Das Buch Timur in Goethes West-östlichen Divan


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2002

34 Pages


Extrait


Gliederung

1. Einleitung

2. West-östlicher Divan

3. Timur Nameh- Buch des Timur
3.1 Das Buch des Timur in der Forschungsliteratur
3.2 Allgemeines zum Buch des Timur
3.3 Analyse und Interpretation
3.4 Betrachtungen zum Zykluscharakter des West-östlichen Divans in Bezug auf das Buch des Timur

4. Zusammenfassung und Schluss

Literaturverzeichnis

Anhang
Der Winter und Timur
An Suleika

Einleitung

Der ‚West-östliche Divan’1 ist die umfangreichste Lyrik-Sammlung von Johann Wolfgang Goethe und zählt zu den großen Werken seiner späten Schaffensperiode. Im Sommer 1814 hieß der Arbeitstitel noch „Gedichte an Hafis“, schon im Winter des gleichen Jahres reichte diese Bezeichnung nicht aus, so dass fortan von der „Versammlung deutscher Gedichte mit stetem Bezug auf den Divan des persischen Sängers Mohamed Schemseddin Hafis“ die Rede war. Erst als Goethe seinen Gedicht- Band im „Morgenblatt“ ankündigt, lautet der Titel: „West-östlicher Divan oder Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient“, was der angewachsenen Themen- und Formenvielfalt geschuldet ist. Geblieben sind nur drei Worte: ‚West-östlicher Divan’.2

Im Grunde ein sehr prägnanter Titel, da er die Richtung klar vorgibt. Es handelt sich um eine Versammlung (=Divan) von Gedichten, die sich mit Kultur, Literatur und Religion des Orients beschäftigen, aber trotzdem im Westen (Europa, Weimar) verankert bleiben. Der ‚Divan’ besteht aus 12 Büchern, in denen verschiedene Themenbereiche unterschiedlich stark akzentuiert werden. Auch wenn eine strikte Einteilung der Gesamtheit schadet, so sei darauf hingewiesen, dass sich die Bücher locker in Dreiergruppen zusammenfassen lassen.3 Die ersten drei: ‚Buch des Sängers’, ‚Buch Hafis’ und ‚Buch der Liebe’ thematisieren hauptsächlich die Bereiche Liebe, Trinken und Singen. In den folgenden drei Büchern, ‚Buch der Betrachtungen’, ‚des Unmuths’ und ‚der Sprüche’, steht das Reflektieren und Reagieren im Vordergrund. Drei Bücher sind Gestalten gewidmet: ‚Buch des Timur’, ‚Buch Suleika’ und ‚Schenkenbuch’. Die letzen drei Bücher: ‚Buch der Parabeln’, ‚des Parsen’ und ‚des Paradieses’ sind im religiösen Bereich verankert. Dem Lyrik-Teil fügte Goethe später noch einen Prosa-Teil hinzu, der dem Verständnis seiner west-östlichen Dichtung zuträglich sein sollte.

Die vorliegende Arbeit möchte sich mit dem ‚Buch des Timur’ näher beschäftigen. Dabei soll das Buch mit seinen beiden Einzelgedichten4 als eigenständiges Gebilde, aber gleichzeitig auch dem Gesamttext zugehörig betrachtet werden. An die PerlenParabel, in der eine wunderschöne Perle trotz ihres Gnadengesuchs durchbohrt und mit anderen Perlen zusammengekettet wird, soll auch die Analyse des Buches angelehnt sein. Denn der Juwelier antwortet der Perle:

Ich denke jetzt nur an Gewinn,

Du musst es mir verzeihen:

Denn wenn ich hier nicht grausam bin,

Wie soll die Schnur sich reihen?5

Zunächst wird die gesamte Schnur, d.h. der Gesamt-Divan betrachtet. Es sollen Entstehungshintergründe näher ausgeführt werden, da sie auf den Divan und damit auch auf seine einzelnen Glieder eingewirkt haben. Erst nachdem die Zeitgeschichte sowie persönliche und literarische Begegnungen den Gesamttext koloriert haben, wendet sich die Arbeit dem ‚Buch des Timur’ zu. Die Schönheit der Perle soll weitgehend ohne die Einwirkung ihrer Schwestern umfassend betrachtet werden. Nach einem Blick auf den derzeitigen literaturwissenschaftlichen Stand wird das ‚Buch des Timur’ formal und inhaltlich untersucht. Dabei werden die verschiedenen Erkenntnisse miteinander verbunden und diskutiert.

Anschließend wird die Perle aber wieder zurück in die Schnur gelegt, denn nur dort trägt sie zum Gewinn des Ganzen bei. Eben jenes Potential soll in der anschließenden Zyklusbetrachtung herausgearbeitet werden.

Das ‚Buch des Timur’ -ein wenig beachteter Bestandteil des Divan- wirkt zwar fremd und grausam inmitten der fröhlichen, reflektierenden und lieblichen Lieder, erfüllt aber einen wichtigen Zweck. Ziel der Arbeit ist es, die Schönheit der Einzelgedichte ebenso herauszuarbeiten, wie ihren wichtigen Beitrag zum Gesamtkonzept.

2. West-östlicher Divan

„Alles hat seine Zeit! - Ein Spruch, dessen Bedeutung man bei längerem Leben immer mehr anerkennen lernt […]“6

Mit diesen Worten leitet Goethe den Prosa-Teil seines ‚West-östlichen Divan’ ein und begründet damit die Entscheidung, dem lyrischen Zyklus die ‚Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis’ beizufügen. Im erweiterten Sinn findet der Spruch auch Anwendung auf den Lyrik-Teil des Divans. Goethe befindet sich im 66. Lebensjahr, als er das erste Gedicht ‚Erschaffen und Beleben’ für den ‚Divan’ verfasst. Er blickt bereits auf eine lange Schaffenszeit zurück. Rückblick bestimmt auch sein Schaffen; deutlichstes Zeichen dafür ist die Herausgabe des dritten Teils seiner autobiographischen Schrift ‚Dichtung und Wahrheit’ im Jahre 1814.

Die Zeit der Reflexion eröffnet dem Weimarer Dichterfürst auch die Möglichkeit, sich für die folgenden Jahre der Lyrik der west-östlichen Begegnungen zu verschreiben. Mit dem ‚West-östlichen Divan’ entsteht das umfangreichste lyrische Werk Goethes. Die Hinwendung zum Orient und die intensive Belebung dichterischer Schaffenskraft ist das Ergebnis verschiedener Bedingungsfaktoren, die ineinander greifen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang natürlich der gesellschaftliche Umbruch, der sich durch die Befreiung der deutschsprachigen Gebiete von der napoleonischen Fremdherrschaft vollzog.

Des Weiteren beschäftigte sich Goethe schon seit seiner Jugend -bei variierender Intensität- mit der orientalischen Literatur und Kultur. Den Höhepunkt dieses Studiums bildet im Jahre 1814 die Begegnung mit dem ‚Diwan’ des persischen Dichters Mohammed Schemsed-din Hafis in der Übersetzung von Joseph von Hammer.

Nicht zu vergessen sind die beiden Reisen, die Goethe 1814 und 1815 in seine alte Heimat an den Rhein unternimmt. Hier begegnet er in Wiesbaden seinem Bekannten Johann Jakob von Willemer und dessen zukünftiger Ehefrau Marianne Jung, die einen entscheidenden -zunächst verdeckten- Einfluss auf den ‚Divan’ nehmen wird.

Als Goethe seine ‚west-östliche Reise’ antritt, befindet sich Europa im ersten Jahr des Friedens. Auf dem Wiener Kongress ordnen die europäischen Großmächte vom Herbst 1814 bis Juni 1815 die Grenzen des Kontinents neu. Im Zuge dessen wird Sachsen-Weimar-Eisenach zum Großherzogtum und Goethe wenig später zum Staatsminister ernannt.

Dem Frieden gingen jedoch unruhige Jahre voran, in denen Napoleon sich anschickte, große Teile des europäischen Kontinents zu beherrschen. Anfangs wurden Napoleons Bestrebungen durchaus befürwortet, da er das nachrevolutionäre Frankreich aus dem Chaos führte und es als anerkannte europäische Autorität etablierte. Mit der Machtausweitung Napoleons hofften auch einige deutsche Lande, auch von den Errungenschaften der französischen Revolution zu profitieren. Doch die ersehnte Gesellschaftsreform zugunsten des dritten Standes stellte sich nicht ein. Vielmehr erschütterten Kriege das europäische Festland, denn Nationen wie Österreich, Russland, England, Schweden und auch Preußen versuchten mehrfach vergeblich, die französische Vorherrschaft zurückzudrängen. Der Großherzog Carl- August von Sachsen-Weimar-Eisenach fühlte sich 1806 aufgrund seiner Zugehörigkeit zur preußischen Armee verpflichtet, den Preußen nach ihrer Kriegserklärung an Frankreich beizustehen. Das französische Heer trug bei Jena und Auerstedt den Sieg davon, und Napoleon setzte die thüringischen Gebiete unter Druck. Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach blieb zwar bestehen, jedoch unter hohen finanziellen Auflagen und der Pflicht, dem Rheinbund beizutreten. Das französische Protektorat endete erst mit der Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813, die Napoleon nach dem Russlandfeldzug die entscheidende Niederlage beifügte.

Goethe wurde von vielen Seiten vorgeworfen, Napoleon zu sehr bewundert oder die Befreiungsambitionen seiner Landsleute nicht genügend unterstützt zu haben. Sicherlich mag die überlieferte Anekdote vom 26. Juli 1815 diesbezüglich aussagekräftig sein, als der Freiherr von Stein, mit Goethe vor dem Kölner Dom stehend, eine Reisegruppe darauf hinwies, Goethe nicht in politische Gespräche zu verwickeln: „Liebe Kinder, still, still, nur nichts Politisches, das mag er nicht, wir können ihn da freilich nicht loben, aber er ist doch zu groß.“7

Aus seiner Verehrung für die Persönlichkeit Napoleons machte er nie ein Geheimnis, aber Goethe darüber hinaus als unpolitisch zu bezeichnen, wäre ein falsches Urteil. Gegenüber Johann Peter Eckermann äußerte er sich am 25. Februar 1824, auf dieses Thema angesprochen, folgendermaßen:

„Ich habe den großen Vorteil, dass ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so dass ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen.“8

Hieraus wird deutlich, dass Goethe es vermied, seine politischen Ansichten der Öffentlichkeit unvermittelt zuteil werden zu lassen. Vielmehr ließ er Erkenntnisse in sein Werk einfließen, die dort mal mehr, mal weniger offen zu Tage treten. Reflexionen verkörpern einen bedeutenden Teil des ‚Divans’, und so verwundert es auch nicht, wenn dort große geschichtliche Ereignisse in Gedichten wie ‚Hegire’, ‚Zwiespalt’ und ‚Der Winter und Timur’ nachwirken. Auf letzteres wird der zweite Teil der Arbeit noch näher eingehen.

In dieser turbulenten Zeit flüchtet sich Goethe in die östliche Literatur und Kultur, wie die ersten Verse des Eingangsgedichts ‚Hegire’9 eingängig beschreiben:

Nord und West und Süd zersplittern,

Throne bersten, Reiche zittern,

Flüchte du, im reinen Osten

Patriarchenluft zu kosten;

Unter Lieben, Trinken, Singen

Soll dich Chisers Quell verjüngen

Doch der Osten bedeutet keineswegs Neuland für Goethe. Schon früh fühlte er sich von diesem Themenbereich angezogen. Während seiner Sturm und Drang-Jahre galt seine Aufmerksamkeit u.a. dem Koran. Er übersetzte sich einzelne Suren und arbeitete die Ergebnisse in das, als Fragment gebliebene, Drama ‚Mahomet’ ein. Zehn Jahre später -1783- übersetzte Goethe ein Stück aus der alten arabischen Dichtung ‚Muallakat’ nach der englischen Übertragung von William Jones.10 Dieser englische Orientalist wirkt noch ein weiteres Mal anregend auf Goethe, wie die Beschäftigung mit dem ‚Buch des Timur’ zeigen wird. Auch in den ‚Noten und Abhandlungen’ wird William Jones im Kapitel ‚Lehrer’ mit einem eigenen Abschnitt lobend erwähnt.

Wiederum einige Jahre später -1797- arbeitete Goethe an Untersuchungen über die Bücher Moses. Dieser ausführliche Aufsatz findet nachher Eingang in die ‚Noten und Abhandlungen’ unter dem Titel ‚Israel in der Wüste’. Zwei Jahre später kehrt er dann mit der Übersetzung des Voltaire’schen Dramas ‚Mahomet’ zu einem ihm wohlbekannten Thema zurück.

Auch wenn Goethe von der orientalischen Poesie und Kultur ein Leben lang begleitet wurde, bedurfte es eines neuerlichen Anstoßes, in Form eines mohammedanischen Gottesdienstes im Weimarer Gymnasium, an dem Goethe 1813 teilnahm. Zudem sendete ein Leipziger Kunsthändler ihm bzw. der Weimarer Hofbibliothek im März 1814 eine „Kamels-Last von Blättern und Bänden“11 überwiegend orientalischer Literatur zu. Der letzte Stein des Anstoßes mag wohl die Hafis-Übersetzung von Joseph von Hammer gewesen sein, die Goethe von seinem Verleger Cotta Mitte Mai 1814 erhielt. Obwohl ihm einige von Hafis Gedichten schon vorher bekannt waren, so

„wirkten sie doch jetzt zusammen desto lebhafter auf mich ein, und ich musste mich dagegen produktiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. […] Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bei mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, tat sich hervor und dies mit umso mehr Heftigkeit als ich höchst nötig fühlte mich aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im Stillen bedrohte, in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen Teil zu nehmen meiner Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war.“12

Hafis weckte in Goethe demnach die Lust, es der Manier des östlichen Dichters gleichzutun. Er widmet seinem Vorbild ein eigenes Buch im Divan, das ‚Buch Hafis’. Obwohl Goethe in den ‚Noten und Abhandlungen’ sechs weitere Dichter in die Reihe der Dichterkönige aufnimmt13, wird doch keinem von ihnen diese Ehre zuteil.

Zahlreiche Gedichte, auch außerhalb des ‚Buch Hafis’, finden sich im ‚Divan’, in denen der Dichter Hafis Dichtkunst beschreibt und bewundert. Zunächst versammelt Goethe seine lyrischen Geständnisse auch unter dem Titel ‚Gedichte an Hafis’, die im August 1814 schon auf 30 angewachsen sind.14 Die Begeisterung Goethes für die persische Dichtkunst -vor allem für Hafis- beruhte wohl auf dem Vermögen der Dichter, die entferntesten Bilder miteinander zu verknüpfen und damit auch starke Kontraste hervorzurufen. Konrad Burdach15 führt noch ein weiteres Indiz für die starke Verbindung Goethes zu Hafis an. Er sieht Parallelen in den Lebensläufen. So erfährt Hafis am Ende seines Lebens die Schreckensherrschaft des mongolischen Kriegsherren Timur Leng und soll ihm sogar persönlich begegnet sein. Trotz dieser schrecklichen Lebenserfahrung bleiben seine Lieder fröhlich und reich an Bildern.16 Auch in Goethes Leben findet sich eine vergleichbare Übermacht, die Napoleonische Herrschaft. Und auch hier kommt es zu einer persönlichen Begegnung zwischen Dichter und ‚Welteroberer’. Ähnlich seinem Vorbild bleibt auch der ‚Divan’ Goethes fröhlich und singt von der Liebe. Doch im Gegensatz zu Hafis finden sich in seiner Lyrik auch Bezüge zu den Weltereignissen, wie oben schon angedeutet.

„Doch die Entstehung des West-östlichen Divan ist auch nicht ablösbar von dem biographischen Hintergrund einer neuen menschlichen Beziehung.“17 Diese ist unmittelbar mit den beiden Reisen in den Sommer- bzw. Spätsommermonaten der Jahre 1814 und 1815 verbunden. Schon die ersten Reisetage nach seinem Aufbruch am 25. Juli 1814 waren von ungeheurer Produktivität gekennzeichnet. Scheinbar befreit von seiner Alltagslast und beflügelt vom bevorstehenden Wiedersehen der Landschaften seiner Jugend, die er seit 17 Jahren nicht besucht hatte, quellen die Gedichte nur so aus ihm heraus. Viele Jahre später vergleicht Goethe diese Phase in einem Gespräch mit Eckermann mit der produktiven Schaffenskraft seiner Jugend und stellt das erneute Auftreten im Alter als einzigartiges Geschenk deutlich heraus:

„Als mich vor zehn, zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Gedichte des ‚Divan’ in ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug, um oft in einem Tage zwei bis drei zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich.“18

Es scheint, als hätten all jene Gedichte, die auf der Reise entstanden, nicht in Weimar zu Papier gebracht werden können. Nicht zuletzt deshalb nimmt die Metaphorik der Reise einen so großen Raum im Divan ein. Das Eingangsgedicht ‚Hegire’ deutet es an, und die Einleitung der ‚Noten und Abhandlungen’ spricht es klar aus: „Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden […]“19

Das Motiv der Reise kann hier mehrfach gedeutet werden. Zum einen handelt es sich um eine körperliche Reise in die Heimat (die westlich von Weimar liegt) und zum anderen um eine geistige Reise in den Osten, den Orient.

Darüber hinaus kündet das Gedicht ‚Hegire’ schon von Chisers Quell20, der den Dichter, wenn auch nur temporär, verjüngt. Die Reise führt Goethe an die Orte seiner Jugend, die sich in seinem Innern spiegeln und Körper wie Geist neu beleben. Schon auf der ersten Reise im Jahre 1814 besucht Goethe den Frankfurter Bankier Johann Jakob von Willemer und seine zukünftige Frau Marianne Jung. Mehr als Sympathien, scheinen sich bei diesem ersten Zusammentreffen nicht entwickelt zu haben. Nach der Rückkehr im Herbst 1814 genügt ihm Hafis nicht mehr. Mit einer unglaublichen Intensität verschafft er sich einen Überblick von der Dichtung, Landeskunde, Geschichte und Religion Vorderasiens. Und seine dichterische Schaffenskraft hält weiter an. Die Gedichte, die zwischen Dezember 1814 und April 1815 entstehen, geben Auskunft über jenes Studium. Goethe verarbeitet die neuen Eindrücke, Begriffe, Anregungen und Personen in Gedichten wie ‚Talisman’, ‚Vier Gnaden’, ‚Vermächtnis altpersischen Glaubens’21 und vielen mehr.

Im Frühjahr 1815 begibt sich Goethe erneut auf die Reise, genau genommen auf die gleiche Reise, wie ein Jahr zuvor. Mit dem Unterschied, das die Gerbermühle bei Frankfurt am Main zum Mittelpunkt der Reise und zum Quell zahlreicher neuer Gedichte wird. Hier begegnet er erneut der inzwischen verheirateten Marianne von Willemer, die zu seiner ‚Suleika’ wird. Zu Goethes Lebzeiten blieb Mariannes Einfluss auf den Divan verborgen. Erst 1869 deckte Hermann Grimm in den Preußischen Jahrbüchern das Geheimnis auf. Die Beziehung zwischen Marianne und Goethe lässt sich schwer fassen, da es offensichtlich mehr als Freundschaft ist, aber gleichzeitig keine Beweise für eine intime Beziehung vorliegen. Zwar lassen die Suleika-Gedichte an ihrer Leidenschaftlichkeit keinen Zweifel, jedoch verbleibt scheinbar alles in den „Sphären des geselligen Umgangs“.22 Aus diesen Gefühlen heraus entwickelt sich das ergreifende Rollenspiel Hatem-Suleika, wobei der Dichter eindeutig die Hatem-Rolle übernimmt. Nachdem Mariannes Bedeutung für den ‚Divan’ an das Licht der Öffentlichkeit trat, konnten ihr auch drei Divan-Gedichte mit großer Sicherheit zugeordnet werden.23 Dabei wird in der Literaturwissenschaft einhellig die Meinung vertreten: Goethe habe die Begabung Marianne von Willemers nicht besser huldigen können, als gleichsam ihre Lyrik als ihm zugehörig auszugeben.

So anmutig diese Geschichte auch klingen mag, sie hat die wissenschaftliche Betrachtung des West-östlichen Divans lange Zeit beherrscht. Aber auch die Tatsache, dass das ‚Buch der Liebe’ und das ‚Buch Suleika’ herausgelöst aus dem Zyklus veröffentlicht wurden, zeigt die Verschiebung.

Inwiefern das Lesevergnügen bzw. -verständnis vom biographischen Hintergrundwissen abhängt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Ohne die Kenntnis der orientalischen Literatur und Kultur sowie der Begegnung mit der Marianne-Suleika und den gegebenen Zeitumständen läge der ‚West-östliche Divan’ zweifellos nicht in dieser Form vor. Nur das Zusammenspiel aller Komponenten ermöglichte die Formen- und Themenvielfalt, die sich dem Leser bietet. Johann Sulpiez Boisserée findet im März 1820 in einem Brief an Goethe einen sehr passenden Vergleich:

„In Ihrem Divan ergötze ich mich alle Tage. Das Buch ist recht wie ein Kästchen voll Perlen und Edelsteine; man muß es immer wieder öffnen, bald dies, bald jenes betrachten und wird nicht satt, sich an dem stillen Licht des einen, an dem blitzenden Glanz und der schönen Farbe des anderen zu weiden; so viel Weisheit, Geist und Liebe ist darin enthalten.“24

Johann Sulpiez Boisserée gehörte zu Goethes Freundes- und Bekanntenkreis, der das Anwachsen des Divans begleitete und sein Erscheinen wohlwollend beurteilten. In weiten Teilen verlief auch die Resonanz bei den Rezensionen sehr positiv. Der Jenaer Orientalist Johann Gottfried Ludwig Kosegarten25 etwa bezeichnet den ‚Divan’ als eine auf die „Moslemisch-Orientalische Welt“ bezogene Dichtung, die „östlichen Stoff in westlicher Form“ und „westlichen Stoff in östlicher Form“ darstellt. Nach eingehenden Betrachtungen des lyrischen wie des prosaischen Teils kommt er zu dem Schluss: „Möge der Himmel ihm [Anm. d. Verf. : Goethe] Gesundheit und Kräfte verleihen, welche ihm erlauben, uns auch noch den verheißenen zweiten Divan zu schenken!“

Wohingegen Adolf Müller diese Hoffnungen garantiert nicht geteilt haben dürfte, wenn er schreibt:

„das Buch ist eines der wunderlichsten, die Goethe jemals geschrieben hat, es ist so zu sagen ein Rätsel ohne Schlüssel; und da wir Leser sind, welche bequem unterrichtet und vergnügt sein wollen, so geht unser Geschmacksurteil dahin, das der West-östliche Divan durchaus nicht nach unserem Geschmack ist.“26

Müller spricht das aus, was die Verkaufszahlen bestätigen: Teile der ersten Auflage von 1819 befanden sich laut Ernst Beutler noch zu Beginn des Ersten Weltkrieges unverkauft in den Regalen der Buchhändler. Jedoch führt Beutler die Absatzschwierigkeiten auf qualitativ unzulängliche Kommentare zurück.27 Der ‚Divan’ blieb von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, wohingegen Dichter und Gelehrte scheinbar mühelos des Rätsels Schlüssel fanden und die Türen weit aufstoßen konnten.

Auch heute gehört der ‚Divan’ nicht zu Goethes ‚Bestsellern’, was aber dem ohnehin mangelnden Lyrik-Interesse geschuldet sein mag.

3. Timur Nameh - Buch des Timur

3.1 Das Buch des Timur in der Forschungsliteratur

Ungeachtet verhaltener Reaktionen der Lesergemeinschaft nach der Divan- Veröffentlichung, fand das lyrische Spätwerk Goethes angemessene Beachtung in der literaturwissenschaftlichen Forschungsliteratur. Trotzdem kann es hierbei, den Umfang betrachtend, nicht mit der Sekundärliteratur anderer Werke, wie beispielsweise den ‚Leiden des jungen Werther’ oder dem ‚Faust’ ,konkurrieren. Die Fachliteratur zum ‚Divan’ lässt sich durchaus noch überblicken, erst recht die Schriften, die das ‚Buch des Timur’ behandeln. Das Verhältnis Goethe und Marianne von Willemer oder die Beziehung von Goethe zu Hafis ist im Laufe der Zeit ausführlich untersucht worden. Konrad Burdach und Hans Pyritz28 widmeten sich beispielsweise eingehend der Suleika-Thematik, mit unterschiedlichen Methoden.

Während Burdach versucht, die Dichtung mittels biographischer Erkenntnisse zu erklären, geht Pyritz den umgekehrten Weg.

Was die ausgeprägte Hafis-Forschung betrifft, so gibt Wolfgang Lentz29 in seinem Aufsatz einen anschaulichen Überblick über die zahlreichen Facetten dieses Fachgebiets. So sind die sachlichen Berührungspunkte Goethes mit der Hafis- Dichtung ebenso interessant, wie die Untersuchung, inwiefern sich diese auch in den Formen der eigenen Dichtung niederschlägt. Edith Ihekweazu30 bezeichnet die Erkenntnisse auf dem Gebiet der Quellen- und Vorlagenforschung sogar als fundierter, als die biographischer Untersuchungen. Denn zum einen lasse sich Goethes Lektüre genauer rekonstruieren, zum anderen bliebe der Vergleich von Quelltext und Gedicht sachlich und gleite nicht so leicht ins Hypothetische ab, wie die Versuche, seelische Vorgänge des Dichters in den Versen nachzuweisen. Daneben finden sich zahlreiche Einzelstudien, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten dem Spätwerk Goethes, der Sprache im ‚Divan’ oder mit Goethes Verbindungen zum Islam und Orient beschäftigen. Zu letzterem Themenbereich sei auf die zahlreichen Veröffentlichungen von Katharina Mommsen hingewiesen, wobei sie den Einfluss von Quellen ebenso untersucht, wie den von kulturellen und religiösen Aspekten.

Einen großen Raum neben der Quellen-Forschung und dem Suleika-Komplex nehmen die zahlreichen Einzelinterpretationen ein. Dabei fällt auf, dass selten einzelne Bücher, vielmehr einzelne Gedichte behandelt werden. Konzeptionelle Unterschiede sind natürlich vorhanden, so dass einige Autoren die Gedichte in den Buch- bzw. Gesamtzyklus einordnen, andere wiederum darauf keinen Wert legen. Zudem ist eine besondere Hinwendung zu Einzelgedichten wie ‚Selige Sehnsucht’, ‚Wiederfinden’ oder ‚Geheimstes’ zu verzeichnen.

Die umfangreichen Untersuchungen von Edith Ihekweazu zur Struktur des lyrischen Zyklus bieten einen Ansatz, der dem Einzelgedicht ebensoviel Bedeutung beimisst, wie dem Gesamtkonzept.31 Der Bereich der Strukturanalyse hinsichtlich des ‚Buch des Timur’ soll auch in der vorliegenden Arbeit noch erörtert werden, um die Analyse gemäß Goethes Hinweis zu vervollständigen:

„Jedes einzelne Glied nämlich ist so durchdrungen von dem Sinn des Ganzen, ist so innig orientalisch, bezieht sich auf Sitten, Gebräuche, Religion und muß von einem vorhergehenden Gedicht erst exponiert sein, wenn es auf Einbildungskraft oder Gefühl wirken soll. Ich habe selbst noch nicht gewusst, welches wunderliche Ganze ich daraus vorbereitet.“32

Wie schon angedeutet, gehört das ‚Buch des Timur’ bzw. das Gedicht ‚Der Winter und Timur’ zu den von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit weniger beachteten Teilen des ‚Divan’. Obwohl diese Bilanz auf eine Großzahl anderer Gedichte des ‚Divans’ ebenfalls zutreffen mag.

Die Arbeit Joachim Müllers33 zum Timur-Gedicht kann als wegweisend für viele weitere Betrachtungen des Buches angenommen werden. Häufig wird das ‚Buch des Timur’ in den Abhandlungen über den Gesamt-Divan nur beiläufig erwähnt, wobei auf Müllers Erkenntnisse zurückgegriffen bzw. verwiesen wird. Müller zitiert und übersetzt die Quelle des Gedichtes vollständig und führt eine thematische wie strukturelle Analyse durch. Jedoch besagt schon der Titel: Müller behandelt hauptsächlich das Timur-Gedicht, erwähnt aber das zweite Gedicht ‚An Suleika’ nur kurz.

Die zweite große Veröffentlichung zum Timur-Thema verzichtet nämlich völlig auf den Bezug zum Suleika-Gedicht, was aber der Aufgabenstellung geschuldet ist. Peter Michelsen34 konzentriert sich einzig und allein auf die Vorlage des Gedichtes von William Jones. Zu Beginn seines Aufsatzes weist der Autor daraufhin, dass er reine Textarbeit leiste, die eine Beleuchtung der zeitgenössischen Bezüge oder der Entstehungsumstände nicht benötige. Das Ergebnis ist ein aufschlussreicher Vergleich der lateinischen Vorlage mit dem Gedicht Goethes, wobei auf Versmaße ebenso wie auf Übersetzungsintentionen eingegangen wird. Michelsen bricht mit der allgemeinen Annahme, dass Goethe sich sehr nah an die Vorlage hielt. Er führt zahlreiche Beweise an, die Veränderungen gegenüber dem lateinischen Original belegen und oftmals zur Verschärfung und Intensivierung des Gesagten beitragen. Innerhalb der Divan-Kommentare herrschen unterschiedliche Auffassungen, was ein Kommentar zu leisten hat. Hans-J. Weitz35 beispielsweise beschränkt sich auf Entstehungsangaben der einzelnen Gedichte, Worterklärungen und zeigt kurz mögliche Bezüge auf. Andere wiederum, wie Ernst Beutler36 oder Karl Richter37, beschäftigen sich ausführlicher mit den einzelnen Büchern,geben neben Erläuterungen zur Entstehung und Deutungsangeboten auch weiterführende Literaturhinweise.

Als eine sehr ergiebige Arbeit kann das ‚Wörterbuch zu Goethes West-östlichen Divan’ von Christa Dill angesehen werden.38 Denn hier können Querverbindungen mit anderen Divan-Büchern, hervorgerufen durch den Wortgebrauch, mühelos ermittelt oder auf Wortkreationen Goethes aufmerksam gemacht werden.

Ebenfalls nicht ausschließlich mit dem ‚Buch des Timur’ befasst, aber sehr hilfreich bezüglich der Versmaße im gesamten ‚Divan’, gestaltet sich Wolfgang Kaysers Studie.39 Dabei werden das Timur- sowie das Suleika-Gedicht, wenn auch nur kurz, behandelt.

Der Überblick zeigt deutlich, dass das ‚Buch des Timur’ noch einiges Potential birgt. Die vorliegende Arbeit ist bestrebt, die bisherigen Erkenntnisse zusammenzuführen, und aus der Gesamtheit eigene Gedanken abzuleiten.40 Denn das Zusammenspiel von Quellenforschung, zeitgenössischen Bezügen, struktureller Analyse und einer Einordnung in den Gesamtzyklus des Buches erscheint sehr ergiebig und liegt meines Wissens, in der Form noch nicht vor.

3.2 Allgemeines zum Buch des Timur

Das Buch des Timur ist das achte von insgesamt dreizehn Büchern und hebt sich schon durch seine auffällige Kürze von den anderen ab. Einzig das ‚Buch des Parsen’ weist ebenfalls nur zwei Gedichte auf, die jedoch weitaus umfangreicher sind.41

Dem Buch gehen die drei Spruch-Bücher des ‚Divan’ voran: ‚Buch der Betrachtungen’, ‚Buch des Unmuths’ und ‚Buch der Sprüche’. 'Der Winter und Timur' mit 34 Versen sowie 'An Suleika' mit vier Strophen zu je vier Versen bilden somit das kürzeste Buch des Divans. Als das namengebende Element des Buches kann ganz klar das erste Gedicht ermittelt werden. Hier tritt der Winter in personalisierter Form dem Herrscher gegenüber, klagt ihn ob seiner Verbrechen an Mensch und Land an und verkündet seine baldige Vernichtung. Der Herrscher ist kein geringerer als Timur Leng (1355-1405), ein mongolischer Welteroberer, dessen Feldzüge von grausamer Gewalt und großem Unrecht geprägt sein sollen. Als Gründer des zweiten Mongolenreiches mit einem großen Heer glaubte er, seine Macht mit der Eroberung Chinas krönen zu können. Jedoch vereitelte ein unerwartet strenger Winter seine Pläne.

Auf jene schicksalhafte Begegnung Timurs mit dem Winter in China spielt das Gedicht an. Schon in der Ankündigung des ‚Divans’ im 'Morgenblatt für gebildete Stände' schreibt Goethe: "Timurname. Buch des Timur, fasst ungeheure Weltbegebenheiten, wie einem Spiegel auf, worin wir, zu Trost und Untrost, den Widerschein eigner Schicksale erblicken."42 Denn so mächtig Timur auch sein mag, gegen die Naturgewalt des Winters kann auch er nichts ausrichten. Gleichfalls wurde Goethes Aussage in seiner Vorankündigung weiter gedeutet. Denn es bleibt dem geschichtlichen Auge nicht verborgen, dass letztendlich auch Napoleons Russlandfeldzug am plötzlichen und harten Einbruch des Winters scheiterte. Das Gedicht 'Der Winter und Timur' entstand im Winter des Jahres 1814, im Tagebuch verzeichnet Goethe dessen Reinschrift am 11. Dezember in Jena. Dem ging die Lektüre von William Jones 'Poeseos asiaticae commentariorum libri sex, Lipsae 1777' voran, das Goethe schon 1785 von Eichhorn erhalten hatte. Laut Tagebuch beschäftigte er sich insgesamt drei Tage mit dieser Schrift bzw. mit der lyrischen Umsetzung der prosaischen Vorlage. Das Gedicht geht unmittelbar auf eine Passage der Timur-Biographie des arabischen Schriftstellers Ibn Arabschah (1392- 1450) zurück, dessen gesamte Familie von Timur aus ihrer Heimat vertrieben worden war. William Jones übersetzte jenen Abschnitt ins Lateinische, um daran die Eigenart orientalischer Poesie zu verdeutlichen, Naturerscheinungen zu personalisieren. Um die Nähe von Vorlage und Gedicht zu verdeutlichen, soll der kurze Text hier (in Latein und deutscher Übersetzung) wiedergegeben werden, damit später darauf zurückgegriffen werden kann.

William Jones “Poeseos Asiaticae Commentariorum Libri Sex”, herausgegeben von Johann Gottfried Eichhorn, Leipzig 177743

Circumibat autem illos Hyems cum ventis suis vehementibus, et sparsit inter eos flatus suos glaream dispergentes; et in eos concitavit ventos suos frigidos, ex opposito flantes; et potestatem in eos concessit gelidis suis procellis: et in ejus (Timuri) consessum descendit, et eum inclamans, allocuta est:“Lentè, O infauste, et leniter incede, O tyranne injuste ! quousque tandem hominum corda igne tuo combures ? et jecinora aestu et ardore tuo inflammabis? Quòd si una es ex infernis animabus, equidem animarum altera sum ; et nos senes sumus, qui continuo occupamur in regionibus et servis subjugandis ; et stellae maleficae (Mars et Saturnus) in conjunctione sunt infaustissimae. Et si animas occîdis, et auras frigidas reddis, at aurae meae gelidae te sunt frigidiores ; aut si in tuis catervis (milites) sint qui fideles suppliciis vexent, impellant, percutiant : at in diebus meis, Dei adjutu, est id quod ad te attuli ; et per Deum, non te defendent, O senex, à leti frigore, carbonum in foco ardor, nec in mense Decembri flamma.

Übersetzung nach Ernst Beutler44

Es umgab sie aber der Wintergott mit seinen heftigen Stürmen und jagte zwischen sie Sand und Kiesel aufwirbelnd seinen Atem. Kalte Winde, von der Gegenseite, rief er gleichfalls auf. Seinen Froststürmen gab er Gewalt über sie und stieg hinab vor Timurs Kriegsrat, schrie ihn an und sprach: „Langsam, Unseliger, und sachte sei dein Schritt, Rechtloser! Tyrann! Wie lange noch willst du die Herzen der Menschen mit deinem Feuer verbrennen, wie lange noch mit deiner Glut und Hitze ihre Eingeweide ausdörren? Bist du eine Seele aus der Unterwelt, ich bin es auch. Und beide sind wir alte Männer, ständig voll Eifer, Länder und Menschen zu unterjochen. Gestirne des Unglücks, Mars und Saturn, stehen in unheilvoller Konstellation; und wenn Du die Seelen tötest und die Welt erstarren machst, meine kalten Winde sind noch eisiger als du. Und wenn in deinen Völkern Krieger sind, die die Gläubigen mit Marter quälen, vertreiben und durchbohren, nun in meinen Wintertagen ist, so wahr mir Gott hilft,, etwas was mehr noch quält und durchbohrt. Und bei Gott, dir schenk’ ich nichts! Nimm es hin, was ich dir bringe, und bei Gott, dich alten Mann soll nicht die Kohlenglut im Herd vor der Kälte des Todes schützen, noch Feuer im Monat Dezember.

In einem starken Kontrast zum Timur-Gedicht steht der zweite Teil des Buches, das Gedicht 'An Suleika'. Schon in der Form unterscheidet es sich vom vorangegangenen Text. Es hat mehr Ähnlichkeit mit den heiteren Liedern des ‚Divan’, und auch der Titel verkündet eine völlig andere Thematik. Und tatsächlich, die Liebe ist hier das bestimmende Element. Der Dichter erzählt vom Sterben tausender Rosen, um aus ihren Blüten, für die geliebte Suleika Rosenöl zu gewinnen. Jedoch erhält der Tod der Pflanzen einen Sinn, da er nicht Vernichtung, sondern Umwandlung bedeutet. Nach der Metamorphose erlangt ihr Geruch den Status der Ewigkeit. Den Wunsch nach Ewigkeit sprach der Dichter schon an anderen Stellen des ‚Divans’ aus.45 In beiden Gedichten geht es also um Tod oder Vernichtung, jedoch aus verschiedenen Perspektiven.

'Der Winter und Timur' entstand im Winter 1814 unfern der Heimat. Im Gegensatz dazu brachte Goethe das Suleika-Gedicht am 27. Mai 1815 in Wiesbaden zu Papier. Also kurz nach dem Aufbruch zu seiner zweiten Rhein-Reise, jedoch noch lange vor seinem mehrwöchigen Aufenthalt auf der Gerbermühle. Die Funktion und Stellung des Gedichtes ist durchaus interessant, zumal es von Konrad Burdach, unverdienterweise, eine ausschließlich Lücken füllende Funktion zugeschrieben bekommt. Denn nachdem Timur vom Winter abgestraft wurde und Suleika ein Fläschchen mit duftendem Rosenöl erhalten hat, beginnt das bezaubernde Wechselspiel zwischen Hatem und Suleika: im ‚Buch Suleika’. Die Zyklusbetrachtung wird jedoch zeigen, dass dieses Gedicht ‚An Suleika’ nicht allein zur Vorbereitung oder Einstimmung auf das folgende Buch jenen Platz erhalten hat.

3.3 Analyse und Interpretation

In den ‚Noten und Abhandlungen’ ist im Abschnitt ‚Künftiger Divan’ eine Erklärung für die Kürze des Buches gegeben:

„Buch Timur. Sollte eigentlich erst gegründet werden, und vielleicht müssten ein paar Jahre hingehen, damit uns die allzu nah liegende Deutung ein erhöhtes Anschaun ungeheurer Weltereignisse nicht mehr verkümmerte.“46

Demnach gilt das Timur-Buch in Goethes Augen als noch nicht abgeschlossen, ja eigentlich noch nicht einmal gegründet. Vielmehr sieht er im Gedicht des „furchtbaren Weltverwüsters“ eine „Tragödie“47, die durch das Auftreten seines „launigen Zug- und Zeltgefährten“ Nussreddin Chodscha erheitert werden müsste. Eine Kostprobe schließt sich diesem Hinweis an: Timur sei ein hässlicher Mann gewesen und brach, nach einem Blick in den Spiegel, in heftige Tränen aus. Gleichwohl stimmte Nussreddin Chodscha mit ein und hörte auch nicht auf, nachdem Timur sich wieder beruhigt hatte. Auf Timurs Nachfrage, weshalb er denn noch immer weine, antwortete dieser: Timur könne den Spiegel wieder weglegen, doch alle anderen müssten seinen garstigen Anblick weiter ertragen. Daraufhin kam Timur „vor Lachen außer sich.“

Jedoch steht neben ‚Der Winter und Timur’ keine erheiternde Anekdote, sondern das Liebesgedicht ‚An Suleika’. Ganz offensichtlich bedurfte es eines Gegenstückes, wenn auch nicht in der vorgeschlagenen Art und Weise.

Gleichzeitig schwingt in den Worten zum ‚Künftigen Divan’ auch eine Warnung mit. Obwohl sich die Parallelen zu Napoleons Herrschaft aufdrängen, dürfen sie das Verständnis nicht beherrschen. Es spricht aber meines Erachtens kein Verbot aus diesen Worten, lediglich ein Rat, neben der nahe liegenden Deutung auch anderen Überlegungen Platz zu bieten. Im vorliegenden Gedicht agieren zwei Mächte, die unmenschlich und einander ebenbürtig erscheinen. Die Eigenschaften ihrer Autorität ähneln sich: Der Winter streut seinen „Eishauch“ (Vers 3) und seine „frostgespitzen Stürme“ (Vers 7) über das Land. Dieser „Todeskälte“ (Vers 30) steht Timur in nichts nach. Zwar lässt er Herzen „sengen [und] brennen“ (Vers 13) jedoch „kältet“ auch er den „Luftkreis“ (Vers 21f). Der Winter verkündet zutreffend: „erstarren/ machen wir so Land als Menschen“ (Vers 16f).

In einem Briefkonzept an Christian Schlosser verwendet Goethe das gleiche Bild:

„Der unselige Krieg und die fremde Herrschaft hatten alles verwirrt und zum Starren gebracht […]“48

und das nur einen Monat, bevor das Gedicht entsteht. Indem Timur und den Naturgewalten die gleichen Machtattribute zugeschrieben werden, wird der Mongolenführer auch dem Status des Menschengeschlechts enthoben und höher gestellt. Noch viele Jahre nach Napoleons Niederlage spricht Goethe gegenüber Eckermann offen seine Sympathie für den Korsen aus:

„Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg.“49

Anhand dieser zwiespältigen Positionen Goethes: einerseits die Verurteilung der französischen Fremdherrschaft bei gleichzeitiger Bewunderung für den Herrscher; eröffnen sich Wege, die Stellung Timurs innerhalb des Gedichtes zu deuten. Denn bei aller Grausamkeit Timurs, die keinesfalls verschwiegen wird, darf er sich doch einer Naturgewalt ebenbürtig fühlen, auch wenn er letztendlich unterliegen wird.

Die Nähe von Napoleon und Timur bedeutet aber keinesfalls eine Gleichsetzung der beiden Herrscher. Goethes Hinweis, über das Nahe liegende hinaus zu denken, soll befolgt werden, so dass im Folgenden ausschließlich von Timur und seinem Verhältnis zum Winter die Rede sein wird.

„So umgab sie nun der Winter“ (Vers 1), mit diesen Worten steht der Leser mitten im Geschehen, ohne einen Hinweis, wer sich hinter dem Personalpronom ‚sie’ verbirgt. Einzig der Titel erlaubt eine leise Ahnung, dass Timurs Heer zum Opfer der eisigen Winterwinde wurde. Während der gesamten, episch anmutenden Einleitung (Vers 1-9), erfolgt keine Enthüllung. Erst mit dem Herabsteigen des Winters in Timurs Rat, vermutlich eine Zusammenkunft der wichtigsten Kriegsberater, bestätigt sich der Anfangsverdacht. Indessen tritt der Winter von Beginn an sehr deutlich als personifizierte Gewalt auf, ein Fakt, den Goethe aus der lateinischen Vorlage entnimmt. Jedoch verschärft er die personifizierende Wirkung gegenüber dem Original.50 Dort findet die Gefühlsbestimmung des Winters „Mit gewalt’gem Grimme“ (Vers 2) keinerlei Entsprechung. In Jones Version bleiben die Winde und Stürme ein Werkzeug des Winters, jedoch ohne nähere Bestimmung der Absicht. Somit verleiht Goethe dem Winter eine enorme Stoßkraft, denn bevor der zu Timur spricht, führt er seine Kräfte vor und schüchtert die Gefolgsleute Timurs ein.

Auch nach den Worten der Einleitung bleibt das Versmaß -ein nahezu durchgehender reimloser trochäischer Tetrameter- bestehen, obwohl nun die direkte Rede des Winters einsetzt. Im gesamten Text gibt es nur zwei Ausnahmen, im Vers 31 und 19, in denen die Anzahl der Hebungen abweicht. Die Auftaktregelung bleibt dabei aber bestehen.

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Der vierhebige Trochäus erscheint zunächst nicht außergewöhnlich. Das Versmaß erlebte um 1800, obwohl schon immer vorhanden, eine große Blüte. Grund dafür war die Auffassung, er wäre die deutsche Entsprechung des spanischen Romanzenverses.51 Und trotzdem scheint die Entscheidung zugunsten des Trochäus nicht zufällig. Die Anfangsbetonung der Verse verleiht den Worten Nachdruck, und beim langsamen Sprechen wirkt der Trochäus ernster als der Jambus. Bei der Betonung der ersten Silbe neigt der Sprecher auch zu einer, dem Versende entgegen fallenden, Bewegung. Meist tritt die letzte Silbe eines Verses auch unbetont auf, so dass der Wechsel zum nächsten Vers, mit betonter Anfangssilbe, umso effektvoller erscheint. Innerhalb des ‚Divans’ nimmt ‚Der Winter und Timur’ mit diesem Versmaß auch keine Sonderstellung ein. Wolfgang Kayser ermittelte insgesamt 42 Prozent der Divan’schen Verse als vierhebige Trochäen.52 Bezeichnender Weise beginnt und endet der ‚Divan’ sogar in diesem Versmaß. Das Timur-Gedicht hebt sich jedoch auf eine andere Art von der Mehrheit ab: Es ist reimlos und unstrophisch. In dieser Form beherbergt der ‚Divan’ nur noch zwei weitere Gedichte: ‚Siebenschläfer’ und ‚Kenne wohl der Männer Blicke’. Die Entscheidung gegen den Reim verstärkt den Ernst des Gedichts. Ein Reim verleiht lyrischen Texten einen regelmäßigen Sing-Sang und vermittelt damit den Eindruck von Leichtigkeit.53 Die unterlassene Einteilung in Strophen gibt dem Gedicht einen balladesken Eindruck und verhindert Sprechpausen, so dass der Leser pausenlos ins Geschehen eingebunden bleibt. Diesen Effekt unterstützen auch die zahlreichen Enjambements und alliterativen Bindungen. Nur zwei, besonders intensive Zeilenumbrüche, seien an dieser Stelle genannt:

Sollen länger noch die Herzen/ Sengen, brennen deinen Flammen (Vers 12/13)

Quälen deine wilden Heere/ Gläubige mit tausend Martern (Vers 24/25)

Es könnte sich ebenso um Langzeilen handeln, mit dem Umbruch wird jedoch ein drängendes Sprechen von Vers zu Vers erzwungen. Ebenso verschaffen die Alliterationen solche Versverbindungen: Winde/Widerwärtig (Vers 4/5) oder Stürmen/stieg (Vers 7/8).

In den ‚Noten und Abhandlungen’ befasst sich Goethe im Abschnitt ‚Araber’ mit einem Gedicht „aus Mahomets Zeit“ und charakterisiert es folgendermaßen:

„Dadurch, und dass das Gedicht fast alles äußern Schmucks ermangelt, wird der Ernst desselben erhöht, und wer sich recht hineinliest, muß das Geschehene, von Anfang bis zu Ende, nah und nach vor der Einbildungskraft aufgebaut erblicken.“54

In der Annahme, dass äußerer Schmuck, u.a. Reim- und Strophenform meint, ist mit dem Verzicht auch der Ernst im Timur-Gedicht erhöht. Mit Hilfe der benannten Stilmittel baut sich auch ein Bild der Situation vor dem Leser bzw. Hörer in stetig ansteigender Spannung auf.

Nachdem der Winter also Timurs Heer mit seinen Winden und Stürmen erstarren ließ, steigt er (wohlgemerkt) „hernieder“ (Vers 8) zu Timur. Lautstark tritt er ihm entgegen, wirft ihm seine Grausamkeit gegen die Menschen vor und nennt ihn ohne Umschweife „Tyrann des Unrechts“ (Vers 11). Diese Formel ist im Vergleich zur Vorlage wirkungsvoll umformuliert, wo es „ungerechter Tyrann“ heißt.55 Jene Umbenennung von ‚Ungerechtigkeit’ in ‚Unrecht’ verstärkt den bösen Charakter des Timur.

Obwohl der Winter zu Timur herabgestiegen ist, um ihm seine schrecklichen Taten vorzuhalten, beginnt die Naturmacht nun in den Versen 14- 20, Timur zu schmeicheln. Denn der Tyrann wird des Menschlichen enthoben und dem Winter (in der Rolle des Kriegsgottes) gleichgestellt. Beide gehören sie der Unterwelt an, sind „animae infernae“ (Vorlage Zeile 5) bzw. „verdammte Geister“ (Vers 14) mit übereinstimmenden Eigenschaften. Es stehen sich zwei Greise gegenüber, die die Welt erstarren lassen, der eine mittels eisiger Winde, der andere mit seinem erbarmungslosen Heer. Die Paar-Werdung spitzt sich zu, als der Winter sein Pendant als Mars und sich selbst als Saturnus bezeichnet. Hierzu gibt das Dill-Wörterbuch56 eine interessante Auskunft. Mars ist als römischer Kriegsgott bekannt und steht „beispielhaft für jeden Not und Elend über die Völker bringenden Eroberer.“ Saturnus gehört ebenfalls in den Kreis der römischen Götter, jedoch ohne konkrete Zuordnung. Hier verweist Dill auf die Ausführungen Hammers zu den Sternbildern der Araber, wo er schreibt, Mars sei „ein betrügerischer vielerfahrner Greis, der Alles verdirbt, was sein böser Einfluss berühret. Das Große unglückbringendste der Gestirne.“57 Indem Hammer Saturnus als den Gott bezeichnet, der das größte Unglück hervorrufen kann, kann Mars in der Rangliste nur nach im stehen. Aber erst das Zusammenspiel dieser beiden bösen Mächte läutet das Dunkel ein:

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Schon die Unregelmäßigkeit im Versmaß bzw. die Reduzierung der dritten Hebung auf eine Nebenhebung, zeigt hier eine Zäsur an.58 Je nach Lesart erfährt der Vers 19 eine Dehnung oder eine Stockung; in jedem Fall ist die Regelmäßigkeit unterbrochen. Die neben- bzw. unbetonte Endsilbe -ge trifft auf die gleich lautende unbetonte Anfangssilbe von „Gestirne“, dieser Vokalismus unterstreicht noch einmal die unterbrochene Regelmäßigkeit des Versmaßes.

Der Winter hat in den vorangegangenen Versen eine unwirklich erscheinende Solidarität zwischen den beiden Mächten hergestellt, als würde Timur verschont und in das Reich der Götter aufgenommen. Doch in den folgenden Versen 21-27 holt die übermächtige Naturgewalt zum „Gegenschlag“59 aus.

Tödtest du die Seele, kältest

Du den Luftkreis; meine Lüfte

Sind noch kälter, als du seyn kannst. (Vers 21-23)

Auch die „tausend Martern“ (Vers 25), die Timurs Heer den Gläubigen auferlegte, wird der Winter beizeiten an Grausamkeit noch überbieten. Damit sind die Fronten geklärt, Timur hat keine Überlebenschance. Doch der Winter übergibt Timur noch nicht seinem Schicksal, sondern verleiht seiner Überlegenheit noch einmal Nachdruck. Nicht einmal das Gegenstück zur Kälte, das Feuer, wird Timurs Untergang aufhalten können:

Keine Flamme des Dezembers. (Vers 34)

Die Unausweichlichkeit der Lage unterstreicht Goethe gekonnt mit den „einhämmernd-trommelnden“60 Wortwiederholungen, die zweimal im gesamten Timur-Gedicht zur Anwendung kommen. Die erste Form gestaltet sich weniger auffällig, das Personalpronom „ich“ wiederholt sich in den Versen 15, 16 und 18 jeweils als unbetonte Silbe aber mit starker Akzentuierung und an jeweils der gleichen Stelle im Vers. Dabei steht „ich“ immer einem „du“ gegenüber, eine Antithese, die Goethe schon in der lateinischen Vorlage vorgebildet sieht:

Quod si una es ex infernis animabus, equidem animarum altera sum; et nos senes sumus […]

und ausbaut. Die stetige Wiederkehr des Personalpronom „ich“ wird nur durch Vers 17 unterbrochen; hier sind die beiden Gegensätze erstmals zum „wir“ vereint, ein Vorgriff auf die Verse 19 und 20.

Die zweite Anwendung der Worthäufung tritt weitaus auffälliger in den Versen 27-30 in Erscheinung, es handelt sich um „Gott“. Gegenüber Jones Vorlage fügt Goethe eine vierte Beteuerungsformel hinzu und setzt auch dieses Wort, wie die Pronomina, an jeweils die gleiche Stelle im Vers: der dritten Silbe und zweiten Hebung. Auffällig ist jedoch die unterschiedliche Verwendung: Im Vers 27 und 28 fungiert es als Einschub, im Vers 29 als vorangehende Beschwörung und im Vers 30 als Ausruf, der alles Vorangehende bekräftigt und allem Folgenden noch mehr Nachdruck verleiht. Diese viermalige Verwendung des Wortes „Gott“ als Hauptakzent des jeweiligen Verses färbt auch auf den folgenden Vers ab. Obwohl der Hauptakzent hier auf der ersten Silbe liegt, wird der „Greis“ stark akzentuiert. Somit steht der Greis in der Verneinung nun im Kontrast zu Gottes Bejahung, was die Überlegenheit der Naturkraft versinnbildlicht. Michels sieht in den Gott-Beschwörungen sogar eine „Art diktatorischer Monotonie“, die dem „Tyrann Gewalt und Tod ankündigt.“61 Die letzten drei Verse des Gedichts bilden ein Satzgefüge und beinhalten eine doppelte Verneinung: „Nicht“ und „Keine“, was die Ausweglosigkeit der Situation endgültig festschreibt. Darüber hinaus fällt auf, dass die beiden Schlussverse keine Binnenzäsur aufweisen, wie viele vorangehenden Verse- sie wirken aufs Notwendigste gekürzt. Diese Kürzung ermöglicht dem Sprecher erstmalig eine Pause am Versende, was einen leisen Nachhall des Gesagten bewirkt und damit den Untergang Timurs besiegelt.

Erst jetzt, da Ruhe eintritt, erscheint die Frage nach Timurs Reaktion. Einerseits wird er zur ebenbürtigen Macht des Winters stilisiert, andererseits bleibt er still und reaktionslos. Der „Tyrann des Unrechts“ agiert auch in der Vorlage nicht, die Rolle des Handelnden ist allein dem Winter überlassen. Der Winter ist nicht in Timurs Rat hinab gestiegen, um einen Dialog zu führen, sondern um sein Vorhaben der Vernichtung dem Opfer mitzuteilen. Ein grausamer Akt für einen grausamen Herrscher, der starr und bewegungslos sein Todesurteil hinnehmen muss, sich stets der Hoffnungslosigkeit bewusst.

Das Timur-Gedicht basiert eindeutig auf einer Vorlage. Goethe wandelte einen Prosatext in Chronikform, mittels der Übertragung in ein lyrisches Versmaß und unter Anwendung zahlreicher Stilmittel, in Poesie um. Glaubt man den Worten des Dichters, so war es ein leichtes Unterfangen:

„Bei einem gegebenen Stoff hingegen ist alles anders und leichter. Da werden Fakta und Charaktere überliefert, und der Dichter hat nur die Belebung des Ganzen. Auch bewahrt er dabei seine eigene Fülle, denn er braucht nur wenig von dem Seinigen hinzuzutun; auch ist der Verlust von Zeit und Kräften bei weitem geringer, denn er hat nur die Mühe der Ausführung.“62

Der Umkehrschluss würde bedeuten, dass ‚An Suleika’ dem Dichter mehr Kraft abverlangte. Eine Wertigkeit der Gedichte vorzunehmen, erscheint jedoch wenig sinnvoll. Beim folgenden Text handelt es sich um ein „Gelegenheitsgedicht, das heißt, die Wirklichkeit [gab] die Veranlassung und den Stoff dazu.“63

‚An Suleika’ entsteht ein halbes Jahr nachdem Goethe ‚Der Winter und Timur’ verfasst hatte, am 27. Mai 1815 in Wiesbaden. Die kalte und dunkle Jahreszeit ist vorbei, und der Sommer zeigt sich in den ersten Zügen. Goethe befindet sich erneut auf Reisen, wie schon im Jahr zuvor. Bei der Annahme, das Suleika-Gedicht ist eine Gelegenheitsdichtung, spielt die Umgebung und Jahreszeit eine nicht unbedeutende Rolle. Nachdem das Timur-Gedicht einem welthistorischen Ereignis Gehör verschaffte, erscheint sich das folgende Gedicht einem beschwingteren Thema zuzuwenden. Müller bezeichnet das Gedicht sogar als eine „intime Ansprache“64 an Suleika, was der Titel impliziert.

Schon in der Form unterscheidet sich das Suleika-Gedicht auffällig von seinem Vorgänger. Zunächst springt die strophische Aufteilung ins Auge: vier Strophen zu je vier Versen stehen im Kontrast zum balladenhaften Aussehen des Timur-Gedichts. Wolfgang Kayser arbeitet in seiner Studie zur Verskunst im Divan die Typologie der Suleikastrophe heraus.65 Wobei der Name trügt, meist wird diese sehr regelmäßige Form von Hatem gebraucht. Die Suleikastrophe tritt im gesamten Divan nur 15mal auf, davon stehen nur drei außerhalb des ‚Buch Suleika’.66 ‚An Suleika’ ist einer dieser ‚Ausreißer’, es steht unmittelbar vor dem Buch Suleika und kann diesbezüglich als Vorbote interpretiert werden.

Zu den typischen Merkmalen der Suleikastrophe zählen die vierzeiligen, ausnahmslos kreuzgereimten Strophen, die im durchgängig vierhebigen Trochäus verfasst sind. Als Besonderheit ist zudem die strikt eingehaltene Kadenzregelung der Verse anzusehen: Vers 1 und 3 weisen einen weiblichen (unbetonten) und Vers 2 und 4 einen männlichen (betonten) Ausgang auf.

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Mit dieser Regelung sei das Strophenende stärker markiert und eine Zweiteilung der Strophe erreicht, so Kayser.

Es bleibt also festzuhalten, dass das Suleika-Gedicht, strukturell betrachtet, einzig das Versmaß mit dem Timur-Gedicht gemein hat. Ferner wird von Müller darauf verwiesen, dass erst die letzen beiden Verse der vierten Strophe das Thema des Timur-Gedichts aufgreifen, womit das Suleika-Gedicht erst eine „gewisse kompositionelle Berechtigung“67 erhält, dem ‚Buch Timur’ zugehörig zu sein. Dem ist prinzipiell nicht zu widersprechen,68 die ersten drei Strophen beschäftigen sich mit der aufwendigen Herstellung von Rosenöl und dem Wunsch des Liebenden, seiner Suleika ein solches Geschenk zu unterbreiten. Erst in der vierten Strophe findet eine Spiegelung statt: Die Qual der Rosen wird mit den Qualen von Timurs Opfern in Verbindung gesetzt. Müller kommt aber zu einem, aus meiner Sicht nicht vertretbaren, Schluss.

Wie Vers 3 und 4 andeuten, wird Rosenöl durch die Destillation der noch knospenden Rosenblüten gewonnen. Müller sieht im Rosenöl den Inbegriff der Liebe, der aber zwangsläufig Qualen vorausgehen müssen, damit sie entstehen kann. Müller ergibt sich dann Ausführungen, ein Dichter dürfe sich kein moralisches Urteil über welthistorische Ereignisse erlauben, das bleibe den Geschichtsschreibern überlassen. Einem Dichter gebühre es jedoch, auf die Grausamkeiten und Qualen der Menschen hinzuweisen, was den Historikern aufgrund ihres Objektivitätsanspruches verwehrt bliebe. An dieser Stelle zieht Müller seine Konsequenz, die ihn scheinbar selbst erschreckt:

Denn es kann wohl kaum die Relation von Qual und Lust gemeint sein, weil dann Timurs Herrschaft an die Stelle rückte, an der in der Liebesdialektik die aus der Qual endlich gewonnene Lust steht, und das würde nicht nur eine lyrische Aufhebung bedeuten, sondern eine welthistorische Rechtfertigung der Despotie.“69

Es erscheint sehr fraglich, dass der Dichter einen derartigen Vergleich anstrebte. Ein anderer Ansatz wird auch zu einem anderen Ergebnis führen. Sicherlich verlangte Timurs Herrschaft den Tod von „Myriaden Seelen“ (Vers 15), und auch das Rosenöl verlangt das Opfer von „tausend Rosen“ (Vers 3). Der Unterschied beider Grausamkeiten liegt im Resultat.

Während die von Timur getöteten Seelen unwiederbringlich verloren sind, erwächst aus den Rosenblüten ein Öl, dessen „Ruch auf ewig“ (Vers 6) hält. Das Blumenopfer vermehrt demnach die Lust der Liebenden (Vers 14), wohingegen der Trieb des Herrschers die Seelen völlig „aufgezehrt“ (Vers 16) hat. Zudem wird angedeutet, das die jungen Rosenblüten, „Einer Welt von Lebenstrieben“ (Vers 9), ihr Schicksal schon durch den Gesang der Nachtigal vorausahnen und sich in Liebe hingeben. In der persischen Dichtung ist die Liebe der Nachtigal (Bulbul) zur Rose (Gulgul) sehr oft thematisiert worden. Im Schenkenbuch tritt der Vogel auch als Symbol für die sich stets erneuernde Schönheit und Liebe der Welt auf.70 Die Metamorphose der Natur steht also im starken Kontrast zum grausamen Töten des Herrschers.

Jener Kontrast findet sich auch in der Versform wieder. Kayser bezeichnete die Suleikastrophe aufgrund der unterschiedlichen Kadenzen als zweigeteilt. In der vierten Strophe tritt diese Teilung besonders deutlich hervor. Der erste Teil stellt, auf das Blumenopfer bezogen, die Frage:

Sollte jene Qual uns quälen,

Da sie unsre Lust vermehrt? (Vers 13/14)

Die Antwort ist indirekt schon in den vorangegangenen Versen gegeben worden. Die direkte Antwort geben die letzten beiden Zeilen71:

Hat nicht Myriaden Seelen

Timurs Herrschaft aufgezehrt! (Vers 15/16)

Bei der Umwandlung der Blüten in Öl handelt es sich keineswegs um jene endgültige Tötung der Seelen, wie sie Timur betrieben hat.

Der Wunsch, die Ewigkeit zu erlangen, ist dem Divan thematisch nicht unbekannt. Karl Richter sieht sogar eine „versteckte Analogie des Dichtens“72 in der RosenölMetapher. Denn schon im Eingangsgedicht des Divans schwingt die Sehnsucht mit, dass Dichtung den Status der Ewigkeit erlangen soll:

Wisset nur, dass Dichterworte

Um des Paradieses Pforte

Immer leise klopfend schweben,

Sich erbittend ewges Leben.73

So bitten die Worte des Dichters ebenso um Einlass ins Paradies, wie der Geruch des Rosenöls stellvertretend für die Liebe.

3.4 Betrachtungen zum Zykluscharakters des West-östlichen Divans

Der Zykluscharakter des Divans gilt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als unumstritten. Nicht zuletzt hat Goethe im oft zitierten Brief an Zelter selbst darauf hingewiesen.74 Lediglich die Gestaltung der Auseinandersetzung differiert. Es ist nicht Gegenstand dieser Arbeit, unterschiedliche Positionen der Zyklusforschung darzustellen oder zu bewerten. Der folgenden Analyse sind die Arbeitsergebnisse von Edith Ihekweazu zugrunde gelegt. In ihren Augen sind es nicht bestimmte Themenbereiche wie Liebe, Verjüngung oder Dichtung, die den Divan vereinen, sondern die „Grundfiguration der Polarität, die inhaltlich mit ‚west-östlich’ definiert ist.“75 Sie erhebt damit den Titel zum Programm, das sich nicht in Gegenüberstellungen von Gegensatzpaaren erschöpft, dafür aber interessante Spiegelungen hervorbringt. Der ‚Divan’ kann übersetzt werden mit dem Begriff der ‚Versammlung’. Eine Versammlung westlicher wie östlicher Inhalte und Formen impliziert wiederum eine vom Dichter zu leistende Vermittlungsarbeit.

Auf dieser Grundlage können alle Einzelgedichte und Einzelbücher als eigenständige Gebilde betrachtet werden. Da jedes jedoch um Vermittlung bemüht ist, verweist es auf andere und verwirklicht die zur Programmatik erhobene Polarität auf seine individuelle Art und Weise. In diesem Sinne soll nun der Blick vom Einzelgedicht auf den gesamten Divan übergehen und ermittelt werden, wie er mit ihm verflochten ist.

Hier erweist es sich als vorteilhaft, dass das Buch des Timur nur zwei Gedichte beinhaltet. Bei anderen Büchern erfordert die Zyklusanalyse eine Auswahl von exemplarischen Gedichten.

Wenn Müller davon spricht, dass das ‚Buch des Timur’ im ‚Divan’ wie ein „Fremdkörper“76 wirkt, so hat er damit recht, nur das diese Bezeichnung negativ belastet erscheint. Das Buch scheint vielmehr ein Gegenentwurf zur Grundthematik des ‚Divans’ zu sein, als eine Ausgrenzung. Im Timur-Gedicht gehören Erstarrung und Kälte zu den Grundbegriffen; ein starker Kontrast zu den belebenden und verjüngenden Motivreihen der anderen Bücher und Gedichte. Nicht einmal das ‚Buch des Unmuths’ vereinigt soviel zerstörerische Kraft und Gewalt ohne Vermittlungsangebote. Der Winter steigt nur zu Timur herab, um sein Todesurteil zu verkünden. Von Anbeginn an wird Timur keine Möglichkeit der Verteidigung oder Gnade geboten. Mittels dieser ausnahmslosen Negation jeglicher Vermittlung avanciert das Gedicht ‚Der Winter und Timur’ zum hundertprozentigen Gegenpol des gesamten Zyklus und erscheint daher, einzeln betrachtet, als isoliert. Dem ‚Buch des Timur’ gehen drei Spruchbücher voraus, im ‚Buch des Unmuths’ begegnet Timur dem Leser zum ersten Mal:

Timur spricht

Was? Ihr missbilliget den kräftigen Sturm

des Übermuths, verlogne Pfaffen!

Hätt’ Allah mich bestimmt zum Wurm,

So hätt’ er mich als Wurm geschaffen.

Allerdings tritt Timur hier aktiv in Erscheinung. Im späteren Timur-Gedicht übernimmt der Winter diesen Part und drängt Timur in die Rolle der Passivität. Es spricht ein Timur, der gegen den Neid der Menge vorgeht und seine herausragende Persönlichkeit verteidigt. An dieser Stelle wird mit keinem Wort auf seine grausame Herrschaft hingewiesen.

Den drei Spruchbüchern ist allen etwas gemein, sie reflektieren Geschehenes und Gedanken des Dichters. Das ‚Buch der Betrachtungen’ will die Sinne ansprechen und stellt Überlegungen über das Leben an. Im ‚Buch des Unmuths’ kommt auch schon das Prinzip der Relativierung zum Tragen, denn erst die Versammlung von „anmutige[n], liebevolle[n], verständige[n] Zutaten“ mache die „Ausbrüche des Unmuths erträglich“77, wie Goethe in den ‚Noten und Abhandlungen’ einräumt. Auch das ‚Buch der Sprüche’ ist um Gleichgewicht bemüht.78 In diese Reihe gliedert sich das ‚Buch des Timur’ ein, nur das hier der Kontrast viel schärfer ausfällt, sowohl im Bezug auf die anderen Bücher, als auch intern.

Denn auf das Timur-Gedicht, das eine welthistorische Figur zum Thema hat, folgt ein Text, der sich der Liebe annimmt. Im ersten Gedicht dominieren Kälte, Tod und Qualen das Geschehen. Im Suleika-Gedicht sind Gluten, Freuden und Lust die tonangebenden Elemente. Wie schon die Strukturanalyse zeigte, unterscheiden sich die beiden Buchbestandteile auch formal sehr stark voneinander. Offensichtlich ist auch hier im Kleinen das Programm der Polarität verwirklicht. Im Grunde hat Goethe sein Strukturprinzip an mehreren Stellen im Divan festgehalten. Wenn den Unmutsbekundungen immer auch freudige Erlebnisse zur Seite gestellt und Timurs Tragödie unterhaltsame Geschichten von Nussreddin Chodscha beigefügt werden sollen, dann erscheint es nur folgerichtig, dem Timur-Gedicht einen Partner zu geben.

Zum einen erleichtert das Suleika-Gedicht den Zugang zum ‚Buch Suleika’, inhaltlich wie formal. Aber es lässt sich nicht auf diese Funktion beschränken. Wie schon angedeutet, bietet es den Ausgleich zum ernsten Timur-Thema. Edith Ihekweazu sieht in Suleika sogar eine sinnvollere Ergänzung, „als es durch komische Einschübe à la Nussreddin Chodscha möglich gewesen wäre.“79 Denn der Suleika-Text exponiert zwar den leichten und heiteren Ton des Folgebuches, negiert jedoch nicht die Grausamkeit des Herrschers. Vielmehr versinnbildlicht die Rosenöl-Metapher die beiden Seiten destruktiver Gewalt. Die eine ist gekennzeichnet von entmenschter Zerstörung, dem entgegen steht ein, um den Aspekt der Ewigkeit bereichertes, Leben. Außerdem verkörpert das Suleika-Gedicht den Funken Hoffnung, den der Leser sucht und braucht. Auch nach dem dunkelsten Zeitalter, den grausamsten Herrschern, bedarf es „einer Welt von Lebenstrieben“ (Vers 9), die bereit ist, alles für den Neuanfang zu geben.

4. Zusammenfassung und Schluss

Die Vorgehensweise, die Perlenschnur nicht zu zerschneiden, sondern sie erst in der Gesamtheit und anschließend eines ihrer Glieder zu betrachten, erwies sich als sehr gewinnbringend. Denn die aufgezeigten Bedingungsfaktoren präsentierten sich allesamt, wenn auch nicht vollständig, auch im ‚Buch des Timur’. Die Kunst, die Goethe an den orientalischen Dichtern und besonders an Hafis bewunderte, war, dass dort die entferntesten Dinge miteinander verbunden wurden. Und auch Goethe versammelt im ‚Buch des Timur’ den Weltverwüster Timur und Suleika auf kleinstem Raum. Tod und Verderben stehen neben Liebe und Ewigkeit. Und in der Person Suleikas findet sich auch der Marianne-Komplex wieder, auch wenn er an dieser Stelle nicht konkret benannt wird. Die Namensgebung der Geliebten erfolgt erst kurz darauf im ‚Buch Suleika’. Am deutlichsten sind im ‚Buch des Timur’ die Zeitumstände und die Beschäftigung mit der Kultur und der Geschichte des Orients gespiegelt. Bewusst wurde der Vergleich von Napoleon und Timur gleichwertig neben andere Bedeutungsebenen gestellt.

Wie in der Forschungsliteratur immer wieder betont und auch von Goethe angemahnt wird, sollte das Gedicht über die nahe liegende Deutung hinaus untersucht werden. Müller und Michelsen, die beiden Hauptbearbeiter des Timur- Stoffes, gaben diesbezüglich interessante, aber auch diskussionsanregende Erkenntnisse preis. So hat Goethe zweifelsfrei einen Prosa-Text in lateinischer Vorlage in ein lyrisches Gebilde in deutscher Sprache umgewandelt. Und dieser Balanceakt ist ihm ausgezeichnet gelungen, wie Analyse von Versmaß und Stilmitteln ergab. Die Personifikation des Winters, als Unheil und Tod bringende Gestalt, steht im Zentrum des Timur-Gedichtes. Die Bedrohlichkeit der Situation findet in jedem Vers seinen individuellen Ausdruck.

Im beabsichtigten Kontrast dazu steht das zweite Gedicht des Timur-Buches ‚An Suleika’. Auf den ersten Blick nehmen nur die letzten beiden Zeilen Bezug auf das vorangegangene Gedicht. Bei der genaueren Untersuchung stellt sich jedoch heraus, dass das Bild des Rosenöls die Polarität der Gedichte verstärkt und somit ihre Verbindung vertieft. Denn die Zyklusanalyse machte deutlich, dass Polarität das Programm des ‚West-östlichen Divans’ darstellt, wie der Titel schon impliziert. Somit findet sich im ‚Buch des Timur’ ein Kontrast zwischen den Gedichten ‚Der Winter und Timur’ und ‚An Suleika’, der sich im Kontrast des ‚Buch des Timur’ mit dem ‚Buch Suleika’ wiederholt.

Die ‚Perle’ wurde mit der Zyklusanalyse wieder zurück in die Schnur gelegt und der Juwelier kann sich an seinem Gesamtwerk erfreuen. Die Arbeit zeigte deutlich, dass es sich beim Buch des Timur keineswegs um einen „Fremdkörper“ innerhalb des ‚Divans’ handelt: seine Zugehörigkeit zum Ganzen ist ebenso ausschlaggebend für das west-östliche Leseerlebnis, wie die der anderen Glieder.

Literaturverzeichnis

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10. Lentz, Wolfgang. Goethes Divan und die Hafisforschung (1958) In: Lohner, Edgar. Studien zum West-östlichen Divan Goethes. Darmstadt 1971. S.190- 220
11. Michelsen, Peter. Goethes Gedicht „Der Winter und Timur“ und seine Vorlagen. In: Floeck, W./ Steland, D./ Turk, H. (Hrsg.) Formen literarischer Rezeption. Wiesbaden 1987. S. 445-458
12. Müller, Joachim. Zu Goethes Timurgedicht. In: Müller, Joachim. Der Augenblick ist die Ewigkeit. Leipzig 1960. S. 165-186
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14. Richter, Karl (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. Sämtlicher Werke nach Epochen seines Schaffens. West-östlicher Divan. Band 11.1.2. München 1998. Kommentar: S. 428-870
15. Richter, Karl (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. Sämtlicher Werke nach Epochen seines Schaffens. Divan-Jahre 1814-1819. Band 11.2. München 1998
16. Weitz, Hans-J. (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. West-östlicher Divan. Frankfurt/Main 1988
17. Johann Wolfgang von Goethe- Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Napoleonische Zeit 10.Mai1805-6.Juni 1816. Bibliothek Deutscher Klassiker, Band 7. Frankfurt/Main 1994
18. Johann Wolfgang von Goethe- Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Tag- und Jahreshefte. Bibliothek Deutscher Klassiker, Band 17. Frankfurt/Main 1994

Der Winter und Timur

So umgab sie nun der Winter

Mit gewalt’gem Grimme. Streuend

Seinen Eishauch zwischen alle,

Hetzt’ er die verschiednen Winde

5 Widerwärtig auf sie ein.

Über sie gab er Gewaltkraft

Seinen frostgespitzten Stürmen,

Stieg in Timurs Rath hernieder,

Schrie ihn drohend an und sprach so:

10 Leise, langsam, Unglücksel'ger,

Wandle, du Tyrann des Unrechts;

Sollen länger noch die Herzen

Sengen, brennen deinen Flammen?

Bist du der verdammten Geister

15 Einer, wohl! ich bin der andre.

Du bist Greis, ich auch, erstarren

Machen wir so Land als Menschen.

Mars! du bist's! ich bin Saturnus,

Übelthätige Gestirne,

20 Im Verein die schrecklichsten.

Tödtest du die Seele, kältest

Du den Luftkreis; meine Lüfte

Sind noch kälter, als du seyn kannst.

Quälen deine wilden Heere

25 Gläubige mit tausend Martern;

Wohl, in meinen Tagen soll sich,

Geb' es Gott! was Schlimmres finden.

Und bei Gott! Dir schenk' ich nichts.

Hör' es Gott, was ich dir biete!

30 Ja bei Gott! von Todeskälte

Nicht, o Greis, vertheid'gen soll dich

Breite Kohlenglut vom Herde,

Keine Flamme des Dezembers.

An Suleika

Dir mit Wohlgeruch zu kosen,

Deine Freuden zu erhöhn,

Knospend müssen tausend Rosen

4 Erst in Gluthen untergehn.

Um ein Fläschchen zu besitzen,

Das den Ruch auf ewig hält,

Schlank wie deine Fingerspitzen,

8 Da bedarf es einer Welt.

Einer Welt von Lebenstrieben,

Die, in ihrer Fülle Drang

Ahndeten schon Bulbuls Lieben,

12 Seeleregenden Gesang.

Sollte jene Qual uns quälen,

Da sie unsre Lust vermehrt?

Hat nicht Myriaden Seelen

16 Timurs Herrschaft aufgezehrt!

Der Text folgt der Akademie Ausgabe.

Goethe. West-östlicher Divan. Akademie-Verlag. bearbeitet von Ernst Grumach. Berlin. 1952.

[...]


1 Der vorliegenden Arbeit dient die Akademie Ausgabe als Referenz. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. West-östlicher Divan: Band 1 und 2

2 Im Folgenden wird hauptsächlich die Kurzform ‚Divan’ verwendet, ebenso beim Prosateil, der verkürzt ‚Noten und Abhandlungen’ genannt wird.

3 vgl. Weitz, H.J. (Hrsg) Goethe. West-östlicher Divan. S.298

4 Den Vorteil der Kürze des Buches nutzend, sind die beiden Einzelgedichte ‚Der Winter und Timur’ und ‚An Suleika’ der Arbeit als Anhang beigefügt.

5 Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. West-östlicher Divan: Band 1; Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. S.208

6 Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. West-östlicher Divan: Band 2; Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. S.10

7 vgl. Krippendorff, Ekkehart. Wie die Großen mit den Menschen spielen. S.18f

8 Eckermann, J.P. Gespräche mit Goethe. S. 78

9 die französische Form für „Hedschra“, die Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahre 622 n. Chr.

10 Jones, W. The Moallakat or seven Arabian poems. 1783. London; Die Muallakat sind ein Sammelwerk des 8. Jahrhunderts, das Reste der großen Poesie des vorislamischen Beduinentums enthält.

11 Brief Goethes an Johann Heinrich Meyer, 7. März 1814; S. 323

12 Tag- und Jahres-Hefte 1815; S. 259f

13 Ferdusi, Enweri, Nisami, Dschelal-Eddin Rumi, Saadi, Dschami

14 Brief Goethes an Friedrich Wilhelm Riemer, 29.August 1814, S.363

15 vgl. Burdach, K. Die Kunst und der dichterisch-religiöse Gehalt des West-östlichen Divan. S.56f

16 Burdach zitiert Hammer: „während rund umher Reiche zusammenstürzten und Usurpatoren dauernd emporschossen, mit ungestörtem Frohsinn von Nachtigall und Rose, von Minne und Liebe sang.“

17 Richter, K. (Hrsg.) Johann Wolfgang von Goethe. West-östlicher Divan. Band 11.1.2. S.314f

18 Eckermann, J. P. Gespräche mit Goethe. 11.März 1828. S.584

19 Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. Akademie-Ausgabe. S,10

20 Chiser ist der Name eines Propheten, der den Quell des Lebens entdeckte und bewachte. Als Hüter der Quelle verjüngt er Menschen, Tier und Pflanzen.

21 Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. Akademie-Ausgabe. S.8, 9 und 217

22 Richter, K. (Hrsg.) Johann Wolfgang von Goethe. West-östlicher Divan. Band 11.1.2. S.315f

23 Es handelt sich um drei Gedichte im Buch Suleika, wobei alle den Titel ‚Suleika’ tragen, daher sind im Folgenden die Gedichtanfänge angegeben: „Was bedeutet die Bewegung“ S. 164; „Ach! um deine feuchten Schwingen“ S. 167 und die erste, zweite und vierte Strophe von „Wie mit innigstem Behagen“, S.174

24 Sulpiez Boisserée, Johann an Goethe. 23.März 1820. S.380 (Richter-Divan)

25 Kosegarten, J. G. L. Rezension vom November 1819. S. 374 ff (Richter-Divan)

26 Müller, A. Rezension vom August 1820. S. 382 ff (Richter-Divan)

27 vgl. Beutler, E. (Hrsg.) Goethe. West-östlicher Divan. Vorwort S. 12

28 Burdach, K. Goethes West-östlicher Divan in biographischer und zeitgeschichtlicher Beleuchtung. Pyritz, H. Goethe und Marianne von Willemer.

29 Lentz, W. Goethes Divan und die Hafisforschung.

30 Ihekweazu, E. Goethes West-östlicher Divan. Untersuchungen zur Struktur des lyrischen Zyklus. S.12f

31 Ihekweazu, E. Goethes Westöstlicher Divan. Untersuchungen zur Struktur des lyrischen Zyklus.

32 Brief Goethes an Carl Friedrich Zelter. 17. Mai 1815. S. 456

33 Müller, J. Zu Goethes Timurgedicht

34 Michelsen, P. Goethes Gedicht „Der Winter und Timur“ und seine Vorlage

35 Weitz, H.J. (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. West-östlicher Divan. Erläuterungen S.293-358

36 Beutler, E. (Hrsg.) Goethe. West-östlicher Divan. Erläuterungen S.309-812

37 Richter, K. (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. West-östlicher Divan. Kommentar S.428-871

38 Dill. C. Wörterbuch zu Goethes West-östlichen Divan.

39 Kayser, W. Beobachtungen zur Verskunst des West-östlichen Divans. S. 64-85

40 Natürlich kann nicht jedes einzelne Forschungsergebnis benannt werde, aber die Richtungen sind alle erwähnt.

41 Das erste Gedicht umfasst 19 Strophen und das zweite ist ein Mehrzeiler.

42 Goethe, J.W. West-östlicher Divan oder Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient. erschienen am 24. Februar 1816 im ‚ Morgenblatt f ü r gebildete St ä nde ’

43 In: Beutler, E. (Hrsg.) Goethe. West-östlicher Divan. S.555

44 Beutler, E. (Hrsg.) Goethe. West-östlicher Divan. S.555f

45 Am deutlichsten Spricht es der Dichter in dem Eingangsgedicht ‚ Hegire ’ aus.

46 Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. Akademie-Ausgabe. S.132

47 ebd.

48 Briefkonzept Goethes an Christian Schlosser. 23.November 1814

49 Eckermann, J. P. Gespräche mit Goethe. 11.März 1828. S.584

50 vgl. Michelsen, P. Goethes Gedicht „Der Winter und Timur“ und seine Vorlage

51 vgl. Kayser, W. Kleine deutsche Versschule. S.28f

52 vgl. Kayser, W. Beobachtungen zur Verskunst des West-östlichen Divans. S.47ff

53 Gewiss gibt es diesbezüglich Ausnahmen. Im Divan trifft man den Reim jedoch überall dort an, wo es fröhlich und heiter zugeht.

54 Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. Akademie-Ausgabe. S.17

55 „tyranne injuste“ Zeile 4; vgl. Michelsen, P. Goethes Gedicht „Der Winter und Timur“ und seine Vorlage. S.454

56 Dill. C. Wörterbuch zu Goethes West-östlichen Divan

57 Hammer, J. v. Über die Sternbilder der Araber, und ihre eigenen Namen für einzelne Sterne. In: Fundgruben des Orients. Bearbeitet durch eine Gesellschaft von Liebhabern. 1809-1818

58 Michels sieht sogar mehrfach kleine Unregelmäßigkeiten im Versmaß und spricht dabei von falschen Spondäen (zwei gleichbetonte Silben), z.B.: „Eishauch“ oder „wohl ich bin“. vgl. Michelsen, P. Goethes Gedicht „Der Winter und Timur“ und seine Vorlage.

59 Müller, J. Zu Goethes Timurgedicht. S. 183

60 Michelsen, P. Goethes Gedicht „Der Winter und Timur“ und seine Vorlage. S.454

61 Michelsen, P. Goethes Gedicht „Der Winter und Timur“ und seine Vorlage. S.455

62 Eckermann, J. P. Gespräche mit Goethe. 18.September 1823. S.42

63 ebd.

64 Müller, J. Zu Goethes Timurgedicht. S.165

65 Kayser, W. Beobachtungen zur Verskunst des West-östlichen Divans. S.60f

66 ‚ Bedenklich ’ (Buch der Liebe) und ‚ Einla ß’ (Buch des Paradieses)

67 Müller, J. Zu Goethes Timurgedicht. S.165

68 Jedoch ist es nicht die einzige „kompositionelle Berechtigung“ des Suleika-Gedichts, wie die Zyklusanalyse noch zeigen wird.

69 Müller, J. Zu Goethes Timurgedicht. S.167

70 vgl. Dill. C. Wörterbuch zu Goethes West-östlichen Divan

71 In der Akademieausgabe ist es als Ausruf markiert, wohingegen die Hamburger Ausgabe eine Frage an das Ende des Gedichts setzt. In meinen Augen erwächst daraus jedoch kein Deutungsunterschied. Das Fragezeichen überlässt dem Leser noch Gedankenfreiraum, wo das Aufrufungszeichen eine bestehende Tatsache impliziert.

72 Richter, K. (Hrsg.) Johann Wolfgang von Goethe. West-östlicher Divan. Band 11.1.2. S.596

73 Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. West-östlicher Divan: Band 1; Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. S.4 Vers 39-42

74 vgl S. 11

75 Ihekweazu, E. Goethes West-östlicher Divan. Untersuchungen zur Struktur des lyrischen Zyklus. S.357

76 Müller, J. Zu Goethes Timurgedicht. S.165

77 Goethe, J.W.v. West-östlicher Divan. Akademie-Ausgabe. S.130

78 vgl. Eingangsgedicht vom ‚Buch der Sprüche’. Akademie-Ausgabe S.105

79 Ihekweazu, E. Goethes West-östlicher Divan. Untersuchungen zur Struktur des lyrischen Zyklus. S.181

Fin de l'extrait de 34 pages

Résumé des informations

Titre
Das Buch Timur in Goethes West-östlichen Divan
Auteur
Année
2002
Pages
34
N° de catalogue
V107030
ISBN (ebook)
9783640053056
Taille d'un fichier
509 KB
Langue
allemand
Annotations
War eine interessante Arbeit zu einem wenig bearbeiten Goethe-Thema, was ja selten ist
Mots clés
Buch, Timur, Goethes, West-östlichen, Divan
Citation du texte
Jana Beisker (Auteur), 2002, Das Buch Timur in Goethes West-östlichen Divan, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107030

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