Drehbuch für einen Tatort (Auszug)


Presentation / Essay (Pre-University), 2002

34 Pages


Excerpt


Personenliste

Ivo Batic

Franz Leitmayr

Carlo Menzinger

Weitere Hauptfiguren:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nebenfiguren:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

au ß erdem:

- ein Rechtsmediziner, ein Mentaltrainer, ein Fernsehjournalist
- Beamte der Spurensicherung, ein Ernährungswissenschaftler
- zwei Notärzte, ein bekannter Radfahrer und weitere Radfahrer
- uniformierte Polizisten, ein Tiefenpsychologe, ein Passant
- Komparsen und Sekretärinnen, ein Vorstandsvorsitzender
- zunächst jubelnde, später trauernde Fans, Ordnungskräfte
- Vater von Olaf, ein Physiotherapeut, eine Frau der Stadtwerke
- ein hundeliebender Dreikäsehoch, ein Sachverständiger
- ein Tier-, ein Haus- und ein Chefarzt, eine Schwester
- Erzähler, drei Steuer- und zwei Dopingfahnder, Sportler usf.

sowie ein weißer Afghane namens Boy.

Eine Vervielfältigung ist nicht gestattet.

Vorspann {Nasser Asphalt, ein Fadenkreuz, zwei Augen}

***

schwarzer Hintergrund

[Einblendung oben rechts in weiß]

„Citius, altius, fortius“ (Schneller, höher, stärker)

Olympischer Wahlspruch

[Ausblendung]

[Einblendung mittig in weiß]

„Die häufigste Nebenwirkung des Dopings ist die Lüge.“

Professor Werner Franke, Heidelberger Molekularbiologe

[Ausblendung]

***

1. Aus großer Entfernung: Radrennen, Zuschauer Außen/Tag

Sonntag, 12.Mai: Deutschland-Tour, 4.Etappe

[Titelsong]

Weitab vom Geschehen wird sukzessiv an dieses herangefilmt. Es wird mehr und mehr eine Totale nur vom Radrennen gezeigt. Aus der Ferne nur schemenhaft zu erkennende, dem Spektakel in einer großen Anzahl beiwohnende Zuschauer sind immer deutlicher zu sehen. Es ist sengend heiß. Radprofis quälen sich einen Anstieg im Nationalpark Bayerischer Wald hinauf. Ein wunderschönes Panorama. Trotz der flirrenden Hitze treten die Berufsradfahrer kräftig in die Pedalen. Einige fahren sogar im Wiegetritt. Atemberaubend, in doppelter Hinsicht.

ERZÄHLER* (aus dem Off)

Ja, soviel los hier. Denn niemand weiß, wie es ausgeht. Das ist es: Die Spannung, die uns so sehr fasziniert. Wie bei Krimis eben auch. Beim Tatort seit 1970. Hier sind es Tausende, vor den Fernsehbildschirmen Millionen. Alle fiebern mit. Heute wird es genauso sein.

- darüber Titel -

D U R C H S A G E (begeistert, aus dem Off, per Megaphon) Was für ein packender Zweikampf! Avitios gegen die „Bergziege“ Woslak. Die Hitze ist erdrückend und doch geht ihnen nicht die Puste aus. Bergauf sind es noch einige Meter, gleich sind sie oben, auf dem Tafelland.

Gleichauf passieren sie den Teufelslappen {„flamme rouge“}, sie biegen in die Kurve ein, noch eine Gerade bis zur Zielankunft.

Die Masse tobt. Als Teufel kostümierte „Anpeitscher“ treiben Woslak und Avitios schreiend nach vorn.

[plötzlicher Reißschwenk]

{Dem Fernsehzuschauer soll damit die Authentizität einer Live- Reportage des Radrennens vermittelt werden.}

Mit scharfem Antritt lässt Woslak Avitios stehen, der etwas zurückfällt. Avitios greift nach seiner einzigen Trinkflasche und erfrischt sich noch einmal. Er lässt den Führenden bereitwillig davonziehen, der in unvermindert hohem Tempo dem Zielstrich entgegensaust. Wenige Sekunden hinter Woslak überquert Avitios die Ziellinie.

weiter D U R C H S A G E (aus dem Off, per Megaphon)

Woslak ist strahlender Sieger, auf Platz zwei Avitios, der fantastisch gefahren ist. Beide haben das Hauptfeld weit hinter sich gelassen.

Unmittelbar nach Avitios folgt der Mannschaftswagen von Team Eisvogel, dem Rennstall, dem Avitios angehört. Das Auto hält. Es steigen aus:

- Ein leicht untersetzter Mann Mitte 60 (ATZE), der ein grellgelbes Polohemd trägt und sich als Sonnenschutz einen Pepita-Hut aufgesetzt hat. Sein rechter Arm ist tätowiert.
- Ein korpulenter Mann (LICHER), der etwa Anfang 50 ist.
- Der Fahrer (NOLPE), ein eher jugendlich wirkender Mann, auf dessen weißem Polohemd Avitios prangt.
- Der Beifahrer (KLODT), der einen Ärztekoffer mit sich führt.

Alle vier wandeln über die Straße. Sie halten kurz inne, bleiben dann in freudiger Erwartung stehen. Avitios, der sein Rennrad abgestellt hat, geht freudestrahlend auf sie zu und klatscht sie ab. Klodt drückt Avitios einen für den Fernsehzuschauer zunächst nicht genau zu identifizierenden Gegenstand in die Hand. Daraufhin verschwindet Avitios in einen kleinen Container, augenscheinlich eine primitive Toilette.

***

Eine etwas zerzauste Frau mittleren Alters fächelt sich mit einem Strohhut Luft zu. Rechts neben ihr wird ein junger, pausbäckiger Kiebitz (OLAF), an den Wangen mit dem Wappen von Team Eisvogel bemalt, von einem mittelgroßen Mann (VATER VON OLAF) auf den Schultern getragen. Olaf zeigt auf Avitios, der sich ein nasses Handtuch über den Kopf legt, um sich zu kühlen und somit die Körpertemperatur auf ein normales Maß herunterzufahren.

OLAF (enthusiastisch)

Papa, mein Idol.

VATER VON OLAF

Seit heute auch meins, Olaf.

Anstelle der eben beschriebenen Frau steht nun Menzinger, der mit einem Vereinsschal von Team Eisvogel umhalst ist und sich ein Radlertrikot desselben mit den Beflockungen Menzinger und 110 {jeweils Rückenansicht} übergestreift hat. Die Hände hat Menzinger in einer bis zu seinen Knien ragenden Sporthose {fesches Outfit} vergraben.

2. Kirche Innen/Tag

Die Kirche ist randvoll mit Besuchern gefüllt. Ein bekannter Radfahrer steht auf der Kanzel und predigt. Für einen kurzen Moment ist Batic zu sehen, der ziemlich in der Mitte einer hinteren Kirchenbank Platz genommen hat und interessiert dem Gesprochenen zuhört.

BEKANNTER RADFAHRER

Ich will nicht päpstlicher sein als der Papst. Deshalb möchte ich vorneweg zu meinem Lebensglück sagen:

Eigentlich müsste ich jeden Tag ein Stoßgebet zum Himmel schicken, so gut geht es mir. Ich jaule in den Bergen auf, schimpfe auf mich selbst, doch wirklich leiden, dass tue ich nicht. Wie alle Radprofis. Denn wir wissen, dass dies mit wirklichem Leiden nichts zu tun hat. Ich bin hierher gekommen, um über das Thema „Unglaubliche Nähe“ zu predigen.

Batic steckt einen Euro in die herumgereichte Kollekte.

3. Hinter der Zielankunft Außen/Tag

Die zahlreichen Fans, darunter Menzinger, klatschen anhaltend ‚big hands’ {viel Beifall}. Dazu Jubelrufe, die sich mit Sprechchören vermischen. Alles gilt Avitios. Er genießt das Bad in der Menge. Mit den sich ihm entgegenstreckenden Finelinern schreibt er fleißig persönliche Signaturen auf Trikots, Hände, Autogramkarten, sogar Dekolletés. Ein Junge ist überwältigt, sein Vorbild einmal hautnah erleben zu dürfen. Er weint, alles ist zu viel für ihn. Avitios steht bei Menzinger und kraxelt seinen Künstlernamen auf die Vorderseite von Menzingers Jersey. Menzinger erhält von Avitios den Fineliner zurück und drückt die Kappe auf den Fineliner.

MENZINGER (erfreut, dankbar)

Obrigado! {Danke auf brasilianisch}

AVITIOS (lächelt)

Bitte.

Avitios begibt sich zum Blechcontainer auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf dem oberhalb der Eingangstür in Versalien die Inschrift Team Eisvogel aufleuchtet. Er will gerade in den Blechcontainer hineingehen, da fasst er sich mit beiden Händen an den Hals und würgt. Avitios taumelt rückwärts und fällt nach hinten um.

Währenddessen:

Das Peloton ist auf der Hochebene angekommen. Ein Massensprint des Hauptfeldes ist unausweichlich. Zu viele gehen ein hohes Tempo, zu wenige fahren locker hinterher. Hinter der Zielankunft herrscht sofort dichtes Gedränge an den Verpflegungsstationen. Dabei ist für Radfahrer wie Zuschauer weitgehend untergegangen, dass Avitios reglos in seitlicher Lage liegengeblieben ist. Als einer der wenigen blickt Menzinger angestrengt nach vorne zum soeben Umgefallenen.

weiter MENZINGER (geschockt, zu sich selbst)

Was ist denn da passiert?

Menzinger spurtet unvermittelt zu Avitios los. Er zwängt sich durch die Schar der Radfahrer, die sich allesamt nicht für Avitios zu interessieren scheinen, hindurch. Menzinger kommt bei Avitios an. Dieser liegt nach wie vor reglos da.

weiter MENZINGER (rüttelt Avitios)

Junge, was los mit dir?

Avitios schnappt hörbar nach Luft. Er stammelt Unverständliches. Wenige Sekunden später röchelt er und schließt seine Augen. Menzinger schaut fassungslos - und wird zum Ersthelfer. Hingekniet tastet er mit seiner linken Hand Avitios’ Puls ab. - Dessen Herzschlag hat ausgesetzt. Er lagert Avitios flach auf dem Rücken, macht dessen Atemwege frei und beginnt dann sofort und ohne Gehilfen mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung: Abwechselnd 15 Herzdruckmassagen und zwei Beatmungen.

weiter MENZINGER

13, 14, 15.

Das Gesicht von Avitios läuft weißlich blass an. Ein Radprofi kommt zu Menzinger angelaufen.

weiter MENZINGER (auffordernd, zum Radprofi) Los, beatmen!

Der Radprofi beatmet Avitios fachgerecht. Menzinger steht auf.

weiter MENZINGER (in die Menge hineinrufend)

Einen Arzt! Schnell!

[→ Kurzer Zeitsprung]

Der herbeigeholte Mann ist Klodt, der aus seinem offenen Ärztekoffer {ein dicker Pilotenkoffer} einen dort verstauten halbautomatischen Defibrilator herausnimmt und diesen einschaltet.

KLODT (zu Menzinger)

Lassen Sie mich mal. Ich bin der Teamarzt.

Menzinger lässt von Avitios los.

MENZINGER (zu Klodt)

Von Team Eisvogel?

KLODT (zu Menzinger)

Jawohl. Willi Klodt. (bestimmt) Nicht mehr anfassen jetzt!

Klodt sendet mit dem halbautomatischen Defibrilator unter lautem, gleichmäßigem Piepen über zwei Handelektroden mehrere kurze Stromstöße durch das inaktive Herz von Avitios, um es zu neutralisieren und zu eigener Tätigkeit zu verleiten. Der Rest der radfahrenden Belegschaft von Team Eisvogel verfolgt umstehend mitsamt Nolpe, Licher, Atze und Menzinger in dumpfer Benommenheit die hektischen Reanimierungsversuche von Klodt.

4. Kirche Innen/Tag

BEKANNTER RADFAHRER

Wieso dürfe man seinen Kindern keine Stockhiebe verabreichen? Der indische Philosoph Rabindranath Tagore sagte einst: `Jedes neugeborene Kind bringt die Botschaft, dass Gott sein Vertrauen in den Menschen noch nicht verloren hat.` Genauso sehe ich das auch.

Batic hört andächtig der Predigt zu. Da klingelt in der Brusttasche seines Jacketts das Handy, woraufhin die auf den Bänken vor Batic sitzenden, vornehmlich älteren Kirchgänger, ein wenig aufschrecken und sich verdutzt zu ihm umdrehen.

BATIC (unerfreut, ins Handy)

Ja? (ironisch, nach einer Weile) Da kommt Freude auf.

Batic klappt sein Handy zusammen, erhebt sich von seinem Platz und verlässt eiligen Schrittes die Kirche.

5. Weiträumig abgesperrte Unfallstelle Außen/Tag

Zwei {inzwischen eingetroffene} Rettungssanitäter kämpfen gemeinsam mit Klodt verzweifelt um das Leben von Avitios. Menzinger ahnt das bevorstehende Unglück. Er betet wortlos vor sich hin. Schließlich sinkt Avitios’ Kopf nach einem leisen, eindringlichen Todeskampf zur Seite. Menzinger schaut zu Tode betrübt gen Himmel. Nolpe wendet sich mit verweintem Gesicht ab und rückt aus dem Bildschirm. Gleichzeitig akustische Signale eines näherkommenden, mit gellendem Martinshorn fahrenden Krankenwagens, die sofort wieder verebben.

[traurige Musik]

[Untergemischt werden musikalische Geräusche aus dem Off]

In einiger Entfernung zum Unfallschauplatz hat sich ein Menschenauflauf versammelt.

BATIC (bedächtig, zu den ihm im Weg stehenden Fans)

Kann mir hier jemand den Weg zur Unfallstelle zeigen?

Als niemand für ihn Platz macht, schiebt Batic einige vor ihm stehende Schaulustige mit sanftem Druck zur Seite, um sich den Weg zur Unfallstelle zu ebnen. Er zeigt einem Sicherheitsbeamten, der die sensationslüsterne Menschenmenge daran hindert, zu nahe an die Unfallstelle zu gelangen, lässig seinen Dienstausweis vor. Unter Flatterband hindurch geht er auf die Straße, auf dem eine Ambulanz und zwei Streifenwagen stehen. Das flackernde Blaulicht deutet darauf hin, dass etwas Schlimmes passiert ist. Batic rückt seine Krawatte gerade, die beim Gerangel mit den Schaulustigen Schaden genommen hat und sieht dabei inmitten des Unfallschauplatzes Menzinger, der wie gelähmt auf die Leiche von Avitios starrt und stocksteif dasteht. In diesem Moment hört Batic das Geräusch eines näherkommenden, sehr tief fliegenden Hubschraubers, der sich im Landeanflug nahe der Unfallstelle befindet. Als der Helikopter zur Landung ansetzen will, signalisiert Menzinger dem Piloten und den zwei Notärzten im Cockpit mit kreisendem Finger „Go on!“ {hier sinngemäß: „Heb’ wieder ab!“}.

Batic dreht sich erschrocken nach vorn, duckt sich reflexartig unter dem Donnern des Rotors, als der Rettungshubschrauber über die Unfallstelle hinwegfliegt. Menzinger, der Batics Anwesenheit festgestellt hat, geht auf Batic zu, der, nun wieder erhobenen Hauptes, Menzinger entgegen geht.

weiter BATIC (weist auf den Helikopter, zu Menzinger) Zu spät?

MENZINGER (unerfreut)

Nicht für uns.

BATIC

Wo ist denn der Franz?

MENZINGER

Über uns. Er will den Nationalpark {NLP Bayerischer Wald) überfliegen.

Batic erschrickt, als er über sich Leitmayr in einem Heißluftballon entdeckt. Leitmayr winkt Batic und Menzinger lässig zu. Der Heißluftballon setzt, in Reichweite zu Batic und Menzinger, auf dem Kopfsteinpflaster auf. Leitmayr landet wohlbehalten. Batic und Menzinger schreiten zu Leitmayr.

LEITMAYR

Eine „Notlandung“. Die Pflicht ruft ja. (breitet die Arme aus, genießt die Natur) Ist es nicht schön hier?

MENZINGER (flapsig, uninteressiert)

Traumhaft. Nur die Leiche stört.

BATIC (souffliert)

Gewissermaßen.

LEITMAYR (zu Menzinger)

Also: Was ist los?

MENZINGER

Ein toter Radfahrer. Einfach umgefallen. Wovon, wissen wir noch nicht.

BATIC (zu Leitmayr)

Carlo war als erster bei ihm.

MENZINGER (zu Leitmayr)

Er wollte mir noch was sagen, doch dann war er „weg“.

LEITMAYR (zu beiden)

Haben wir schon die Personalien?

MENZINGER (beeilt sich zu erklären)

Avitios, Brasilianer. Star und Kapitän von Team Eisvogel, absoluter Publikumsliebling. Erst vor dieser Saison geholt. Morgen wäre er 25 {Jahre alt} geworden.

Batic und Leitmayr sind baff über Menzingers Wissen, schauen ihn verdutzt an.

weiter MENZINGER (eilig abtuend)

Ich bin Mitglied im Rennstall. Seit drei Monaten. Mehr so passiv. Da weiß ich das halt.

Batic, Leitmayr und Menzinger sind unterwegs zur Leiche.

Derweil:

Ein Spurensicherer lässt die von Avitios zuletzt benutzte Trinkflasche in ein Plastiktütchen fallen, die ihm ein KT-Beamter offen hinhält.

BATIC (deutet auf die Trinkflasche, zu Menzinger) Was ist damit?

MENZINGER

Geht ins Labor. Daraus hat er zuletzt getrunken.

LEITMAYR (zu Menzinger)

(sieht auf den aufgedruckten Namen auf der Trinkflasche) Ferdi do Avallo?

MENZINGER

Sein Zivilname.

Das Trio ist bei der Leiche angekommen. Sie schauen gemeinsam auf diese herab.

LEITMAYR (ein Deja-vu-Erlebnis habend)

Ui. Ein Mondgesicht mit Wangenakne.

BATIC (ein Deja-vu-Erlebnis habend)

Kommt mir bekannt vor.

LEITMAYR (zu Batic)

Was? Auch du kennst ihn?

BATIC (zu Leitmayr)

Ich meine die Kopfform.

MENZINGER

Ja, sieht verdächtig nach Doping aus.

BATIC

Amphetamine.

LEITMAYR

Cortison.

BATIC

Anabolika.

MENZINGER (mischt sich ein)

Seht ihr, genau das ist das Problem. Nichts Genaues weiß man nicht. Wenigstens wissen wir jetzt, wonach wir suchen müssen.

LEITMAYR

Oder auch nicht. Wenn der Trinkflascheninhalt manipuliert wurde.

KLODT (zu Leitmayr)

Glauben Sie das?

MENZINGER (zu Batic/Leitmayr)

Das ist der Mannschaftsarzt.

Leitmayr und Klodt nicken sich flüchtig zu. Batic schaut sich um, er scheint nach einem „stillen Örtchen“ Ausschau zu halten.

LEITMAYR

Ich glaube erst mal gar nichts. Auch an Doping nicht.

Ein Bestattungstransporter fährt, an dem abfahrenden Krankenwagen vorbei, zur Unfallstelle vor.

BATIC (zu Menzinger)

Ich muss mal.

MENZINGER (zeigt auf den kleinen Container aus Bild 1)

Da, das war seine persönliche Latrine. (lässig) Kannst dann gleich mit der Spurensicherung anfangen.

Batic begibt sich in den kleinen Container hinein.

LEITMAYR (zu Menzinger)

Kam Avitios auch im Team gut an?

MENZINGER

Es ist anzunehmen. Jedenfalls wurde er in den Mannschaftsrat gewählt. Gleich nach seiner Verpflichtung.

LEITMAYR (zu Menzinger)

Gibt es noch was, das ich wissen muss?

MENZINGER

Erst mal nicht. Frag’ die von Eisvogel. Die sind reingegangen.

KLODT

Bis auf mich.

LEITMAYR (zu Menzinger)

Mach’ ich.

Leitmayr entfernt sich von Menzinger und schlängelt sich, dabei den Leuten seinen Dienstausweis hochhaltend, zum Eingangsbereich des Blechcontainers hindurch, wobei die Inschrift Team Eisvogel nicht mehr aufleuchtet. Er geht an einem Sicherheitsbeamten vorbei, der die aufgewühlte Menschenmenge zu besänftigen versucht, und betritt den Blechcontainer. Aus dem Bestattungstransporter hieven zwei Männer einen Metallsarg, auf den sie Avitios’ in einem weißen Tuch gewickelten Leichnam legen. Beamte der Spurensicherung, die weiße Overalls tragen, packen ihre Sachen zusammen.

6. Waschraum/Toilettenanlage Innen/Tag

[untermalt von düsterer, zugleich geheimnisvoll wirkender Musik]

Die hiesige Räumlichkeit ist fast abgedunkelt. Für Batic ist es höchste Dringlichkeitsstufe, als er sich in einem Urinal erleichtert. Nach dem Abwusch seiner Hände am Waschbecken hält er diese unter einen Heißlufttrockner und rückt anschließend, in den über dem Waschbecken hängenden Spiegel schauend, seine Haare zurecht. Beim Hinausgehen fällt ihm ein vor der Türkante liegender Anus praeter Beutel auf. Er nimmt ihn auf - und mit.

7. Weiträumig abgesperrte Unfallstelle Außen/Tag

Menzinger geht in Richtung Klodt, der gerade seinen Ärztekoffer schließt. Dann verlässt Klodt die Unfallstelle. Batic hält Menzinger auf.

BATIC

Hey Carlo, warte mal. Hat er Kinder gehabt?

MENZINGER

Zwei Adoptivsöhne.

BATIC

Keine eigenen?

MENZINGER

Nö. Er war Hagestolz {ewiger Junggeselle}. Wieso fragst du?

BATIC

Deswegen (hält den Anus praeter Beutel aus Bild 6 hoch). (ironisch) Hat er sich etwa selbst gewickelt?

MENZINGER (überrascht)

Ach! Ein Anus praeter Beutel. Kann sein, dass er Fremdurin daraus entnommen hat. Für den Fall der Fälle.

BATIC

Wie? Du meinst?

MENZINGER

Ja. Als erster hätte er zur Dopingkontrolle müssen. Hat ja auch fast geklappt. Er wurde nämlich Tageszweiter.

BATIC

Wie erfolgt denn die Auswahl für den Rest?

MENZINGER

Nach der Zufallsmethode, nach eigener Erfahrung.

Ausgeloste und verdächtige Fahrer. Was weiß ich.

BATIC

Ist denn der Franz schon wieder abgehoben?

MENZINGER

Nein. Er hört sich bei Eisvogel um.

8. Blechcontainer Innen/Tag

Überall sind rote Lampions zu sehen, die darauf schließen lassen, dass hier „bald die Lichter ausgehen werden“. Inmitten der Wandelhalle steht eine ziemlich junge, gutaussehende Frau (JANSEN), die bewusst schwülerotisch, mit einer an Anstößigkeit grenzenden Sinnlichkeit vor den sie belagernden einem Dutzend Redakteuren und zwei Filmteams (à vier Mann) posiert. Ein Fernsehjournalist, der sein Mikrofon unter die Nase der Jansen hält, interviewt diese. Leitmayr verguckt sich sofort in die wirklich bildhübsche Jansen [Momentaufnahme].

FERNSEHJOURNALIST

Laufen die Tagesgeschäfte jetzt weiter?

JANSEN (todernst)

Ganz normal sogar. Radsport ist schließlich auf allen Ebenen knallhart.

FERNSEHJOURNALIST

Gibt’s wirklich keine Auflösungserscheinungen bei Team Eisvogel?

JANSEN

Nein. Auch der Generalsponsor hält uns weiterhin die Stange.

Der Fernsehjournalist, das Filmteam sowie die sechs Redakteure verlassen die Wandelhalle, an Leitmayr vorbeigehend, nach draußen. Leitmayr dreht sich zur Jansen, die ihn kurz taxiert hat und prompt mit einem strahlenden Lächeln auf diesen zugeht. Leitmayr bleibt stehen.

LEITMAYR (lieblächelnd)

Wie heißt er denn, der Hauptsponsor?

JANSEN

Darf ich fragen, wer Sie sind?

LEITMAYR

Leitmayr, Kripo München, Mordkommission.

JANSEN

Lieble. Ein Autohändler. War es denn wirklich Mord?

LEITMAYR

Wir können es leider nicht ausschließen. (sehr freundlich) Und wer sind Sie?

JANSEN (überaus freundlich)

Frau Jansen, Pressechefin von Team Eisvogel.

LEITMAYR

Dann wissen Sie ja, was im Rennstall so abgeht.

Die Jansen nickt freundlich.

weiter LEITMAYR

Ich will nämlich zu den Teamgefährten von Avitios.

JANSEN

In der Kabine im Gebäude nebenan. Der Trainerstab ist auch da.

LEITMAYR (verlegen, leicht tagträumerisch)

Danke.

JANSEN

Dafür bin ich ja da.

LEITMAYR

Ja, dann...

Leitmayr lässt die Jansen spüren, dass sie ihm gefällt. Das Gespräch ist unterhalb der Dialogebene auch eine vorsichtige Annäherung.

JANSEN (lächelt)

...bis später. Ich muss jetzt wieder ins Büro. Telefonate mit der Presse.

Auffällig lange und leicht versonnen sieht Leitmayr der in ihr Büro gehenden Jansen hinterher. Dann geht er hinaus...

9. Weiträumig abgesperrte Unfallstelle Außen/Tag

Direkter Anschluss: ...und auf Batic zu.

MENZINGER (zu Batic)

Bis später.

Menzinger geht von dannen.

LEITMAYR (zu Batic)

Ich habe mich verlaufen.

BATIC (belehrend)

Zu zweit passiert das nicht. Polizeiarbeit ist Teamarbeit.

10. Kabinentrakt Innen/Tag

Batic und Leitmayr gehen auf den offenen Kabinentrakt zu und platzen ohne Vorwarnung in diesen hinein. Totenstille. Sieben Radprofis des Rennstalls Team Eisvogel sitzen auf drei Bänken und starren, scheinbar von Avitios’ Tod konsterniert, apathisch in die Gegend. Niemand von ihnen schaut zu Batic und Leitmayr auf, als diese hereintreten. Atze und Nolpe stehen mit dem Rücken zu den beiden Kommissaren am Fenster und sehen aus diesem hinaus [auf was sie schauen, ist nicht zu sehen]. Nur Licher, der in der Mitte des Raumes steht und Tränen in den Augen hat, schenkt den Kommissaren optisch Beachtung. Freilich sagt auch er zunächst kein Wort.

LEITMAYR (in die Runde)

Ich verstehe: Eine Gedenkminute für Avitios.

LICHER (unwirsch, zu Batic/Leitmayr)

Was wollen Sie?

Licher blickt überrascht auf die Dienstausweise, die Batic und Leitmayr aus ihrer Hosentasche hervorgezogen haben. Der Rest bleibt in der eingenommenen Position.

weiter LICHER

Sie sind von der Mordkommission?

Atze und Nolpe drehen sich um, die Radfahrer sind hellwach geworden.

BATIC

Die Fragen stellen wir, Herr ...

LICHER

Licher. Hans Licher, Teamchef von Team Eisvogel.

BATIC

Das Schrankfach des Toten?

LICHER (zeigt auf einen Spind nahe des Fensters)

Da. Eins eins null.

BATIC (zu Licher)

Wie passend.

LEITMAYR (sagt, um etwas zu sagen, in die Runde)

Ja, sind denn auch alle da?

ATZE

Keine Frage. Jetzt wird zusammengehalten.

11. Weiträumig abgesperrte Unfallstelle Außen/Tag

KLODT

Ich habe ihn erst vor kurzem untersucht. Blutwerte, EKG und alles, was dazugehört, waren bestens, die Unbedenklichkeitsbescheinigung für Profiradfahren reine Formsache. Er war der Fitteste von allen.

MENZINGER

Hat denn jeder hier eine Trinkflasche mit seinem Namen?

KLODT

Nur Avitios. Ein spontaner Einfall des Managers.

MENZINGER

Gesehen hab’ ich ihn heute noch nicht.

KLODT

Herr Nostitz liegt am Strand. Zwei Wochen Sommerpause.

MENZINGER

Hat keine Eile. Wer füllt eigentlich die Trinkflaschen ab?

KLODT

Ich.

MENZINGER

Soso. Was haben sie denn heute in die Trinkflasche von Avitios reingetan?

KLODT

Tee. Den gleichen wie sonst auch: Kalten, mit Traubenzucker in Pulverform {Maltodextrin} und Ascorbinsäure angereicherten.

MENZINGER

Trinken den alle hier?

KLODT

Nur er. Die Markengetränke schmeckten ihm zu süß und waren im Mund unangenehm klebrig.

12. Provisorisches Büro Innen/Tag

Eine Interviewsituation. Auf dem Tisch steht, eingeschaltet, ein Tonbandgerät.

LICHER

(wischt sich Tränen aus den Augen) Ein begnadetes Talent. Ein Jammer. Aus dem wäre was geworden.

BATIC

Kannten Sie ihn gut?

13. Provisorisches Büro Innen/Tag

NOLPE

Holger „Bimbo“ Nolpe, Co-Trainer Team Eisvogel

Am besten von allen. Ich war so was wie ein „Vater für alles“ für ihn. Er wollte mich als seinen persönlichen Trainer haben. Überhaupt half ich ihm, wo es ging. Beim Einkaufen, bei der Wohnungssuche, bei der Autoanmeldung.

LEITMAYR

Hatten Sie viel miteinander zu tun?

14. Provisorisches Büro Innen/Tag

LAJOS

Alwin Lajos, Radprofi Team Eisvogel

Nicht unbedingt. Er hat sich abgekapselt, dazu das Kommunikationsproblem. Ich mochte ihn trotzdem. Er war mir einfach sympathisch.

BATIC

Hatte denn jemand was gegen den Star?

15. Provisorisches Büro Innen/Tag

ATZE

Niels Atze, Trainer Team Eisvogel

Avitios war keiner. Der Star ist unser Zeugwart. Er hatte keine Feinde, zumindest nicht im Team. Darüber hinaus weiß ich nicht. Sein Nachtleben habe ich nicht überprüft. Ich bin ja nicht schwul. (ungeduldig) Entschuldigen Sie, kann ich los? Der Bus wartet.

LEITMAYR

Sicher.

Atze verlässt den Raum, Leitmayr und Batic bleiben erschöpft zurück.

BATIC

Hast du was in der Hand?

LEITMAYR (versteht die Frage wörtlich)

Die Visitenkarte von Licher.

Batic übergibt die Visitenkarte an Leitmayr, der interessiert auf diese draufschaut.

BATIC

Er unterhält eine Immobilienfirma?!

LEITMAYR

Ja, das hier macht er nur nebenbei.

BATIC

Ehrenamtlich?

LEITMAYR

Du sagst es.

16. Kabinentrakt/Vor Spind von Avitios Innen/Abend

Obwohl es nun merklich kühler geworden ist, läuft Menzinger immer noch in der Vereinskluft und seiner kurzen Sporthose aus der Anfangsszene herum. Ein rundlicher Mann (HONS), der eine dunkelblaue Schlabberhose anhat, schließt Avitios’ Spind auf. Menzinger zieht sich Latexhandschuhe an, nimmt sämtliche Sachen aus dem Schrankfach heraus und übergibt diese abwechselnd an Batic und Leitmayr, die sich ebenfalls Latexhandschuhe angezogen haben.

MENZINGER

Handtuch (an Batic), Duschgel (an Leitmayr), Jeans (an Batic), Pullover (an Leitmayr), Geldbörse (an Batic), Schlüssel (an Leitmayr). Das Übliche also.

LEITMAYR

Sein Wohnungsschlüssel?

MENZINGER (ratlos, müde)

Wer weiß das schon?

BATIC (zu Menzinger)

Ist das alles?

MENZINGER

(nach einem kurzen Moment) Halt, hier ist ja noch was. (überrascht) Oh, ein PDA (an Batic).

LEITMAYR

PDA? Nie gehört.

MENZINGER (zu Leitmayr)

Persönlicher digitaler Assistent. Hast damit zum Beispiel Adressen oder frische Aktienkurse aus dem Internet schnell zur Hand.

Batic schaltet den PDA ein. Leitmayr zieht sich die Latexhandschuhe aus.

LEITMAYR

Sie gelten hier als Star, Herr Hons.

HONS (genießt das Lob)

Das freut mich. Wer sagt das?

LEITMAYR

Der Trainer.

HONS (dabei das Schrankfach abschließend)

Sie müssen nicht alles glauben, was Herr Atze Ihnen sagt.

Der PDA ist hochgefahren, auf dem Display erscheint eine Passwortabfrage.

BATIC (zerknirscht)

Mist, das Passwort.

Excerpt out of 34 pages

Details

Title
Drehbuch für einen Tatort (Auszug)
Author
Year
2002
Pages
34
Catalog Number
V107247
ISBN (eBook)
9783640055210
File size
524 KB
Language
German
Keywords
Drehbuch, Tatort
Quote paper
Eli Oc (Author), 2002, Drehbuch für einen Tatort (Auszug), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107247

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