60er Jahre die Bundesrepublik einem gefährlichen Verfall der äffent- lichen Autorität entgegen gehen. Daräber hinaus ist das, was Gehlen in „Mo­ral und Hypermoral“ zu dem Thema Staat außert, nur unter Einschränkungen mit den Grundsätzen der liberalen Demokratie zu vereinbaren. Während der Zeit des Hitlerregimes war Gehlen ein begeisterter Befärworter des National­sozialismus. Er war seit dem l.Mai 1933 Mitglied der NSDAP, seine aktive Mitarbeit beschraänkte sich abgesehen von der philosophischen und ideolo­gischen Unterstätzung, die er dem Regime leistete, auf eine zwei Semester andauernde Taätigkeit als Dozentenbundfuährer. Allerdings hatte Gehlen auch gute Gruände die Nazis hochzuschäatzen, denn seine steile Karriere in dieser Zeit, die ihn auf glänzende Lehrstuhle in Königsberg (1936) und Wien (1940) trug, verdankte er der Protegierung durch die Nazi-Administration.7 Uber­haupt eroäffneten die Nazis damals aufstrebenden jungen Akademikern viele attraktive Chancen, indem sie verdiente jädische und oppositionelle Wissen­schaftler von den Universitäten jagten. In seinen Schriften aus dieser Zeit (einschließlich der ersten Auflage von „Der Mensch“8 ) finden sich vielfälti­ge Anklänge an den Nationalsozialismus.9 Eine Zeitlang hat Gehlen wohl sogar mit dem Gedanken gespielt, eine nationalsozialistische Philosophie“ zu schaffen, doch ein 1935 entstandenes Fragment, in welchem Gehlen sich in einer Art philosophischem Rassismus versucht, blieb in seiner Schublade liegen.10 Gehlens Anthropologie ist mit dem Rassismus unvereinbar, seine Institutionenlehre enthält jedoch implizit eine starke Option für die geschlos­sene Gesellschaft. Und auch wenn Gehlen spater dem totalitären Anspruch, dem er unter dem Nationalsozialismus so zugeneigt war, grundsatzlich ab­hold geworden ist, was seinen Ausdruck unter anderem in dem in „Moral und Hypermoral“ konstruierten ethischen Pluralismus findet, so behielt Geh­len viele seiner nationalsozialistisch impräagnierten Grunduäberzeugungen bei. Vor allem hat Gehlen sich nie von der Überzeugung trennen können, daßein Leben des Menschen ohne Mythos mäglich sei. Man kännte Gehlens Hal­tung in dieser Frage als einen etwas mutwilligen Reflex auf den Nihilismus bezeichnen. Ausgehend von Hegel und Nietzsche haält Gehlen die Religion in ihrer urspriinglichen Form für uberlebt, aber gleichzeitig zweifelt er nicht dar­an, daßder Mensch solcher absoluten und absolut verpflichtenden Weltdeu­tungen, wie Religion oder Mythos sie bieten, unbedingt bedarf.11 In diesem Punkt unterscheidet sich Gehlens anthropologischer Pessimismus scharf von dem ansonsten verwandten Pessimismus Sigmund Freuds oder Max Webers. Waährend Freud und Max Weber den Wunsch nach religioäser Lebensdeutung fur ein starkes menschliches Bedürfnis halten, sind sie dennoch fest davon uberzeugt, daßein rational geleitetes Leben moglich und auch wunschens- werter ist.12 Gehlen furchtet dagegen, daßder Mensch ohne Mythos auf sich selbst zuruäckgeworfen und so zu einem haltlosen und sinnentleerten Leben verdammt wird. Von einem mutwilligen Reflex auf den Nihilismus kann man im Falle Gehlens deshalb reden, weil Gehlens Theorie die Falschheit (oder zumindest die Relativität) aller Mythen implizit voraussetzt, aber Gehlen trotzdem die Unterwerfung unter den Mythos fordert.

Man kann genaugenommen nur dann behaupten, eine Theorie verstanden zu haben, wenn man, außer daßman sie mit eigenen Worten wiedergeben kann, in der Lage ist, entweder Kritik an ihr zu üben, oder zu begründen, warum diese Theorie richtig ist. Zur Darstellung einer Theorie gehort daher immer auch die Beriicksichtigung müglicher Einwande. Mügliche kritische Einwünde sollen an dieser Stelle wenigstens kurz angerissen werden.

Gegen Gehlens anthropologische Theorie künnte man geneigt sein, den Vorwurf des biologischen Reduktionismus zu erheben: Wenn Gehlen den Men­schen gegenuüber dem Tier als Müangelwesen bestimmt und gleichzeitig das spezifisch Menschliche mit müglichst ühnlichen Begriffen erklart, wie sie die Biologie zur Erklürung des Verhaltens von Tieren gebraucht (z.B. „Aussige Instinkte“ statt „Instinkte“), so macht Gehlen damit das Tier zum Maßstab von Lebewesen bzw. von in der Welt müglichem Leben überhaupt, d.h. letz- tenendes wird das Tier zum Maßstab des Menschen, denn der Mensch kann bei Gehlen nur dadurch (Uber-)leben, daßer sich künstlich Lebensbedingun­gen, d.h. einen Zusammenhang von Umwelt und darauf abgestimmten „In­stinkten“, schafft, die denen des Tieres ahneln. Diesem möglichen Einwand gegenüber ist jedoch festzuhalten, daßdas Verfahren der Reduktion in der Wissenschaft gelüaufig und solange legitim ist, wie Kriterien fuür die Uüberpruüf- barkeit dieser Reduktion angebbar sind. Es besteht naturlich die Gefahr, daßz.B. die Annahme, die Motive menschlichen Handelns seien im instinktnahen Bereich anzusiedeln, zu einem Dogma erstarrt, welches in irgendeiner Weise immer recht behült.

Bei Gehlens Institutionenlehre stellt sich das Problem, daßsie für ar­chaische Gesellschaften gut nachvollziehbar ist, aber nicht ohne weiteres in modernen Gesellschaften. Ubt man nun aus der Institutionenlehre heraus ei­ne Kritik an der modernen Gesellschaft, so mußte zuvor die Frage untersucht werden, ob die Institutionenlehre auf die moderne Gesellschaft, deren Funk­tionieren vielleicht schon auf neuen, theoretisch noch nicht erfaßten anthro­pologischen Prinzipien beruht, uüberhaupt anwendbar ist. Es ist im Zusam­menhang mit Gehlens Gesellschaftskritik auch zu erwaühnen, daßein gewisser Zug der vereinfachenden Popularisierung in Gehlens Philosophie bereits an­gelegt ist. Dies wird daran deutlich, daßviele der Schlüsselbegriffe Gehlens („Entlastung“, „Reizuberflutung“, „Institutionen“ usw.) schon bei ihm selbst eine Doppelbedeutung annehmen, einmal als Terminus technicus innerhalb der Theorie und zugleich als Begriffe, die sich auch auf die Alltagserfahrung beziehen lassen, und denen dann mancherlei Sinn beigelegt werden kann.

3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“

Im Jahre 1968 erschien Gehlens Schrift „Moral und Hypermoral. Eine plura­listische Ethik“.13 Gehlen beabsichtigt darin, die anthropologischen Grund­lagen der Ethik als eines spezifisch menschlichen Phänomens darzulegen und mehrere typische Ethosformen, darunter insbesondere die des Humanita­rismus“ als der „zur ethischen Pflicht gemachte[n] unterschiedslose[n] Men­schenliebe“14, sowohl anthropologisch abzuleiten, als auch in ihrer kulturel­len Funktion und Wirkung zu deuten. Das Resultat dieser Bemähungen ist, wie der Untertitel seines Werkes sagt, eine „pluralistische Ethik“. Mit dieser Bezeichnung ist weder eine Ethik der besonderen Toleranz gegenuber un­terschiedlichen Lebensauffassungen gemeint, noch versteht Gehlen darunter, daßes etwa unterschiedliche aber gleichermaßen legitime Moralauffassungen gibt. Vielmehr bedeutet „ethischer Pluralismus“15, daßes verschiedene Ethos­formen mit unterschiedlichem anthropologischen Ursprung gibt, die jedoch nur jeweils fur einen bestimmten Bereich des menschlichen Handelns gäl- tig sind. So ist etwa das „Familienethos“ nur fär die Familie gültig, keines­wegs jedoch fär den Staat und die Politik, denn dort gelten die „Staatstu­genden“. Die Grenzen zwischen den Guältigkeitsbereichen dieser Ethosformen sind unscharf, so daßes zwischen verschiedenen Ethosformen immer wieder zu Konflikten kommen kann, die theoretisch unauflösbar sind, da nach Geh­lens Auffassung kein Ethos grundsätzlich die Vorherrschaft uber ein anderes beanspruchen darf. Im Alltagsleben werden diese Gegensätze in der Regel im dort herrschenden „Durcheinander, mittlerer Tugendhaftigkeit“16 durch mo­ralische Inkonsequenz ausgeglichen. Fur problematisch, um nicht zu sagen gemeingefaährlich, haält es Gehlen, wenn ein bestimmtes Ethos mit dem An­spruch der universellen Guältigkeit auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausgedehnt wird, so wie sich dies seiner Ansicht nach in der Gegenwart mit dem „Humanitarismus“ vollzieht. In dieser Ausweitung sieht Gehlen nicht nur eine Radikalisierung, die Aggressionen freisetzt, sondern auch eine Gefahr fur die Uberlebensfähigkeit einer Gesellschaft, da nun ein Ethos gesellschaftliche Bereiche reguliert, fur die es sachlich unpassend ist.17

Abgesehen von dieser philosophisch-anthropologischen Zielsetzung ver­folgt Gehlen mit diesem Werk aber auch die Absicht einer polemischen Zeit- kritik. Der Leser bekommt dabei sehr bald den Eindruck, daßgegenüber dieser Absicht die anthropologische Untersuchung nur beiläufig durchgeführt wird und eher als Vorwand dient zu einem gewaltigen Rundumschlag, in welchem Gehlen von der Antibabypille18 bis zum Zensurverbot des Grund­gesetzes19 alle mäglichen Gegenwartserscheinungen der politischen und ge­sellschaftlichen Kultur der Bundesrepublik in den ausgehenden 60er Jahren geißelt.

3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik

In dieser Arbeit wird, wie bereits im Vorwort erwähnt, Gehlens Kritik am „Humanitarismus“ als ein Angriff auf die Ethik des Humanismus verstanden. Dazu mußzunächst untersucht werden, ob sich Gehlens Begriff des „Huma­nitarismus“ äberhaupt mit der humanistischen Ethik deckt, oder ob Geh­len nicht eine Uä bersteigerungsform des Humanismus kritisiert, die auch kein uäberzeugter Humanist ernsthaft vertreten wuärde.

Gehlen definiert im 5.Kapitel seines Werkes „Humanitarismus“ als „die zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose Menschenliebe“.20 Mit „un­terschiedslos“ ist hierbei gemeint, daßdie Menschenliebe sich auf die gesamte Menschheit erstrecken soll und damit unterschiedslos“ sowohl Angehoärigen des eigenen Stammes, der eigenen Familie oder der eigenen Nation als auch „fremden“ Menschen, die nicht zu diesen Nahgruppen gehören, zukommt. Weiterhin soll sich die unterschiedslose Menschenliebe“ auf die Angehoärigen aller sozialer Klassen, auf Sklaven gleichermaßen wie auf Patrizier“ bezie- hen.21 Nun gehärt aber gerade der Universalismus wesentlich zur humanisti- sehen Ethik. Unter humanistischer Ethik verstehe ich dabei die Auffassung, daßjedem Menschen als Individuum ein besonderer Wert (Menschenwürde) zukommt, und daßes keinen Wert gibt, der über dem Wert des Individu­ums steht. Solche Werte, die mit der Menschenwürde konkurrieren konnten, würen beispielsweise Nation, Geschichte, Ehre etc. Diese Werte sind nach der humanistischen Ethik bloßsekundar in dem Sinne, daßsie entweder mit­telbare Werte sind, denen gegenuber das Wohl der einzelnen Menschen als Endzweck zu betrachten ist, oder daßsie untergeordnete Werte sind, denen im Falle eines Wertekonfliktes die Menschlichkeit unbedingt vorhergeht. Dies ist der Kern jeder humanistischen Ethik. Ein Humanismus, der sich nicht auf die gesamte Menschheit bezieht, sondern an den Grenzen der Nation halt­macht oder nur für die eigene Sippe gilt, würe dagegen eine contradictio in adjecto. Genau dieser universalistische Zug der humanistischen Ethik und die Uberordnung der Menschenliebe über alle anderen Werte sind es jedoch, die Gehlen unter der Bezeichnung „Humanitarismus“ als eine Form von „Mo­ralhypertrophie“ ausdrücklich ablehnt. Gehlens Kritik des „Humanitarismus“ mußdaher in der Tat als ein Angriff auf die humanistische Ethik verstanden werden.

Welches sind nun die Argumente mit denen Arnold Gehlen gegen den Humanismus zu Felde zieht? Es lassen sich in Gehlens Werk drei Hauptar­gumentationsstrange ausmachen:

1. Ein historischer Argumentationsstrang: Gehlen zufolge zeigt sich der Humanitarismus“ zuerst in der griechischen und roümischen Antike und zwar als typische Erscheinung der Verfallsperioden dieser Epochen. Die humanistische Ethik erscheint ihm daher als ein Symptom und gleich­zeitig eine Ursache von Dekadenz.
2. Ein politischer Argumentationsstrang: Die humanistische Ethik ist nach Gehlen mit machtpolitischen Notwendigkeiten unvereinbar. Dringt sie in die Politik ein, so gefahrdet sie den Selbsterhalt von Staat und Na­tion.
3. Ein anthropologischer Argumentationsstrang: Das Ethos der Menschen­liebe leitet Gehlen aus den biologischen Schonungs- und Liebesin- stinkten innerhalb der Familie als natürlicher Lebensgemeinschaft her. Durch „Instinktelargierung“, einer spezifisch menschlichen biologischen Eigenschaft, wird dieser Instinkt nach und nach auf grüoßere Gruppen ausgedehnt, bis hin zu abstrakten Gruppen, deren Mitglieder unterein­ander nicht mehr persönlich bekannt sind, wie der Nation und schließ­lich der gesamten Menschheit. Da es, anthropologisch gesehen, noch andere Quellen der Moral gibt (Gegenseitigkeit, vitale Werte, Insti­tutionen22 ), die als „Sozialregulationen“ nicht minder lebensnotwendig sind, darf die humanistische Ethik keine Alleingültigkeit beanspruchen.

Die oben kurz skizzierten Argumente Gehlens sollen nun im einzelnen ausgefuührt werden.

3.1.1 Das historische Argument: Humanismus als Symptom der Dekadenz

Historisch betrachtet hüngt fur Gehlen die Entstehung und Ausbreitung des „Humanitarismus“ mit dem Zusammenbruch der griechischen Stadtstaaten in der Spütantike und der Entstehung von zentralistisch regierten, multiethni­schen Großreichen wie dem Alexanderreich zusammen. Spater wurde er dann in das rümische Kaiserreich exportiert.23 Der „Humanitarismus“ wurde dabei nach Gehlens Auffassung von einem genau „angebbaren“ Personenkreis, nüm- lich den kynischen und stoischen Philosophen, erfunden und erfüllte inner­halb dieses historischen Prozesses ganz bestimmte ideologische Funktionen. Auch haften dem Humanitarismus“ auf Grund seiner Entstehungsumstaünde gewisse typische Charakterzüge an.

Die Funktionen oder die Zwecke des Humanitarismus“ sind dabei sowohl individueller als auch politischer Natur. Fur das Individuum dient der ,,Hu- manitarismus“ der kompensatorischen Auffuüllung einer durch den Zusammen­bruch des Staates aufgerissenen emotionalen Lücke mit „verallgemeinerten Tugenden privater Herkunft, wie Wohlwollen, Hilfsbereitschaft usw.“.24 Ein­her damit geht insbesondere bei den Kynikern ein gehoüriges Maßan Primi- tivisierung, welches gegenuüber den Anforderungen, die die gesellschaftlichen Institutionen im intakten Staatswesen an den Einzelnen stellen, zunaüchst als entlastend empfunden wird.25 Gehlens Deutung dieser Erscheinungen ist aus seiner Institutionenlehre abgeleitet, nach der die Institutionen tief ins Verhal­ten und Gemutsleben des Einzelnen eingreifen und zugleich, ungeachtet ihrer primären Entlastungsfunktion, ihrerseits eine Belastung darstellen, von der sich der Mensch wiederum entlasten müchte. Da weiterhin hühere Leistungen des Menschen nur auf Grundlage und im Rahmen von Institutionen erbracht werden können, die dafür die Symbolgehalte vorgeben, bedeutet der Ver­lust oder der Zusammenbruch von Institutionen (egal welcher Institutionen) stets einen Ruckfall in die Primitivitöt. Abgesehen von den bisher erwöhnten Funktionen erföllt der „Humanitarismus“ speziell för seine philosophischen Vertreter die Aufgabe ihnen Ansehen, Einflußund Geltung zu verschaffen. Sie verfolgen damit, wie Gehlen unterstellt, eine Strategie der „Eroberung der Eroberer“, indem sie - gewissermaßen unter Verrat ihres geschlagen Va­terlandes - sich den neuen Herrschern der Großreiche andienen und durch die Predigt von Göte und Menschenliebe versuchen, Schonung för sich selbst zu erwirken. Gehlen versöumt es nicht, in diesem Zusammenhang darauf hinzu­weisen, daßeinige fuhrende Kyniker davongelaufene Sklaven oder Menschen von einer ahnlich verachteten sozialen Herkunft sind.26

Neben diesen fur einzelne Individuen nutzlichen Eigenschaften erfullt der „Humanitarismus“ nach Gehlen aber auch eine eminent politische Funktion: Er stutzt mit seinem Weltbörgerethos die Bildung von nationenubergreifen­den, zentralistisch regierten Vielvölkerstaaten ideologisch ab. Dies erreicht der Humanitarismus“ in dem er die patriotischen Werte verdröangt und zu­gleich durch seinen eher der Privatsphöare entstammenden Wertekanon die Folgsamkeit der Untertanen sichert. Letzteres hängt damit zusammen, daßeine politische (Widerstands-)Bewegung, um zugkräftig zu sein, stets als Kol­lektivbewegung auftreten muß, wobei ein rein individualistischer Wertekanon hinderlich ist. Dennoch war das humanitöare Ideal in der Antike durchaus in der Lage Sklavenaufstönde zu motivieren.27

Obwohl das Ethos der Humanitat solcherart fur bestimmte Systeme einen stöarkenden und stabilisierenden Einflußgewinnt, ist und bleibt es nach der Auffassung Gehlens andererseits ein Merkmal der Dekadenz - eine Deutung, die Gehlen von George Sorel ubernimmt.28 Als Dekadenzmoral löhmt der Hu- manitaötsgedanke den Willen und hemmt die Bereitschaft zur Ausuöbung not­wendiger Gewalt. Diesen Vorgang skizziert Gehlen am Beispiel des römischen Kaiserreiches, das seiner Meinung nach durch seine humaniräre Großzögig- keit in eine innere und außere Krise geriet: „Die Eroberer und Feldherren waren Verirrungen auf dem Wege zum wahrhaft Guten - hundert Jahre spö- ter allerdings mußte Aurelian gegen die Barbaren schon die Hauptstadt selber ummauern, und von geordneten Finanzen war keine Rede mehr...“.29

Alle diese Einsichten, die Gehlen an einer Betrachtung der antiken Ge­schichte über den Charakter des humanitären Ethos gewonnen hat, über­trägt Gehlen in einem zweiten Schritt auf die Gegenwart. Auch heute „sind nun bei uns unter dem Einflußder beispiellosen Niederlage und nach der Zerstörung aller inneren Reserven die Individuen auf ihre Privatinteressen und deren kurzfristige Horizonte zurnckgefallen. Was sie dort finden, ist die egalitäre Moral der Familie...“.30 Vorangetrieben wurde der Prozeßder Zer­setzung des Staatsethos durch den „Humanitarismus“ bereits einige Jahre vor der Kriegsniederlage durch so skrupellose Intellektuelle wie Karl Barth, dessen 1938 erschienene Schrift „Rechtfertigung und Recht“ Gehlen jedoch zu durchschauen meint: „Wer hier mit dem Anspruch der hüheren Autorität spricht, ist klar, hier will das Ethos des Humanitarismus das des Patriotismus verschlingen...“.31 In den 60er Jahren sind es wiederum evangelische Theolo­gen, die anstatt sich um das Jenseits zu kümmern, zersetzende humanistische Lehren fur das Diesseits in die Welt setzen.32

Insgesamt erscheint also das humanitare Ethos in Gehlens historischer Perspektive als: 1. das Resultat eines politischen Zusammenbruchs mit ein­hergehendem Kulturverlust, 2. ein Mittel ideologisch zweckmaßiger Fremd­täuschung zum Vorteil bestimmter (Herrschafts-)Gruppen mit gleichzeitiger üffentlicher Geltungssteigerung der Intellektuellen, 3. als Merkmal und Ursa­che von Dekadenz.

3.1.2 Das politische Argument: Humanismus als Gefahr für die Staatstugenden

Bereits bei der Darstellung der historischen Argumentation Gehlens trat zu Tage, daß, nach Gehlens Auffassung, die humanistische Ethik in einem Ge­gensatz zum Patriotismus steht. Dies ist einer der schärfsten Vorwrnfe Geh­lens gegen das humanitäre Ethos, daßes die vaterlandischen Tugenden bzw. „Staatstugenden“ unterminiere und damit die Existenz des Staates als sol­chen gefährde. Was ist nun Gehlens Auffassung vom Wesen der Politik und weshalb gerät die Vaterlandsliebe mit der Menschenliebe in Konflikt?

Gehlens Vorstellung vom Wesen der Politik kann als ein äbersteigerter po­litischer Realismus bezeichnet werden. Der politische Realismus behauptet, daßein Staat Sicherheit nur durch Macht gewinnen kann. Da der Kampf um Macht ein Nullsummenspiel ist, bei dem der Gewinn des Einen stets nur durch Verluste eines Anderen erzielt werden kann, darf das Machtstreben um der Sicherheit willen nie aufhären, und es findet seine theoretische Grenze erst in der Weltherrschaft.33 Diese Überzeugungen teilt auch Arnold Gehlen.34 Was Gehlens Auffassungen zu einer Übersteigerung des politischen Realis­mus macht ist, daßdie äußere und innere Souveränität des Staates jenseits jener Zweckbestimmung fär Gehlen einen Selbstwert ausmachen. Hieraus er­wächst dem Staat eine eigene ethische Würde, die sich nur durch eine beson­ders hohe Autoritaät des Staates sowohl nach außen als auch nach innen hin aufrecht erhalten läßt. Dementsprechend mussen auch sozialstaatliche Forde­rungen nicht bloßder begrenzten Ressourcen wegen fur problematisch gelten, sondern sie erscheinen als ein Angriff auf die Autorität des Staates an sich.35 Hierfur ist nun nach Gehlens Auffassung das Humanitätsethos deshalb mit­verantwortlich, weil es seit der Aufklärung eine unzertrennliche Verbindung mit dem „Masseneudaimonismus“ eingegangen ist. Ünter „Masseneudaimo- nismus“ versteht Gehlen die Forderung, daßjeder Mensch ein Anrecht auf ein Minimum an materiellem Wohlstand haben solle, wobei sich von selbst versteht, daßdiese Minimalforderung mit zunehmendem Gesamtwohlstand auch immer weiter nach oben geschraubt wird. „Masseneudaimonismus“ und „Humanitarismus“ gehen in Gehlens Augen eine geradezu teuflische Verbin­dung ein, woruber sich seine Empärung in Passagen wie der folgenden Luft macht: „Im Bunde mit dem Masseneudaimonismus wird die Unwidersteh­lichkeit dieses Ethos [des ,Humanitarismus’, E.A.] verständlich, das mit der Hebung des Lebensstandards aller Menschen und ihrer gegenseitigen fried­lichen Anerkennung zugleich auf eine globale Endogamie zusteuert, so daßman zu der Üä berzeugung kommt, wir haätten hier den Ausdruck oder die Ideologie der steilen Zunahme der Weltbeväolkerung vor uns - die rasende Multiplikation des Vermehrungsprozesses gibt sich damit moralisch gruänes Licht.“.36

Doch nicht nur durch die entstehende Anspruchsmentalitäat und die da­mit verbundene Aufweichung der Autoritäat des Staates geht nach Gehlens Überzeugung eine politische Gefahr vom „Humanitarismus“ aus. Ein weite­res Problem besteht darin, daßdie staatliche Politik ein Ethos erfordert, in dem die Kategorien Sicherheit und Ehre eine hervorgehobene Rolle spielen.37 Da diese Kategorien dem Humanitätsethos wesensfremd sind, gefährden hu- manitäre Forderungen in der Politik die machtpolitische Schlagkräftigkeit des Staates. Die unweigerliche Folge davon ist ein Verlust der Selbstbestim- mungsmäglichkeiten eines Volkes und ein Herabsinken des Nationalstolzes, das auch jeden einzelnen Bärger schmerzlich berähren muß. Letzteres ist für Gehlen insbesondere deshalb bedauerlich, da die Ehre der Nation in seinen Augen einen unmittelbaren ethischen Wert darstellt.38

Es stellt sich die Frage, wie Gehlen zu der Auffassung kommt, daßder Staat nicht nur bestimmte Tugenden induziere, sondern auch einen eigenen ethischen Wert hat. Dies wird wiederum verständlich aus Gehlens Institu­tionenlehre. Institutionen vermitteln danach eine eigene Sollgeltung. Da sich Institutionen nach Gehlens Auffassung niemals ganz allein zweckrational be­gründen lassen (dies anzunehmen käme fur Gehlen einem naiven Glauben in die primäre Vernänftigkeit der menschlichen Natur gleich), so treten Insti­tutionen dem Menschen als etwas Absolutes, Gultigkeit aus eigenem Recht beanspruchendes gegenuber. Die Berechtigung des Staates geht deshalb uber seinen rationalen Existenzzweck, nach innen und nach außen Sicherheit zu gewähren, hinaus.

3.1.3 Das anthropologische Argument: Humanismus als über­dehntes Familienethos

Die Ethik zerfaällt nach der Grundthese von Gehlens ethischem Pluralismus in verschiedene Ethosformen, die er als „Sozial-Regulationen“ bezeichnet, da sie dem Zweck dienen, das Zusammenleben des Menschen in arterhaltender Wei­se zu regulieren. Die verschiedenen Ethosformen alias „Sozial-Regulationen“ gehen auf unterschiedliche anthropologische „Instinktresiduen“ zuruck. Geh­len zählt davon vier verschiedene auf: Gegenseitigkeit, physiologische Tu­genden, Familienethos, Institutionenethos.39 Der „Humanitarismus“ hat sich nach Gehlen aus dem Familienethos heraus entwickelt. Das Familien- und Sippenethos kommt als Grundlage des Humanitarismus“ deshalb allein in Frage, weil nur dieses Ethos die entsprechenden Liebes- und Agressionshem- mungsinstinkte bereitstellt. Urspriinglich bezogen sich diese Instinkte nur auf die (sinnlich-anschaulich bekannten) Familienmitglieder. Allerdings beobach­tet man schon in vergleichsweise primitiven“ Gesellschaften die Ausdehnung dieses Ethos auf die weitere Verwandtschaft, wobei Verwandtschaft“ nicht unbedingt Blutsverwandtschaft bedeuteten muß, sondern durch kulturell sehr verschiedene Verwandtschaftssysteme festgelegt ist. Bereits auf dieser Stu­fe ist also eine Erweiterung ( Elargierung“) des Ethos auf eine schließlich nur noch abstrakt gegebene Gemeinschaft angelegt, bei der nicht mehr jedes Mitglied alle anderen Gemeinschaftsmitglieder kennt. Der nächste Schritt der Elargierung des Familienethos’ besteht in seiner Ausdehnung auf Kö­nigreiche, wobei der König als Vaterfigur die noch immer nötige familiare Bezugsperson darstellt. Auf dieser Ebene tritt bereits jener klassische Kon­flikt zwischen Familie bzw. Sippe und Staat auf, der in einigen griechischen Tragödien, wie z.B. der „Antigone“ des Sophokles, seinen Niederschlag ge­funden hat. In den nicht mehr archaischen Monarchien - Gehlen wahlt hier als Beispiel den franzoösischen Absolutismus - kommt noch eine weitere Kon­fliktlinie hinzu, naömlich die zwischen dem nunmehr auf den Staat bezogenen Familienethos, das im Ideal auf Liebe und Treue zum Monarchen einerseits und vöterlicher Fursorge des Monarchen andererseits beruht, und dem neuen Institutionenethos der Institutionen rationaler Herrschaft wie der Verwaltung und dem Heer.40

Der „Humanitarismus“ stellt nun nach Gehlen den letzten möglichen Schritt einer Erweiterung dar, naömlich die Erweiterung des Familienethos auf die ganze Menschheit. Gehlen sieht dies überaus kritisch und kann sich diesen letzten Schritt nur noch aus der bereits besprochenen politisch­instrumentellen Verwertung durch eine interessierte Schicht von Intellek­tuellen erklören: „...so sollte eine scheinbar unpolitische Binnenmoral der ,Menschheit’ von einer uberdehnten Hausmoral geliefert werden... Da wird doch der verdeckt politische Inhalt erkennbar, denn mit dieser Prioritat wur­de man den Staatstugenden die Wurzeln abgraben, dem Behauptungswillen, der Treue zur eigenen Grnndung, der wachsenden Sorgfalt und dem Willen, Grenze und Identitöat zu behaupten - mit einem Wort: dem Patriotismus. Auch wird klar, wer das Wort fuhrt: der Intellektuelle der Großstadt, der Konformist der Negation, dessen ganze Geltungschance von einer Kritik ab- höngt, die schmerzend trifft.“41

Ein weiterer Grund, aus dem Gehlen das Familienethos - wenn auch nicht kategorisch so doch fur die hohen Aufgaben von Politik und Kultur - ablehnt, ist es, daßseiner Meinung nach das Familienethos noch nie eine große kul­turelle Leistung hervorgebracht hat: „alles was Größe hat: ‘Staat, Religion, Kunste, Wissenschaften wurde außerhalb ihres Bereiches [des Bereiches der Familie, E.A.] hochgezogen“.42

3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens

3.2.1 Vorüberlegung zu Gehlens Methode: Entlarvungstechnik und empirische Ethik

Bevor Gehlens Argumente im Einzelnen untersucht werden, bedarf Gehlens Argumentationsweise einer näheren Betrachtung. Es stellt sich dabei namlich heraus, daßeinige der von ihm angewandten Methoden zur Klarung von Problemen der philosophischen Ethik von vornherein untauglich sind.

Unter philosophischer Ethik verstehe ich dabei die Antwort auf die Frage: „Was sollen wir tun?“ Diese Frage unterscheidet sich sowohl von dem Fragen­komplex: „Was glauben die Menschen, was sie tun sollen? Welches sind die ethischen Normen einer bestimmten Kultur, eines bestimmten Volkes oder ei­ner bestimmten Epoche?“, als auch von der Frage: „Welche Interessen verfolgt ein Mensch, wenn er diese oder jene Auffassung zu Fragen der Moral außert?“. Die Antwort auf letzteres koännte man als eine Interessentheorie des morali­schen Denkens bezeichnen, die Antwort auf die vorhergehende Frage gibt die empirische Ethik. Betrachtet man nun Gehlens Argumente im Hinblick auf diese Unterscheidung, so ist festzustellen, daßnur Gehlens im vorhergehen­den als politisch“ eingeordnete Argumentation unmittelbar philosophisch­ethischer Art ist, denn nur hier argumentiert Gehlen auf der normativen Ebene, indem er dem Humanitatsethos den der Wert der Selbsterhaltung des Staates gegenuberstellt. Es stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit interessentheoretische Erwaägungen und empirische Untersuchungen fuär die philosophische Ethik fruchtbar gemacht werden können.

Die Entlarvungstechnik in der Ethik Ein Teil der Vorwurfe, die Geh­len gegen das Humanitaätsethos vorbringt, besteht darin, daßGehlen bei den Vertretern des Humanitätsethos unredliche Motive wie ubermaßige Geltungs­sucht, sinnlose Zerstärungswut oder opportunistisches politisches Kalkul auf­decken zu kännen glaubt. Gehlen folgt damit einem in der Philosophie des äfteren verwendeten Verfahren der Moralkritik, welches man als Entlarvungs­technik bezeichnen kann. Das Vorbild der Entlarvungstechnik als Methode der Moralkritik liefert Friedrich Nietzsche in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“, worin Nietzsche die christliche Nachstenliebe als „Sklavenmoral“ denunziert, die von Schwäachlingen zu dem eigennuätzigen Zweck erfunden wird, die Starken und Schonen, die „blonden Bestien“, wie Nietzsche sie, wohlmäglich in Anspielung auf die (blonde ?) Mahne von Läwen,43 nennt, im genüßlichen Gebrauch ihrer brutalen Kräfte zu hemmen.44 Grundsätzlich wird bei der Entlarvungstechnik eine bestimmte Moral nicht dadurch kriti­siert, daßgezeigt wird, daßsie zu anderen, höherrangigen moralischen Werten in Widerspruch steht oder bei ihrer Anwendung zu (moralisch) untragbaren Zuständen fuhrt, sondern es wird versucht, den Nachweis zu erbringen, daßihre philosophischen Vertreter ein bestimmtes, meist egoistisches, in jedem Falle aber moralfremdes Interesse verfolgen, wenn sie diese Moral einfordern, wobei es sich bei diesen Interessen dann in der Regel nicht um offen liegen­de sondern um vermutete latente Interessen handelt. Eine andere Variante der Entlarvungstechnik ist die von manchen Marxisten gebrauchte, Moral generell als ideologischen Überbau über ükonomischen Verhaltnissen zu be­trachten.45 Es genügt dann, den gesellschaftlichen Standpunkt (burgerlich oder proletarisch) eines Philosophen festzustellen, und man weiß, was man von dessen Ethik zu halten hat. Gehlen selbst ubernimmt sogar bestimmte Nietzeanische Denkfiguren, wenn er das Vorgehen der kynischen oder stoi­schen Philosophen als die „Eroberung der Eroberer“ deutet.

Die Entlarvungstechnik hat jedoch einen entscheidenden Nachteil. Selbst wenn wir sicher wissen, welche unredlichen Motive einen Philosophen zur Aufstellung bestimmter moralischer Grundsätze bewegt haben, so sagt dies noch längst nichts daruber aus, ob diese Grundsatze gut oder schlecht be- gruündet sind, und ob sie nicht vielleicht trotz der tadelnswerten Absichten des Philosophen dasjenige wiedergeben, was objektiv moralisch richtig ist. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Wenn die Entlarvungstechnik uns etwas uüber die moralische Richtigkeit einer ethischen Auffassung mittei­len koünnte, dann wuürde ein und derselbe moralische Imperativ guültig oder ungültig sein je nachdem, von wem er gerade geäußert wird, was offensicht­lich absurd ist. Mit Hilfe der Entlarvungstechnik kann man daher keinerlei Feststellungen uüber die Guültigkeit sittlicher Ürteile treffen. Daruüber hinaus schleichen sich bei der exzessiven Verwendung dieser Technik oft noch andere Fehler ein. So werden recht häufig die moralfremden Interessen mehr unter­stellt als schlüssig nachgewiesen, was auch schwierig genug wäre. Bei Gehlen tritt letzteres besonders deutlich in der Ungerechtigkeit hervor, mit der er den Theologen Karl Barth behandelt.

Trotz aller Kritik gegen die Entlarvungstechnik mußdennoch eingeräumt werden, daßsie fur bestimmte Zwecke durchaus von Nutzen sein kann. So kann uns die Entlarvungstechnik oft auf die die richtige Fahrte führen, wo die Schwächen einer ethischen Theorie zu suchen sind. Auch kann sie, wenn und nachdem wir festgestellt haben, daßein Philosoph ziemlich irrige Moral­vorstellungen entwickelt hat, helfen zu erklaren, wie diese Irrtümer zustande gekommen sind.

Insgesamt bleibt jedoch festzustellen, daßGehlen, soweit er nur die Ver­treter des Humanitütsethos in schlechtem Licht erscheinen laßt, noch keinen Grund gegen die Gültigkeit dieses Ethos vorgebracht hat. Ebensowenig sagt die Feststellung, daßdas Humanitütsethos in geschichtlichen Dekadenzperi­oden entstanden ist, etwas über die moralische Richtigkeit oder Falschheit dieses Ethos aus.

Empirische Ethik Einen nicht geringen Teil von Gehlens Werk bilden Überlegungen zur historischen Entstehung, zur kulturellen Funktion und zur anthropologischen Ableitung des Humanitatsethos. Es soll hier nicht bestrit­ten werden, daßdie empirische Ethik als ein bestimmtes Forschungsgebiet ihre Berechtigung hat. Es stellt sich allerdings die Frage, in welcher Bezie­hung empirische und philosophische Ethik zueinander stehen, d.h. ob und unter welchen Bedingungen aus den Ergebnissen der empirischen Ethik nor­mative Schlußfolgerungen gezogen werden können.

Es scheint zunüchst so zu sein, daßaus der empirischen Ethik keinerlei normative Schlußfolgerungen gezogen werden künnen. Aus der bloßen Tatsa­che, daßzu einer bestimmten Zeit bei einem bestimmten Volk eine bestimmte Norm anerkannt wurde, lüßt sich nicht ableiten, daßdiese Norm tatsachlich gilt. Dies ist auch dann nicht müglich, wenn uber eine bestimmte Norm alle Voülker und alle Zeiten uübereinstimmen, denn dies schließt einen Irrtum noch nicht aus. Auch daßsich die Anwendung einer Norm innerhalb einer Gesell­schaft im Sinne einer „Sozial-Regulation“ als nutzlich erwiesen hat, beweist noch nichts uber ihre normative Gultigkeit, denn sie künnte auch dann immer noch ungerecht oder ethisch verwerflich sein. So ist zum Beispiel die Norm, daßFrauen „hinter den Herd“ gehüren, fur das Familienleben und damit auch fur die Gesellschaft keineswegs unnutz, aber sie ist dennoch in hochsten Maße ungerecht. Eine gesellschaftlich nützliche Förderung der öffentlichen Sicher­heit wäre zu erwarten, wenn die Polizei Verbrecher zu dem Zweck foltern durfte, die Namen ihrer Komplizen herauszufinden. Dennoch wird dies aus ethischen Griinden fur gewühnlich abgelehnt.

Ebensowenig künnen aus einer Theorie der anthropologischen Quellen der Ethik, sei diese nun mehr anthropologischer oder historischer oder anderer Art, irgendwelche Schlußfolgerungen in Bezug auf die normative Gultigkeit ei­ner moralischen Forderung abgeleitet werden. Denn wie sollte sich ein Mensch verhalten, der wissen mochte, ob eine bestimmte Norm richtig ist, und nun - anthropologische Üntersuchungen anstellend - bemerkt, daßdiese Norm über keine anthropologische Quelle verfügt? Soll er nun darauf verzichten, sich nach dieser Norm zu verhalten, oder müßte nicht schon allein die Tat­sache, daßer sich dieser Norm gemüßverhalten konnte, eine Theorie Lügen strafen, die diese Handlungsautonomie leugnet? Es scheint sich namlich so zu verhalten, daßeine bewußte Überzeugung ein hinreichender Grund fur einen Menschen ist, um gemaßder moralischen Norm, von deren Richtigkeit er uberzeugt ist, zu handeln. Zwar künnte es sein, daßdas Bewußtsein des Menschen so beschaffen ist, daßes nur von ganz bestimmten Normtypen, um deren Ermittlung die Anthropologie sich bemuht, überzeugt sein kann. Doch sollte irgendwann einmal ein Mensch trotzdem von der Richtigkeit einer Norm uberzeugt sein, die sich nicht unter diesen Normtypen einordnen laßt, dann würe bereits damit die anthropologische Theorie widerlegt. Fur den handelnden Menschen bedeutet dies, daßer sich in der Wahl seiner Maximen zwangslüufig fur frei halten muß.46 Oder anders formuliert: Die Anthropo­logie kann Einschränkungen der menschlichen Freiheit bloßfeststellen (und sich dabei irren) aber nicht vorschreiben.

Wie verhült es sich aber nun, wenn ein Mensch feststellt, daßdie sittli­che Norm, nach der er glaubt, handeln zu muüssen, einer anthropologischen Quelle entspringt, die nicht identisch ist mit dem Bereich, in dem die Hand­lung stattfindet? Man künnte sich in dieser Situation etwa einen Politiker vorstellen, den - vielleicht unter dem Einflußder seichten Lekture stoischer Philosophen - das Gefuühl beschleicht, er muüsse auch im Bereich der Politik die urspriinglich (d.h. vor hunderten oder tausenden von Jahren!) der Fa­milienmoral entstammenden Prinzipien der Humanitüt stürker zur Geltung bringen. Würe nun der Hinweis auf den familiüren Ursprung der Humanitat ein schlagendes Argument gegen ihre Beriícksichtigung in der Politik? Kei­neswegs, denn man wurde hierbei einen ühnlichen Fehler begehen, wie bei dem Gebrauch der Entlarvungstechnik, da aus den Entstehungsumstaünden einer Ethosform weder etwas uber ihre Brauchbarkeit als „Sozial-Regulation“ noch uber ihre normative Gültigkeit abgeleitet werden kann. Dies gilt ins­besondere dann, wenn es sich bei dem in Frage stehenden Ethos um einen „elargierten Instinkt“ handelt, der ja im Laufe seiner Elargierung auch eine Zweckanpassung an die neue Gebrauchssituation erfahren haben konnte. Man mußdabei beachten, daßnach der Gehlenschen Anthropologie der Mensch nicht wie das Tier über festgelegte Instinkte verfugt, sondern daßder Funk­tionswandel seiner Instinkte fuür ihn geradezu wesenstypisch ist. Wollte man nun behaupten, die menschlichen Instinkte könnten keine anderen Funktio­nen übernehmen als die ursprünglichen, so hieße dies, die Überlebensfähigkeit des „weltoffenen“ Tieres Mensch überhaupt zu bestreiten. Die Frage, ob und inwieweit das Humanitütsethos in der Politik zur Geltung gebracht werden kann, ist daher selbst dann keine Frage seines Ursprungs, wenn wir es mit Gehlen als erweitertes Familienethos betrachten, sondern sie hüngt davon ab, welche Spielräume und Handlungsmüglichkeiten dem Menschen im Bereich der Politik eröffnet sind. Fur die Beantwortung dieser Frage, die eine Frage der Politik bzw. der Politischen Wissenschaft darstellt, ist die Anthropologie jedoch ein viel zu grobes Werkzeug.

Es besteht allerdings ein gewisser Unterschied zwischen der Frage nach der Verbindlichkeit moralischer Normen für einen einzelnen Menschen, der an sich selbst beliebig rigorose Anspruüche stellen kann, und der Frage, welche moralischen Normen für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich gel­ten sollten. Bei der zweiten dieser Fragen mußdas unter anthropologischen Gesichtspunkten realistischerweise Moügliche beruücksichtigt werden, denn es hat keinen Zweck moralische Normen einzufordern, die die meisten Menschen chronisch uüberfordern, weil die Folge hoüchstens eine generelle Mißachtung der Moral sein würde, wie ja auch das Zivilrecht und das Strafrecht in gewissem Maße das vielleicht krude Rechtsempfinden der Bürger berücksichtigen müs­sen und nicht bloßeine abstrakte Moral, da sonst die Buürger dazu neigen könnten, zur Selbstjustiz zu greifen. (Dies ist z.B. bei der Diskussion der Fra­ge, ob der Strafe eine Rache-Funktion zukommen soll, zu berücksichtigen.) Im Bereich des üffentlichen Lebens und der Politik sind daher anthropologische und andere empirische Informationen zur Klarung der Frage der Gebräuch­lichkeit und damit - will man nicht ganz weltfremd bleiben - auch der Gül­tigkeit moralischer Normen notwendig. Allerdings spielt hier nicht die Frage nach dem Ursprung von Normen eine Rolle, sondern es steht die schwierige und - sollte die Freiheit des Menschen denn eine Tatsache sein - nie ganz zu klüarende Frage nach dem menschlich Moüglichen im Vordergrund.

Es hat sich also gezeigt, daßdie empirische Ethik kaum zur Begruündung moralischer Normen herangezogen werden kann. Abgesehen davon besteht die Gefahr, daßphilosophisch-ethisch relevante Unterscheidungen unterschlagen werden, da sie bei einer empirischen Untersuchung moüglicherweise gar nicht zum Tragen kommen. Geht man etwa von einer psychologischen Untersu­chung aus, so wurde man moralische Imperative nach der Art ihrer Reprä­sentation in der Psyche des Menschen einteilen. Es ist nun jedoch gut möglich, daßethisch relevante Unterschiede wie z.B. der zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen sich in der Intensitat der Sollensgefühle gar nicht wiederspiegeln. Gleichzeitig entsteht aus dem unvorsichtigen Ruckgriff auf die empirische Ethik ein Risiko, dem Gehlen, wie es scheint, nicht ganz entgangen ist: Gehlen diskutiert an keiner Stelle seines Werkes die ethischen Theorien und Gedanken, die von den philosophischen Befürwortern des Humanismus im Laufe der Jahrtausende entwickelt worden sind, vielmehr beschränkt er sich bei der Bildung seines Begriff des „Humanitarismus“ weitgehend auf die Merkmale, die er aus der historischen Betrachtung, bei der er obendrein recht wühlerisch verführt, aus seiner anthropologischen Ableitung und aus der hermeneutischen, d.h. lediglich die Intention „entlarvenden“ und nicht die Aussage berücksichtigenden, Deutung der Auffassungen von Befürwor­ten des Humanitütsethos gewinnt. So erhült das Humanitütsethos nach und nach Merkmale wie: Dekadenzmoral, Privatmoral, Gesinnungsethik. Das da­bei entstehende Zerrbild der humanistischen Ethik zu kritisieren und in bei­nahe jeder Hinsicht in Verruf zu bringen fallt Gehlen dann naturlich nicht mehr schwer. Dennoch zielt, wie zu Anfang dieser Arbeit bereits festgestellt, Gehlens Angriff durchaus auch auf den Kerngehalt der humanistischen Ethik, naümlich auf die Gleichheit aller Menschen und auf die Menschlichkeit als oberstes Prinzip der Moral.

3.2.2 Kritik des historischen Argumentes

Von allem, was Gehlen gegen den Humanitarismus“ vorbringt, sind seine hi­storischen Ausfuührungen am wenigsten uüberzeugend. Zwar stimmt es, wenn Gehlen die Entstehung des antiken Humanismus der Verfallszeit der griechi­schen Stadtstaaten zurechnet, doch schon wenn Gehlen daraus gegenuüber den Kynikern und den Stoikern den Vorwurf der opportunistischen Anbiederung an die neuen Herrscher ableitet, urteilt Gehlen ungerecht. Schließlich mußte man Zenon und Anthistenes ihre politische Meinung doch lassen, wenn sie die Großreiche für die bessere politische Ordnung halten (falls sie dies taten). Auch verwundert es, daßGehlen sie der Entpolitisierung der Bevölkerung zeiht („fíir die Vielen die Lümmerweide“), wo sich Gehlen die Politisierung des Bürgers doch ohnehin nur als Inpflichtnahme durch den Staat vorzustel­len weiß, an der es wohl auch Großreiche nicht günzlich fehlen lassen wer­den. Weiterhin verwickelt Gehlen sich in Widerspruche, wenn er der kynisch- stoischen Ethik einerseits eine herrschaftsabstuützende Absicht unterstellt und ihr gleichzeitig ihre vermeintlich dekadent-subversive Wirkung vorwirft. Hi­storisch sehr fragwuürdig ist auch Gehlens Andeutung, daßdem roümischen Kaiserreich sein Humanitätsethos zu schaffen gemacht habe. Trajan, der, weil er das Feldlager liebte, auch „der Soldatenkaiser“ genannt wurde, war gewißnicht humanitür verweichlicht. Auch sein tuchtiger Nachfolger Hadrian wußte, dadurch daßer immer wieder die Provinzen bereiste und die Gren­zen befestigte, die Sicherheit des rümischen Reiches zu gewahren, obwohl er anders als sein Vorgünger auf Kriegszuge und (letztenendes doch nicht zu hal­tende) kriegerische Erwerbungen verzichtete. Antoninus Pius wirft man vor, er habe sich zu wenig um die Provinzen gekümmert und Kriege um jeden Preis vermieden, doch mag dies vielleicht nicht weniger mit den Handlungs­und Entscheidungsgewohnheiten des ehemaligen Verwaltungsbeamten Anto­ninus als mit humanitärer Verweichlichung zu tun haben. Seinen Nachfolger Marc Aurel hinderten die stoischen Überzeugungen jedenfalls nicht daran, sich als tatkräftigen Kriegsherren zu beweisen.47 In der Blätezeit des römi­schen Kaiserreiches war die Außenpolitik also keineswegs durch humanitäres Abschlaffen geprägt, wenn sie in ihren Zielsetzungen auch maßvoller blieb als die vorhergehenden Phasen imperialistischer Expansion. Im Innern je­doch hat das Humanitätsideal tatsächlich zu einer gewissen Humanisierung beigetragen, die Gehlen unverständlicherweise mit einem ziemlich süffisanten Ünterton beschreibt.48 Daßdie politisch-ökonomische Doppelkrise im 3.Jahr- hundert, so wie Gehlen durch seinen Hinweis auf die notwendig gewordenen Schutzmaßnahmen Aurelians suggeriert, eine kausale Folge der Verweichli­chung durch das Humanitaätsethos war, duärfte sich historisch ebenfalls kaum belegen lassen. Wendet man den Blick schließlich der Endphase des römi­schen Reiches zu, so ist der Verfall des Reiches nach Kaiser Konstantin vor allem durch die innere Zerrissenheit und die blutigen Rivalitätskampfe der Nachfolger Konstantins bedingt, was dann wohl doch mehr auf Kosten des „Machtethos“ als des Humanitätsethos geht.

Der Zusammenhang von Humanismus und Dekadenz bzw. Kulturver­lust scheint noch weniger vorhanden zu sein, wenn man den Renaissance­Humanismus oder den Humanismus der Aufklarung als Beispiel wählt. Geh­len schutzt sich freilich vor dieser Einsicht, indem er die Aufklärung pauschal als zersetzend ablehnt.49 In dieselbe Richtung geht auch seine Bemerkung, die Familie habe niemals etwas Großes hervorgebracht, die man sich dahin­gehend zu ubersetzen hat, daßdas Humanitätsethos, als dem Familiengeist entsprungen, kulturellen Hächstleistungen im Wege stehe. Hierzu ist zu sa­gen, daßdie Ethik gar nicht die Aufgabe hat, die Menschen zu kulturellen Leistungen zu stimulieren. Große kulturelle Fortschritte sind abgesehen da­von oft in Ümbruchsperioden zustande gekommen, in denen eine urspruäng- lich vergleichsweise starre und geschlossene Gesellschaft sich liberalisierte und neuen Einflüssen öffnete (z.B. Rußland im 19.Jahrhundert, Deutschland in den 20er Jahren).

3.2.3 Kritik des politischen Argumentes

Wie bereits dargelegt wurde, halt Gehlen das Übergreifen des humanitaren Ethos auf die Politik aus mehreren Gründen für verhangnisvoll: Es geführdet die öußere Souverünitat des Staates, indem es die Sicherheitspolitik mora­lisch delegitimiert. Es geführdet die innere Handlungsfühigkeit des Staates, indem es im Verbund mit dem Masseneudaimonismus eine Anspruchsmenta- litüt beim Burger entstehen lüßt. Ünd es unterminiert den Patriotismus, was die nationale Identitüt geführdet.

Bevor diese Einwande auf ihre Überzeugungskraft hin untersucht werden, mußjedoch auf Gehlens Ansicht eingegangen werden, der Staat induziere ein eigenes Ethos, mit Gehlens Worten: „die necessitas rerum im Staate als letzte, auch ethische Berufungsinstanz, als Sichbeugen unter den Sachzwang in Ehre und Disziplin“.50 Es gibt nun allerdings einen sehr einfachen Grund, warum der Sachzwang niemals eine letzte und schon gar keine ethische Berufungsin­stanz sein kann: Sachzwünge entstehen erst in Bezug auf beabsichtigte Ziele. Nur wenn jemand die Absicht hat dieses oder jenes Ziel zu verwirklichen, werden die außeren Umstünde bzw. die Grenzen der Handlungsmoglichkei- ten dieses Menschen zu Sachzwaüngen. Dies bedeutet jedoch, daßdie Beru­fungsinstanz nicht der Sachzwang, sondern das zu verwirklichende Ziel ist. Üm eine ethische Berufungsinstanz handelt es sich dann, wenn dieses Ziel ein ethischer Wert ist. Von einer letzten ethischen Berufungsinstanz kann sinnvollerweise nur dann die Rede sein, wenn es sich bei diesem ethischen Wert um einen obersten ethischen Wert handelt. Der Irrtum, der darin be­steht, den Sachzwang selbst als Berufungsinstanz zu betrachten, zieht die fatale Folge nach sich, daßdas verfolgte Ziel unter dem Namen „Sachzwang“ verborgen und so insgeheim sanktioniert wird, so daßeine rationale Abwaü- gung dieses Ziels gegenüber anderen Zielen unterbleibt. Dies kann Politikern, die ihre Absichten manchmal gern verdunkeln und die Guterabwügung zwi­schen ihren eigenen und moüglichen anderen Zielen vermeiden moüchten, nur recht sein. Der Bürger, der die Berufung auf den Sachzwang als „letzte, auch ethische Berufungsinstanz“ blindlings abkauft, lüuft Gefahr, bei der Beur­teilung von Politik hilflos zu werden, da er politische Entscheidungen nicht mehr als die schwierige rationale Abwüagung zwischen konkurrierenden Zie­len unter Beruücksichtigung der beschraünkten Handlungsmoüglichkeiten sowie der Kosten-Nutzen-Relation versteht, sondern ihm statt dessen Politik und Geschichte durch schicksalhafte Notwendigkeiten bestimmt zu sein scheinen, deren Unausweichlichkeit er finster billigen muß. Dieser Blindheit scheint auch Arnold Gehlen nicht immer ganz zu entgehen, wenn er die Auffassung vertritt, daßKriege in der Regel ungewollt aus unvermeidlichen machtpoliti­schen Zwangslagen entstehen51, oder wenn er, in kritikloser Übernahme der damaligen ideologischen Selbstrechtfertigung, die Einschätzung wiedergibt, der (Kolonial-)Imperialismus werde vorangetrieben durch den ,,biologische[n] Druck wachsender Massen“ und drucke so „die furchtbare Wahrheit aus, daßLeben von Leben zehrt“.52

Wenn auch Sachzwaänge als solche als Berufungsinstanz ausfallen, so kann doch andererseits kein Zweifel daräber bestehen, daßdie Herstellung äußerer Sicherheit ein wichtiges Ziel staatlicher Politik darstellt. Gehlen vertritt im Einklang mit der Schule des politischen Realismus die Auffassung, daßdazu die Maximierung von Macht erforderlich ist.53 Er deutet dabei nur vage an, wo fär ihn die Grenzen des noch sinnvollen Machtgebrauchs liegen.54 Uber das vom politischen Realismus als sinnvoll betrachtete Maßdes Machtgebrauchs geht Gehlen deutlich hinaus, wenn er die außere Aggression auch zur Bewäl­tigung innerer Krisen fur notwendig und sinnvoll erachtet, wie er das offen­bar bei seiner Deutung des Imperialismus tut.55 Auch mußes aus Sicht des politischen Realismus, der den Machtgebrauch streng zweckrational auf das sicherheitspolitische Ziel bezieht und dadurch in gewisser Weise limitiert, als eine gefahrliche Übertreibung angesehen werden, ein Eigenethos der Macht zu postulieren, und den Machtgebrauch als einen Genußhochzuschätzen.56 Da der politische Realismus die denkbar pessimistischsten anthropologischen Vorstellungen in der Politik zu Grunde legt57 und darüber hinaus keinerlei moralische Einschraänkungen vornimmt, markiert er die oberste Grenze des überhaupt zu rechtfertigenden Machtgebrauchs. Es stellt sich jedoch immer noch die Frage, ob Gehlen nicht im Grundsatzlichen damit Recht behalt, daßeine effiziente Außen- und Sicherheitspolitik mit der humanistischen Ethik unvereinbar ist. Legt man die humanistische Ethik jedoch verantwortungs­ethisch aus, so läßt sich mit ihr auch der Einsatz militarischer Gewalt recht­fertigen, sofern er dem Schutz von Leben, Freiheit und Menschenwrnde der Burger dient. Damit ist allerdings auch schon die Grenze gezogen, bis zu der nach humanistischem Verständnis Sicherheitspolitik sinnvoll und notwendig ist. Weder wäre es sinnvoll, einen despotischen Staat um seiner selbst will zu verteidigen, noch ließe sich ein unbegrenztes Machtstreben rechtfertigen, wie dies der politische Realismus verlangt. Da nach der humanistischen Ethik das Lebensrecht der Burger anderer Staaten nicht weniger wiegt als das der Bur­ger des eigenen Staates, so kann die äußere Machterweiterung - im Gegensatz auch zu den Forderungen eines normativ verstandenen politischen Realismus - hächstens bis zur Herstellung eines Gleichgewichtszustandes gerechtfertigt werden.

Bis zu einem gewissen Grade läßt sich also auch eine harte Sicherheits­politik mit der humanistischen Ethik rechtfertigen. Damit wird Gehlens Vor­wurf hinfällig, der „Humanitarismus“ gefährde die außere Selbstbehauptung des Staates. DaßGehlen bei seiner „Apologie der Macht“58 weit über das vernuänftige Maßhinausgeht häangt unter anderen damit zusammen, daßer den Staat und die Souveränitat des Staates als Selbstzweck betrachtet. Auf das Staatsverstaändnis Gehlens wird weiter unten noch eingegangen werden. Zuvor soll noch kurz beleuchtet werden, welche sicherheitspolitische Bedeu­tung der Souveränität zukommt. Souveränität im Sinne weitgehend unein­geschränkter außenpolitischer Handlungsmäglichkeiten ist fur Gehlen eine unerläßliche Voraussetzung dafíir, die Sicherheit des Staates und die Selbst- bestimmungsmäglichkeiten einer Nation zu gewährleisten. Dies ist jedoch nur teilweise richtig. Die Sicherheit des Staates läßt sich im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme unter teilweiser Aufgabe der Souveränität oftmals bes­ser erreichen als im nationalstaatlichen Alleingang. Was die Selbstbestim- mungmoäglichkeiten angeht, so ist das unter den Besatzungsstatuten stehende Westdeutschland in der Zeit von 1948-1990 das beste Beispiel dafur, daßder Mangel an Souveränitat noch keinen Nachteil fur die Bärger bedeuten muß. Es ist wenig einleuchtend, wenn Gehlen behauptet, diese Situation habe nur fur sehr kleine Interessentenkreise Vorteile, so fär Intellektuelle, Fabrikanten und den kleinen Kreis der Erkennenden“.59 Auch ist kaum anzunehmen, daßes mehr Menschen als ein Häuflein national gesinnter Intellektueller sind, die „das entgangene stolze Bewußtsein, einem großen, starken, geachteten und gefürchteten Volk anzugehören“60 grämt.

Noch weniger überzeugend als seine außenpolitischen Argumente sind Gehlens innenpolitische Bedenken - zumindest dann, wenn man sie als Ein­wände gegen den Humanismus auffaßt. Gehlen befurchtet, daßdie Auswei­tung der Anspräche im Sozialstaat zum Immobilismus fährt, derart daßder Staat nur noch Umverteilungsaufgaben und keine eigentlich politischen Auf­gaben mehr wahrnimmt.61 Es ist nicht ganz klar, was in Gehlens Augen die eigentlich politischen Aufgaben sind. Vermutlich laäuft seine Befuärchtung dar­auf hinaus, daßzugunsten des Sozialetats die anderen Haushalte zu stark ge- schräpft werden kännten. In diesem Punkt, und auch was seine Kritik der zu­nehmenden Anspruchsmentalitaät und des Verhaltens der Interessengruppen angeht, ist Gehlen durchaus zuzustimmen. Soweit seine Kritik am Sozialstaat jedoch grundsätzlicher Natur ist, scheint sie eher mit Gehlens autoritarem Staatsverständnis zusammen zu hängen, nach welchem es sich einfach nicht gehärt, wenn die Burger Ansprache an den Staat stellen. Als Kritik an der humanistischen Ethik sind Gehlens Einwäande jedoch verfehlt, denn die hu­manistische Ethik fordert keineswegs eine Ausweitung des Sozialstaates uber seine Leistungsgrenzen hinweg. Auch führt das Humanitätsethos keineswegs mit innerer Logik äber den von Gehlen so genannten „Masseneudaimonismus“ zu den staändig sich uäberschlagenden Anspruächen aggressiv auftretender In­teressengruppen. Selbst wenn es eine Tendenz des Humanitätsethos gäbe, in dieser Weise exzessiv auszuarten, so hieße es immer noch das Kind mit dem Bade ausschuätten, wollte man deswegen die humanistische Ethik aufgeben oder auf den familiaren Bereich beschränken.

Weder im innen- noch im außenpolitischen Bereich gefäahrdet die huma­nistische Ethik also das Funktionieren des Staates. Im Gegenteil lassen sich sogar bestimmte sicherheitspolitische Forderungen mit dem Humanitätsethos normativ begränden. Wenn Gehlen die Gältigkeit des Humanitatsethos im Bereich der Politik leugnet, dann geschieht dies zu einem Teil auch deshalb, weil das Humanitätsethos seinem Staatsverständnis zuwider lauft. Gehlens Ideal des Staates ist das eines nationalen autoritaären Machtstaates. Als sol­cher stellt er fuär Arnold Gehlen einen Selbstzweck dar. Und nur als solcher hat der Staat fär Gehlen uberhaupt einen Wert. Anders ist Gehlens flammen­de Empärung daruber, daß„der Leviathan mehr und mehr die Zuge einer Milchkuh“62 annehme und dem „Anprall der Gesellschaft“63 geradezu hilflos ausgeliefert sei, kaum nachzuvollziehen. Der Wert des Staates erschäpft sich für Gehlen keineswegs in seiner Nutzenfunktion für die Gesellschaft, sondern dem Staat selbst kommt als Institution eine wertkonstituierende und sinnge­bende Wirkung zu, durch die der Burger eine „Daseinssteigerung“ erfahrt.

Zur kritischen Erörterung dieses Staatsverstandnisses empfiehlt es sich, dessen verschiedene Aspekte in Form von Fragen zu formulieren und ein­zeln zu untersuchen: l.Ist die Existenz des Staates wenigstens teilweise ein Selbstzweck bzw. ein eigener ethischer Wert? 2.Ist die Zugehörigkeit zu einem starken Staat oder einer souverönen Nation fur den Burger sinngebend und bedarf der Burger einer solchen Sinngebung? 3.Ist es wunschenswert, daßder Staat Sinngebungsfunktionen uöbernimmt?

Die erste dieser Fragen ist eine unmittelbare Wertfrage und deshalb et­was schwierig zu entscheiden. Denn obwohl klar ist, daßvon verschiedenen ethischen Standpunkten nur einer gultig sein kann, da in der Ethik anders als etwa in der Ästhetik eine Toleranz widersprechender Werte nicht hinnehm­bar ist, ist es der Philosophie bisher noch nicht gelungen die Letztgöltigkeit irgend eines ethischen Wertes oder eines ethischen Satzes zu beweisen. Al­les, was sich bisher erreichen lößt, ist die Röckföhrung ethischer Werte auf wieder andere ethische Werte. Die Kritik moralischer Überzeugungen möß- te sich so gesehen auf die Aufdeckung logischer Inkonsistenzen beschraönken. Allenfalls wöre es noch möglich aufzuzeigen, welche Konsequenzen sich aus der Verwirklichung bestimmter Werte ergeben. Stellt sich nun jemand auf den Standpunkt, daßein bestimmter ethischer Wert eine absolute und damit keiner weiteren Rückfuhrung auf andere Werte mehr bedürftigen Gültigkeit besitzt und haölt er die Konsequenzen, die sich aus der Verwirklichung dieses Wertes ergeben, fur hinnehmbar, ja vielleicht sogar auf Grund dieses Wertes fur wönschenswert, so gibt es keine Möglichkeit ihn von der Falschheit sei­nes Standpunktes zu uöberzeugen. Was bleibt, ist es, diesem Standpunkt eine andere Üö berzeugung entgegenzustellen.

Vom humanistischen Standpunkt aus stellt nun die Existenz eines Staates (und besonders eines Rechtsstaates) zweifellos einen hohen Wert dar, denn sie geht mit einem Maßder Verwirklichung humanistischer Werte im Inne­ren einher, welches sich im staatsfreien Naturzustand niemals erreichen lößt. Der Wert des Staates bleibt aber ausschließlich der eines uöberaus nuötzlichen Mittels zu dem Zweck, die Sicherheit und Freiheit der Buörger zu gewöahrlei- sten. Der Staat erhöalt somit seinen Wert nur durch den Buörger und nicht umgekehrt. Daßdem Staat keine eigenen ethischen Rechte oder ein selb- staöndiger ethischer Wert zukommt, laößt sich auch damit begruönden, daßder Staat als ein abstraktes Gebilde niemals Leiden empfinden kann und deshalb des Schutzes durch die Moral höochstens insofern bedarf, als seine Existenz die Burger vor Leiden schutzt. Selbst wenn dem Staat ein eigener Geist un­terstellt wird, was unter heuristischen Gesichtspunkten mehr oder weniger zweckmäßig seien mag, so kann der Staat daher doch niemals über ein sittli­ches Wesen verfägen.

Was die zweite Frage betrifft, so kann nicht bestritten werden, daßfür den Bürger die Identifikation mit dem Nationalstaat eine emotionale Bereiche­rung darstellen kann. Es handelt sich ohne Zweifel um echte und natärliche, vielleicht sogar edle Gefühle, die keinen Spott verdienen, wenn die Bürger mit dem Geschick ihrer Nation mitfählen ünd z.B. äber einen militarischen Sieg ihres Landes in Begeisterüng geraten ünd bei einer Kriegsniederlage Zerknirschüng empfinden. Dennoch ist es sehr fragwürdig, ob für die Aüsge- glichenheit des Seelenlebens der Büärger eine Notwendigkeit besteht, daßder Staat aüßerhalb seiner rationalen Fünktionen aüch noch solche emotionalen Bedärfnisse der Bärger befriedigt, wie den Dürst nach Rühm ünd Ehre oder vielleicht sogar religioäse Bedüärfnisse. Schließlich lassen sich diese Bedüärfnis- se aüch aüf andere Weise befriedigen. Für die Befriedigüng der religiösen Bedüärfnisse halten die christlichen Kirchen attraktive Angebote bereit, ünd wem wie Gehlen die Kirchen in der heütigen Zeit etwas zü laü geworden sind, der kann rigoroseren Sekten beitreten. Dem Wünsch, sich Rühm zü erwerben ünd die eigene Ehre zü verteidigen, laäßt sich sehr güt im Sport, insbesonde­re im Mannschaftssport, nachgehen. Der Sport eignet sich hierfür sogar viel besser, da der einzelne Mitspieler viel ünmittelbarer an den strategischen Entscheidüngen beteiligt ist als etwa der kriegsdienstverpflichtete Soldat aüf dem Schlachtfeld. Wenn aüch eine gewisse affektive Bindüng der Büärger an den Staat dürchaüs wertvoll ünd nüätzlich sein kann, so leidet andererseits das Lebensgläck der Bürger nicht weiter darünter, wenn der Staat mangels Macht den Bürgern das ,, ’stolze Bewüßtsein, einem großen, starken, geachteten ünd gefürchteten Volk anzügehören ’ “64 vorenthalt.65

Es ist darüäber hinaüs nicht nür nicht notwendig, daßder Staat eine Sinn- gebüngsfünktion erfüllt, sondern sogar von Nachteil, wenn er dies tüt. Der Gründ hierfür liegt darin, daßdie staatliche Politik in der Regel stets Ent­scheidüngen für die gesamte Bürgerschaft trifft. Dies bedeütet aber, daßnür dasjenige in den Bereich staatlicher Politik fallen sollte, was ünbedingt allge­meinverbindlich entschieden werden müß. Aüf die Frage jedoch, was im Leben Wert und Sinn hat, werden subjektiv stark differierende Antworten gegeben. Da hier eine allgemeinverbindliche Antwort zu finden auch gar nicht notwen­dig ist, wurde es dem Grundsatz weltanschaulicher Toleranz zuwiderlaufen und im ubrigen den Staat uberfordern, wollte der Staat dem Leben des Bur­gers Sinn und Orientierung verleihen.

Gehlens Staatsverstandnis ist also weder mit dem Begriff von Staat an sich identisch, noch erscheint es uberhaupt wunschenswert. Da das Huma­nitätsethos daruber hinaus eine hinreichende normative Grundlage sowohl fur die Existenz des Staates als auch fur die zur Erfällung der staatlichen Aufgaben notwendigen Mittel abgibt, bleibt kein Grund mehr die Existenz eines autonomen Staatsethos anzunehmen, es sei denn man wunschte dieses Staatsethos aus moralischer Überzeugung um seiner selbst willen.

Noch nicht restlos geklart ist bisher die Frage, in welcher Beziehung das Humanitätsethos zu den patriotischen Tugenden und zur nationalen Identität steht. Die Beantwortung dieser Frage wird sich aus dem folgenden Abschnitt ergeben, wo der Antagonismus von Humanitatsethos und Institutionen be­trachtet wird.

3.2.4 Kritik des anthropologischen Argumentes

DaßGehlens Vorwurf gegen den „Humanitarismus“, das Humanitatsethos entstamme einer Familienmoral selbst dann nicht trifft, wenn diese Aussage historisch wahr sein sollte, wurde bereits in den Voräberlegungen dargelegt. Es bleiben jedoch noch einige andere Vorbehalte Gehlens zu klaren. Gehlens Ansicht nach kollidiert der „Humanitarismus“ (insbesondere in seiner noch­mals gesteigerten Form als Moralhypertrophie) zwangsläufig mit dem Eige­nethos von Institutionen und wirkt, wenn er nicht eingegrenzt wird, kultur- zerstärend. Diesen Vorwurf der Zersetzung richtet Gehlen nicht nur gegen den Humanitarismus“ sondern gegen die Aufkläarung und aufklaärerisches Bemuä- hen uberhaupt. Gehlen ist der Ansicht, daßInstitutionen niemals vollständig rational begründet werden können.66 Dementsprechend lehnt Gehlen auch die rationale Kritik an Institutionen ab, da diese nur zu dem Ergebnis fähren kann, daßdie Institutionen unnätig sind.67

Zunaächst zur Frage der rationalen Begruänd- und Kritisierbarkeit von In­stitutionen und der Rolle der Aufklarung:68 Es ist zu unterscheiden zwischen der Begründung und der Entstehung einer Institution. Die meisten der heuti­gen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen sind in irgend einer Weise historisch gewachsen. Dies bedeutet jedoch noch nicht, daßsie rational un­begründet sind. Eine historisch gewachsene Institution kann ebenso rational begründet sein wie eine bewußt konstruierte Institution, wenn sie einem be­wußten Zweck dient, und wenn sie dazu geeignet ist, diesen Zweck zu erfullen. In dieser Weise können ehemals irrational begründete Institutionen nachträg­lich eine rationale Begriindung erhalten. So war die Ehe früher ein heiliges Sakrament, während die Ehe heute zweckmäßig ist, weil die Familie eine geeignete Form der „Brutpflege“ darstellt. Umgekehrt künnen Institutionen rational kritisiert werden, indem festgestellt wird, daßsie dem Zweck, den sie erfullen sollen, nicht dienlich sind, oder daßihr Zweck nicht mehr als sinnvoll anzusehen ist. Nun konnte eingewandt werden, daßdoch die Frage, ob ein Zweck sinnvoll sei, sich nicht rational entscheiden lasse. Dies ist zwar richtig, doch selbst wenn der Mensch nicht im Geringsten autonom ist, sondern ihm Zwecke nur dadurch sinnvoll erscheinen konnen, daßsie von einer machtigen Institution verkürpert werden, ist es immer noch müglich, bestimmte Institu­tionen im Namen anderer zu kritisieren, ja es ist sogar prinzipiell müglich, alle Institutionen auf diese Weise in Frage zu stellen - nur nicht alle auf einmal. Probleme entstehen lediglich, wenn sich die Institutionen allzu rasch wandeln, da die menschliche Gefuhlswelt immer eine gewisse Zeit braucht, sich an neue Institutionen anzupassen. Außerdem mussen Institutionen, welche auch eine Abstimmungsfunktion leisten, sich gesamtgesellschaftlich durchsetzen, was wiederum Zeit in Anspruch nimmt. Aber abgesehen davon, daßes schwierig ist, diese Leistungsgrenze zu ermitteln, ist der seelische Anpassungsaufwand fuür rational begruündete Institutionen wesentlich geringer, wodurch die Gefahr allzu rascher Veränderung wenigstens teilweise wieder ausgeglichen wird. Als historisch unrichtig mußGehlens Behauptung angesehen werden, daßAuf- klaürung stets nur eine destruktive aber niemals eine konstruktive Wirkung habe.69 Aus der Aufklürungsepoche Ende des 18.Jahrhunderts stammen viele großartige Institutionen, z.B. der moderne Verfassungsstaat. Und mit einer durch und durch auf aufklüarerischem Gedankengut beruhenden Verfassung haben es die Vereinigten Staaten von Amerika zur Weltmacht gebracht.

Wie ist nun die Kollisionsgefahr zwischen humanitürer Moral und dem Eigenethos von Institutionen zu bewerten? In der Tat ware es sehr pro­blematisch, wenn die Menschen in ihrem alltaüglichen Leben jederzeit und bei jeder Handlung zu berücksichtigen hütten, ob diese Handlung sich mit den hohen Forderungen der Humanität im Einklang befindet. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, daßdie Forderung, die Menschlichkeit müsse dem Institutionenethos, d.h. den Sekundärtugenden täglicher Pflicht­erfüllung, vorhergehen, kaum noch Probleme bereitet und im Gegenteil sogar geradezu naturlich erscheint, wenn sie auf die unmittelbaren Handlungen so­wie den Zweck der Institution beschrankt wird aber nicht mehr die für den einzelnen meist unabsehbaren Folgewirkungen des eigenen Handelns umfaßt. In der Regel treten solche Kollisionen im Alltagsleben eher selten auf. Wenn sie jedoch auftreten, so ist es üblich der Menschlichkeit vor dem Institutio­nenethos den Vorrang zu geben: Ein Angestellter, der zum Nutzen seiner Firma illegale Geschäfte abwickelt wird ebenso bestraft wie der Eifersuchts- märder, der sich durch die Institution der Ehe zu seiner Schandtat berechtigt fuhlt. Soldaten oder Verwaltungsbeamte, die auf Anweisung Verbrechen be­gehen, kännen sich nicht mit dem Befehlsnotstand herausreden, sie mussen sich fur ihr Handeln unmittelbar rechtlich verantworten. Man kann ohne allzu große Übertreibung sogar behaupten, daßder Vorrang des Humanitatsethos in gewisser Weise zu den normativen Grundlagen der Bundesrepublik gehärt, stehen doch die Grund- und Menschenrechte in der rechtlichen Normenhier­archie an der Spitze.

Die bisherigen Beispiele waren insoweit unproblematisch, als sie nur mäg- liches Fehlverhalten innerhalb von Institutionen betrafen, die als solche mo­ralisch einwandfrei waren. Schwerer ist es von Menschen zu verlangen, daßsie es erkennen, wenn die Institution, der sie dienen, unmenschlich ist. Sich gegen eine gesellschaftlich anerkannte und vielleicht sogar prestigetraächtige Institution zu stellen erfordert ein gehäoriges Maßan Mut und selbstaändigem Denkvermäogen. Dagegen, so weitreichende Forderungen an den Einzelnen zu stellen, spricht zweierlei: Einmal konnte man darin eine moralische Über­forderung des Einzelnen sehen, die ihn mit Aufmerksamkeitsanspruächen und der mäglichen Pflicht, den Helden zu spielen, uberlastet. Zweitens konnte die­se Forderung die Grundlagen von Staat und Gesellschaft aushohlen, da das Funktionieren unubersehbar komplexer Gesellschaftssysteme ganz wesentlich darauf beruht, daßAutorität anerkannt wird. Hatte nun jeder Einzelne das Recht und sogar die Pflicht, äber die moralische Legitimität dieser Autorita- ten zu entscheiden, so koännte dies fatale Folgen bis hin zum Abgleiten in die Anarchie haben.

Diese mäglichen Einwände sollen nun im Einzelnen diskutiert werden.

l.Die Überforderung des Einzelnen durch das Humanitätsethos Nimmt man an, daßeine bestimmte Institution - z.B. der nationalsoziali­stische Staat - unmenschlichen Zwecken dient, so kann man davon ausgehen, daßauch ein an abgelegener Stelle in dieser Institution tätiger Mensch irgend­wann einmal mit dieser Unmenschlichkeit in Beruhrung kommen kann: Der Schreibtischtäter kennt die Anweisungen, die äber seinen Schreibtisch lau­fen, der Bahnbeamte, der mit den Deportationszugen zu tun hat, weißunter welchen Bedingungen die Deportationen stattfinden, der Hilfspolizist, der zu einer Massenerschießung befohlen wird, kennt die Verbrechen aus seinen ei­genen Handlungen. Um die Unmenschlichkeit der Institution zu erkennen, mußein Mensch in einer solchen Situation also keine weitlaufigen Untersu­chungen anstellen sondern lediglich dem mehr trauen, was er mit eigenen Augen sieht, als der Deutung, die er „von oben“ bekommt. Daßdies leider selten genug der Fall ist70 spricht, da es im Prinzip leicht mäglich ist, nicht dagegen es als Forderung aufzustellen. Nun kännte jedoch mit dem Hinweis geantwortet werden, daßes in den oben skizzierten Fällen, unter den Bedin­gungen einer totalitären Diktatur nur unter Lebensgefahr mäglich gewesen wäre, sich dem Gehorsam zu entziehen. Darauf ist zu antworten, daßes eben Situationen gibt in denen ein Mensch nur die Wahl hat, entweder ein Held oder ein Schurke zu sein. Es ist nicht unbillig, zuweilen von Menschen Hel­dentaten zu fordern. Ublicherweise wird ja auch von jedem Soldaten, der in die Schlacht geschickt wird, erwartet, daßer für das Kriegsziel sein Leben ris­kiert. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg konnte man daher zugespitzt sagen: Mit dem selben Recht, mit dem von einem Soldaten der Alliierten gefordert wurde, sein Leben im Kampf gegen Hitler aufs Spiel zu setzen, hatte man von einem deutschen Soldaten fordern können, sein Leben beim Desertieren zu riskieren.71 Wird also erwartet, daßder Einzelne auch fur seine Instituti­on verantwortlich ist, so uäbersteigt die Anforderung an das Heldentum des Einzelnen folglich nicht das uäbliche und von allen Nicht-Pazifisten ohne Wi­derspruch anerkannte Maß. Ubrigens vertritt auch Gehlen die Auffassung, daßder Einzelne fur das Agieren seiner Institutionen haftbar ist.72 Konse­quenterweise mußte der Einzelne dann auch die Pflicht (mindestens aber das Recht) haben, sich aus moralischen Gränden gegen das Ethos der Institution zu entscheiden.

2.Der Gehorsam und das Gewissen In den Situationen, in denen es fur den Einzelnen geboten wäre, sich aus moralischen Griinden gegen die Institu­tionen zu entscheiden, ist er in der Regel auf sein eigenes Gewissen verwiesen, denn die gesellschaftliche Moral heiligt für gewöhnlich die herrschenden Insti­tutionen. Eine Institution bei der dies nicht der Fall wäre, würde vermutlich schnell abgeschafft werden, oder sie würde von selbst verschwinden. Wird nun grundsätzlich vom Einzelnen Verantwortung fur die Institutionen gefordert, so hieße dies der freien Gewissensentscheidung Tär und Tor zu äffnen, ei­ner Gewissensentscheidung, die dann oft genug falsch oder verlogen ausfallen wird und so bestenfalls zur einer erhähten Zahl von Deserteuren, untreuen Mitarbeitern oder abtriinnigen Verwaltungsbeamten fuhrt, die schlimmsten­falls aber auch Terroristen die moralische Selbstermächtigung zu beliebigen Verbrechen mäglich macht. Andererseits kann die gegenteilige Forderung, un­ter allen Umständen die (institutionelle) Pflicht zu tun, nicht weniger fatale Folgen haben. Mit dieser Moral lassen sich die Menschen zu dienlichen Werk­zeugen für die schlimmsten Verbrechen vom Weltkrieg bis zum Välkermord machen. Denn, mag das Gewissen auch eine tyrannische Macht sein, so ist es der blinde Gehorsam nicht weniger.

Angesichts dieser Situation scheint es immer noch besser, grundsatzlich von der Guältigkeit des Institutionenethos auszugehen, aber dabei klarzustel­len, daßdie Tugenden der Disziplin und Pflichterfällung gegenäber den In­stitutionen neben der Menschlichkeit sekundäar bleiben.

Von diesem Standpunkt aus läaßt sich nun die Frage nach der Geltung der „vaterländischen Tugenden“ beantworten. Das Humanitätsethos steht weder der Heimatliebe im Sinne einer persänlichen Präferenz noch dem Patriotismus im Sinne eines maßvoll gehandhabten moralischen Gebotes entgegen. Aller­dings bleibt der Patriotismus der Humanitäat untergeordnet, und die Grenze liegt dort, wo der Patriotismus in Chauvinismus, d.i. der moralischen Abwer­tung anderer Nationen oder Välker, äbergeht, oder wo der Patriotismus aus falsch verstandenem vaterlaändischem Stolz den Staat und die Souveräanitäat als Selbstzweck betrachtet und dadurch eine maßvoll-vernänftige Sicherheits­politik erschwert.

4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertro­phie

4.1 Die Unzulänglichkeit von Gehlens pluralistischer Ethik

Zum Abschlußder Kritik von Gehlens Auffassungen soll auf einer mehr grundsätzlichen Ebene Gehlens Programm einer pluralistischen Ethik be­trachtet werden. Prinzipiell mußvon einer philosophischen Ethik verlangt werden können, daßsie in jeder (moralisch fragwürdigen) Handlungssituati­on eine eindeutige Lösung vorgibt, wie in dieser Situation moralisch richtig zu handeln ist. Eine Philosophie, die es zulaßt, daßin ein und der derselben Situation gegensötzliche Handlungsweisen gleichermaßen moralisch geboten sind (tragische Situation), stellt sich selbst ein Armutszeugnis aus, denn sie hat die Aufgaben der philosophischen Ethik nicht lösen können. Zu behaup­ten, tragische Situationen seien in der Ethik unvermeidlich, wuörde von eben­sowenig Originalitöt zeugen, wie die Behauptungen, alles sei erlaubt, oder jedes Wissen sei relativ. Gehlens ethischer Pluralismus geht davon aus, daßfur verschiedene Lebens- bzw. Handlungsbereiche unterschiedliche Ethosfor­men zustöndig sind. Dennoch vermeidet Gehlens ethischer Pluralismus tra­gische Situationen nicht gönzlich, denn die Grenzen der Gultigkeitsbereiche der verschiedenen Ethosformen sind unscharf. Dieses Ergebnis, so duörftig es fur den Anspruch aller philosophischen Ethik, Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ zu geben, ist, mußte immer noch dann akzeptiert werden, wenn es sich durchaus nicht vermeiden ließe. So sind wir ja auch in der Frage der Letztbegruöndung der Ethik praktisch gezwungen, den ethischen Dezisionis­mus hinzunehmen, da bisher noch keine Ethik hat bewiesen werden können, obwohl der Dezisionismus eigentlich nicht weniger skandalos ist. Fur Geh­len ist dieses Ergebnis aus zwei Gruönden unvermeidbar. Einmal ist es die Folge seines empirischen Ansatzes, denn faktisch sind die Grenzen zwischen den Ethosformen in der Tat fließend. Daßdies jedoch nicht dem philosophi­schen Versuch im Wege steht, hier eine sinnvolle Grenzbestimmung zu treffen, sofern man nur zwischen dem faktisch Vorhandenen und dem normativ Gel­tenden unterscheidet, ergibt sich aus der bereits ausgefuhrten Kritik an dem empirischen Ansatz in der Ethik. Der zweite Grund besteht darin, daßjeder Versuch, die tragischen Situationen durch einen ethischen Monismus zu ver­meiden, nach Gehlens Ansicht zu einer Enthemmung von Aggressivitöt und zur Moralhypertrophie fuhren muß.

Den Vorwurf der Aggressivitat, der Nivellierung und des Gesinnungster­rors gegen den „Humanitarismus“ zu erheben, wird Gehlen vom ersten bis zum letzten Kapitel seines Werkes nicht müde. Zum Schlußdes Buches ver- steigt Gehlen sich sogar zu dem waghalsigen Vergleich des innerhalb der Bundesrepublik laut werdenden „Humanitarismus“ mit der Unterdröckung von nationaler und ethnischer Identitöt, ja sogar mit Volkermord.73 Dabei betreffen die Beispiele von „humanitaristischer“ Aggressivitöt, die Gehlen wiedergibt, mit Ausnahme des historischen Beispiels der franzosischen Re­volution bestenfalls Faölle verbaler Aggressivitaöt. Gehlens Vorwurf der Ag­gressivität ist um so weniger berechtigt, als er sich selbst streckenweise zum Anwalt kaum gehemmter MachtausUbung aufwirft und die Freuden kriegeri­scher GewaltausUbung gar als „Daseinsprämien“74 preist, ohne daßihn dies daran hindert, sich selbstmitleidig äber die Gewalt und Intoleranz des „Hu­manitarismus“ zu empören. Wenn man freilich so argumentiert, dann wird Christus in die Rolle des Tyrannen gedrängt, und der Großinquisitor darf sich als der Gekreuzigte fuählen.

4.2 Die bedingte Berechtigung von Gehlens Vorwurf der Moralhypertrophie

Mußalso der Vorwurf der Aggressivität des ubersteigerten „Humanitarismus“ wegen seiner maßlosen Uberzogenheit zurnckgewiesen werden, so ist Gehlens Diagnose der Moralhypertrophie andererseits im Kern zutreffend. Mit „Mo­ralhypertrophie“ kennzeichnet Gehlen eine Einstellung, die alle Probleme in Staat und Gesellschaft als primär moralische Probleme auffaßt. Jede politi­sche Entscheidung erscheint dann als eine moralische Frage ersten Ranges, bei der die Humanitaät selbst auf dem Spiel steht, wobei daruäber hinwegge­gangen wird, daßpolitische Probleme zu einem großen Teil aus Sachfragen bestehen oder aus der Abwagung von Interessen (d.h nicht von moralischen Gätern), und daßselbst dann, wenn eine politische Entscheidung moralische Fragen aufwirft, in der Regel dennoch eine pragmatische Entscheidungsfin­dung geboten ist. Die Einstellung der Moralhypertrophie geht einher mit der Auffassung, daßdie menschlichen Handlungen im wesentlichen durch gute oder bäse Absichten bzw. das Gute und das Bäse an den Absichten motiviert sind. Psychologisch ist die Einstellung der Moralhypertrophie bei ihren Ver­tretern gekennzeichnet durch eine Art latenter Empoärung, durch eine Verbis­senheit, die nur darauf wartet, sich in giftigen Lamentos über die Schlechtig­keit „der Politiker“ oder des Menschen ganz allgemein Luft zu machen. Eine Ursache des Auftretens der Moralhypertrophie in modernen Gesellschaften liegt vermutlich in der Undurchschaubarkeit ihrer Lebensgrundlagen und der Komplexitat ihres Gefäges. Die Moralhypertrophie kompensiert diese Un- durchschaubarkeit, indem sie durch ihre simple Gut-Bäse-Logik scheinbar jeden Vorgang verständlich macht, wobei sie sich auf den psychologischen Mechanismus stutzt, daßdem Menschen schwierige Dinge verständlich er­scheinen, wenn sie auf etwas Vertrautes (in diesem Fall das moralische Beur­teilungsschema) zuruäckgefuährt werden, wobei die sachliche Stimmigkeit oder Unstimmigkeit dieser Ruckfuhrung keine Rolle spielt. Nach Gehlen wird die Moralhypertrophie durch die Anspruchsmentalitaät der Buärger im Sozialstaat erheblich gefördert. Dies läßt sich besonders an dem Agieren der Interessen­gruppen im Staat aufweisen. Üblicherweise treten die Interessengruppen so auf, als ob das Interesse ihrer Mitglieder geradezu deren gutes Recht sei. Daßdies in Wirklichkeit sogar zu Verzerrungen der Gerechtigkeit fuhren kann, führte in jüngster Zeit die sehr unterschiedliche äffentliche Resonanz vor Au­gen, die die Schließung von Kohlengruben und Stahlwerken in Westdeutsch­land mit gewerkschaftlich gut organisierter Belegschaft und die Abwicklung der ostdeutschen Industrie begleitete.75

Anders, als Gehlen meint, resultiert das Phänomen der Moralhypertro­phie nicht schon daraus, daß„ein Ethos die Herrschaft äber die anderen beansprucht“, d.h. aus einer monistischen Konstruktion der Ethik. Die Mo­ralhypertrophie oder, um einen gebraäuchlicheren Ausdruck zu verwenden, der „Moralismus“76, ist ein Phänomen, das nicht an eine bestimmte Moral gebun­den ist, und das unter verschiedenen Bedingungen auftreten kann. Gerade­zu wesenstypisch ist der Moralismus für totalitäre Staaten. Dann erscheint Nachlässigkeit bei der Arbeit als Sabotage, die Unterschlagung von „Volksei­gentum“ wird zum politischen Delikt, oder die Bekanntschaft mit Juden gilt als eine äffentliche Schande. Aber auch in Demokratien tritt der Moralismus als Mode und Zeiterscheinung immer wieder auf. Dabei ist der Moralismus nicht an eine bestimmte politische Richtung gebunden. Die nationalistischen Agitatoren beispielsweise, die sich in der Weimarer Republik äber Gustav Stresemanns sehr machtbewußte, aber pragmatische Außenpolitik empoärten, verhielten sich nicht weniger moralistisch, als jene evangelischen Theologen in der Bundesrepublik, die Arnold Gehlen im Visier hat. Ein Hauch von Moralismus scheint sich auch in Gehlens Politikvorstellung einzuschleichen, wenn er die Ehre als politische Kategorie betrachtet, denn die Ehre ist eine hochmoralische und zugleich radikal antipragmatische Kategorie.

4.3 Die Grenzen des Vorwurfs der Moralhypertrophie

Auch wenn eine pluralistische Ethik für den Moralismus vermutlich weniger anfällig ist, so stellt eine monistische Ethik wie die humanistische Ethik weder selbst eine Form von Moralhypertrophie dar, noch fuhrt sie zwangslaufig oder mit innerer Logik dorthin. Gegenäber Gehlens pluralistischer Ethik hat die humanistische Ethik jedoch den Vorteil, daßsie tragische Situationen nicht zustande kommen läßt. Zusätzlich hat der konkrete ethische Pluralismus, den Gehlen vorschlägt, den Nachtteil, daßdurch die Auffassung ethischer Impe­rative als „Sozialregulationen“ der Unterschied zwischen gerechten und unge­rechten „Sozialregulationen“ leicht verloren geht. Auch unterscheidet Gehlen nicht besonders sorgfältig zwischen ethischen Werten und anderen Werten (ein Irrtum der durch die „Wert“-Terminologie anstelle der Rede von ethi­schen Imperativen stark begünstigt wird). So wird dann beispielsweise ein vitaler Wert, wie die Gesundheit, in die Nahe ethischer Werte geräckt. Dabei ist die Gesundheit keineswegs ein ethischer Wert. Hächstens kann der Schutz der Gesundheit ein ethischer Imperativ sein, was ein feiner aber - in Bezug auf diesen und noch mehr auf andere vitale Werte - wichtiger Unterschied ist. Diesen Unterschied vernachlässigt Gehlen auch, wenn er der humanisti­schen Ethik „Formalismus“ vorwirft.77 Denn wenn die Wurde des einzelnen Menschen fur den Humanismus der hächste ethische Wert ist, so impliziert dies noch laängst nicht, daßjedes Tun und jede Eigenschaft von Menschen als ethisch wertvoll angesehen wird. Es besteht durchaus kein Widerspruch, zwischen der Anerkennung der Menschenwuärde eines Straftaäters bzw. seines Wertes als Mensch und der Mißbilligung seiner Tat.

5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primartugend

Abschließend soll wenigstens kurz skizziert werden, wie eine humanistische Ethik unter sinnvoller Beriicksichtigung der Gehlenschen Kritik konstruiert werden kann, ohne daßdabei die Grundprinzipien der humanistischen Ethik aufgegeben werden. Dafìir mußberiicksichtigt werden, daßeine unmittelbare und unbegrenzte Umsetzung humanitaärer Prinzipien nicht in jeder Situation oder in jedem Bereich des Handelns ohne weiteres mäglich ist. Es heißt jedoch weder das Prinzip der Humanitat aufgeben noch den kollektiven Selbstmord riskieren, wenn man in diesen Fällen immer noch eine maximale Beachtung humanitärer Prinzipien fordert. Weiterhin ist in Rechnung zu stellen, daßdie Ethik einer Gesellschaft, wenn man die ethischen Normen als Sozialregulatio­nen auffaßt, nicht ausschließlich auf humanitäre Tugenden gegründet werden kann. Sekundärtugenden wie Fleiß, Disziplin, Pflichterfällung und Gehorsam im Sinne der Respektierung legitimer und wohlbegriindeter Autorität sind unerläßlich. Der Humanismus kann diesen Notwendigkeiten Rechnung tragen, wenn er die Sekundärtugenden zulaßt (was er für gewöhnlich tut), soweit ihre Erfullung nicht den Forderungen der Menschlichkeit widerspricht. Schließlich mußdie Gefahr des Moralismus berucksichtigt werden. Dieser Gefahr, der nicht allein die humanistische Ethik ausgesetzt ist, läßt sich mit etwas intel­lektueller Disziplin dadurch begegnen, daßman nicht jeden Bagatellfall gleich als Angriff auf die Menschenwurde interpretiert. Hierbei kännen Sekundar- tugenden im Übrigen sogar hilfreich sein, da sie solche weniger gravierenden Problemfälle gewissermaßen abfangen. Eine Beleidigung beispielsweise wäre dann in erster Linie ein Verstoßgegen die Hoflichkeit und nicht schon gegen die Menschenwärde, auf die sie nur unter einiger Überstrapazierung dieses Begriffs bezogen werden konnte.

Im Ergebnis erhalten wir auf diese Weise eine hierarchische Ethik. An der Spitze dieser Ethik steht die Wärde und Gleichheit des Menschen. An­dere Werte, seien sie ethischer oder anderer Natur, spielen die Rolle mitt­lerer Prinzipien oder sekundaärer Tugenden, was bedeutet, daßsie häochstens insoweit Gultigkeit beanspruchen kännen, als sie zu dem Humanitatsethos nicht im Widerspruch stehen. Im Konfliktfall hat immer die Menschlichkeit das letzte Wort, sie ist in diesem Sinne Primärtugend. Die Humanitat mußjedoch, um unter realistischen Bedingungen anwendbar zu sein, verantwor­tungsethisch, d.h. als prinzipiell einer utilitaristischen Abwägung gegenuber sich selbst faähig gedacht werden. Die hierarchische Ethik macht sich so die Vorteile von Gehlens ethischem Pluralismus (relativer Schutz vor Moralismus, eine der Differenziertheit des gesellschaftlichen Lebens angemessene Vielfalt von Prinzipien) zu eigen, aber sie vermeidet seine Nachteile (Moglichkeit „tragischer Situationen“, Verwirrung in Bezug auf die unterschiedliche Wich­tigkeit verschiedenartiger Werte, Gefahr der Verselbstaändigung bestimmter gesellschaftlicher Funktionen wie der Sicherheitspolitik).

Es ist dabei zu trennen zwischen Humanismus und humanistischer Ethik. Zwar geht die humanistische Ethik aus dem Humanismus als einem durch Selbsterziehung anzustrebenden und durch Bildung vermittelten Ideal har­monisch hervor, doch auch wenn man, wie Gehlen, im Humanismus die Ge­fahr eines in die Sinnleere menschlicher Selbstbezogenheit fährenden Ideals sieht, so mußman deswegen noch nicht die humanistische Ethik verwerfen.

6 Schluß

Zum Abschlußsoll die Frage beleuchtet werden, ob unter dem Eindruck von Gehlens Kritik des Humanitarismus der Begriff des Humanismus gewandelt werden muß, da sich der Humanismus vielleicht in einigen Punkten als ein nicht mehr haltbares Ideal erwiesen hat.

Meiner Meinung nach ubersteht zumindest die ethische Seite des Huma­nismus die Kritik Gehlens weitgehend unbeschadet. Weder Gehlens anthro­pologische Ableitung noch seine historische Entlarvung noch seine durchaus reaktionären Ausführungen zur Politik enthalten schlüssige Grunde gegen die humanistische Ethik in dem von mir definierten Sinne (Kapitel 3.1). Im wesentlichen hängt dies mit technischen Mängeln von Gehlens Argumenta­tionsweise zusammen. So wie Gehlen in seinem Werk Moral und Hypermo­ral die Probleme der Ethik angeht, lassen sich ethische Fragen eben nicht entscheiden. Lediglich in zwei Punkten scheinen mir die Mahnungen Gehlens beriicksichtigenswert: l.Die humanistische Ethik darf nicht gesinnungsethisch (miß-)verstanden werden. (Als ein solches Mißverständnis aus der Sicht der humanistischen Ethik käonnte man etwa den Pazifismus der Friedensbewe­gung in den 80er Jahren ansehen, soweit er moralisch begründet worden ist.) 2.Die humanistische Ethik darf nicht in Moralismus ausarten: Weder dient sie in irgend einer Weise der verstandnismaßigen Erschließung der Welt (keine Ethik leistet dies bzw. kann dies leisten), noch kännen alle menschlichen Le­bensbereiche in unmittelbarem Bezug auf die Prinzipien der humanistischen Ethik ethisch geregelt werden. Insofern ist eine Vielfalt moralischer Prinzipi­en erforderlich, die jedoch nicht pluralistisch nebeneinander stehen, sondern hierarchisch einander uber- und untergeordnet sind.

Abgesehen davon enthalt Gehlens Werk Moral und Hypermoral nur eher wenig, was von philosophischem Interesse ist. Zu denken wäare hier an das Askeseideal und - wenn auch weniger in ethischer als in anthropologischer Hinsicht - an Gehlens anthropologische Ableitung des Humanitarismus. An­sonsten wirkt dieses Buch eher wie ein haßerfuälltes Pamphlet, in welchem ein verbitterter Konservativer seinem Frust uber die Gesellschaft und poli­tische Kultur der zweiten deutschen Demokratie Luft macht, und das sich streckenweise liest wie ein warmes Plaädoyer fuär ein bißchen mehr Faschismus in userer Zeit.

Damit, daßdie humanistische Ethik weiterhin befuärwortenswert ist, ist allerdings die Frage noch nicht beantwortet, ob der Humanismus als Ideal noch aktuell ist oder sein kann. In dieser Hinsicht ist es jedenfalls bemer­kenswert, daßGehlen den Humanismus nicht - wie es offenbar manche Post­modernisten tun - deshalb ablehnt, weil Humanismus in seinen Augen etwa bedeutete, ein bestimmtes Wesen des Menschen oder eine bestimmte Form menschlichen Lebens als Ideal tyrannisch zu verabsolutieren und damit alle anderen Möglichkeiten des Menschseins in intoleranter Weise auszuschließen. Vielmehr wirft Gehlen - soweit sich das aus den vereinzelten Bemerkungen in Moral und Hypermoral zu dieser Frage schließen lößt - ganz im Gegenteil dem Humanismus seinen Formalismus vor, der darin besteht, den Menschen, wie auch immer und was auch immer er ist, also gerade ohne den Vorbehalt, daßder Mensch einem bestimmten Wesensideal von Menschsein genuögen muß, zu verherrlichen.

Literatur

[1]Browning, Christopher: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizei- batallion 101 und die „Endlösung“ der Judenfrage in Polen, Hamburg 1996.

[2]Fest, Joachim: Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, Berlin 1993.

[3]Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ende einer Illusion, Frankfurt am Main 1993.

[4]Gehlen, Arnold: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Wies­baden, 5.Aufl., 1986.

[5]Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.

[6]Gehlen, Arnold: Gesamtausgabe. Band 2. Philosophische Schriften II. (1933-1938), Frankfurt am Main 1980.

[7]Gehlen, Arnold: Gesamtausgabe. Band 3. Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1.Auflage von 1940. Teilband 1, Frankfurt am Main 1993.

[8]Gehlen, Arnold: Gesamtausgabe. Band 3. Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1.Auflage von 1940. Teilband 2, Frankfurt am Main 1993.

[9]Gehlen, Arnold: Gesamtausgabe. Band 7. Einblicke, Frankfurt am Main 1978.

[10]Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Wiesbaden 5.Aufl., 1986.

[11]Grenz, Friedemann: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Aufläsung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt am Main 1974.

[12]Herz, John H.: Politischer Realismus und politischer Idealismus. Eine Untersuchung von Theorie und Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1959.

[13]Jonas, Friedrich: Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Täbingen 1966.

[14]Kahrstedt, Ulrich: Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit, Bern 1958.

[15]Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1990.

[16]Klages,Helmus / Quaritsch, Helmut (Hrsg.): Zur geisteswissenschaftli­chen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994.

[17]Klaus,Georg / Buhr,Manfred (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 2. Band, Leipzig 1975.

[18]Lubbe, Hermann: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung öber die Urteilskraft, Berlin 1987.

[19]Morgenthau, Hans J.: Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Götersloh 1963.

[20]Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Stutt­gart 1993.

[21]Pflaum, Hans-Georg / Rubin, Berthold / Schneider, Carl / Seston, Wil­liam: Rom. Die römische Welt. Frankfurt/M / Berlin 1963.

[22]Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1996.

[...]


1 Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Wiesbaden, 5.Aufl., 1986, im folgenden zitiert als Gehlen: Hypermoral.

2 Als Beispiel sei hier aus den frühen Schriften (willkürlich) herausgegriffen: Arnold Geh­len: Wirklichkeitsbegriff des Idealismus (1933), in: Arnold Gehlen: Philosophische Schriften II. (1933-1938), Frankfurt am Main 1980, S.181-198.

3 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.

4 Trotz der von Gehlen öfters wiederholten Beteuerung des empirischen Charakters sei­ner Theorie, mußbezweifelt werden, ob Gehlens Theorie strengeren wissenschaftstheoreti­schen Anforderungen (insbesondere der Falsifizierbarkeit) genögen kann. Besonders deut­lich wird dies etwa in seinem Werk „Urmensch und Spatkultur“ (Arnold Gehlen: Urmensch und Spötkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Wiesbaden 5.Aufl., 1986, im folgenden zitiert als Gehlen: Urmensch.), wo Gehlen eine Reihe von Einzelbeispielen för „institutionelles“ und „darstellendes“ Verhalten liefert, aus denen sich jedoch kaum eine systematische und an objektiven Kriterien öberprufbare Theorie zusammensetzen lößt. (Besonders schwer wiegt hier, daßGehlen wichtige Grundbegriffe wie Institution und an­thropologische Kategorie undefiniert laßt) Vgl. zu den begrifflichen Schwierigkeiten dieses Werkes: Alfred Heuß: Gehlens Anthropologie und der „Ursprung“ der Geschichte, in: Hel­mut Klages / Helmut Quaritsch (Hrsg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994, S.235-353. - Gehlens Anspruch, Empiriker zu sein, entspringt da­her vielleicht eher dem Zweck der Abgrenzung gegenuöber metaphysischen Bestimmungen des Menschen (Scheler) und gegenöber der Kritischen Theorie (Frankfurter Schule) als eingelösten erkenntniskritischen Anspröchen. Vgl. auch Nevil Johnson: Das Gehlensche Denken in der angelsächsischen Welt: Überlegungen zu den Hindernissen auf dem Wege einer Rezeption, in: H.Klages / H.Quaritsch (Hrsg.), a.a.O., S.747-771.

5 Zu Gehlens Anthropologie vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch (l.Teilband), Frankfurt am Main 1993, S.3ff.

6 Zu Gehlens Institutionenlehre vgl. Gehlen: Urmensch, a.a.O., S.7-121. - Vgl. Fried­rich Jonas: Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966, S.43ff. - Vgl. Gehlen: Hypermoral, S.95-102.

7 Vgl. das Nachwort des Herausgebers Karl-Siegbert Rehberg, in: Gehlen: Der Mensch (2.Teilband), Frankfurt/M 1993, S.751-786 (S.753-755).

8 Vgl. Gehlen: Mensch 1940, a.a.O., S.364ff., S.427ff.

9 Vgl. Arnold Gehlen: Der Idealismus und die Gegenwart (1935), in: Arnold Gehlen: Gesamtausgabe. Band 2. Philosophische Schriften II. (1933-1938), Frankfurt am Main 1980, S.347-357. oder Arnold Gehlen: Rede über Fichte (1938), in: Ebda., S.385-396.

10 Vgl. den Text dieses Fragmentes in den Anmerkungen des Herausgebers zu Gehlen: Der Mensch (2.Teilband), Frankfurt/M 1993, S.790-795.

11 nIn explizitem Bezug auf die Religion schreibt Gehlen in der ersten Auflage von „Der Mensch“, „daßwir über den Sinn des Daseins oder des Lebens nichts aussagen können, daßaber einen solchen Sinn zu unterstellen notwendig, nicht nur erlaubt ist, weil das Leben zur Lösung seiner uns unbekannten Aufgabe des Bewußtseins, des Sinnbereichs selber, bedarf.“ (Gehlen: Mensch 1940, S.466.) - Hier taucht auch der - auch aus dem völkischen Denken und ebenso der Nazi-Ideologie vertraute - Topos auf, daßdem Menschen eine biologische Lebensaufgabe von ethisch verpflichtendem Charakter vorgeschrieben ist. (Vgl. dazu auch das Kapitel „Urphantasie“ in demselben Werk.) - Gegenuber den in diesem Kapitel geöußerten Auffassungen wird man wohl festhalten dörfen, daßdie Natur (und ebenso der liebe Gott) ihre tieferen (biologischen) Absichten schon selber verfolgen werden und koönnen, daßaber der Mensch sich zu nichts anderem verpflichtet fuöhlen muß, als was er auch (bei klarem Bewußtsein) einsehen kann. (Dieses Prinzip markiert nebenbei bemerkt den Unterschied zwischen dumpfer Mythologie und Offenbarungsreligion.)

12 Vgl Max Weber: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1996, S.16ff. - Vgl. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ende einer Illusion, Frankfurt /M 1993, S.107ff.

13 Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Wiesbaden 5.Aufl., 1986.

14 Ebda., S.79.

15 Vgl. ebda., S.10.

16 Ebda., S.26.

17 Vgl. ebda., S.70ff.

18 Vgl. ebda., S.83.

19 Vgl. ebda., S.151. - Gehlen nimmt hier irrtümlich an, daßdas Zensurverbot die Ver­antwortlichkeit des Autors ausschließt. Dies gilt jedoch noch nicht einmal im rechtlichen Sinne, da der Autor nachtrüglich immer noch zur Verantwortung gezogen werden kann, etwa durch eine Verleumdungs- oder Beleidigungsklage. Unter Zensur versteht man im rechtlichen Sinne ausschließlich die Kontrolle einer Schrift vor ihrem Erscheinen mit der müglichen Folge eines Erscheinungsverbotes. Dies allein wird durch Art. 5 GG Abs. 1 Satz 3 ausgeschlossen. Abgesehen von der rechtlichen Verantwortung mußauch der Journalist oder Buchautor ahnlich wie der Fabrikant auf dem Markt bestehen. Sein Handeln ist also nicht folgenlos, wie Gehlen dies notorisch unterstellt. Einleuchtend ist jedoch, daßein poli­tischer Autor in der Regel nicht in die Situation gerat, die Folgen der Verwirklichung seiner Empfehlungen tragen zu müssen. In diesem Sinne wird in der Tat eine müglicherweise vor­handene Leichtfertigkeit seinerseits folgenlos bleiben. Dasselbe gilt auch für Philosophen, die Buücher uüber Ethik verfassen.

20 Ebda., S.79.

21 Vgl. dazu besonders Gehlens Ausführungen zum antiken Ursprung des „Humanita­rismus“ in den ersten beiden Kapiteln des Werkes, worin diese Bedeutungselemente von

„Humanitarismus“ deutlich auszumachen sind, ebda., S.13-36. Weiterhin geht der univer­salistische Charakter, den Gehlen im „Humanitarismus“ feststellt, aus seiner anthropolo­gischen Erklarung des Humanitarismus als eines „elargierten“ Familienethos hervor. - Vgl. ebda., S.83ff.

22 Vgl. ebda., S.47.

23 Vgl. ebda., S.80f.

24 Ebda., S.24.

25 Vgl. ebda., S.15.

26 Vgl. Ebda., S.30f.

27 Vgl. ebda., S.35.

28 Vgl. ebda., S.81f. - Gehlen erklärt zwar nicht ausdrücklich sein Einverständnis mit Sorels These, doch Gehlen legt dem Leser mit seiner suggestiven Beschreibung der Antike genau diese These ziemlich nahe.

29 Vgl. ebda., S.81.

30 Ebda., S.143.

31 Ebda., S.134.

32 Vgl. ebda., S.121-139.

33 Klassiker des politischen Realismus ist nach wie vor: Hans J. Morgenthau: Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh 1963. Vgl. ebda., S.49ff. - Etwas vermittelnder, aber grundsatzlich in derselben Richtung: John H. Herz: Politischer Realismus und politischer Idealismus. Eine Untersuchung von Theorie und Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1959. Vgl. ebda., S.32ff.

34 Vgl. Gehlen: Hypermoral, a.a.O., S.103ff.

35 Vgl. ebda., S.110.

36 Ebda., S.83.

37 Vgl. ebda., S. 111.

38 Vgl. ebda., S.116

39 Vgl. ebda., S.47.

40 Vgl. ebda., S.86-92.

41 Ebda., S.92.

42 Ebda., S.93

43 So zumindest die wohlwollende Deutung dieses Ausdrucks durch Volker Gerhardt unter Verweis auf D.Brennecke im Nachwort zu: Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Stuttgart 1993, S.171-187 (S.184).

44 Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, a.a.O, S.26ff. (Erste Abhandlung, 10.Abschnitt.)

45 Vgl. die Stichworte Moral und Moralphilosophie in: Georg Klaus/Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Band 2, Leipzig 1975, S.823-826.

46 In diesem Sinne hat das Kantische „Du kannst, denn du sollst!“ durchaus seine Be­rechtigung, wenn es auch nicht als Beweis der menschlichen Willensfreiheit taugt. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1990, S.33-35.

47 Vgl. Hans-Georg Pflaum: Das römische Kaiserreich, in: Hans-Georg Pflaum / Berthold Rubin / Carl Schneider / William Seston: Rom. Die römische Welt, Frankfurt /M / Berlin 1963, S.317-428 (S.360-382).

48 Kahrstedt ist zwar auch der Ansicht, daßdie Philosophie im 2.Jh. einen zunehmend „pietistischen“ Einschlag bekommen habe, aber er halt dies nicht für eine Konsequenz des stoischen Humanitatsideales, sondern eher för eine Folge des Vordringens der orientalischen Religionen. Vgl. Ulrich Kahrstedt: Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit, Bern 1958, S.305ff.

49 Vgl. Gehlen: Hypermoral, a.a.O., S.102.

50 Ebda., S.106.

51 Vgl. ebda., S.113. - Vgl. dazu auch Gehlens in ihrer Arglosigkeit und Naivität kaum zu äberbietende Behauptung, das Handeln von Menschen in Fuhrungspositionen sei nicht durch Machttrieb zu erklären, sondern mässe vielmehr als eine Art Sachwaltung der ob­jektiven Anspräche der Institution verstanden werden, Gehlen: Urmensch, a.a.O., S.68f. - Durchaus treffen erscheint daher auch Adornos Einschätzung, daßGehlen die Unterwer­fung unter die Institutionen auf Grund einer tiefenpsychologisch erklärbaren Identifikation mit den angstgebietenden Mächten fordert. Vgl. dazu das Streitgespräch zwischen Ador­no und Gehlen in: Grenz, Friedemann: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Aufläsung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt am Main 1974, S.225-251 (S.245f.).

52 Vgl. Gehlen: Hypermoral, a.a.O., S.108.

53 Vgl. ebda., S.115/116.

54 Vgl. ebda., S.113/114., S.119.

55 Vgl. ebda., S.106-109. - Vgl. dazu auch: Arnold Gehlen: Die Gesellschaftsordnung im Widerstreit der Interessengruppen und der gesellschaftlichen Mächte, in: Arnold Gehlen: Gesamtausgabe. Band 7. Einblicke, Frankfurt am Main 1978, S.209-222 (S.212, S.217f.).

56 Vgl. ebda., S.116.

57 Vgl. Hans J. Morgenthau, a.a.O., S.21-24.

58 Gehlen: Hypermoral, a.a.O., S.116.

59 Ebda., S.112.

60 Ebda., S.113.

61 Vgl. ebda., S.117f.

62 Ebda., S.110.

63 Ebda., S.109. - Vgl. ebda., S.117ff.

64 Ebda., S. 113.

65 Eine etwas andere Frage ist es, ob eine starke emotionale Bindung an den Staat nicht der Einsatzbereitschaft der Burger für den Staat forderlich ist. Joachim Fest vertritt hier die Auffassung, daßder liberale Staat dem totalitaren Staat, der sich auf weltanschaulichen Fanatismus stützt, keine gleichwertigen Mobilisierungsreserven aufbieten kann. Dagegen lüßt sich jedoch einwenden, daßliberale Staaten in fast allen anderen Bereichen deutliche Effizienz-Vorteile aufbieten können. Im Übrigen weisen auch die scheinbar in der Konsum­Lethargie versunkenen Bevülkerungen liberaler Staaten im Zeichen außerer Bedrohung sehr lebendige Abwehrreflexe auf. - Vgl. Joachim Fest: Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, Berlin 1993, S.31ff.

66 Gehlen erfaßt in seiner Institutionenlehre mit den Begriffen der „sekundären Zweck­mäßigkeit“ und der „Stabilisierung nach räckwärts“ zwar auch die Möglichkeit der (zweck- )rationalen Begründung von Institutionen, aber diese erscheint ihm immer noch als hächst prekar. Vgl. F. Jonas, a.a.O., S.69ff.

67 Vgl. ebda., S.102.

68 Einer ausgearbeiteten und teilweise auch empirisch abgestätzten Theorie etwas gleich-

wertiges entgegenzuhalten ist im Grunde unmöglich. (Man müßte schon einige Jahre For­schung dazu betreiben.) Aber es ist immerhin möglich anzudeuten, wie eine solche Theorie aufgebaut werden konnte.

69 Vgl. Gehlen, Hypermoral, S.102.

70 Vgl. Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibatallion 101 und die „Endläsung“ der Judenfrage in Polen, Hamburg 1996, S.208ff.

71 Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so gelangt man zu dem allgemeinen Grund­satz, daßjeder Soldat in jedem Krieg das Recht und die Pflicht hat, sich selbst die Seite auszusuchen, auf der er kampft.

72 Vgl. Gehlen, Hypermoral, S.98f.

73 Vgl. Gehlen: Hypermoral, S.185.

74 Gehlen: Hypermoral, S.116.

75 Es wäre jedoch ein Fehler, das Vorhandensein von Interessengruppen im Staat grund­sätzlich zu kritisieren, denn die Interessengruppen erfüllen fär den Staat lebenswichtige Funktionen: l.Sie erkennen, bändeln und artikulieren Interessen, Probleme und Bedärf- nisse der Bärger. 2.Sie organisieren faktisch vorhandene gesellschaftliche Macht und äben sie in einigermaßen geregelten und legalen Bahnen aus. 3.Sie beziehen als zivilgesellschaft­liche Institutionen den Buärger in den politischen Prozeßein und vermitteln so zwischen Staat und Burger. Was konservative Kritiker von Interessengruppen dabei häufig ubersehen ist, daßdie Interessengruppen egoistische Einzelinteressen und substaatliche Machtzentren weniger schaffen als (in legaler und geregelter Form) zum Ausdruck bringen.

76 Ausfuhrlich und wesentlich uberzeugender als Gehlen hat dieses Phänomen Hermann Läbbe in einem Essay analysiert. - Hermann Lübbe: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung äber die Urteilskraft, Berlin 1987. - Lubbes historische These, daßder Moralismus eine notwendige psychische Voraussetzung fär die Verbrechen im Dritten Reich ist, trifft, wie mir scheint, jedoch nur fär bestimmte Tatergruppen zu.

77 Vgl. ebda., S.83., Vgl. ebda., S.143.

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Details

Title
Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk -Moral und Hypermoral-
College
University of Sheffield
Course
Hauptseminar: Die Humanismusdebatte im 20. Jahrhundert
Grade
1
Author
Year
1998
Pages
45
Catalog Number
V106902
ISBN (eBook)
9783640051779
File size
565 KB
Language
German
Notes
Bekannt ist Arnold Gehlen vor allem als ein bedeutender Wegbereiter der philosophischen Anthropologie in diesem Jahrhundert. Ebenfalls bekannt ist, dass Arnold Gehlen im Dritten Reich ein Anhänger der Nazis war. Eine entschieden autoritäre Grundeinstellung hat er sich aus dieser Zeit auch später noch beibehalten. Dies wird besonders deutlich an Gehlens letztem größeren Werk "Moral und Hypermoral", mit dem er auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik in den späten 60er Jahren reagiert. Einer angeblich durch eine Überdehnung des Familienethos verweichlichten politischen Moral setzt Gehlen dabei die "Staatstugenden" der Ehre, Vaterlandsliebe und einer das, was man landläufig "Realpolitik" nennt, durchaus noch überbietenden außenpolitischen Rücksichtslosigkeit entgegen. Gehlens Schrift war als Provokation beabsichtigt und hat dementsprechend auch die Kritiker auf den Plan gerufen. Gegenüber der - wie mir scheint - oftmals eher moralisch motivierten als überzeugend argumentierenden Kritik, versuche ich Gehlens moralphilosophische Argumentation nachzuvollziehen und ihre logischen Schwächen aufzuzeigen. Dabei stelle ich Gehlens "pluralistischer Ethik" eine "hierarchische Ethik" entgegen, an deren Spitze - banalerweise, muss ich einräumen - die Menschenliebe steht.
Keywords
Humanismuskritik, Arnold, Gehlens, Spätwerk, Hypermoral-, Hauptseminar, Humanismusdebatte, Jahrhundert
Quote paper
Eckhart Arnold (Author), 1998, Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk -Moral und Hypermoral-, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106902

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