A. N. Leontjew: Lernen als gesellschaftlich-historischer Determinismus


Élaboration, 2002

7 Pages


Extrait


STEPHAN PLATT

(Bei Verwendung des Textes - auch in Teilen - bitte ich um einen entsprechenden Hinweis in der Quellenangabe. Danke.)

A. N. Leontjew: Lernen als gesellschaftlich-historischer Determinismus UdK Berlin, 2002

Auf der Suche nach Prinzipien und Funktionen der menschlichen Psyche grenzt sich Leontjew einerseits ab von den Arbeiten der behavioristischen Schulen von beispielsweise Thorndike und Skinner, anderseits auch von der soziologischen Richtung, wie sie Piaget vertrat1 [1 ]: Erstgenannten wirft er vor, daß sie den Menschen lediglich als Geschichte seiner Anpassung sehen, deren Lernprozesse ausschließlich der Lebenserhaltung dienen; Piaget empfindet im argumentativen Dilemma, da dort sowohl auf die Relevanz von Akkomodation und Assimilation als auch auf die beeinflussende Wirkung von Mitmenschen hingewiesen wird, die die Strukturen der Erkenntnisprozesse umgestalten.

Statt dessen geht Leontjew von der gesellschaftlich-historischen Determiniertheit der Psyche aus, die nicht nur die objektive Realität widerspiegelt, sondern dabei auch von der Gesellschaft wesentlich geprägt wird. Er erklärt dies letztendlich über die Phylo- und Ontogenese des Menschen und den damit verbundenen Lernleistungen Anpassung und Aneignung.

Leontjew definiert Anpassung als biologisches Lernen, das durch die Umwelt hervorgerufen wird und in dessen Verlauf über Generationen hinweg sich sowohl die Arteigenschaften als auch die Fähigkeiten und angeborenen Verhaltensmuster des Subjekts ändern. Basis dafür ist die Wechselwirkung, über die jedes Lebewesen mit seiner Umwelt verbunden und im Austausch ist: Die Fähigkeit zur Selbsterneuerung2 [2 ] setzt zwingend voraus, daß Außenreize vom Individuum wahrgenommen und als richtungführend erkannt werden. Dafür nötig ist Sensibilität, also die grundlegende Fähigkeit, nicht nur diffus zu empfinden, sondern Reize und Reaktionen konkret unterscheiden und damit die Umwelt intraorganismisch widerspiegeln zu können3 [3 ].

Bei der Aneignung dagegen werden die historisch gewachsenen Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen vom jeweiligen Menschen reproduziert4 [4 ]. Voraussetzung dafür ist eine neue Qualität der Wahrnehmung und Widerspiegelung, und zwar Bewußtsein, dessen Entstehung mit der Vergegenständlichung von Lebensprozessen begann5 [5 ].

Zwei zentrale Merkmale zeichnen Bewußtsein aus: Erstens fallen darin die Abbildung der Wirklichkeit und das Erleben nicht mehr zusammen, sondern es kann die Widerspiegelung dem tatsächliche Erleben vorangestellt und davon losgelöst betrachten werden. Und zweitens ist dafür ein Werkzeug nötig.

Leontjew verweist auf Wygotski, wenn er die Sprache als das Werkzeug benennt, das Bewußtsein und Denken erst ermöglicht6 [6 ]: Sie ist Träger der bewußten Widerspieglung der Wirklichkeit7 [7 ]; in ihr löst sich das Objekt von seiner Gegenständlichkeit und wird zum Begriff, der Bedeutung hat8 [8 ]; die sprachlich benannte, kommunizierbare Bedeutung schließlich braucht nur noch als abstrakte Idee zu existieren, die vom Individuum gedanklich modelliert werden kann9 [9 ].

Zugleich macht Leontjew deutlich, daß in der Sprache auch die Begründung für die Determiniertheit des Menschen liegt: Der Individuum begegnet einem ursprünglich neutralen Objekt. Über den Umgang, über die Kommunikation mit andere Menschen wird dem Objekt Bedeutung zugeschrieben, es wird »vergegenständlicht«. Die Bedeutung, die sich das Individuum aneignet, ist die von der Gesellschaft gewonnene Kenntnis und Vorstellung des Objekts; mit dem Begriff, der dabei gelernt wird, wird zugleich die historische gewachsene Sicht der Gesellschaft auf den Gegenstand und ihr Verständnis über ihn verinnerlicht10 [10 ].

Nur weil ein Gegenstand gesellschaftlich zugewiesene Bedeutung hat, an dem der einzelne Mensch qua Bewußtsein Anteil hat, muß dieser Gegenstand für den Betroffenen noch lange keinen persönlichen Sinn besitzen11 [11 ]. Sinn aber erhält ein Gegenstand dadurch, daß er nicht nur das Ziel einer Handlung ist, sondern daß darüber hinaus auch ein Motiv vorhanden ist, das direkt oder indirekt mit der Handlung in Bezug steht (wobei das Motiv durchaus auf einen anderen Gegenstand bezogen sein kann12 [12 ]).

Sind Motiv und Ziel verschieden, so ist die Widerspiegelung der Wirklichkeit nicht nur Handlung, sondern sie ist bewußte und für das Subjekt sinnvolle Tätigkeit13 [13 ]. Und genau dieser individuelle Sinn ist es, der - wie Leontjews Arbeiten mit Schülern zeigen - Lernprozesse optimiert. Er ist nicht in de Bedeutung enthalten, sondern entsteht durch Leben resp. Im Unterricht durch Lebensnähe und Konkretheit14 [14 ].

Den Übergang vom Materiellen zum Gedanklichen, von der äußeren, konkreten zur inneren, geistigen Tätigkeit bezeichnet Leontjew mit Galperin als Interiorisierung15 [15 ]. Interiorisierung ist kein passiver Vorgang, sondern stets eine aktive Tätigkeit: Über Verkürzung, Verbalisierung und Verallgemeinerung wird der Gegenstand nicht mehr konkret, sprachlich und schließlich rein abstrakt faßbar und kann dann als weiterentwickelbarer Gedanke genutzt werden16 [16 ] (er wird sozusagen ausgedehnt). Passives Lernen, Lernen ohne Tätigkeit, ist folglich mit Leontjew nicht zu denken: Wäre der Rezipient passiv, würde im Bewußtsein schlichtweg nichts geschehen - ein Lernen fände nicht statt17 [17 ].

Leontjew stellt fest, daß Bewußtsein bzw. die bewußte Widerspiegelung gekennzeichnet ist durch das innere, wahrgenommene Verhältnis von Motiv und Ziel18 [18 ]. Eine solche Reflexion ist Grundvoraussetzung, damit Lerntätigkeiten nicht zu erliegen kommen bzw. zu selbstbezweckten Handlungen erstarren:

Lernt der Mensch, sind Motiv und Ziel zunächst verschieden - unter Einwirkung eines Motivs M wird ein Ziel Z angepeilt, und die Person ist »tätig«. Nun kann die Tätigkeit im Laufe der Zeit zum Selbstzweck werden (beispielsweise, weil es eine überaus angenehme Tätigkeit ist). Dadurch nähert sich das Ziel immer mehr an das Motiv an, daß sie schließlich deckungsgleich sind - aus der Tätigkeit wird eine bloße Handlung. Diese Stagnation muß dem Individuum bewußt werden, damit es erneut tätig werden und sich entwickeln kann. Und dazu muß sich der Mensch aktiv das Verhältnis zwischen Ziel, aktuell noch bzw. nicht mehr wirksamem Motiv und von hier aus erkennbarem neuen, nächsthöheren Motiv verdeutlichen und dieses anpeilen19 [19 ].

Nun kann und soll nicht jede Handlung zur Tätigkeit befördert werden; ganz im Gegenteil ist auch die »Gegenrichtung« sinnvoll: Je länger Handlungen laufen, desto mehr werden sie eingeschliffen und automatisiert. Und bereichern schließlich als Operationen das Repertoire des Individuums20 [20 ]. Nur über ein solches Repertoire wiederum kann sichergestellt werden, daß auch bei sich verändernde Rahmenbedingungen gleiche Tätigkeiten ausgeführt werden können: Es kommen »einfach« andere Operationen zum Einsatz21 [21 ].

Die Phasen, in denen sich lernen vollzieht, klangen schon in der Wegbeschreibung der Interiorisierung an (»vom Konkreten zum Abstrakten«); Leontjew referiert nochmals Galperin, wenn er die unterschiedlichen Prozeßstufen beschreibt22 [22 ]: An erster Stelle steht eine Orientierungsphase, in der es um die Klärung der Bedingungen und Forderungen geht, denen die Handlung bzw. Tätigkeit genügen muß; es folgt die Handlung mit Gegenständen mit unter Kontrolle der Gegenstände, der sich die Handlung auf sprachlicher Eben anschließt. Ist die Handlung gelernt, braucht sie nur noch auf innerer, geistiger Eben stattzufinden.

Galperin selbst überschreibt den Lernprozeß mit der »etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen« und vertieft die Niveaustufen entsprechend23 [23 ]: Auf der Stufe der Orientierungsgrundlage wird die Aufgaben geklärt und die für ein sinnvolles lernen nötigen Operationen ausgebildet. Es schließt sich an die Etappe der Handlung in materieller oder materialisierter Form, also der Umgang mit dem Ding an sich oder einem die Charakteristika tragenden Abbild / Substitut. Auf der nun folgenden Sprachebene manifestiert sich Handlungen in »äußerer Sprache an sich« (Kommunikationsmittel) und als »äußere Sprache für sich« (Denkmittel), bis sie schließlich als »innere Sprache« auftreten (Denken). Der Übergang zur nächsthöheren Etappe kann erfolgen, wenn das vorgängige Niveau beherrscht wird24 [24 ].

Fazit

Leontjew stellt überzeugend dar, daß Lernen eine aktive Vorgang darstellt, in der der Rezipient durch den Umgang mit andere Menschen über das Werkzeug der Sprache als Bewußtseinsträger Gegenstände und Handlungen verinnerlicht. Eine besondere Rolle kommt dabei die Unterscheidung von Zielen und Motiven zu, deren Verhältnis zueinander qualitative Unterschieden von Aktivitäten markiert.

Als Schaubild stellt sich der Ansatz aus meiner Sicht wie folgt dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1 [1 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 216 ff

2 [2 ] Das Individuum ist darauf angewiesen, dann andauernden Energieverlust (Dissimilation) möglichst effizient durch Energiegewinn auszugleichen (Assimilation) und darüber seine positive Energiebilanz (Leben) zu sichern. Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 20 ff

3 [3 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 32 ff

4 [4 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 369 ff

5 [5 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin 1979, S. 83 ff

6 [6 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin 1979, S. 96

7 [7 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 172 ff

8 [8 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Das Lernen als Problem der Psychologie. In: Galperin, P. J., Leontjew, A. N. et al.: Probleme der Lerntheorie. Berlin 1972, S. 20 ff

9 [9 ] Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 172 ff

10 10 Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 180 ff

11 11 Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 183 ff

12 12 Anmerkung: Motive könne auch aus der phylogenetischen Schicht stammen: Ein Bedarf (Dehydrierung) löst ein Bedürfnis aus (Durst), das sich in einem entsprechend Motiv (Durststillung) äußert, das mit dem Ziel (Limonade) zur Tätigkeit erweitert wird. Vgl. v. Knebel, Frauke: Zur Struktur der Tätigkeit. In: Arbeitsgemeinschaft der kritischen Praxis, 1999, http://taetigkeit.virtualave.net/24.html

13 13 Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 170

14 14 Vgl. Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin 1979, S. 261 ff

15 15 Vgl. Leontjew, A. N.: Das Lernen als Problem der Psychologie. In: Galperin, P. J., Leontjew, A. N. et al.: Probleme der Lerntheorie. Berlin 1972, S. 33 ff

16 16 Vgl. Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin 1979, S. 95 ff

17 17 Vgl. Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin 1979, S. 239 ff

18 18 Vgl. Leontjew, A. N.: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin 1967, S. 170

19 19 Galperin, Forschungskollege von Leontjew, unterstreicht die Bedeutung der Aufmerksamkeit für Tätigkeitsprozesse: Sie taucht nicht als eigenständiger Prozeß auf, sondern unterstützt die Gerichtetheit, Einstimmung und Konzentration jeder beliebigen Tätigkeit. Vgl. P. J. Galperin: Das Problem der Aufmerksamkeit. In: Lompscher. J. [Hg.]: Sowjetische Beiträge zur Lerntheorie, Berlin 1972, S. 15 ff

20 20 Vgl. Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin 1979, S. 250 ff

21 21 Vgl. Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin 1979, S. 106 ff

22 22 Vgl. Leontjew, A. N.: Das Lernen als Problem der Psychologie. In: Galperin, P. J., Leontjew, A. N. et al.: Probleme der Lerntheorie. Berlin 1972, S. 26 ff

23 23 Vgl. Galperin, P. J.: Die Psychologie des Denkens und die Lehre von der Etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen. In: Neumann, Helga: Untersuchungen des Denkens in der sowjetischen Psychologie, Berlin 1976, S. 81 ff

24 24 Vgl. Lompscher. J. [Hg.]: Sowjetische Beiträge zur Lerntheorie, Berlin 1972, S. 13

Fin de l'extrait de 7 pages

Résumé des informations

Titre
A. N. Leontjew: Lernen als gesellschaftlich-historischer Determinismus
Université
University of the Arts Berlin
Auteur
Année
2002
Pages
7
N° de catalogue
V107025
ISBN (ebook)
9783640053001
Taille d'un fichier
443 KB
Langue
allemand
Annotations
Zusammenfassung der wesentlichsten Aussagen in Text und Schaubild
Mots clés
Leontjew, Lernen, Determinismus
Citation du texte
Stephan Platt (Auteur), 2002, A. N. Leontjew: Lernen als gesellschaftlich-historischer Determinismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107025

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: A. N. Leontjew: Lernen als gesellschaftlich-historischer Determinismus



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur