Kafkas Roman Amerika


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2002

15 Pages, Note: 2,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Inhaltsverzeichnis

2. Vorwort

3. Kritik und Rezeption zwischen 1924 bis 1938

4. Max Brods theologische Deutung des „Amerika“-Romans

6. Eine biographische Deutung des „Amerika“-Romans

7. Kafkas Informationen über Amerika

8. Ansätze eines soziologischen Deutungsversuch

9. Literaturverzeichnis

2. Vorwort

Franz Kafka (1838-1924) begann mit der Arbeit an dem „Amerika“-Roman im Herbst des Jahres 1911. Im Sommer 1912 waren ungefähr 200 Manuskriptseiten entstanden, die Kafka als mißlungen ansah und von denen heute jede Spur fehlt. Er begann mit einer neuen Fassung wenige Tage nachdem er „Das Urteil“ (22.-23.9.1912) niedergeschrieben hatte. Das erste Romankapitel „Der Heizer“ verfaßte er am 25. September 1912 in dem Heft seiner Tagebuchaufzeichnungen. Die folgenden drei Kapitel und das sechste Kapitel beendigte Kafka im Oktober und November desselben Jahres. Die Arbeit an der „Verwandlung“ und Büroarbeiten unterbrachen die Fortführung des Romans. Nachdem er im Frühjahr des Jahres 1913 noch kurz an dem siebten und achten Kapitel gearbeitet hatte, ließ er die Arbeit an seinem Roman „Der Verschollene (Amerika)“ bis auf weiteres ruhen.1) Als Kafka im Herbst 1914 bereits mit der Arbeit am „Prozess“ begonnen hatte, widmete er sich dem achten Kapitel des „Amerika“-Romans und begann mit dem neunten und danach dem zehnten Kapitel. Jedoch war Kafka mit dieser Neufassung ebenso unzufrieden wie mit der Erstfassung. Er entschied sich dazu, nur das erste Kapitel unter dem Namen „Der Heizer.Ein Fragment“ im Mai 1913 zu veröffentlichen. Kafka forderte, daß seine drei Romane „Der Heizer“, „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ zusammen in einem „Die Söhne“ genannten Buch herausgebracht werden sollten, weil zwischen ihnen eine innerliche und äußere Korrespondenz lag. Der Verleger kam seiner Forderung nicht nach, obwohl Kafka eine Zusage erhalten hatte.2)

Kafka nannte sein Romanfragment zweimal in seinen Tagebuchnotizen „Der Verschollene“. Unter diesem Titel ist der Roman demzufolge in der „Kritischen Ausgabe“ erschienen. Dennoch machte Max Brod den Roman unter dem Namen „Amerika“ publik und stützte sich dabei auf Äußerungen Kafkas.3) Brod veröffentlichte 1927 den Roman unter dem Titel „Amerika“ erstmalig bei Kurt Wolff in München.4)

3. Die Wirkungsgeschichte zwischen 1924 bis 1938

Max Brod spricht im Nachwort des „Amerika“-Romans davon, daß Kafka enthusiastisch an dem „Amerika“-Roman bis in die Nacht hinein geschrieben hat. Sonderbar sei dabei gewesen, daß wenig Korrekturen und Streichungen in den Manuskripten von seiten Kafkas vorgenommen worden sind. In Gesprächen mit Kafka war Brod aufgefallen, daß Kafka diesen Roman für viel hoffnungsfreudiger und „lichter“ 5) hielt als seine übrigen Werke.

Er beschreibt Kafka als eine Person, die sich sehr für andere Länder interessiert hat und selber nicht weiter als nach Frankreich oder Oberitalien gekommen ist. Der ganze Roman mit seinem Facettenreichtum ist einzig und allein seiner Phantasie entsprungen. Für Brod war es sehr verwunderlich, daß Kafka die Arbeit an seinem Roman einstellte und der Roman zu einem Fragment wurde.

Nach Brod besteht eine Korrespondenz zwischen Kafkas drei Romanen „Amerika“, „Der Prozeß“ und „Das Schloß“. Bei diesen handelt es sich um eine „Trilogie der Einsamkeit“6). Sie thematisieren die Isoliertheit des Individuums innerhalb der Menschheit. Das Individuum soll in die Gesellschaft eingeordnet werden. Während die Eingliederung beschrieben wird, werden die Widerstände, die dabei entstehen, aufgezeigt. Nach Brod sind dabei die Widerstände in den Romanen „Der Prozeß“ und „Das Schloß“ größer als in dem Roman „Amerika“. Hier finden sich auch Widerstände, jedoch fühlt der Leser, daß der Junge , „Karl Roßmann“, den Widerständen trotzt, weil er sein Ziel erreichen wird. Brod spricht von Analytikern, die hinter den Werken Kafkas eine Kälte des Dichters vermuten. Er widerspricht denen und sagt, es handelt sich dabei nicht um eine Kälte auf seiten Kafkas, sondern eher um eine Strenge, die mit einem „grenzenlosen Mitleid“7) verbunden sei.

Später konstatiert Brod, daß der Roman „Amerika“ einen neuen Deutungsansatz in die Kafka-Rezeption einbringen könnte. Er nennt ihn einen Ansatz „der schlichten, mitfühlenden Menschlichkeit“8). In diesem Sinne könnten sich auch andere Werke Kafkas, ohne jegliche Deutung, einfach aus sich heraus erklären.

Siegfried Kracauer schrieb über den „Amerika“-Roman in der Frankfurter Zeitung am 23. Dezember 1927, daß die Situationsbeschreibungen und Momentaufnahmen Kafkas in dem „Amerika“-Roman exakter seien als manche Augenzeugenberichte. Einen Grund dafür sah Kracauer in der Tatsache, daß Kafka eine Menge von Reisebüchern gelesen hat und sich dadurch ein sehr detailliertes Wissen über andere Ländern angeeignet hat.9) Kracauer deutete den „Amerika“-Roman folgendermaßen. Kafka zeichnet in seinem Roman „Amerika“ eine Fremde, die nicht nur auf das Land Amerika zu reduzieren , sondern ebenso auf die gesamte Welt zu übertragen ist. Geht man in den Text, so begegnet man „Karl Roßmann“, der nicht nach Amerika hätte gehen müssen, um in die Fremde zu gelangen, denn er ist kontinuierlich von einer Fremde umgeben.10)

Eine Umgebung, die für ihn keine Fremde darstellen würde, wäre ein Welt, in der die Gerechtigkeit den Vorrang hätte. Er ist nicht sonderlich gebildet, bescheiden und nimmt jede Arbeit an. Jedoch fordert er Gerechtigkeit und das wird ihm zum Verhängnis. Er kommt in New York an und seine Forderung nach Gerechtigkeit bringt ihn in erste Schwierigkeiten, als er Partei für den Heizer übernimmt. Auch im folgenden Verlauf des Romans zeigt sich, daß er stets in Schwierigkeiten gerät, wann immer er sich für das Recht einsetzen will.11)

Am 10. Februar 1928 schrieb Manfred Sturmann in der „Selbstwehr“, daß er in dem sechszehnjährigen Karl Roßmann einen Versagenden sah, der bei seinen Versuchen, sich in die Gesellschaft einzureihen, scheitert. Infolgedessen zog Sturmann einen Vergleich zwischen dem scheiternden Karl Roßmann und dem jüdischen Volke, das nach einer vergeblichen zweitausendjährigen Suche noch keine „natürliche[] Daseinsform“12) gefunden hat. Das Judentum steht, gleich dem Karl Roßmann in dem „Amerika“-Roman, den Zuschauenden als eine zu bemitleidende Minderheit gegenüber. Auch Sturmann erwähnte im Kontext des „Amerika“-Romans die beiden anderen Romane „Das Schloß“ und „Der Prozeß“.

Er nannte diese drei Romane eine „geniale Trilogie des Einsamen“13). Im folgenden beschrieb er Franz Kafka als einen Avantgardisten, der seiner Zeit weit voraus war. Neben Kracauer erwähnte auch Sturmann, daß bei dem Erstleser Kafkas der Eindruck entstehen könnte, in Kafkas Sprache würde eine Kälte vorherrschen. Um diese These zu widerlegen, vergleicht er Kafkas Sprache mit einem Kristall, der zwar von außen hart ist, aber dennoch kann ihn das weiche Licht durchdringen und sein Innerstes erscheinen lassen. Gleichermaßen sei es mit der Sprache Kafkas. Von außen erscheint sie streng und kalt, aber deutet man ihr Geheimnis, dann ist seine Sprache wie ein Kristall, von allen Seiten zu durchleuchten, und man erkennt Mitleid und Liebe hinter Kafkas äußeren Härte.14)

Im folgenden konstatierte Sturmann, daß der jugendliche Karl Roßmann einen positiveren und lebensbejahenderen Eindruck vermittelt als die anderen Helden aus Kafkas Werken; Karl ist ihrer Hoffnungslosigkeit fern. Ebenso wie Kracauer und Brod rühmte Sturmann Kafkas ausführlichen Schilderungen und seine phantastischen Bilder der Umwelt in dem „Amerika“- Roman, obwohl nie selbst dort gewesen war.15)

4. Max Brods theologische Deutung des „Amerika“-Romans

Kafkas erster Roman „Amerika“ war nach Brods Meinung nur ein Versuch des jungen Kafkas, der sich noch nicht auf dem Höhepunkt seines Schaffens befand.

In diesem Roman ist die Rede von einem jungen, unschuldigen und verführten Menschen, der immer wieder durch das Böse versucht wird. Nur seine Kindlichkeit und Natürlichkeit bewahren ihn vor seinem Verderben. Seine eigentliche Schuld ist nicht mehr als ein Fehltritt gewesen, so auch die folgenden Mißgeschicke seinerseits. In ihnen verspürt der Leser eine Ironie, die zwischen Mystik und Komik anzusiedeln sind. Im Gegensatz zu dem „Prozeß“ wird hier eine lichte Gestalt durch einen Musterknaben dargestellt, der ,wie der Autor selber zugab, in Anlehnung an Gestalten von Dickens entstanden ist.16)

In seinem Nachwort des „Amerika“-Romans spricht Brod davon, was Kafka ihm in Bezug auf die Fortsetzung des Romans berichtet hat. Karl Roßmann sollte ursprünglich seine Freiheit, seinen Rückhalt und seine Heimat zurückerlangen. An dieser Stelle widersprechen Brod die Kritiker, weil es in Kafkas Tagebucheinträgen heißt, daß Roßmann umgebracht werden soll. Brod versuchte diesen Widerspruch zu nivellieren, indem er konstatierte, daß Rossmann wirklich sterben sollte, jedoch symbolisiert das Schlußkapitel die Ewigkeit, ein Zwischenreich, in das Karl Roßmann eingegangen ist. Roßmann ist „aufgenommen“17) worden, nicht in einen irdischen Beruf, sondern er ist in ein irdisch fernes Sein aufgenommen worden.18)

In dem „Amerika“-Roman wird somit die Tragik des Daseins überwunden. Karl Roßmann ist hinübergegangen in einen Bereich, in dem der geplagte Mensch nicht mehr existieren wird.

Dennoch duldet die Erlösung Karls innerhalb des Romans einen Widerspruch desjenigen, der Roßmanns Schicksal nacherlebt.19)

5. Stand der Forschung 60er/70er Jahre

Da der „Amerika“-Roman als eine eher zweitrangige Arbeit von Kafka galt, war das Interesse der Forscher an dem Roman entsprechend gering. Die Forschung setzte erst später ein. Eine Kritik an der modernen Gesellschaft sah W. Emrich hinter dem „Amerika“-Roman. Er deutete den Roman anhand einer soziologischen Methode. Er bemerkt, daß Kafka durch die vorgeführte Entfremdung des Karl Roßmann eine Kritik an den sozialen Mißständen seiner Zeit vornehmen wollte.20) Eine soziologische Deutung nahm ebenso E. Goldstücker vor. Er konstatierte, daß in dem „Amerika“-Roman, mehr als in anderen Werken, die empirisch wahrnehmbare Welt im Vordergrund steht. Goldstücker sah darin einen Versuch Kafkas, sich mit der damaligen Gesellschaft auseinanderzusetzen. So verkörpert die Figur des Heizers die damalige sozialistische Arbeiterklasse, die nicht genug Kampfgeist besaß, um sich durchzusetzen. Ihre Ideen von einer neuen Gesellschaftsordnung konnten nicht verwirklicht werden, weil ein klares Konzept fehlte.21)

K. Hermsdorf ging in eine ähnliche Richtung, jedoch vermißte er bei der Darstellung der Gesellschaft eine Dynamik. Sie wird durch die Gestalten eher als ein statisches Element beschrieben. Die Gesellschaft bot für Hermsdorf ausschließlich eine Fläche, auf der das Einzelindividuum in den Vordergrund gehoben werden sollte.22)

Weg von einer soziologischen Methode gelangte H. Politzer zu einer psychologischen Ansatz. Er stellte fest, daß sich bei dem Protagonisten durch den Roman hinweg eine charakterliche Erziehung ereignet. Der schuldige Karl Roßmann ist unfähig zu lernen, wie eine Angleichung von Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Einordnung zu meistern ist. Brunelda zerstört seine Hoffnungen und Illusionen, und die als Reifeprüfung zu verstehende Aufnahmezeremonie im „Naturtheater von Oklahoma“ besteht er nicht.23)

J. Thalmann gelangte 1966 zu einer negativen Bewertung des „Amerika“- Roman. Ihm schien es so, als würde Kafkas Absicht, den Schuldgedanken nicht zum Durchbruch kommen zu lassen, nicht gelungen sein. Thalmann sah in Kafkas erstem Roman eine Menge von Widersprüchen. Er unterstellte Kafkas Talent eine Fehlentwicklung. Da ihm dieses Werk aufgrund einer Ungeschlossenheit und fehlender Homogenität innerhalb des Werkes nicht gelungen sei.24) Wolfgang Jahn kam durch die Integration neuer Quellen und Handschriften zu neuen Forschungsergebnissen. Im Gegensatz zu der Forschung Thalmanns postulierte Jahn, daß zwischen dem „Amerika“-Roman und dem Gesamtwerk Kafkas eine starke Korrespondenz vorzufinden sei. Darüber hinaus spricht er im Kontext des „Amerika“- Romans von einer geschlossenen Handlung.25)

H. Binder brachte durch seinen Kommentar zu dem „Amerika“-Roman eine Menge von neuen Materialien in die Forschungsdiskussion ein. In seiner inhaltreichen Dokumentation rekurrierte er auf Lebenszeugnisse, Lokales, literarische Einflüsse und Quellen.26)

6. Eine biographischen Deutung des „Amerika“-Romans

Erste Schreibversuche Kafkas 1898 setzten sich schon im weiteren Sinne mit dem „Amerika“- Roman auseinander. Als Fünfzehnjähriger versuchte sich Kafka an einer Darstellung, die von zwei Brüdern berichtete. Einer der beiden Brüder fuhr nach Amerika, der andere „gute Bruder“27) blieb in einem europäischen Gefängnis zurück.28)

In diesen ersten Schreibversuchen thematisierte Kafka zum ersten Mal das amerikanische Exil, das später in seinem „Amerika“-Roman eines der Haupterzählelemente werden würde.

Neben dem Erzählelement des amerikanischen Exils ist auch in seinen ersten Schriften die Rede von einem Gefängnis, dessen Korridor in Hinblick auf seine ausstrahlende Stille und Kälte sehr detailliert beschrieben wurde. Einige Jahre später befindet sich Karl Roßmann in Kafkas „Amerika“-Roman ebenfalls in einer Isoliertheit, die einem Gefängnis gleichzustellen wäre.29)

Überträgt man diese wesentlichen Elemente des „Amerika“-Romans auf Kafkas biographische Daten, so entdeckt man auffällige Parallelen. Während der Auseinandersetzung mit dem siebten Kapitel des „Amerika“-Romans fühlte sich Kafka in Prag eingesperrt. Die Stadt wird ihm zu einem Gefängnis, besagen Tagebuchaufzeichnungen. Nachdem sein Onkel sich mit Kafkas ersten Schreibversuchen auseinandergesetzt hatte, legte er Kafka nahe, daß seine Ausführungen keinen Wert besäßen.

Daraufhin beschrieb Kafka seine damaligen Emotionen folgendermaßen. Er fühlte sich mit einem Mal aus der Gesellschaft verstoßen. Das Urteil des Onkels ließ ihn die Kälte der Welt spüren.

Im Herbst 1911 erlangte Kafka einen Aufschluß über die Ambivalenz, in der er lebte.

Tagsüber der Jurist, nachts ein Autor, der er nicht hätte sein können, wenn er tagsüber nicht seinem Beruf nachgegangen wäre. Infolgedessen distanzierte er sich von seiner Familie und ging selbständig seinen Leidenschaften nach.30)

Im Laufe der Zeit wurde Kafka durch verschiedene Autoren beeinflußt. Eine sehr entscheidende Rolle bei der Bearbeitung des „Amerika“-Roman spielte Charles Dickens Roman „David Copperfield“. Der Dickens Roman war für Kafka sehr hilfreich dadurch, da Kafka vorgezeichnete Elemente aus dem Roman Dickens Ansatzweise übernehmen konnte.

Kafka leugnete nicht, daß Dickens einer seiner Lieblingsautoren war und zu seinen Vorbildern zählte. Kafka geht noch weiter in einem sechs Jahre späteren Tagebucheintrag. Dort konstatiert er, daß „Der Heizer“ eine „glatte Dickensnachahmung“31) gewesen ist.32)

Dennoch war ihm Dickens nicht in allen Belangen ein Vorbild. Kafka kritisierte an dem Dickensroman ein „Hinströmen“ und unterstellt ihm eine „Kraftlosigkeit“33). Er monierte, daß zu detailliert auf die Charaktere eingegangen wird und daß Dickens dadurch keinen Fortschritt erreicht, sondern eher eine Stockung. Dickens konzentrierte sich auf Feinheiten, die Kafka nur leicht andeutete, weil er sie als überflüssig empfand. So bemerkte Kafka exemplarisch, daß Dickens zu stark die Äußerlichkeiten und Gestiken seiner Charaktere zeichnete. In dieser Hinsicht nahm Dickens für Kafka keine Vorbildfunktion ein.34)

Wie bereits im Vorwort erwähnt, war Kafka immer wieder mit seiner Arbeit an dem „Amerika“-Roman unzufrieden. In einem Brief an Max Brod vom 10.7.1912 erwähnt Kafka, daß er sich für unfähig hielt zu schreiben. Bereits der erste Satz wollte ihm nicht gelingen.

Als Kafka vom 8.7.1912 drei Wochen im Naturheilsanatorium `Jungborn´ im Harz war, berichtete er über eine Verbesserung seiner Gemütslage. Er lernte mehr und mehr mit seiner Verzweiflung über sein Schreiben umzugehen und berichtete, daß er weniger schrieb als vorher. Über das was er momentan schrieb sagte er, daß er es noch keinen lesen lassen will und es ebenfalls von minderer Qualität gewesen sei, mehr aneinandergesetzt als nahtlos ineinander übergehend. Die Zweitfassung, die ab dem 25. September entstehen sollte erfüllte diese Forderungen. Dort gingen die einzelnen Erzählelemente ineinander über. Dies erfolgte durch eine vorgenommene Verzahnung der Darstellungen, mehr Zusammenhänge und einen besser gelungenen Aufbau.35) Gründe für die bessere Zweitfassung könnten mit der Niederschrift des „Urteils“ (22.-23.9.1912) zusammenhängen. Da er seine Arbeit als gelungen ansah, könnte ihm das als eine Art Antrieb gedient haben, so daß er mit neuem Enthusiasmus an sein unbefriedigendes Werk ging.

Max Brod bemerkte eine Veränderung, die sich in Kafka vollzogen haben mußte. In seinen Tagebuchaufzeichnungen hielt er fest, daß sich Kafka wenige Tage nach Beendigung des „Urteils“ in einer ekstatischen Stimmung befand und er den Eindruck machte, als ob es ihm gut gehen würde. Er schrieb Nächte durch an einem Roman, der in Amerika spielte.36) Das Sanatorium `Jungborn´ führte nicht nur zu einer Verbesserung des physischen Zustands Kafkas, sondern die Anlage und dessen Kurgäste hatten keinen unerheblichen Einfluß auf die Handlung des „Amerika“-Romans. Einige Wesensmerkmale der Anlage ähneln dem Theater im „Amerika“-Roman. Eine Parallele ist z.B., daß die Kandidaten im Theater von Oklahoma in dem „Amerika“-Roman gemäß ihren Wünschen behandelt werden. Die medizinische Vorgehensweise im Sanatorium `Jungborn´ war eine ähnliche. Denn jeder einzelne durfte eine seinen Vorstellungen entsprechende Kur ausführen, ohne ein festgelegtes Kurprogramm beachten zu müssen. Auch die Plakate für das Theater werben mit der Auskunft, daß man sich über einen Besuch freuen würde. Genauso lassen es die Prospekte in dem Sanatorium verlauten.37)

7. Kafkas Informationen über Amerika

Kafka wollte das progressive Land Amerika in seinem Roman darstellen. So formulierte er es in einem Brief an seinen Verleger Kurt Wolff. Damit ihm eine solche Darstellung überhaupt gelingen konnte, mußte er sich im Einzelnen über die Gegebenheiten in Amerika informieren. Zur Hilfe standen ihm zum einen Verwandte, die nach Südamerika ausgewandert waren und manchmal in ihre böhmische Heimat zurückkehrten, oder auch Bekannte, die mehr über die dortigen Verhältnisse wußten als er.38)

Weitere Informationen erhielt Kafka über die `Neue Rundschau´, die er 1911 und 1912 abonnierte. In ihr wurde eine Dokumentation von Arthur Holitscher über das Land Amerika veröffentlicht, aus der er gelegentlich seinem Freund Max Brod vorlaß. Aus dem Buch „Amerika. Eine Reihe von Bildern aus dem amerikanischen Leben“ von Frantisek Soukups (1912) erhielt Kafka neue Nachrichten über Amerika. Zu diesem Buch kam er durch einen Lichtbildvortrag des Autors, indem er in besonderem Maße über das Wählen von Beamten in Amerika berichtete.39)

Da Kafka zu dieser Zeit als Konzipist bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs- Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag“40) angestellt war und mehrfach in dem nordböhmischen Industriegebiet zu tun hatte, kannte er sich, vielleicht wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit, mit dem industriellen Leben aus. Als Angestellter der Versicherungsanstalt unternahm er des öfteren Dienstreisen in die nordböhmischen Industriegebiete und mußte diverse Betriebe versicherungstechnisch in verschiedene Gefahrenklassen einteilen. Zusätzlich wurde er von solchen Betrieben in seinem Prager Büro aufgesucht.41)

Möglicherweise liegen hier die Ansätze für das dargestellte industrielle Leben im „Amerika“- Roman. Zu seiner Recherche über das Land Amerika zählt auch ein Tagebucheintrag vom 11. November 1911, der davon spricht, daß Edison nach einer Reise durch Böhmen in einem amerikanischen Interview davon gesprochen hat, daß die hohe Entwicklung Böhmens mit Amerika zusammenhängen könnte. Denn die Auswanderung der Tschechen nach Amerika sei groß und diejenigen, die zurückkämen, würden die Beflissenheit der Amerikaner mit nach Böhmen bringen.

Dieser Tagebucheintrag verdeutlicht wie genau sich Kafka mit dem Thema Amerika während seiner Recherche auseinandersetzte.42)

8. Ansätze eines soziologischen Deutungsversuch

Wilhelm Emrichs Methode der Kafka Kritik ist die soziologische Methode. Emrich sah eine kritische Auseinandersetzung Kafkas mit der modernen Industriegesellschaft in dem „Amerika“-Roman. Durch ihn wurden die Mißstände innerhalb der modernen Industriegesellschaft offengelegt. Dabei tätigte sich Kafka als Visionär und prophezeite Konsequenzen.43) Der Mensch vollzieht durch die Industriegesellschaft eine Zurückentwicklung in die frühen Tage der Menschheitsgeschichte, in denen er noch den Naturgewalten unterworfen war. Wie der Mensch sich damals den Naturgewalten unterwerfen mußte, so muß er sich in der modernen Gesellschaft der Arbeitswelt unterwerfen. In dem „Amerika“-Roman spiegelt diese Entwicklung die unendliche Bewegung und Eile, mit der alle Arbeit verrichtet wird. Emrich führt den New Yorker Hafen in dem Roman an, der eine Unruhe darstellt, welcher sich die Menschen nur noch unterwerfen können und dadurch ihre Individualität und Handlungsfreiheit verlieren. Die Industriegesellschaft verursacht eine Zurücksetzung in die frühmenschliche Zeit der Primitiven, denen eine Geschichte, ein Zeitbewußtsein und personale Verantwortung fehlte.44)

Der Mensch in der Arbeitswelt des „Amerika“-Romans befindet sich in einer pausenlosen Eile, die ihm alles Menschliche nimmt. So führte Emrich als nächstes Beispiel einen Angestellten in dem Telefonsaal des Oheims an, dessen Kopf sich in einem Stahlband befindet, „das ihm die Hörmuschel an die Ohren drückte“45). Das einzige was sich an ihm rührte waren seine Finger, jedoch bewegten sie sich nicht normal, sie „zuckten unmenschlich“46).

Die Unmenschlichkeit wird noch unterstrichen durch den emotionslosen Umgang untereinander. Man eilt aneinander vorbei, ohne sich zu Grüßen, alles ist auf das Geschäftliche beschränkt, damit möglichst viel Profit erbeutet werden kann. Es ähnelt einer einzigen Maschinerie, deren vorwärtskommen gesichert werden muß.47) Ähnlich verläuft es im Hotel `Occidental´. Menschen werden an der Rezeption mit Auskünften versorgt, wobei mit ihnen nicht mehr geredet wird, sondern man antwortet maschinell, und die Auskünfte gleichen eher einem Geplapper.48)

Kafka legte durch seinen Roman den „geheime[n] ökonomische[n] und psychologische[n] Mechanismus dieser Gesellschaft“49) offen.

9. Literaturverzeichnis

- Carsten Schlingmann: Franz Kafka. Literaturwissen für Schule und Studium. Stuttgart: Reclam Verlag 1998.
- Wolfgang Jahn: Der Verschollene (Amerika). - In: Kafka - Handbuch in zwei Bänden. Das Werk und seine Wirkung. Hrsg. Hartmut Binder. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1979 (= Kafka - Handbuch Bd. 2).
- Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924-1938. Hrsg. Jürgen Born [ et al.]. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1983.
- Max Brod: Verzweifelung und Erlösung im Werk Franz Kafkas. - Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1959.
- Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. - München. Winkler Verlag.
- Wilhelm Emrich: Franz Kafka. - 3., unveränderte Auflage Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1961.

[...]


1) Vgl. Carsten Schlingmann: Franz Kafka. Literaturwissen für Schule und Studium. Stuttgart: Reclam Verlag 1998. S. 27 f.

2) Vgl. Wolfgang Jahn: Der Verschollene (Amerika). - In: Kafka - Handbuch in zwei Bänden. Das Werk und seine Wirkung. Hrsg. Hartmut Binder. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1979 (= Kafka - Handbuch Bd. 2). S. 407.

3) Vgl. Schlingmann (wie Anm. 1), S. 29.

4) Vgl. Jahn (wie Anm. 2), S. 408.

5) Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924-1938. Hrsg. Jürgen Born [ et al.]. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1983. S. 187.

6) Kafka (wie Anm. 5), S. 188.

7) Kafka (wie Anm. 5), S. 189.

8) Kafka (wie Anm. 5), S. 189.

9) Vgl. Kafka (wie Anm. 5), S. 190.

10) Vgl. Kafka (wie Anm. 5), S. 191.

11) Vgl. Kafka (wie Anm. 5), S. 192.

12) Kafka (wie Anm. 5), S. 195.

13) Kafka (wie Anm. 5), S. 196.

14) Vgl. Kafka (wie Anm. 5), S. 196.

15) Vgl. Kafka (wie Anm. 5), S. 198 f.

16) Vgl. Max Brod: Verzweifelung und Erlösung im Werk Franz Kafkas. - Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1959. S. 36.

17) Brod (wie Anm. 14), S. 42.

18) Vgl. Brod (wie Anm. 14), S. 42.

19) Vgl. Brod (wie Anm. 14), S. 43.

20) Vgl. Wolfgang Jahn. - In: Kafka - Handbuch in zwei Bänden. Das Werk und seine Wirkung. Hrsg. Hartmut Binder. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1979 (= Kafka - Handbuch Bd. 2). S. 417.

21) Vgl. Jahn (wie Anm. 18), S. 417.

22) Vgl. Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. - München. Winkler Verlag. S. 70.

23) Vgl. Binder (wie Anm. 20), S. 71.

24) Vgl. Jahn (wie Anm. 14), S. 418.

25) Vgl. Jahn (wie Anm. 14), S. 418.

26) Vgl. Jahn (wie Anm. 14), S. 419.

27) Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. - München. Winkler Verlag. S. 54.

28) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 54.

29) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 55.

30) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 55.

31) Binder (wie Anm. 18), S. 56.

32) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 56.

33) Binder (wie Anm. 18), S. 57.

34) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 57.

35) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 58.

36) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 59.

37) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 60.

38) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 69.

39) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 70.

40) Carsten Schlingmann: Franz Kafka. Literaturwissen für Schule und Studium. Stuttgart: Reclam Verlag 1998. S. 6.

41) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 70.

42) Vgl. Binder (wie Anm. 18), S. 70.

43) Vgl. Wilhelm Emrich: Franz Kafka. - 3., unveränderte Auflage Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1961. S. 227.

44) Vgl. Emrich (wie Anm. 34), S. 227.

45) Emrich (wie Anm. 34), S. 228.

46) Emrich (wie Anm. 34), S. 228.

47) Vgl. Emrich (wie Anm. 34), S. 228.

48) Vgl. Emrich (wie Anm. 34), S. 229.

49) Emrich (wie Anm. 34), S. 227.

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
Kafkas Roman Amerika
Université
RWTH Aachen University
Cours
Proseminar III: Franz Kafkas Erzählungen
Note
2,3
Auteur
Année
2002
Pages
15
N° de catalogue
V107459
ISBN (ebook)
9783640057283
Taille d'un fichier
369 KB
Langue
allemand
Mots clés
Kafkas, Roman, Amerika, Proseminar, Franz, Kafkas, Erzählungen
Citation du texte
Sascha Pütz (Auteur), 2002, Kafkas Roman Amerika, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107459

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