What Chou Mean We, White Girl - Gedanken über das Feministische Wir und seiner Artikulation


Seminar Paper, 2002

32 Pages, Grade: 1,25


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. GLEICHHEIT VERSUS DIFFERENZ
2.1 GLEICHHEIT
2.2 DIFFERENZ
Exkurs: Essenzdebatte
2.3 GLEICHHEIT UND/ODER DIFFERENZ
Exkurs: Universalismus
2.4 GLEICHHEIT UND DIFFERENZ
Exkurs: Multikulturalismus
2.5 ZWISCHENRESÜMEE

3. WIR
Exkurs: fragmentiertes Subjekt
3.1 DAS FRAGMENTIERTE WIR
3.2 DAS FEMINISTISCHE WIR
3.3 ZWISCHENRESÜMEE

4. WER DARF FÜR WEN SPRECHEN?
4.1 ARTIKULATION
4.2 GEWALT
4.3 MACHT

5. RESUME

LITERATUR

1. Einleitung

Eine Welt. Eine Stimme? Viele Welten, aber eine Stimme? Viele Stimmen, aber eine Welt? Viele Welten. Viele Stimmen?1

Immer wieder wird Non-Goverment-Organisationen (NGO) vorgeworfen, sie würden im kolonialen Stil Werte der westlichen Welt in die sogenannte Dritte Welt transportieren und diese, zum Teil mit hegemonialen Strukturen, implementieren. Dieser Vorwurf des Dominanzverhaltens spiegelt sich nicht nur in der Literatur (siehe Gay) wieder, sondern ebenfalls in den Diskussionen innerhalb unseres Projektes. Zu dieser Herrschaftsform gehört auch die Frage: Wer spricht für wen? Eine Betrachtung darüber wie die NGOs für andere sprechen, für die die sie vertreten, zu schauen wie sie Artikulieren und Artikulieren lassen und ob überhaupt die ‘Betroffenen‘ zu Wort kommen, scheint angebracht. Eine zentrale Frage die daraus resultiert ist: Wer darf überhaupt für wen sprechen? Um dieser Frage näher zu kommen, möchte ich in dieser Arbeit, die als theoretischer Grundstein der folgenden Projektarbeiten dienen soll, die Frage anhand der feministischen Bewegung betrachten.

„What Chou Mean We, White Girl?“2 Diese Sequenz von Lorraine Bethel ist Ausgangspunkt der folgenden Arbeit. Seit ich ihn das erste mal laß, hat er seine große Wirkung auf mich nicht verloren. Vielmehr noch, während der Beschäftigung mit ihm, wurde das Theoriefeld, welches sich hinter dieser Aussage versteckt, immer weiter. Der Kontext aus dem der Satz stammt ist die US-feministische Bewegung zwischen 1960 und 1970, in der eine Politik der weißen, christliche, heterosexuellen, mittelschichts Frauen betrieben wurde. Zwangsläufig fühlten sich andere Frauen (Gruppen) nicht re/präsentiert. Auf der einen Seite stand die Idee einer Klassen und Nation überschreitenden Schwesterlichkeit im Vordergrund, gleichzeitig wurden Frauen explizit ausgeschlossen (z.B. Lesben). Diese Frauen erhielten kein Gehör in der feministischen Bewegung, was zur Folge hatte, dass sich nicht vertreten fühlten und so keine Aneignung und Identifizierung erfolgte. Sie stellten die Bewegung als die Ihrige in Frage. So folgt aus der Exklusion die Frage nach dem WIR.

In dieser Arbeit, wird die Frage nach der Artikulation angesprochen. Wie können Frauen sich äußern und sich in feministischen Diskursen Gehör verschaffen? Ihre Gefühle und Gedanken so zu verdeutlichen, dass unterschiedlichste soziale Aspekte neu konstruiert werden und neue Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Ebenfalls steht das WIR „Frauen“ im Zentrum. Wie konstituiert sich dieses Wir? Was ist das Wir? In welcher Weise wird es in der feministischen Theorie benutzt. Wichtig ist mir die Frage nach der Aneignung von Subjekten, nach der Inbesitznahme von Subjekten unter einen Begriff; in diesem Fall das WIR. Hier geht es nicht um freiwillige Partizipation, sondern um zwangsläufige Inklusion in den Begriff ‘Frau’. Indes stellt sich die Frage nach der Kategorie ‘Frau’. Woraus unumgänglich die Frage nach der Essenz ‘Frau’ wird, die in einem Exkurs innerhalb der Diskussion über Gleichheit und Differenz abgehandelt werden soll. Im nächsten Abschnitt wird das WIR beobachtet, um dann, im letzten Teil, der Artikulation Beachtung zu schenken. Nicht zuletzt wird die Position deutlich, dass Frauen nicht nur Opfer, sondern ebenfalls Täterinnen sind. Dabei geht es nicht darum Diskriminierung von Männern, Frauen gegenüber zu vernachlässigen, oder sogar zu negieren. Diese Arbeit setzt allerdings den Fokus, auf ‘die Frauen‘ und ihre Handlungen. Grundsätzlich möchte ich die binäre Geschlechtskonstruktion, also die Annahme von einer alleinigen Existenz des Geschlechtes Frau und Mann, die in der Arbeit immer wieder auftaucht, als Methode verstanden wissen, um eine Differenzierung der Kategorie ‘Frau, die ich als Arbeitsbegriff verstehe, zu erleichtern.

Begonnen wird mit einem historischer Abriß der kontroversen Gleichheits-/ Differenzdebatte.

2. Gleichheit versus Differenz

„Whom can women trust?”3

Die Gleichheit/Differenzdebatte bestimmt die feministische Theorie der ‘Neuen Frauenbewegung‘ (ab Mitte der Sechziger des letzten Jahrhunderts), insbesondere in den USA und der BRD. Es erscheint, als lassen sich alle Diskurse auf dieses Gegensatzpaar zurückführen; auf die Fragen; wollen wir Gleichheit oder Differenz; Universalismus oder Partikularismus. Und: Wie kann die Unvereinbarkeit von Universalismus und Partikularismus, welches als Metaebene der Debatten definiert werden kann, gelöst werden? Je nach Theorieansatz entwickelt sich daraus das WIR unterschiedlich, mit entsprechenden Konsequenzen für seine Artikulations-Möglichkeiten. Aus diesem Anlaß möchte ich eine Skizze der beiden nur scheinbar unversöhnlichen Stränge aufzeichnen.

Die Diskussion um die Egalität der Geschlechter (Condorcet, Olympe de Gouges) und die Verschiedenheit der biologischen und damit auch der sozialen Geschlechterrollen (Rousseau, Amar, Chaumette) findet in der Aufklärung ihren Ursprung. Beide Theoreme beanspruchten während der französischen Revolution gleichermaßen Gültigkeit für sich.4 Dieses wandelte sich mit dem dann folgenden Konservativen Denken, in dem Hierarchisierungen zum Maßstab der Dinge erklärt werden. Demnach können nur die Menschen, die sich gleichen, den gleichen Status einnehmen. Unterschiede zwischen Menschen ziehen nach diesem Denkschema automatisch eine Über- bzw. Unterordnung nach sich. Eine diesem Denken zugrundeliegende zentrale Legitimationsweise ist die Analogiebildung zwischen körperlichen Unterschieden und gesellschaftlichen Unterschieden: Demnach haben Männer die gleichen Rechte, da sie sich körperlich gleichen, nicht aber Frauen, da sie sich vom Manne unterscheiden.5 Die Kategorienbildung solcher Analogie sind jedoch beliebig festgelegt. Jeder Mensch gleicht dem Nächsten und ist ihm gleichzeitig völlig verschieden. Demnach sind die gewählten Festlegungen nicht an Wahrheit, Logik oder Fakten, sondern an eigenes Belieben, Werte und Herrschaftsinteressen gekoppelt. Je nach Kategoriebildung können so gleiche oder unterschiedliche Rechte abgeleitet und gefordert werden.

Für die ‘Neue Frauenbewegung‘, analysiert Andrea Maihofer fünf Phasen der Gleichheit/Differenzdebatte: 1.„Gleichheit“; 2.„Differenz“; 3.„Gleichheit oder Differenz“; 4.„Gleichheit und/ oder Differenz“; 5.„Gleichheit und Differenz“.6 Historisch lassen sie sich nicht exakt eingrenzen. Da die Debatte „Gleichheit oder Differenz“, die unter 1. und 2. erklärten Ansätze lediglich gegenüber stellt, sei der folgende Abschnitt auf; Gleichheit, Differenz, Gleichheit und/oder Differenz, Gleichheit und Differenz verkürzt.

2.1 Gleichheit

„The juice from tomatoes is not called merely juice.

It is always called TOMATO juice.”7

In den USA war die Gleichheitstheorie dominant zwischen den späten Sechziger und den späten Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts.8 Als Grundlage ihrer Theorie sahen Gleichheitsfeministinnen die Geschlechterdifferenz als ein künstliches Instrument männlicher Dominanz an. Geschlechterdifferenz sei eine ‘reproduktive Lüge‘ zur Repression von Frauen. Daraus folgt, dass jegliche Differenz abzuschaffen sei. „Über die politische Gleichberechtigung hinaus, geht es dabei um die Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen.“9 Demnach sollen Frauen genauso behandelt werden wie Männer. Gleichheit soll dabei nicht als Gleichmacherei (mit dem Mann) gedacht werden. Es geht vielmehr um gleiche Voraussetzungen, z.B. gleicher Lohn, für gleiche Arbeit, gleiche Rechte. Es geht also darum, Raum und Zeit gleichermaßen einzunehmen, um den Ort, von dem aus ich spreche, und vor allem um die Möglichkeit zur Artikulation, meiner Stimme Gehör zu verschaffen.

Die Gleichheitsvertreter/innen weisen nachdrücklich auf die Koppelung zwischen Differenz und Herrschaft hin, wie auch auf die, durch Differenz, manifestierten Geschlechterrollen und Stereotypen. Der Theorie der Geschlechtergleichheit wurde immer wieder Gleichmacherei unterstellt: Die Angleichung der Frauen an das männliche Modell gewähre zwar tatsächlich Rechte, aber sie greife nicht die Macht an, denn die wirkliche Macht -die patriarchale Ordnung- bleibe bewahrt. Und die patriarchalische Herrschaft werde um so stärker je erfolgreicher der Prozeß der Angleichung verlaufe, so die Kritik.

Fraser bestimmt die Gleichheitsdebatte wie folgt: „Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, daß in diesem Gleichheitsverständnis die Verschiedenheit zwischen Männern und Frauen vor allem als ökonomische und soziale Ungleichheit verstanden wird und nicht als Frage unterschiedlicher Identitäten oder Eigenschaften.“10

2.2 Differenz

„The problem of difference is really the problem of privilege.”11

„Die Differenzperspektive zielt im Gegensatz zur Gleichheitsposition darauf, daß Frauen anders behandelt werden sollten als Männer, allerdings in einem positiven, nichthierarchischen Sinne.“12

Nancy Fraser analysiert drei Phasen in der US- Differenzdebatte. In der ersten, ca. zwischen Ende der 1960 bis Mitte der Achtziger, stand die Geschlechterdifferenz im Mittelpunkt. In der zweiten, so zwischen Mitte der Achtziger und den frühen Neunziger Jahren, fokussierte sich die Debatte auf die Differenzen unter den Frauen. Seit Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts verlagerte sich die Debatte auf die sich überschneidenden Differenzen, auch ging es um Differenzüberschneidungen innerhalb des Individuums.13

Die Theorie der Geschlechterdifferenz in den späten Sechzigern ging also von der Prämisse einer binären Geschlechterkonstruktion aus, die jeweils in sich unterschiedlich gestaltet ist. Als eine der Entwickler/innen dieser Theorie gilt Luce Irigaray. Sie geht sogar soweit, dass sie Frauen ein anderes Moralverständnis und andere Fähigkeiten als Männern zuschreibt. Dieser frühe Ausgangspunkt beinhaltet einen essentialistischen Ansatz. Die ‘Frau‘, unterscheidet sich von dem ‘Mann‘, in ihrer Essenz, in ihrem Wesen. Eine Definition, was unter Essenz der ‘Frau‘ zu verstehen ist, bleibt die von mir gelesene Literatur allerdings schuldig.

In der Literatur werden Frauen im Vergleich zu Männern als anders beschrieben, und damit gleichzeitig als defizitär betitelt. Damit wird auf ihre Differenz vom Anderen hingewiesen.14 Diese Struktur wurde innerhalb der Differenzdebatte von Frauen, wiederholt. Das ausdrückliche Hinweisen auf Differenzen, auf eine Andersartigkeit, kann zur Folge haben, dass sich Hierarchisierung miteinschleicht, ein Denken in Abstufungen von Über-/ Unterordnung (richtig/falsch; wichtig/nichtig). Solch eine Hierarchisierung manifestierte sich in der Feministik durch die Diskriminierung von Frauen durch Frauen, deren Interessen zum Teil als unwichtig definiert und untergeordnet wurden. So wurden auf einer internationalen Frauenkonferenz in Amsterdam die Organisatorinnen gefragt, warum die Broschüre, über Frauen-Geschichte, nur die Geschichte der weißen Frauen beinhaltete. Die Antwort kam prompt: „We have enough of a burden trying to get a feminist viewpoint across, why do we have to take on this extra burden?“15

Die Differenzdebatte innerhalb der Kategorie ‘Frau’, demnach Fraser’s zweite Phase, läßt sich mit Lugones verdeutlichen. Sie kritisiert, dass ‘women of color‘ immer wußten, dass sie sich von Weißen unterschieden. Auch Weiße Frauen hätten gewußt, dass sie sich von ‘women of color‘ unterschieden, hätten diese Differenz aber nicht für wichtig erachtet, da sie ‘women of color‘ nicht wahrnahmen.

Andere Theoretikerinnen zogen es vor, die Diskussion um Über-/Unterlegenheit der Geschlechter fallen zu lassen, um zwei unterschiedlichen Stimmen -der der Frau und der des Mannes- gleichen Wert zuzuerkennen und ein respektvolleres Anhören der Stimme Frau zu fordern.16

Eine Synthese aus den beiden gegensätzlichen Begriffen scheint angebracht. Der Gleichheitsbegriff drückt eine Beziehung zwischen Gegenständen, Personen oder Sachverhalten aus und bestimmt, in welcher Hinsicht sie als das Gleiche zu betrachten sind. Das bedeutet, Gleichheit muß immer erst gesucht, gefordert und hergestellt werden, und sie setzt voraus, dass das zu Vergleichende an sich verschieden ist. Gleichwohl geht das Gleichheitspostulat davon aus, dass die „Menschen verschieden sind, und auch infolge der Gleichbehandlung nicht identisch werden, vielmehr ihre Verschiedenheit bewahren.“17

Exkurs: Essenzdebatte

„If I’m studying pebbles,

and want to learn the truth about them, I want to focus on what can be said

about any and all pebbles,

not just about some.”18

Die von Aristoteles ausgehende metaphysische Auffassung, dass gewissen Arten von Existenzen gemeinsame Essenzen, also notwendige oder wesentliche Eigenschaften, innewohnen, hielt auch im Feminismus Einzug. Die Vorstellung, dass alle Frauen ein gemeines Wesen hätten, unabhängig von der Hautfarbe, Klasse, Religion, Ethnie, kulturellen Differenzen, sexuellen Vorlieben etc., beschäftigte die Theoretikerinnen. Insbesondere diente dieser Ansatz dazu ein starkes WIR zu konstruieren, die Gemeinsamkeiten innerhalb der Bewegung zu sehen. Denn die Basisfrage, die der Theorie zugrunde liegt, ist: Bekommen wir eine genauere Antwort auf feministische Fragen, wenn ‘Frau’ in ihrer Vielfalt gesehen, jede in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen wird, oder wenn die Tatsache anerkannt wird, dass viele unterschiedliche Frauen existieren, diese jedoch eine Essenz, etwas was ihnen allen innewohnt, nämlich das ‘Frau’ sein? Denn, wenn ich Wälder studiere und die Wahrheit über sie erfahren möchte, so fokussiere ich mich doch auf das, was über alle Wälder gesagt werden kann und nicht nur über einige, so die Argumentationslinie der Essentialist/innen.

Feministische Essenzalist/innen sehen demnach die ‘Frau’ als Kategorie. Sie sind an der ‘Frau’ interessiert, wollen diese studieren und sich nicht von ‘Äußerlichkeiten‘ stören lassen. Steht doch das Innere der ‘Frau’, ihr Wesen im Vordergrund und nicht ihr Aussehen oder die Hautfarbe. Mit dieser Denkweise werden Wesensmerkmale ausgeblendet, denn das Wesen (aber auch das gender) wird doch gerade durch Äußerlichkeiten mitgeprägt.

Auf diese Weise kann einerseits festgestellt werden, dass die Gleichheit signifikanter ist als das Individuelle, und wichtig ist folglich, um Interessen zu vertreten, vom Wir, von der Einheit ‘Frau’ zusprechen. Andererseits ist dies wohl eher ein Aspekt der Distanz. Je näher ich aber an mein Untersuchungsobjekt herantrete, desto signifikanter wird das Individuelle. Das Argument der Distanz mochte in der ersten Phase der Differenzdebatte Gültigkeit gehabt haben als eine ideologische Betrachtungsweise. Zu bedenken ist, dass sich diese These unter Berücksichtigung der Theorie ‘des fragmentierten Subjektes‘19 schwerlich aufrecht erhalten läßt. Wenn das Subjekt, also das Ich im Mittelpunkt des Diskurses steht, dann gewinnt die Unterschiedlichkeit im Einzelnen an Bedeutung und die Gleichheit wird sekundär. Überspitzt bliebe die Frage, gibt es überhaupt etwas, das alle Frauen gemeinsam haben, außer ihrer Unterschiedlichkeit? Vielleicht besteht die Essenz ‘Frau’ in dem Begriff ‘Frau’ selbst, der seit über 2000 Jahren verwendet wird, dabei aber einer stetigen Verschiebung unterliegt. Bezeichnet er doch einmal ein eigenes zweites Geschlecht wie heute oder manchmal nur eine Abart des Mannes, wie im Mittelalter.

Die aktuellen Diskurse gehen eher davon aus, dass dasjenige welches Frauen gemeinsam ist und die Grundlage feministischer Theorie und Praxis darstellt, weder aus einer weiblichen Identität resultiert, noch aus einem Wesen oder einer Natur der ‘Frau’ schlechthin, sondern aus bestimmten Konstruktionsregeln von Gesellschaft.20

Für die politische Praxis wirf der Essentialismus die Frage auf, ob der Fokus feministischer Theorie auf die Vielfalt gelegt werden soll, das heißt auf die Anerkennung der Vielfalt, auf das einzelne Individuum, oder auf die ‘Sache‘, die Frauenbewegung, die Gleichberechtigung, selbst. Die Primärfrage, die dahintersteckt ist doch, wie kann mit einer Kategorie gearbeitet werden, um Interessen durchzusetzen und gleichzeitig Forderungen erfüllt zu bekommen. Der Essentialismus scheint diese Frage nach der Artikulation durch Kraft zu beantworten. Je gefestigter das Wesen, je größer das Bewußtsein um die Essenz, desto lauter die Stimme, um so eindeutiger und hörbarer die Interessen.

2.3 Gleichheit und/oder Differenz

„When can women trust women?“21

„This leads us to the paradox at the heard of feminism: Any attempt to talk about all women in terms of something we have in common undermines attempts to talk about the difference among us, and vice versa.”22 Eine Zeitlang scheinen sich Gleichheit und Differenz auszuschließen. Es entsteht eine extreme Polarisierung bei beidseitiger Blindheit den Argumenten gegenüber. „Weder wird in Gleichheitspositionen der Einwand wirklich ernst genommen, die herkömmliche Gleichheitsforderung zwänge Frauen zur Anpassung an männliche Standards, noch in Differenzpositionen die Gefahr, sie können zur Verfestigung traditioneller Geschlechterrollen beitragen.“23 Beachtenswert ist dabei, dass der Gleichheitsdiskurs in der westlichen Welt eine Hegemonialstellung einnahm und die Differenzdebatte marginalisierte. Die Debatte läßt sich besonders gut in ihrer Form als Rechtsstaatsdebatte um ein egalitäres versus geschlechtsdifferenziertes Recht verdeutlichen. Differenz unterstellt Andersartigkeit, also die Andersartigkeit ‘der Frau’ von ‘dem Mann‘. Wenn dieses Anderssein anerkannt werden soll, müssten andere Lebensweise geachtet werden und somit zumindest in Teilen andere Gesetzte gelten. Wie kann dann auf der einen Seite Anerkennung der Differenz, der Andersartigkeit gefordert werden, und parallel dazu eine Gleichstellung verlangt werden, wie z.B. in der Frage nach gleichem Lohn oder der ‘Homoehe‘?

Innerhalb des Diskurses verschiebt sich die Debatte der Differenzanhänger/innen und die Differenz zwischen den einzelnen Frauen wurde betont. Dies ist ein Ergebnis, insbesondere von Lesben und Immigrant/innen, in der feministischen Arbeit. Nach der Anprangerung ihrer Exklusion innerhalb der Bewegung, in der sie sich nicht wiedererkannten und weder für ihre Identität, noch für ihre Probleme Gehör fanden, erhielten sie nun vermehrt eine Stimme. Die Auseinandersetzung, mit der Differenz, mit dem Anders sein, gleichzeitig mit der Anderen, hatte Auftrieb. Zu diesem Zeitpunkt meldeten sich auch Lugones und Baiers ihre Einwände an. Ebenso wurde innerhalb der Debatte dem universalem Unterdrückungsparadigma, alle Frauen würden von Männern per se unterdrückt, widersprochen. Unterdrückung wurde differenzierter gesehen. Durch die Ausrichtung der vorherigen Diskurse auf die weiße, heterosexuelle mittelschichts Frau, so beanstandeten die Kritikerinnen, würden nicht nur patriarchale Strukturen reproduziert und eingeschrieben, sondern zusätzlich Frauen durch andere Frauen unterdrückt. In den Mittelpunkt rückten nun Unterdrückungsmuster im Bereich sex, gender, Sexualität, race 24, Ethnie, etc.

Exkurs: Universalismus

„The power to include,

implies the power to exclude.25

Der Universalismus, also die Idee, das etwas für alle Dinge einer bestimmten Art oder für das Ganze gelte26, wird im Feminismus häufig mit dem Essentialismus in einem Atemzug benannt. Hier geht es darum, das für alle das Selbe gilt,27 um die Definition - Wir unterdrückten Frauen- , mit unserem Wesen.

Das universale Subjekt steht als Pseudonym für ein humanes und allgemein gültige Menschenbild, welches der bürgerliche, weiße, abendländische Mann verkörpert. Cornelia Klinger äußert radikal, dass die Behauptung eines essentiellen und universellen Subjektes nicht nur eine theoretische, epistemologische Verkennung der Wahrheit ist, sondern dass eine interessengeleitete, machtorientierte Setzung durch die Wirklichkeit geschaffen wird. Postmoderne und Feminismus hätten dazu beigetragen, „die Konstituierung von Macht und Ohnmacht mittels Mechanismen von Setzung und Ausgrenzung, von Zentrierung und Marginalisierung, d.h. durch die Zuordnung von Universalität bzw. Partikularität zu durchschauen.“28 Sie ruft nun dazu auf, Universalismus und Essentialismus getrennt voneinander zu sehen und lehnt eine Essenz der Weiblichkeit ab. Anstelle der als essentialistisch inkriminierten Identitätspolitik, die von allen Frauen gemeinsamen Eigenschaften ausgeht, so Klinger, wird in der postmodernen Feministik u.a. eine Koalitionspolitik zwischen verschiedenen Gruppen von Frauen vorgeschlagen. Sandra Harding zielt in diese Richtung, wenn sie das Konzept der Allianz vorschlägt, nicht nur zwischen Frauen, sondern auch mit anderen ‘Gegenkulturen‘ (z.B. Frauenkollektive, Transgenderpersons)29. Allianzen stehen bei Klinger jedoch in Kritik, da sie häufig von Einzelinteressen gesteuert, lokal seien und Strohfeuerartig auftreten könnten.

Nach Klinger benötigt der Feminismus als politische Theorie ein eigenes universales Prinzip. Sie zitiert Mansbridge und Okin mit den Worten: „Throughout its plurality feminism has one obvious, simple and overarching goal - to end men’s systematic domination of women.”30

Genau dieser Anspruch zeugt von dem bekannten Dilemma: Was ist eine ‘Frau’? Wer fühlt sich dazugehörig? Und wird sie automatisch unterdrückt? Judith Butler geht davon aus, dass es keine Kategorie ’Frau’ gibt, aber um Politik zu Betreiben es unumgänglich sei, genau diesen Begriff zu verwenden. Vielleicht hilft hier ein dekonstruktiv anti-essentialistische Ansatz. Die Identitäten, sei es sex, race, Klasse, etc., gilt es zu destabilisieren. Weiterhin Allianzen zu bilden mit anderen ’Gegenkulturen‘, die ihre Identitäten dekonstruieren wollen, mit dem Ziel der Auflösung von binären Differenzen wie schwarz/weiß oder homo/hetero.

Gibt es eventuell die Möglichkeit eine Ebene weiter zu gehen und die Frage nach Marginalisierung aus Gründen des sex, der Hautfarbe etc. zu verlassen, um einen universalen Anspruch gegen Diskriminierung zu setzten? Selbst der universalistische Anspruch, - Throughout its plurality of human beings, humanity has one obvious, simple and overarching goal, to end systematic domination of other-, endet in der Frage, was ist ein ’human being’? (die Stammzellendebatte ist ein aktuelles Beispiel) Bleibt denn keine Alternative, als eine nominalistische, zeitlich begrenzte Definition von Begriffen, die austauschbar werden, um einen unendlichen Regreß zu vermeiden? Und erst so in die Praxis eintreten zu können? Denn was nützen Feministische Theorien, wenn sie nicht in der Praxis anwendbar sind? Und die politischen Fragen, welche Identitätsansprüche, soziale Beziehungen, Ungleichheiten und Herrschaft fortsetzen unbeantwortet bleiben, wie auch welche Ansprüche eben diese aufbrechen.

2.4 Gleichheit und Differenz

„By power we meant not the means to control and dominate others... but rather the freedom and space

to express our own desire, creativity, and potential:

to flourish and to find ‘our place in the sun.”31

In der Dritten Phase der Differenzdebatte, Anfang/Mitte der Neunziger, zersplittert nicht nur das Einheitsbild der ‘Frau’, sondern auch der des Subjekts. Im Verlauf der Postmoderne zerfällt das Subjekt, zerfällt in Fragmente und definiert sich wieder neu. In dieser Phase steht die Frage im Zentrum, „wie eine lebendige feministische Theorie und politische Praxis entwickelt werden kann, die an ‘vielfach-sich-durchkreuzenden Differenzen’ orientiert ist.“32 Die Ansätze des Anti-Essentialismus und des Multikulturalismus entwickelten sich weiter.

Der Anti-Essentialismus geht davon aus, dass Differenzen komplex sind. Sie laufen auf verschiedenen Ebenen ab, zwischen sex, gender, race, Klasse, Sexualität usw. Weder Differenz noch Identität sind Tatsachen, sondern vom sozialen Umfeld performativ33 erschaffen. Die politische Äußerung dieses Ansatzes läßt sich in der Übername der Dekonstruktion feststellen. Starre Kategorien, wie die ‘Frau’, werden abgelehnt. Statt dessen gilt es Prozesse, die zur binären Geschlechterkonstruktion führen offen zulegen, und Identitäten durch Subversion und Parodie zu destabilisieren, gleichfalls die Vielfalt von sexuell geprägten Stimmen und Beziehungen anzuerkennen.

Exkurs: Multikulturalismus

„Das Verlangen nach Anerkennung ist vielmehr ein menschliches Grundbedürfnis.“34

Ziel des Multikulturalismus ist es „multikulturelle öffentliche Formen und Einrichtungen zu schaffen, die eine Vielfalt von verschiedenen, gleich wertvollen Weisen, Mensch zu sein, anerkennen.35 In dieser Gesellschaftsutopie besäßen alle Bürger/innen dasselbe formale Recht. Die Anerkennung ihrer Verschiedenheit, ihrer kulturellen Besonderheit, wäre ebenfalls gewährt. Jedes Individuum solle um seiner unverwechselbaren Identität willen anerkannt werden und die Besonderheiten eines Individuums oder einer Gruppe von allen anderen geachtet werden.36 Gleichzeitig wird jegliche Diskriminierung kritisiert und Verhältnisse abgelehnt, in denen es Bürger/innen zweiter Klasse gibt.

Der Multikulturalismus trennt Fragen der Differenz, von solchen der materiellen Ungleichheit, Analyse herrschender Machthierarchien zwischen Gruppen und der Aufdeckung systembedingter Verhältnisse von Herrschaft und Unterdrückung.37 Weiterhin, so kritisiert Nancy Fraser, geht der Multikulturalismus davon aus, dass Identitäten und Gruppen gut sind wie sie sind, indes nur mehr Anerkennung bedürfen. Weiterhin mahnt sie an, dass bei dieser verkürzten Anschauung werden Machtstrukturen noch Unterdrückung beleuchtet werden.

Der Diskurs der Anerkennung ist in doppelter Weise geläufig geworden, so Charles Taylor.

Erstens, in der Sphäre der persönlichen Beziehungen, in der die Ausbildung von Identität und des Selbst als ein Prozeß begriffen wird, der sich in einem fortdauernden Dialog und in Auseinandersetzung mit dem signifikanten Anderen vollzieht. Und zweitens, in der öffentlichen Sphäre, wo die Politik der gleichheitlichen Anerkennung eine zunehmende Rolle spielt. Bestimmte feministische Theorien haben die Verbindung zwischen diesen beiden Sphären zu erschließen versucht.38 (z.B. Gilligans Kritik an Kohlberg)

Wenn als Prämisse gesetzt wird, dass jedes Individuum etwas einmaliges hat und damit auch die Stimme jedes Menschen, Originalität besitzt und anerkennenswert ist, dann kann doch zwangsläufig nur ich alleine meine Identität artikulieren. Dann kann auch nur ich über mich, und vor allem für mich sprechen. Aber was ist nun diese Identität? Taylor geht davon aus, dass außerhalb meiner selbst kein Model für eine Lebensgestaltung existiert, sondern dieses nur in mir selbst zu finden sei. Er bezeichnet die Identität als das, was uns Eigen ist. Sie stehe dabei im Dialog mit dem, was die „signifikanten Anderen“ in uns sehen wollen.

Kann sich daraus ein WIR ableiten? Existiert eine Kollektividentität? Wie soll diese aussehen und wer kann für sie sprechen? Eine Kollektividentität würde demnach eine Identität, eine Originalität, oder sogar ein Kollektivbewußtsein besitzen, das mit einer (einzigen) Stimme versehen ist. Ist dies nicht schon ein essentieller Gedanke? Ein Gedanke des was mir Eigen ist, was den Frauen eigen ist? In der Feministik stellt sich aber nun die Frage, „ob, wie und in welchem Sinne man als Frau anerkannt werden will.“39

Taylor löst quasi das Paradox zwischen Gleichheit- und Differenzdebatte auf, indem er die Gleichheit, die er in der Würde jedes Einzelnen als Grundvoraussetzung fast, um so die Politik der Differenz überhaupt durchführen zu können. Das universell Vorhandene kann nur anerkannt werden, indem das dem Einzelne Eigene, anerkannt wird. Der Kampf um Anerkennung kann jedoch nur eine zufriedenstellende Lösung finden, wenn er unter Gleichgestellten zustande kommt.

Für Fraser ist das heutige politische Ziel einen Weg zu finden, „wie wir den Kampf für einen anti-essentialistischen Multikulturalismus mit dem Kampf für Demokratie und sozialer Gleichheit kombinieren können. Nur dann werden wir eine feministische Politik erhalten, die die Forderungen unserer Zeit erfüllen.“40

2.5 Zwischenresümee

„Man könnte meinen das Problem des Feminismus war, daß Frauen Gemeinsamkeiten gegen Unterschiede aufwiegen. Das eigentliche Problem war jedoch, dass feministische Theorien die Konditionen von einer Gruppe Frauen mit denen Aller verwechselten.“41

Der heutige Status Quo lässt sich am zutreffernsten als ’Zustand der Kräftegleichheit’ zwischen den Vertreterinnen der Theorie der Gleichheits- und Differenzdebatte beschreiben. Beide Theorien werden innerhalb der Feministischen Bewegung als Grundstein für eine weitere Theoretische und praktische Auseinandersetzung anerkannt und debattiert. Wobei in der theoretischen Debatte die Differenzprämisse, und in der politischen Praxis, die Gleichheitsprämisse im Vordergrund steht. Die feministische Theorie scheint sich von der Sichtweise der western- white- middle- class- women, als repräsentative Essenz der ‘Frau’ verabschiedet zu haben und zerfällt ebenso wie ihre Subjekte in ihre Fragmente. Migranten, Plurale Geschlechtlichkeit, vor allem Probleme von Marginalisierten stehen im Zentrum des feministischen Diskurses. Das Problem der Fragmentierung und der Differenz ist die Bildung einer gemeinsamen Transformationstheorie. Generell ist die Möglichkeit, an ‘einem Strang‘ zu ziehen unendlich schwerer mit Splittergruppen als mit einer großen, homogenen Masse.

Auch wenn die Diskussion um Gleichheit oder Differenz ein wenig abgeflaut ist, so ist sie politisch geblieben. Während die “Differenz-Anhänger/innen“ dem WIR, einer Pauschalisierung, abgeneigt sind, versuchen die “Gleichheits-Anhänger/innen“ mit einem WIR zu hantieren. Zwar in einem vorsichtigeren Maße aber dennoch in der Hoffnung, durch das Wir eine Identifikation zu erreichen, die es vielen Subjekten möglich macht zu partizipieren. Es ist also die Frage nach dem >Wer bin ich< die im Brennpunkt steht und danach wer die gleichen Interessen Probleme, Erfahrungen hat wie ich, damit ein starkes WIR artikuliert werden kann. Und wie lerne ich andere (Frauen) verstehen, um überhaupt festzustellen, welche Erfahrungen sie gemacht haben, welche Probleme sie haben. Dabei ist es unumgänglich, alle Instrumente und Sinne der (Kontakt-)Aufnahme zu nutzen, sich selbst zu reflektieren, und zu fragen: wem höre ich zu, welche Erfahrung laß ich an mich heran, wie spreche ich und wie konstituiere ich mit am WIR?

3. WIR

Die Freiheit des Ichs ist bedroht durch das Wir.

Eine Sichtweise des WIR‘s wurde von Hegel entworfen, der das WIR als Ich und das Ich als WIR konzipiert. Der einzelne verschmilzt im WIR. Das WIR ist bei Hegel der Staat, und nicht zu verwechseln mit der Gesellschaft. Das Individuum hat die Pflicht, seine Freiheit aufzugeben, um Mitglied des Staates zu werden. „Die Vereinigung [zwischen Individuum und Staat, A.A.] solches ist selber der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist ein allgemeines Leben zu führen...“42 Im Volk, demnach im WIR, erreicht das Individuum, das Ich, seine Bestimmung; ein allgemeines und einzelnes Wesen gleichzeitig zusein. Allgemeinheit und Einzelheit sind demzufolge absolut miteinander durchdrungen.

Rein grammatikalisch ist das WIR ein Personalpronomen der ersten Person Plural. Das WIR scheint eine Vervielfältigung des Ichs zu sein. Die erste Person, Ich, im Plural. Wenn es sich dabei um mich handelt, um meine eigene Identität, haben meine ‘Plurale‘ dieselbe Identität wie Ich? Ist der Plural WIR eine rein zahlenmäßige Vermehrung des Ichs, also nur um den Multiplikator verschieden, oder ist der Plural eine Erweiterung des ICHs? So beinhaltet die Frage nach dem WIR, auf vielseitiger Weise die Frage nach Identität. An welcher Instanz hängt Identität und ist sie zeitlich begrenzt? Existiert sie nur für den Augenblick, in dem das WIR besteht? Wird die Identität übernommen? Existiert eine Kollektividentität weiter nach dem sich das WIR aufgelöst hat?

Da jedes Ich nur einmal auf der Welt existiert, mischt sich beim WIR meine Identität mit denen anderer Personen, wie auch die Identitäten der Anderen sich mit meiner vermischen. Wenn nun das WIR eine gemeinsame Identität hat, wie sieht diese aus? Ist das WIR nur eine Aussage darüber, dass mehrere Personen am selben Ort waren oder sind, unter denen Ich selbst vertreten war oder bin? Oder ist es vielmehr eine Konstellation von Subjekten mit Substanz? Das WIR drückt demnach eine Verbundenheit aus, stellt eine persönliche (vorhandene oder erwünschte, gewollt oder subtil hergestellte) Ebene her. Das sogenannte Wir-Gefühl, welches auch als soziales Miteinander, als die Verantwortung für den Anderen im WIR, in der Gruppe, bezeichnet werden kann.

Die adäquate Verwendung von WIR setzt voraus, dass die Referenten in einer sozialen Beziehung zu einander stehen. Damit drückt das WIR einen Begriff der sozialen Gruppe aus. In der Alltagssoziologie steht WIR für Sprecher, die auf soziale Gruppen Bezug nehmen. Valleé43 vertritt allerdings die semantische These, dass Gemeinsamkeiten keinesfalls Konstituierendes Element der Bedeutung WIR ist. Demnach scheint das vorerst offensichtliche WIR-Gefühl nicht eindeutig vorhanden zu sein. Nach Valleé besteht die Möglichkeit, Subjekte in einer Gruppe, in einem WIR zu haben, die keine gemeinsame Identität haben, außer vielleicht (zufällig) zu dieser Gruppe zu gehören. Damit könnte ein fragmentiertes WIR entstehen, oder noch zugespitzter gesagt, ein fragmentiertes WIR, welches aus fragmentierten Subjekten besteht. Wenn dieses WIR aber nun keine Gemeinsamkeit hat, keine gemeinsame Identität, keine Essenz, so erscheint es fragmentiert und flüchtig. Wie kann dieses flüchtige WIR politisch werden? Sich für eine Sache einsetzen? Um Antworten näher zukommen, erscheint mir den Exkurs über das postmodernen fragmentierten Subjektes wichtig zu sein.

Exkurs: fragmentiertes Subjekt

„Statt dessen das reine Ich mit all seiner Beweglichkeit. Selbsterforschung- das war der Schlag auf den Punkt. Einzigartig.“44

Wie bereits erwähnt, kommt der Begriff des fragmentierten Subjektes aus der Postmoderne. Er geht davon aus, dass das Subjekt dezentriert, zerstreut ist. Zum Vergleich: das Subjekt der Aufklärung war mit der Vernunft und dem Bewußtsein ausgestattet. Es kam mit einem Zentrum oder einem Kern auf die Welt, welches seine Identität darstellte. Diese Identität konnte sich zwar entwickelt, sich jedoch nicht verändern. (Ein Bauer war und blieb ein Bauer.) Das Zentrum des Ichs war die Identität der Person. In der Aufklärung waren Subjektbeschreibungen im allgemeinen männlich.

Beim Begriff des soziologischen Subjekts, welches sich Ende des neunzehnten Jahrhundert entwickelte, wird von einen Kern gesprochen, der nicht autonom ist. Der Kern, demnach die Identität des Subjektes, entwickelt sich durch die Anderen, durch Familie, Freunde und Gesellschaft. Symbole, Werte, Bedeutungen der jeweiligen Kultur werden durch Sozialisation erfahren, verinnerlicht und eingeschrieben. Die Identität wird demnach durch Interaktion des Ichs mit der Gesellschaft ausgebildet.

Das fragmentierte Subjekt 45, ist ein historisches und kein biologisches mehr. Es ist ohne Kern und ohne Zentrum. Seine einzelnen Identitäten verändern sich, wechseln je nach Bedarf der Situation. Es besteht nicht mehr aus einer absoluten Identität, sondern aus vielen unterschiedlichen, die sich teilweise widersprechen. Sie werden durch die verschiedenen Arten der kulturellen Systeme, in denen wir uns bewegen, repräsentiert und angerufen; ebenso kontinuierlich konstituiert wie verworfen und neu gebildet.46 Manche Theoretiker/innen sprechen sogar von patch-work-identities. Dabei werden Identitäten je nach Bedarf angenommen. Es verändert sich dabei nicht nur das Äußere, sondern auch der gesamte Habitus. Ein Beispiel dafür ist der Top-Managerin, die im beruflichen Leben mit Hosenanzug die Firma dominant leitet, und Abends im Strickkleidchen zur PDS-Kreissitzung geht.

In der feministischen Theorie werden Identitäten immer wieder unterteilt in: sex, gender, race, Ethnie, Hautfarbe, Sexualität, Klasse und selbstkonstituierten Fragmente. Diese Kategorien sind allerdings variable und unendlich, demnach verschiebbar und als eine Anerkennung des fragmentierten Subjektes deutbar.

Interessanterweise wird das fragmentierte Subjekt als handlungsunfähig beschrieben. Es ist kein autonomes Subjekt mehr, sondern wird zum Spielball der Gegebenheiten. Foucauls Ansicht, das Subjekt sei im Diskurs konstituiert, und besäße selber keine Handlungsmöglichkeit, setzt Butler entgegen, es sei „vom Diskurs konstituiert, jedoch nicht determiniert.“47 Damit hat es innerhalb des Diskurses Handlungsfreiheiten erlangt. Ich übersetze dies mit der Möglichkeit zur freien Handlung innerhalb der eigenen denkbaren Möglichkeiten, unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Intelligibilität. Das heißt, das Subjekt kann nur in dem Rahmen handeln und denken, in dem es sozialisiert wurde, in der Gesellschaft in der es lebt und im Rahmen der Erfahrungen die es sein eigen nennt. Zum Beispiel ist die Idee, daß zur Gestaltung meiner sexuellen Identität eine Klitorisbeschneidung nötig ist, ist für mich als weiße Europäerin, in Deutschland lebend, undenkbar. Für viele Frauen in Afrika, ist diese nicht nur alltäglich und als Wert in ihrer Gesellschaft verankert, sondern auch nötig um intelligibel innerhalb dieser zu sein, um u.a. einen Mann/Versorger zu finden.

3.1 Das fragmentierte WIR

„Die Tyrannei des Wir, das alles daransetzt, einen einzusaugen, dieses zwingende, einvernehmende, historische, unvermeidliche, moralische Wir mit seinem hinterhältigen E pluribus unum“48

In der Alltagssoziologie ist das WIR mit einem WIR-Gefühl, also einer gemeinsamen Identität, ausgestattet, zu der auch Solidarität gehört. Als fragmentiertes WIR kann jenes gedeutet werden, welches die Vielgestaltigkeit des Personenkreises bezeichnet, deren der Sprecher angehört. Wobei es die Vielgestaltigkeit, welcher der Sprecher angehört, wiederum nicht gibt, da jeder Sprecher einer Vielzahl von Vielgestaltigkeiten, ergo verschiedenen WIRs mit verschiedenen Identitäten angehört.

Während am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kollektivistische Konzepte menschlichen Zusammenlebens mit positiven Assoziation belegt und weit verbreitet waren, werden diese Konzepte heute vielfach kritisiert und eher negativ bewertet. Im ‘klassischen’ Konstrukt des Kollektivs gab es neben diverser Unterziele ein ‘Ober-Ziel‘, welches (politisch) verfolgt, und durch ein starkes Wir-Gefühl ausgedrückt wurde. Viele Menschen konnten ihre eigene Identität dabei nicht entfalten und prangerten ihre Marginalisierung innerhalb der Gruppen an. Letzteres hatte zur Folge, dass Kollektive zersplitterten und Mikro- oder Individualgruppen entstanden. Dabei zersplitterten nicht nur die Gruppen, sondern auch deren politische Ziele. Diese Pluralität wird z.B. in der Umbenennung von ‘dem’ Feminismus in ‘die’ Feminismen deutlich. Innerhalb dieser Entwicklung mag sich das einzelne Subjekt besser positionieren und entfalten können, gleichzeitig scheint als Folge der Fragmentierung eine Handlungsunfähigkeit auf politischer Ebene eingetreten zu sein.49

In der deutschen Politik läßt sich das fragmentierte WIR deutlich erkennen. Das Wir, also das Volk, die Einheit, ist zersplittert in Asylanten/Innen, Immigrant/Innen, Deutsche, Deutsche türkischer Abstammung, Türken/Innen, Moslems, Christen, Frauen, Männer usw. Diese Zersplitterung enthält die Möglichkeit, gezielt Interessen zu vertreten, da das einzelne WIR überschaubar ist, gleichzeitig birgt es aber auch die Gefahr zum Spielball von Interessenkämpfen zu werden. Da Kleinstgruppen häufig keine starke Lobby haben, werden ihre Stimmen oder Interessen nicht nachdrücklich genug vertreten. Die Gefahr der Aneignung durch andere, um deren eigene politischen Angelegenheiten durchzusetzen, tritt auf. Noch extremer wird diese theoretische Fragmentierung in den USA betrieben. Benhabib spricht von einer „Balkanisierung der urbanen USA.50 “ Sie fordert eine neue Politik der Zivilität und Solidarität, um die gesellschaftlichen Kräfte, die zur Zeit zerrissen und fragmentiert sind, zu bündeln

3.2 Das Feministische WIR

„We cannot be said to have taken women seriously until we explore how women have treated each other.”51

Wie beschrieben kennzeichnet das postmoderne WIR keine universelle Identität, demzufolge auch keine universelle Kategorie und macht diese auch nicht sichtbar. Daraus folgt, dass es keine universelle Kategorie Wir-Frauen geben kann. Die Kategorie ‘Frau’ ist demnach nicht sichtbar. Eine einzelne ‘Frau’ ist sichtbar; evtl. sind einige Mitglieder der Gruppe ‘Frau’ beobachtbar, aber nicht alle Frauen der Erde. Folglich kann die Anrufung Wir-Frauen, als Kollektivbezeichnung nur soweit gelten, als sie einen Ausschnitt re/präsentiert. Die Kategorie ‘Frau’ bezieht sich dann auf den Ausschnitt der betrachteten Subjekte und deren Merkmale. Ergo beschreibt, die Kategorie ‘Frau’ nur als eine bestimmte Anzahl von Subjekten, zu einer bestimmten Zeit. Und nur so kann es ebenfalls mit der Bestimmung des WIRs gehalten werden.

Im postmodernen Feminismus wird davon ausgegangen, dass persönliche wie auch kollektive Identitäten ‘Soziale Konstrukte‘ seien. Eine solche Konstruktion einer kollektiven Identität, „muß als Prozeß eines sozialen, kulturellen und politischen Kampfes um Hegemonie zwischen sozialen Gruppen, die um die Herrschaft bestimmter Definitionen von Identitäten über andere streiten, verstanden werden.“52

Postmoderne Theoretiker/innen sagen, dass dieses WIR, selbst wenn es nur in einer rhetorischen Geste oder in einer öffentlicher Rede oder Schrift angerufen wird, politisch suspekt sei, da es versucht, eine vermeintliche Gemeinschaft, inklusive Solidarität, zu schaffen wo, es meist keine gibt. „Das Schwelgen in Vielfalt und Fragmentierung, das Genießen des Spiels der Differenz und das Zelebrieren von Opazität (Undurchsichtigkeit, A.A.), von Brechung und von Heteronomität ist kennzeichnend für die vorherrschende Stimmung in der gegenwärtigen feministischen Theorie und Praxis.“53

Das feministische WIR bezeichnet eine Gruppe von Subjekten, die in dieser Gruppe integriert sind und sich eingelebt haben. Dieser Sachverhalt zieht logisch eine Exklusion anderer Subjekte nach sich. Es entsteht ein drinnen (in) und ein draußen (out). Das in sein definiert sich ständig neu, und so verschiebt sich auch die Inklusion. Weiterhin definiert sich das in durch Eigenschaften, Dazugehörigkeiten und Werte, die von den Mitgliedern anerkannt werden müssen, um in zu sein. So wird schnell aus in und out eine Tyrannei der Werte und der Dazugehörigkeit.

Die Möglichkeit eines feministischen Wir, mit dem es sich politisch handeln läßt, in der eine Jede freiwillig partizipiert und sich anerkannt fühlt, drückt Adianna Cavareros in ihren Worten aus: „Was wir suchen, ist eine Norm und ein Maß unseres Zusammenseins, eine symbolische weibliche Ordnung, die uns ermöglicht, uns einander anzuerkennen, zu leben, zu kommunizieren, in dem wir den Sinn der subjektiven Individualität einer jeden, einen gemeinsamen und teilbaren Horizont finden.“54 Ich möchte ihre Idee jedoch nicht starr essentialistisch verstanden wissen sondern als diskursive, zeitlich begrenzte, Charakterisierung des Arbeitsbegriffes ‘Frau’, mit Betonung auf ihrer Symbolik.

3.3 Zwischenresümee

Auch wenn es etwa in gewissen Kreisen üblich ist, Witze über Frauen zu machen, so trifft der Befund zu, dass die jeweiligen Sprecher eine Position der Überlegenheit in Anspruch nehmen.55

Wie beschrieben kann die Definition des WIRs methodisch unterschiedlich erfolgen. Entweder als rein grammatisches Konstrukt, oder als soziales Konstrukt, mit einer kollektiv, oder einer fragmentierten Identität. So hängt die Identität jedes WIR von Machtbeziehungen ab. Das WIR verändert sich nicht nur zeitlich, räumlich, inhaltlich, sondern auch diskursiv und theoretisch. Es konstituieren sich nicht nur durch Ausschluß, sondern ebenso durch die Unterdrückung anderer, über die und im Gegensatz zu denen es sich selbst definiert. In diesem Sinne enthält die Identität eines jeden WIR, die Ergebnisse kollektiver Machtkämpfe, zwischen Gruppen, Kulturen, Geschlechtern und sozialen Klassen.56 Dieses WIR als soziales Konstrukt erscheinen in der heutigen Zeit flüchtiger und brüchiger denn je. Eine der wichtigsten Fragen, die daraus resultiert ist die Frage nach der politischen Handlungsfähigkeit. Darin beinhaltet ist gleichfalls die Frage nach der Artikulation.

4. Wer darf für wen sprechen?

„Eine einzelne unterdrückte Gruppe kann unmöglich von sich aus einen signifikanten strukturellen Wandel erreichen, und es kann auch keinen anvertraut werden, die Interessen anderer zu wahren.“57

Ausgangspunkt einer Artikulation ist der Dialog zwischen zwei Menschen, in dem Gedanken, Interessen, Empfindungen ausgetauscht werden. Das Individuum empfindet sich als einzigartig und stellt seine eigene Sichtweise der Dinge dar. In unserem politischen und gesellschaftlichen System, in dem wir58 leben und welches männlich dominiert ist, haben wir ein demokratisches, repräsentatives System, d.h. im Parlament beispielsweise sitzen (überwiegend männliche) Subjekte, die als Vertreter/in von uns gewählt worden sind und damit für uns reden. Diese Form der repräsentativen Demokratie scheint nötig, da eine direkte parlamentarische Politikbeteiligung bei über 80 Mio. Bundesbürger/innen nicht möglich ist. Auch in anderen Bereichen u.a. in großen Institutionen und Organisationen, wird dieses Stellvertreterprinzip in unserer Gesellschaft angewendet, z.B. in der Kirche, in Firmen. Daraus folgt, dass so ziemlich unser gesamtes gesellschaftliches (und speziell das politische) System auf eine solche Repräsentation aufgebaut ist. Aber auch die Organisation von Gruppen erfolgt durch Bestimmung von Zuständigen und „Repräsentant/innen“. Wenn beispielsweise in einer Gruppe (Turnverein, Frauengruppe, NGO) eine Person für die Kassenführung und eine andere für die Pressemitteilungen delegiert werden, ist damit Repräsentation verbunden.

Jetzt erst wird aus der privaten Dialogsituation, in der ich mich befand, eine politische Situation, in der andere für mich reden, denn sie repräsentieren mich aufgrund eines Organisationsprinzips, das der Gesellschaft zugrunde liegt. Daraus folgt eine Abgabe von Verantwortung des Einzelnen, wie auch Machtaneignung von dem Vertretenden, dem Souverän. Gleichzeitig hat dieses Repräsentationssystem, in unserer politischen Sphäre (westliche Demokratie), einen emazipatorischen Anspruch. Der emazipatorische Ansatz beruht auf der Prämisse, dass die Möglichkeiten einer Artikulation vorhanden sind, um jeder Stimme frei und in ihrer Weise Gehör zu verschaffen. Es sollen auch Minderheiten vertreten werden, es soll jede einbezogen werden, nicht nur ein paar wenige, während andere unterdrückt werden: Da wir vor dem Gesetz (laut Grundgesetz) alle gleich sind, müssen wir auch alle in gleichem Maße vertreten werden. Dieser emanzipatorische Ansatz westlicher Demokratien, mit ihren Anspruch auf Menschen- und Grundrechte für alle in der ganzen Welt, hat zur Folge, dass offenkundig wird, dass eben doch nicht alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben (wie z.B. der Gender-Gap uns zeigt). Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander, denn das Gesetz ist in der Realität nicht umgesetzt (z.B. ungleicher Lohn für gleiche Arbeit). Deshalb treten an dieser Stelle Gruppen an, die sich auf diese Rechte berufen und gleichzeitig die Nicht-Umsetzung anprangern (z.B. die Frauenbewegung). Der emazipatorische Anspruch westlicher Demokratien ist aber per se immer ein allumfassender Anspruch: die gleichen Rechte gelten auch für diejenigen, die sie nicht einklagen können. Hier setzt das Problem - Wer darf für wen sprechen?- an. Es gibt Menschen, die ihre Interessen nicht einklagen können, die aber dieselben Rechte haben. Wer also klagt die Rechte für diese Menschen ein und vertritt ihre Interessen? Der emanzipatorische Ansatz besagt, dass diesen Menschen, die sich nicht selbst „helfen“ können, geholfen werden muß (z.B. Amnesty International). Wenn ich aber für jemand anderen spreche, die selbst nicht „sprechen“ kann, woher weiß ich, dass ich das richtige sage und ihre Interessen richtig vertrete? Dass ich die Interessen richtig interpretiert und verstanden habe? Wie eigne ich mir eine Sprecher/innen- Position an? Ist sie bei Aneignung legitimiert oder kann sie nur an mich herangetragen werden? Muß ich einen ‘Auftrag‘ zur Interessenvertretung bekommen, um legitimiert zu sein? Wie aber kann ich diesen ‘Auftrag‘ erhalten, von Menschen die keine Artikulationsmöglichkeiten haben?

4.1 Artikulation

„This insight must be reinforced by increased, better mobilized, and better articulated pressure, as a right, from below.”59

Um gehört zu werden bedarf es der Artikulation, die wiederum ohne Stimme unmöglich ist. Aber sie allein ist auch nicht hinreichend. Das englische voice meint nicht nur die Stimme, sondern auch die Möglichkeit eine Lobby zu haben, zu den ‘Gehörten‘ zu hören. Sprache wiederum ist nicht auf stimmliche Artikulation zu beschränken, Sprache umfaßt ebenso Körpersprache, Performanz, die Kunst und viele andere Artikulationsformen. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass unsere politische und gesellschaftliche Ausdrucksform von der gesprochenen Sprache dominiert wird. Die Möglichkeit sich zu artikulieren und gehört zu werden bedarf einer Stimme oder einer Fürsprecher/in.

Bei der Analyse von Artikulationsmöglichkeiten stellen sich eine Reihe von Fragen: Wo stehen wir? Von welcher Position aus sprechen wir? Wie sprechen wir? Wer kann uns hören und will uns zuhören? Hier geht es nicht darum linguistische Antworten zu finden, oder zu referieren. Aus soziologischer Perspektive geht es um den sozialgeschichtlichen Kontext des/der Sprechenden, die ihre Aussage erst zu einem Ausdruck von gelebten macht. Wir müssen den vielschichtigen Erfahrungshintergrund der Sprecher/in in Betracht ziehen. Und in einem nächsten Schritt müssen wir uns der Frage stellen, wie wir mit der zum Ausdruck gebrachten Position umgehen.

Die Frage nach dem Umgang miteinander, beinhaltet das Problem der unfreiwilligen Einverleibung von Frauen unter diesem Begriff. Um dieses zuvermeiden entstand eine neue Artikulationsweise innerhalb der feministischen Theorie. Autorinnen stellten sich vor. Sie beschrieben ihre eigene Position durch Attribute wie Hautfarbe, Ethnie, Sexualität. Diese Positionierung spricht gewisse Frauen an und Solidarität und ein Dazugehörigkeitsgefühl entsteht wenn die Leserin sich mit den aufgezählten Attributen identifizieren kann. Wenn sie sich nicht angesprochen fühlt entfällt jedoch diese Nähe. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Leserin sich wohlmöglich inhaltlich nicht identifizieren kann, da sie sich aufgrund der genannten Attribute ausgeschlossen fühlt. Die Begrenzung des eigenen Denkens, aus dem persönlichen Kontext heraus wird auf die Autorin übertragen. -Die kann mich ja gar nicht verstehen, da sie nicht die Erfahrungen mit mir teilt.- So kann diese Positionsbeschreibung dazu führen, dass Autor/innen die Leser/innen nicht mitnehmen, sondern diese vom Anfang an stehen lassen. Nur die Fähigkeit über die eigenen Grenzen hinaus zu denken, sich in verschiedene Identitäten hineinzuversetzen und nachzuvollziehen, andere Werte zu verstehen, böte hier einen Ansatz zur Verständigung. Die Welt der eigenen Logik zu verlassen, einen pluralistischen Denkansatz zu finden, um die Identifikation mit dem anderen zu versuchen, zumindest das Selbst zu beleben, zu beseelen, böte einen Ausweg aus der Begrenzung.

Aber nicht nur die Autor/innen belegten sich selbst mit erklärenden Attributen. Gleichzeitig wurde die Kategorie ‘Frau’ mit Attributen belegt. Damit wurde versucht, die Differenz unter Frauen anzuerkennen und gleichzeitig wurde vermieden eine Totale zu konstruieren. So wird häufig der Begriff ‘Frau’ nicht mehr allein stehen gelassen, sondern fragmentiert in einzelne Gruppen, d.h. „die vielfachen Formen von Unterdrückung, denen Lesben, farbige Frauen und/oder arme Frauen und Frauen der Arbeiterklasse ausgesetzt sind.60 “ werden sichtbar. Dieses Beispiel zeigt zwar eine Differenzierung des Begriffs ‘Frau’ und damit ihre Anerkennung, schließt jedoch Frauen aus, die nicht unter die Differenzierung fallen, dennoch vielfach unterdrückt werden. Weiterhin kann solche Aufzählung nur lückenhaft sein und würde bei einem Versuch der Komplettierung endlose Seiten füllen. Ich möchte darauf hinweisen, dass selbst der Versuch, Anerkennung zu zeigen, zu differenzieren und Machtbeziehungen abzubauen, häufig im Ansatz scheitert.61

4.2 Gewalt

“The tendency of Northern NGDOs to speak on behalf of the South must give way to the South speaking for itself.62

Die Geschichte der Frauen beinhaltet nicht nur die Gewalt und Unterdrückung durch den Mann, sondern auch die Gewalt, die Frauen untereinander ausüben. Diese Struktur zieht sich durch die Geschichte und zeigt sich u.a. in der Mißhandlung von Sklavinnen durch ihre weißen ‘Besitzerinnen‘, oder in der Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, wie auch im Mobbing unter Frauen im Beruf. Nun stellt sich die Frage, ob es so etwas wie allgemeine Frauensolidarität überhaupt gibt? Spelman behauptet dass sie nicht existiert, da sich Frauen eher solidarisch mit Männern ihrer Klasse und race zeigen, als mit Frauen aus anderen Klassen oder mit anderer Hautfarbe.63 Eine negierte allgemeine Frauensolidarität beinhaltet, außerdem die Frage, wer für wen sprechen darf. Darf ich aus Solidarität für andere sprechen? „So gesehen kann das Wir, das die jeweilige konkrete Forderung trägt, einen Personenkreis umfassen, der über die unmittelbar Betroffenen hinausgeht.“64 Dies beinhaltet die Gefahr der Bevormundung. „Auch die beste solidarische Intension wird kontraproduktiv, wenn keine Bereitschaft besteht, darauf einzugehen, wie die betreffenden Frauen selbst ihre Lage erfahren bzw. interpretieren.“65 In der Überlegung um Interessenkämpfe (innerhalb der Feministik) ist ein weiterer Konflikt jener, dass jemand einer Person oder Gruppe Probleme vorschnell in den Mund legt. Dies Phänomen kann insbesondere auftreten, wenn stärkere Gruppen über andere, wohl möglich schwächere, sprechen. Die Stimme wird ihnen dann übergestülpt. Nicht sie selbst artikuliert sich, sondern wird artikuliert. Nicht sie selbst konstruiert sich, sondern sie wird fremdkonstruiert. Ihr wird wohl möglich gelehrt, was ihr fehlt, da sie (angeblich) selbst nicht in der Lage ist zu erkennen was ihr fehlt (aus einem falsches Bewußtsein heraus.) Dieses Ausrufen von Anliegen geschieht zumeist mit den ‘besten‘ Absichten. So macht es oftmals den Eindruck, dass NGOs (wie z.B. ai women) über Frauen in sog. ‘Dritte Welt‘ Länder reden, ihre Probleme artikulieren66, diese jedoch selbst nicht zu Wort kommen und ihre eigene Stimme nicht gehört wird. So erscheint ai women als Fürsprecherin oder Repräsentant/in. Diese Struktur ist auf der einen Seite begrüßenswert, da Stumme so Gehör erlangen. Gleichzeitig beunruhigt sie mich, da sie die Möglichkeit der Verschiebung, der Fehlinterpretation und vor allem des Machtmißbrauches inklusive Diskriminierung beinhaltet. „Wenn Diskriminierung darauf beruht, daß einem gewissen Personenkreis (oder einer Person; A.A.) gegenüber eine Haltung der Geringschätzung eingenommen wird, dann heißt das: Ihre Wurzel liegt nicht in einer bestimmten logischen Form, sondern in der Art des Umganges mit anderen.“67 Diskriminierung, auch die unter Frauen, läßt sich nicht immer auf einzelne Akteure zurückführen; „Eingeübte Sprachmuster und tradierte Sitten - kulturelle Praktiken im Sinne Foucaults- gehören ebenso zu den Auslösern.“68 Solange die herkömmlichen kulturellen Praktiken von allen Geschlechtern getragen werden, sind auch Frauen an der Reproduktion und an der Neuschaffung der Bedingungen von Benachteiligungen gegenüber anderen (Frauen) verantwortlich. Ein exemplarisches Beispiel ist die Definition von Arbeit als reine Erwerbsarbeit. Demnach arbeiten Frauen im Haushalt nicht. Gehen sie aber putzen oder arbeiten als Erzieherinnen, wird dieselbe Tätigkeit zur Arbeit. Diese tradierte Praktik wird geschlechtsunabhängig vollzogen. So manche ‘Frau’ erkennt die Haus- und Erziehungsarbeit anderer nicht an, akzeptiert deren Lebensstil nicht und äußert sich geringschätzig, teilweise sogar im direkten Umgang, über diese Frauen. (Radikale Feministinnen gingen in den Siebzigern soweit, dass sie Frauen verbieten wollten, zu Hause zu bleiben.) Diese Abschätzung ist nicht nur ein Zeichen von Nicht-Anerkennung von anderen, es ist vielmehr eine Aneignung von Macht.

4.3 Macht

„Wer hilft diesen Frauen in der Wüste, die wie meine Mutter weder Geld noch Macht besitzen? Jemand muß für das kleine, stumme Mädchen die Stimme erheben.“69

„Die These (A.a. die auf Luce Irigaray zurückgeht), wonach es zwischen Subjekten eines asymmetrischen Machtgefüges keinen Austausch gibt und die Sprache und Kultur des Stärkeren sich verselbständigen und den anderen ohne Vermittlung aufgezwungen werden, bedeutet für die Frauen die Unmöglichkeit, sich zu >denken< und >auszudrücken<.“70 Sie wird im Gegenteil von den anderen gedacht und gesprochen. Daraus folgt, dass auch Frauen anderen Frauen die Möglichkeit sich zu denken und/oder auszudrücken, verwehren. Es gilt asymmetrische Machtgefüge aufzubrechen, Macht gleichmäßig zu verteilen, damit Frauen die Möglichkeit haben und befähigt sind, sich auszudrücken, ihre Interessen zu vertreten und Gehör zu erlangen. Dazu gehört auch die Anerkennung anderer Lebensstile (u.a. die Anerkennung von Haus- und Erziehungsarbeit). Es geht also darum, die Zensur zu begreifen, die den Stimmen kein Gehör gibt, sondern sie im leeren Raum verhallen läßt, und ebenfalls zu analysieren, was „bewirkt, daß bestimmte Dinge nicht gesagt werden, und die Beweggründe dafür zu erkennen, daß andere betont werden.“71 Die Zensur zu erkennen, die in der Nicht(be)achtung von Gesprochenem liegt, ist hier der Appell. Daraus folgt, dass eine sezierende Analyse, eine Zerlegung des Gesagten, genauso wie des Nicht-Gesagten erfolgen muß, um Machtbeziehungen zu erkennen und Möglichkeiten zu schaffen diese zu ändern. Bourdieu geht davon aus, dass dies in realistischer Weise gelingen kann, wenn sich an die untrennbar praktischen und theoretischen Probleme gehalten wird, auf die die Analystin, im Einzelfall der Interaktion zwischen Sender und Empfänger, trifft.72

Folglich steht die Frage nach den Machtbeziehungen zwischen Frauen zur Debatte. Beobachtet werden muß demnach, wie Frauen andere Frauen und ihre Stimmen unterdrückt haben und unterdrücken. Wie erfolgt die Exklusion unter Frauen oder gar ihre Assimilation. Reduziert sich die Frage nach der Artikulation auf Machtbeziehungen, Interessen und Lobbies? Und auf die Frage, wem Frauen trauen können?

„Women, precisely because they have so often themselves been victims, should not be trusted to readily by other women or by men.”73 Die Tatsache, dass Frauen häufig unterdrückt, tyrannisiert, belogen und betrogen wurden und werden, hat nicht als logische Konsequenz, dass sie ihre Mitmenschen besser behandeln als es ihnen widerfahren ist. Auch sie versuchen, Macht auszuüben und zu behalten. Die Ausprägung mag unterschiedlich sein, aber der Wille zur Macht ist ein Grund, warum Frauen anderen Frauen nicht bedingungslos vertrauen sollten. Dieses Mißtrauen erscheint im ersten Moment negativ, läßt aber auf Reflexion der eigenen Situation schließen und auf ein Nachdenken über eventuelle Interessen, die andere Frauen an meiner Position oder meiner Stimme haben.

Diese Reflexion über Machtverhältnisse läßt sich produktiver denken, wenn Macht nicht hierarchisch, in Über/Unterordnung gedacht wird, sondern paritätisch-global. Denn nach Foucault ist Macht allgegenwärtig. Sie erscheint als „Name den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“74 Sie ist ein Kräfteverhältnis, welches ein Gebiet kennzeichnet und Raum einverleibt. Damit ist Macht in jeder sozialen Beziehung, quasi in jeglichem Miteinander, vorhanden. Diese Denkweise läßt auf der einen Seite Macht unübersichtlicher werden und schwerer analysieren, da sie als eine komplexe Struktur auftritt. Gleichzeitig wird sie offensichtlicher, da sie allgegenwärtig ist und nicht geleugnet werden kann, und zusätzlich in Widerstand umgewandelt werden kann.

„Alle Macht hat eine symbolische Dimension: Sie muß von den Beherrschten eine Form von Zustimmung erhalten, die nicht auf der freiwilligen Entscheidung eines aufgeklärten Bewußtsein beruht, sondern auf der unmittelbaren und vorreflexiven Unterwerfung der sozialisierten Körper.“75 Bourdieu geht davon aus, dass es nicht möglich ist, symbolischer Gewalt, die er als eine Dimension jeglicher Herrschaft bezeichnet, auf die Spur zukommen, ohne den Begriff des Habitus einzuführen. Vom Habitus zu reden heißt einen Modus des Festhaltens und des Hervorrufens der Vergangenheit zu erfassen und zu analysieren.76 Der Habitus wird zum Reflexionsmittel der Artikulationsstrukturen. „Als Produkt der Einschreibung eines Herrschafts-Verhältnisses in den Körper sind die strukturierten und strukturierenden Strukturen des Habitus das Prinzip praktischer Erkenntnis- und Anerkennungsakte der magischen Grenzlinie, die den Unterschied zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, d.h. ihre soziale Identität erzeugt, die vollständig in dieser Beziehung enthalten ist.“77

Judith Butler würde von Performation sprechen. Die ständig wiederholte Verhaltensweise, die sich in den Körper einschreibt, die ununterbrochen performt wird. Der “ ‘body’ often appears to be a passive medium that is signified by an inscription from a cultural source figured as‚ external‘ to that body.”78 Wie bei Kafkas In der Strafkolonie wird der Körper bei Butler als eine Oberfläche, auf dem die Ereignisse eingeschrieben werden, beschrieben. Um dieser ständigen Einschreibung, die Subjekte intelligibel erscheinen läßt, zu entkommen, schlägt Butler die Parodie vor. Normen sollen überzogen vorgelebt und vorgespielt werden. Dafür schlägt Butler insbesondere den d rag79 vor. Für Butler dient drag einer subversiven Funktion, die banale imitierenden Darstellungen widerspiegelt, mit denen Ideale performativ realisiert und naturalisiert, d.h. eingebürgert, dem System einverleibt, werden.80 Durch die Parodie sieht Butler die Möglichkeit, nicht nur den Habitus eines Subjektes zu ändern, sondern gleichzeitig Traditionen und Machtstrukturen aufzubrechen. Denn “We all know of instances where the pattern has been broken - by good luck, by special help, or by special ambitions.”81

Herrschaftsstrukturen bedürfen bei hinreichender Absicherung keiner Rechtfertigung, so Bourdieu. Die herrschende Sichtweise, die Intelligibilität, drückt sich im Diskurs aus, in der Art und Weise der Artikulation, in den Praktiken des Hörens und des Sendens, des Verstehens, den Modi in denen wir handeln, den Raum den wir einander zur Verfügung geben. Unsere eigene Art zu denken, unsere Praktiken und Strukturen in der Artikulation haben zur Folge wie wir mit anderen umgehen, wie wir andere (Frauen) behandeln und ob wir ihnen Gehör verschaffen.

5. Resume

„What Chou Mean We, White Girl?“82

Auch wenn die Frage nach der Artikulation, in ihrer politischen Bedeutung in dieser Arbeit, trotz Ankündigung in der Einleitung, aus Platzmangel sehr knapp ausgefallen ist, (Mir war es wichtig, die Zusammensetzung des WIRs, insbesondere seiner Zerstreutheit und Uneinheitlichkeit in der Feministik zu betonen.) wurde deutlich, dass es kein einheitliches Wir gibt. Nicht nur nicht zwischen Schwarzen und Weißen, sondern allgemein zwischen Frauen. Damit existiert das Wesen ‘der Frau‘ nicht, sondern sie ist zersplittert und fragmentiert. Nun stellt sich die Frage, wie sollen ‘die fragmentierten Frauen‘ miteinander umgehen, um gegenseitig Gehör zu erhalten, um ein politisches WIR zu erhalten. Dabei stellt sich die Frage, ob dieses in der Theorie beschriebene Phänomen der Fragmentierung, sich in der Praxis ebenso beobachtet läßt und ob Frauen sich derartig zersplittert fühlen. Denn um politische Handlungsmöglichkeiten zu schaffen bedarf es Überschneidungen der Subjekte. Ein totales nebeneinander der Interessenlage wäre für die Praxis nicht wirksam. Für den politischen Emanzipationsprozess bedeutet besagtes eine notwendige Anerkennung der Differenz zwischen Frauen, deren Artikulationsarten und Möglichkeiten, wie auch Beachtung der Ausdifferenzierung von Anliegen und Forderungen in der Politik, um dann Interessenüberschneidungen zu analysieren, damit ein handlungsfähiges und politisches WIR entstehen kann. Innerhalb dieses Prozesses ist die Frage nach dem - Wer für mich sprechen darf -, eine Legitimitätsfrage. Wer nimmt sich das Recht heraus für mich zu sprechen bzw. wem erlaube ich meine Interessenvertretung zu übernehmen. Wen erkenne ich an, meine Stimme zu sein?

Es scheint als würde sich die oben gestellten Fragen auf den Umgang miteinander reduzieren lassen. Auf die Achtung dem Anderen gegenüber. Als Resultat dieser Arbeit doch ein universalistisches Moralpostulat? Der Aufruf Machstrukturen, Artikulationsexklusion, Inklusionasymetrien zu erkennen und zu kontrollieren und immer aufs neue in den Diskurs einzubringen. Sich loszulösen von einem binären und horizontalem Denken, in Schwarz/weiß; Über/Unterordnung. Der Appell Strukturen in denen Begriffe gedacht werden zu analysieren. Die Verschlungenheit und Abhängigkeit der binären Begriffe von einander zu erläutern, und sie als Pluralität auffassen, die sich untereinander beinhalten. Und den Vorschlag die Welt der eigenen Logik zu verlassen, „Ein generelles und genetisches Verständnis der Existenz des anderen anzustreben, das auf der praktischen und theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen basiert, deren Produkt er ist “83 Die Aufforderung nach einer unermüdlichen Sisyphusarbeit, bei ständiger Selbstreflexion, zur Verschiebung von Verhaltensweisen und Intelligibilitäten.

Doch ein moralischer Appell wird nicht ausreichen.

Die feministische Debatte zwischen 1960 und heute entwickelte sich zwar von dem Gleichheitsprinzip hin zur Differenztheorie. Und aktuell steht in der Theorie, die Differenz innerhalb des Subjektes und die Theorie des fragmentierten Subjektes im Vordergrund. Doch das Problem der Fragmentierung und der Differenz hat zur Folge, dass eine gemeinsame Transformationstheorie in der Feministik fehlt. Die Diskrepanz zwischen der Theorie, in der der Differenzansatz hochgelobt und vielfach diskutiert wird, und der Praxis in der der Gleichheitsansatz, durch gender- mainstreaming und Gleichstellungspolitik umgesetzt wird, macht dieses, ebenso wie die Abkehr vom Kollektiv-Konzept deutlich. Generell ist die Möglichkeit, an ‘einem Strang‘ zu ziehen unendlich schwerer mit Splittergruppen, entstanden durch die Fragmentierung, als mit einer großen, homogenen Masse. Grundsätzlich enthält zwar Fragmentierung die Möglichkeit, gezielt Interessen zu vertreten, da das einzelne WIR überschaubar ist. Gleichzeitig jedoch birgt es die Gefahr, daß das WIR zum Spielball von Interessenkämpfen zu werden. Da Kleinstgruppen häufig keine starke Lobby haben, werden ihre Stimmen oder Interessen nicht nachdrücklich genug vertreten. Die Gefahr der Aneignung durch andere, um deren eigene politischen Angelegenheiten durchzusetzen, tritt auf. Dabei wird den Angeeigneten eine Stimme ‘übergestülpt‘. Nicht sie selbst artikuliert sich, sondern sie werden artikuliert, wie konstruiert. Häufig hat dies Ausrufen von Anliegen den Anschein, dass es im ‘besten‘ Interesse geschieht, denn die Aneignung ist bei oberflächlicher Betrachtung nicht sichtbar. Dieses asymmetrische Machtgefüge gilt es aufzubrechen. Macht gleichmäßig zu verteilen, so dass Frauen die Möglichkeit haben und befähigt sind, sich auszudrücken, ihre Interessen zu vertreten und Gehör zu erlangen, ist das Ziel. Es geht also einmal darum, Macht und Ressourcen gleichmäßig zu verteilen, wie auch die Zensur zu begreifen, die den Stimme Gehör gibt, oder sie im leeren Raum verhallen läßt. Ebenfalls ist es wichtig zu analysieren was bewirkt, dass bestimmte Dinge gesagt, bzw. nicht gesagt werden. Dazu ist es wiederum unumgänglich nach den Interessen hinter den Kulissen zu fragen. Demnach ist eine Diskursanalyse unumgänglich, in der ergründet werden muß, welche Frauen in den einzelnen NGOs, welche Interessen durchsetzen wollen und mit welchen Mitteln sie arbeiten. Welche Welt- oder Ideologiebilder besitzen sie, insbesondere bezüglich Geschlechtskonstruktionen und wie sehen deren Ideen der Macht- und Ressourcenverteilung aus. Dies soll empirisch in der zweiten Projektarbeit abgehandelt werden.

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Spelman, Elizabeth V.; Inessential Women; London Press 1990. Segal, Lynne; Is the future female?; New York 1987.

Taylor, Charles; Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung; FFM 1997.

Wolf, Susan; Kommentar; in: Taylor, Charles; Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung; FFM 1997; S 79-93.

[...]


1 Maihofer, Andrea; Gleichheit und/oder Differenz?; in: Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation; Hg. Kreisky, Eva; Sauer, Birgit; Wiesbaden, 1998; S.155-176; S. 155.

2 Lugones, Miaria C.; On the Logic of pluralistic Feminism, in: Card, Claudia; Feminist Ethics; Kansas, 1991, S.36-44, S. 36.

3 Baier, Anette; Whom can women trust?; in: Card Claudia; Feminist Ethics; Kansas, 1991; S.233- 2245; S.235.

4 Vergl.: Helmer, Ulrike; Differenz und Gleichheit; FFM, 1990, S.43.

5 Vergl.: Prengel, Annedore; Gleichheit versus Differenz- eine falsche Alternative im feministischen Diskurs; in: Helmer, Ulrike; Differenz und Gleichheit, FFM, 1990, S.120-127; S. 120f.

6 Vergl.: Maihofer; S.157.

7 Brooks, Gwendolyn; in: Spelman, Elizabeth V.; Inessential Women; London Press, 1990; S.186.

8 Vergl.: Fraser, Nancy; Demokratie und Differenz; in: Demokratie und Differenz; Hg: Frauenanstiftung e.V.; Hamburg, 1994; S.10-20; S.11.

9 Maihofer, S.160.

10 ebd.

11 Spelman, Elizabeth V.; Inessential Women; London Press; 1990; S.162.

12 Maihofer; S.161.

13 Vergl.: Fraser, 1994; S.11.

14 z.B. Simone de Beauvoir, „Das andere Geschlecht“.

15 Spelman, Elizabeth; The virtue of feeling and the feeling of virtue; in: Card, Claudia; Feminist Ethics; Kansas, 1991; S.213 -232; S.214; zitiert aus: off our backs July 1986.

16 Vergl.: Fraser, 1994; S.12.

17 Maihofer, S.169.

18 Spelman; 1990; S.3.

19 siehe unten.

20 Vergl.: Klinger, Cornelia; Liberalismus- Marxismus- Postmoderne; in: Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation; Hg.: Kreisky, Eva; Sauer, Birgit; Wiesbaden 1998; S. 180-194, S.191.

21 Baier; S.235.

22 Spelman; 1990; S.3.

23 Maihofer; S.162f.

24 In dieser Arbeit verwende ich viel US-Amerikanische Literatur. Da diese mit dem Begriff Rasse unproblematischer umgeht, dieser jedoch innerhalb des europäischen Diskurs problembehaftet ist, verwende ich das englische Wort race. So wird vielleicht deutlicher, dass der Begriff als Metapher einer biologischen und kulturellen Andersartigkeit gesehen werden kann und keinen Realitätsanspruch innehält.

25 Spelman; 1990; S.136.

26 Vergl.: Hügli, Anton/ Lübcke, Paul (Hg.); Philosophielexikon; Hamburg 2000; S. 638.

27 Siehe Kategorischer Imperativ von Emanuel Kant.

28 Klinger; S.182.

29 Vergl.: Klinger, S.186.

30 Klinger, S.190.

31 Segal, Lynne; Is the future female?; New York 1987; S.2.

32 Fraser; 1994; S.15.

33 Der Ausdruck ‘Performativität’ basiert auf der Sprechakttheorie von John L. Austin. Performative Sprechakte produzieren oder verwandeln eine Situation. Sie sind „niemals ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, sondern sie ‚gelingen‘ oder schlagen ‚fehl‘. Die Produktivität von Sprechakten „ist der Motor, der alles am Leben hält und ins Leben ruft. Sprachliche Akte bringen die Körperumrisse, Geschlechtsidentitäten, souveräne Subjekte hervor. Durch sie ‘materialisieren‘ sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse.“ Das Verb ‘to perform’ hat im Deutschen verschiedene Bedeutungen. Es bedeutet u.a. verrichten, leisten und ausführen. Auch das Substantiv ‘performance’ gleich Aufführung ist schlüssig. (Bötefür, Wiebke; Das Ich und das Wir in der feministischen Theorie Judith Butler; www. Hausarbeiten.de; 2001).

34 Taylor, Charles; Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung; FFM 1997; S.15.

35 Vergl.: Fraser; 1994; S.17.

36 Vergl.: Taylor; S.28.

37 Vergl.: Fraser; 1994; S.18.

38 Vergl.: Taylor; S.27.

39 Wolf, Susan; Kommentar; in: Taylor, Charles; Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung; FFM 1997; S 79-93; S.80.

40 Fraser; 1994; S.20.

41 Spelman; 1990; S.4.

42 Hegel, G:W.F; Grundlinien der Philosophie des Rechts; FFM 1970; § 258, S 399.

43 Vergl. Stein, Christian; Wir und unsere Überzeugungen; HH 1998; S.22f.

44 Greiner, Ulrich; Die Tyrannei des Wir; in die Zeit vom14.2.02; S.42

45 Die Entstehung einer fragmentierten Identität lässt sich besonders gut in der Theorie von Butler nachlesen.

46 Vergl: Hall, Stuart; Rassismus und kulturelle Identitäten; Hamburg 2000; S. 181ff.

47 Benhabib, Seyla (zitiert Butler); Von der Politik der Identität zum sozialen Feminismus; in: Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation; Hg.: Kreisky, Eva; Sauer, Birgit; Wiesbaden, 1998; S. 50-68; S.58.

48 "von vielen eines" resp. von mehreren eines; Greiner, Ulrich; Die Tyrannei des Wir; in die Zeit 14.2.02; S.42.

49 Vergl.: Bötefür, 2001

50 Vergl. Benhabib; 1998; S.63.

51 Spelman; S.213.

52 Benhabib; S.57.

53 a.a.O.; S.52f.

54 Cavarero, Adriana; Die Perspektive der Geschlechterdifferenz; Helmer, Ulrike; Differenz und Gleichheit, FFM 1990, S.97.

55 vergl.: Nagl-Docekal;.Feministische Philosophie; FFM 1999; S.40

56 Vergl.: Benhabib; S.57.

57 Fraser, Nancy; Widerspenstige Praktiken; FFM 1994a; S.26

58 in diesem Kapitel möchte ich, um die beschränkte Ich- Perspektive zu vermeiden, vom Wir sprechen. Dies soll verstanden werden, um nicht exklusiv zu handeln oder unfreiwillig zu assimilieren, als ein wir, unter dem jede, die sich mit dem Gesagten identifizieren kann, angesprochen ist.

59 Arnold, Guy; NGOs: who do they help?; in: West Afrika, 13-19th Nov 2000; S.9-12; S.12.

60 Fraser, 1994; S. 14.

61 Ebenso kommt die Postmoderne mit ihrer Fragmentierung in Kritik.

62 Arnold; S.12.

63 Vergl.: Spelman; 1990; S.62.

64 Nagel-Docekal, Herta; S.195.

65 ebd.

66 Warum repräsentieren Weiße Afrikaner/innen? Warum stehen weiße NGO- und Entwicklungsvertreter/innen vor der Kamera, anstatt Schwarze, die für sich selbst sprechen, zu zulassen. Als wenn Afrikaner/innen sich nicht selbst vertreten könnten.

67 Nagl-Docekal; S.40.

68 a.a.O.; S. 188.

69 Dirie, Waris; Wüstenblume; München 1998; S.328.

70 Helmer; S. 20.

71 Bourdieu, Pierre; Das Elend der Welt; Konstanz 1997; S.781.

72 Vergl.: Bourdieu; S.779.

73 Baier; S.235.

74 Foucault, Michel; Der Wille zum Wissen; FFM 1983; S.114.

75 Bourdieu; Pierre; Die männliche Herrschaft; in: Ein alltägliches Spiel; Hg.: Dölling, Irene; Krais, Beate; Mannheim 1997a; S. 153-230; S.165.

76 Vergl.: a.a.O.; S. 166

77 a.a.O.; S.170.

78 Butler; 1990, S. 129; in: Bötefür, 2001.

79 Unter drag wird die “Verkleidung“ von Männern in Frauenkleidern bezeichnet. Hier ist der Begriff jedoch erweitert in der Aneignung von Fremd(Geschlechts)rollen, die durch Kleidung und Habitus geäußert werden.

80 Vergl.: Bötefür, 2001.

81 Baier, S. 238.

82 Lugones, S. 36.

83 Bourdieu; 1997; S.786.

Excerpt out of 32 pages

Details

Title
What Chou Mean We, White Girl - Gedanken über das Feministische Wir und seiner Artikulation
College
University of Hamburg
Course
Projektstudium Potentiale internationaler Demokratie
Grade
1,25
Author
Year
2002
Pages
32
Catalog Number
V107476
ISBN (eBook)
9783640057443
File size
565 KB
Language
German
Keywords
What, Chou, Mean, White, Girl, Gedanken, Feministische, Artikulation, Projektstudium, Potentiale, Demokratie
Quote paper
Wiebke Bötefür (Author), 2002, What Chou Mean We, White Girl - Gedanken über das Feministische Wir und seiner Artikulation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107476

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